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Fünftes Kapitel

Es arbeitet sich gut, wenn im weißen Blütengezweig die Bienen summen, die Hummeln mit tiefem Gebrumm durch die Sonnenluft ziehen, wenn Tag's alle Gedanken beflügelt, wie klangvoll an der Regimentsspitze einherziehende Musik die Füße vom Marsch ermüdeter Krieger. Es arbeitet sich gut, wenn es in Wahrheit › vitae, non scholae‹ geschieht, nicht in dumpfer Gewohnheit ohne Zweck und Ziel, sondern für das eigne, innerste Selbst, herrlichstem Preis entgegen, dem jeder in tapfrem Ringen verbrachte Tag, jedes herangewachte Frührot näher bringt. Dann ist der Arbeitende auch ein Krieger für eine heilige Sache, der, alle Verlockung abweisend, treu auf seinem Posten ausharrt, unaufhaltsam vorwärts dringt in der Richtung, die sein Führer ihm gedeutet und für alle Anstrengung des Tages tausendfachen Lohn in einer Minute findet, die ihn träumerisch vorausträgt, jener Stunde zu, wo das höchste, sichere Siegesglück seiner wartet.

Freilich, eine plötzliche Kugel vermochte den Soldaten vor die Stirn, in's Herz hinein zu treffen, ihn in einer Sekunde aus dem freudigen Licht der Hoffnung, der Zuversicht in Nacht und Nichts hinunter zu reißen –

Ich sah lächelnd von meinem Buch auf: Hier endete das Gleichnis, wie jedes nur bis an eine gewisse Grenze Gültigkeit besitzt. Für den fröhlichen Kampf der Arbeit war der endliche Sieg, der Preis, das Glück gewiß.

Wie wonnevoll-herzpochend selbst die Mühsal dieses Marsches, durch ein Gefild, wo kein welkes Laub um die Füße raschelte, kein vorjährig braunes Blatt mehr unter dem dichten, Alles überleuchtenden Maiengrün hervorsah!

O Herbsteswelt, Du arme –
O Frühlingswelt, Du reiche
An Schönheit sonder Gleiche,
Du helle, süße, warme – –?

Wie mit weißen Fäden
Die Flur sich umspinnt,
Wie ein weißes Gewölke
Im Aether zerrinnt,

So wiegen, umwoben
Von perlendem Tau,
Goldfäden die Seele
In's göttliche Blau –

Ich glaube, es waren die ersten Reime meines Lebens, welche die Hand da träumerisch an den Rand meines Excerptenheftes hineinkritzelte. Durch das Fenster stahl sich die Sonne über die Buchstaben herein, daß sie auf goldenem Grund zu leuchten und zu tanzen anfingen, als – als flöge Aennchens blondes Gelock um sie hin. Nein, auch der Krieger vor dem Feinde durfte einmal eine Stunde lang die Waffe neben sich zur Seite legen, den Nacken in's duftende Gras zurückstrecken und mit den Augen hinter dem weißen Wolkenglanz am Himmelsblau dreinwandern.

Ich warf die Feder zur Seite und schob das Buch zurück. Hatte ich nicht die Pflicht sogar, meine Gedanken auch auf andre, gleichfalls sehr ernste Gegenstände zu verwenden? Wenn man die Absicht besaß, in – ja, in wie langer Zeit? – wie Philipp Imhof mit einer Frau, mit seiner Frau unter dem grünen Baldachin einer Allee daherzugehen –

Philipp Imhof's Frau! Ein wunderlicher Schatten, der plötzlich dazwischen hineinfiel. War es eine Vorbedeutung gewesen, daß er mir unter dem gelben fallenden Laub zuerst mit seiner Frau begegnet? So müd' und welk, wie die Natur damals, waren auch seine Augen heut'; wenn er je einen Frühling erlebt hatte, war der hastig an kurzem Märztage abgeblüht, und jetzt lag schon der staubige Sommer um ihn, reizlos, ohne Blüten, nur mit ermattender Schwüle, fast dem Herbst schon vergleichbar.

War es seine Schuld? War es ihre? Oder keines Schuld, sondern die des Grundes, der sie zusammengeführt, eine Ehe vor der Welt zwischen ihnen geschlossen? Nicht Liebe hatte es getan – Kindertändelei aus Eitelkeit, Komödie, Nachahmung der großen Welt der Erwachsenen, dann Brauch, Gedankengewöhnung, Familienbezüge, die Empfindung, den Neid zu wecken, vielleicht ein flüchtiger Reiz der Sinne – dann das Geld. Eine Viertelmillion zu einer Viertelmillion, und der Pastor sprach den Segen.

Nun kam der lange Tag nach dem künstlichen Morrausch, nüchtern, gleichgültig, für Philipp Imhof nur zu dem einen Zweck, das in stäter, gewohnheitsmäßiger Arbeit zu mehren, dessen er die Ueberfülle besaß, ohne Freude, ohne Ziel. Gleichaltrig mit mir stand er im Herbst, doch seine Frau war nicht gewillt, ihm dort schon Gesellschaft zu leisten, eine Matrone zu sein. Ihr Herz schlug nicht, so wenig für einen andern, als für ihn, wie es niemals unter dem enggeschnürten Stahlkorsett für irgend etwas geschlagen, aber das Blut in dem Herzen zählte erst zwanzig Jahre, war nicht alt und träge, nicht gleichgültig noch gegen Huldigung, schnellere Regung, gegen einen Rausch, den Philipp Imhof ihm nicht mehr bot, oder nie geboten. Wußte er's, und wenn, bekümmerte es ihn? Sein tiefliegendes, verschleiertes Auge gab keine Auskunft darüber; aber ich wußte es, und es hielt mich in doppelt widerwärtiger Weise für mich ab, sein Haus wie früher zu besuchen. Unwiderstehlich zog's mich dorthin zu der eignen Geliebten, die unzweifelhaft mein Fernbleiben oder seltenes Kommen nicht begriff, und doch war's meine Pflicht, zu vermeiden, daß Lydia Imhof mich bei Seite zog, im Dunkel meine Hand faßte, sich seufzend an mich lehnte. Es galt nicht mir, auch das wußt' ich gar wohl, sondern dem – Andern als Philipp Imhof, den der Zufall ihr entgegengeführt, den sie ebenso schnell wieder mit einem Andern, ihren Augen besser Gefälligen, vertauschen würde. Ich hatte es an jenem ersten Abend nicht geglaubt, nicht für möglich gehalten, aber die nächsten Wochen drängten mir mit zwingender Gewalt das Verständnis auf. Ein erster Einblick war's, nicht in das Herz, doch in die Geheimkammer einer Frau aus der guten Gesellschaft, die unter Lächeln und conventionellem Geplauder, unter tadellosester Beobachtung jeder Form, Anstandsregel und Schicklichkeit Heuchelei, Sitten- und Treulosigkeit verbarg. Erich Billrod hatte gesagt, sie seien unter der Larve alle nackt – besaß er Recht? Es war, als ob ein elektrisches Licht plötzlich vor meinen Augen seinen Strahl in's Dunkel, über all' die sittigen, fein erzogenen Gesichter meiner Vaterstadt geworfen habe und als glimmere mir überall darunter dieselbe eigentliche Natur entgegen, wie bei Lydia Imhof, das vor dem Blick der Welt an den Ketten des Anstandes wedelnde Gelüst, das, wo es sich unbeobachtet wähnen durfte, die eisernen oder vergoldeten Ringe absprengte, um seiner widerwillig verhaltenen, kunstreich verdeckten Art freiesten Lauf zu lassen. Eine häßliche, abstoßende Welt, wie das Haus Imhof's, das meines eigenen Zukunftsglücks es mir geworden, ohne Wahrheit, Vertrauen und Liebe! Ich dachte umher – wahrlich, ich wußte nur ein einziges andersgeartetes weibliches Wesen in dieser Welt, nur Aennchen – zwei, Magda natürlich ebenfalls – welche Ausnahmen unter diesen, über widriger Sumpfdecke in bunter Ziererei gaukelnden und schillernden Blumen bildeten. Ein heimlich in stiller Vergessenheit duftendes Veilchen – vielleicht besser noch einem Maiglöckchen in tiefem Waldesschatten vergleichbar – und eine Rose.

Meine Rose –

Die Gedanken kehrten von Lydia Imhof und der häßlichen Welt um sie her in ihre schöne Heimat zurück. Wann sollte die Vorstellung derselben zu einer wirklichen, leibhaftigen Heimat werden? Ich sah in der Sonne ein goldumrändetes Blättchen vor mir flimmern, von der Art, wie Philipp Imhof es an unserem Abschiedsabend nachlässig aus der Tasche gezogen, doch nicht sein Name stand darauf, sondern der meinige und ein zweiter darunter.

Undenkbar war es mir damals, vor nicht zwei Jahren noch gewesen, und heut' schon so vertraut, so gewiß, wie – wie, daß die grün im Winde dort spielenden Blätter im Herbste gelb am Straßenrand dahinflattern würden.

Aber um zu jenem goldumleuchteten, ewig grünen Blättchen zu gelangen, bedurfte es eben der Arbeit. Ich streckte die Hand wieder nach der zur Seite gelegten Feder aus, zog das Buch heran; Erich Billrod hatte wiederum Recht, wenn auch in anderem Sinne, als er es gemeint: die Arbeit war das Einzige. Sie war's, denn sie schuf das Glück, das Mittel zu diesem, das nüchterne und doch so unentbehrlich-notwendige, das Geld, dessen Ueberfülle freilich für Philipp Imhof zu bettelarm war, ihm einen Tropfen Lebensglückes zu erkaufen.

Mir ging's durch den Kopf; wie hatte er mir einmal auf meine Frage den Begriff des Geldes erläutert? »Geld heißt: Ich habe so viel gearbeitet, ich habe auch so viel Recht für mich, von der Arbeit Anderer dafür zu genießen.« – Ein ironisch-bitterer Stachel, der sich gegen ihn selbst gewendet, lag mir in der Erinnerung an diese Antwort; ich hatte ihm damals erwidert: »Doch Deine Besitztümer hast nicht Du Dir erworben, sondern Dein Vater; Du hast sie nur ererbt, oder vielmehr zum Geschenk erhalten.« – »So hat mein Vater, haben schon seine Vorfahren gearbeitet, damit ich genießen könne,« versetzte er, »und ich bin im Recht, den Erfolg, die Summe ihrer Tätigkeit als mein Eigentum zu beanspruchen, für mein Dasein zu verwerten.«

Hatte nicht auch mein Vater für mich gearbeitet?

Wie ein Sonnenblitz schoß es mir zum erstenmal durch die Seele. Gedankenlos hatte ich seit meiner erlangten studentischen Selbständigkeit von Tag zu Tag fortgelebt, die Forderungen für meine Bedürfnisse zur Berichtigung an meinen Vormund gewiesen, von diesem stets bereitwilligst ausgehändigte Gelder erhoben, wenn ich ihrer für den Tagesverbrauch meiner Börse benötigt war. Ich bedurfte weniger Ausgaben, hatte stets was mir wünschenswert erschien und das Geld als solches bildete nie einen Gegenstand des Wunsches, besaß keinen Wert für mich. Doch jetzt plötzlich wandelte es sein gleichgültiges Gesicht; das englische Wort besagte, Zeit sei Geld, mir aber durchzuckte es umgekehrt das Herz: Geld sei Zeit – Abkürzung, Aufhebung einer schleichenden und doch ruhelosen Zeit – sei das äußere Gold, dessen das flimmernde, ewig grüne Blättchen mit den beiden Namen darauf bedurfte, um es – vielleicht gar noch vor dem gelben Laub – mit seiner Himmelsbotschaft in die Welt hinausfliegen zu lassen.

Und hatte mein Vater mir nicht solches Geld als Erbschaft hinterlassen, die Doktor Pomarius bis zum Eintritt meiner gesetzlichen Mündigkeit verwaltete?

Der Blick, der nach einem Grunde für erwünschtes Tun sucht, braucht nicht lange umherzuschweifen. Den Fuß wie das Herz zog's heut' von der Arbeit in den sommerlichen Frühling hinaus – war es nicht meine Pflicht gegen mich selbst, gegen Aennchen, gegen unsere gemeinsame Zukunft, gegen unsere gemeinsame zukünftige – ja, gegen was Alles? –?

Zum andern Male hatte ich Buch und Feder zurückgeschoben und stand, durch den Sonnentag träumerisch fortgewandert, eh' ich's gedacht, vor der alten Heimat meiner Kinderjahre. Das Wort paßte eigentlich nicht, denn eine Heimat war es mir nicht gewesen, ich hatte keine im Leben besessen – wenn ich nicht das kleine Stübchen mit der alten Dame, der alten Uhr und Magda's heller Stimme darunter so nennen wollte, ja vielleicht auch konnte, durfte und mußte. Sie vermochten es von mir zu fordern, wie ich es ihnen nicht zu weigern – bis jetzt, nun hatte ich eine andere Heimat, die anderes, mehr Recht auf mich besaß, von mir verlangte. Und doch berührte mich der Anblick des Gartens, des Hauses auch hier wunderlich, ich empfand, daß ich lange nicht an dieser Stelle gestanden und schon halb verblaßte Erinnerungen wurden wach. Im Grunde hatte sich nichts verändert, als ich selbst; auf dem freien Platz lachten und lärmten die Kinder der ländlichen Vorstadt, wie einst. Freilich waren es andere, aber sie vergnügten sich an den nämlichen Spielen, sangen dieselben verstümmelten Volksliedreime. Als ich durch die Gartenpforte eintrat, standen seitab Knaben von zehn bis zwölf Jahren beisammen, wie ehemals auf dem nämlichen Fleck Fritz Hornung, Philipp Imhof und ich. Sie bildeten die gegenwärtigen Pflegebefohlenen des Doktor Pomarius, und hatten wildfremde Gesichter, aber mir war, als sähe ich durch diese hindurch in ihrem Kopf genau dieselben Gedanken und Vorstellungen, in ihrer Brust dieselben Gefühle, Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen, mit denen die Jahre hier langsamen Schrittes über mich fortgegangen.

Ja, wie langsam schleichenden Schrittes damals, und wie schienen sie jetzt doch geflogen! Es war das das alte tröstliche Ding – einmal schlug die Uhr vom grünen Kirchturm herab zwölf, und dann war's völlig gleichgültig geworden, was an Widerwärtigkeit, Not und Aengsten vor dem Schlag gelegen. Der Rest blieb die erlangte Freiheit – in der ich mich jetzt befand, ohne besorgen zu müssen, daß ein Glockenruf mich je in den alten Frohn weißen Sklaventums der Knabenjahre zurücknötige. Und doch, die rechte Mittagsstunde non scholae, sed vitae hatte mir auch heut' noch nicht geschlagen. Auf der Schulbank des Lebens saß ich und sah die Zeiger dicht und dichter an den Moment des goldigsten Glockenschlages heranrücken, der das Glück, das nicht mehr endende, verkünden sollte.

Es kam mir plötzlich wunderlich. Hatte die auftauchende Erinnerung Recht, daß es eigentlich das höchste Glück gewesen, so in den letzten Minuten zu sitzen und zu harren, mit der sicheren Gewißheit, der Zwölfschlag müsse in den nächsten Augenblicken herabfallen? Ein wonnevolles Glück der Erwartung, höher als das der Erfüllung, die manchmal ein ungeahntes Wetter verdunkelt, getrübt, mit einem Wolkenbruch überschüttet hatte?

In halbem Traum war ich durch den Garten in's Haus gewandert, hatte an die wohlbekannte Studierzimmertür geklopft – »herein!« – und Doktor Pomarius stand mit der langen Pfeife in der Hand aus seinem Rohrsessel vor dem Schreibtisch auf. Er trat einige Schritte auf mich zu und lächelte: »Ei, mein lieber Herr Keßler – ich hätte beinahe gesagt, mein lieber junger Freund, wie ich Sie ehedem so gern anzureden gewöhnt war – was bereitet mir das Vergnügen Ihres Besuches? Brauchen Sie Geld – numos adulterinos – hehe, junge Herren sind dessen immer benötigt – raudusculum, wie Cicero es benannt hätte, nicht grade für den Klingelbeutel in der Kirche, doch sonst für christliche Nächstenliebe an Brüdern und Schwestern, und obendrein ist's ein gutes, altes Wort, daß man sich selber allezeit der nächste bleibt. Fröhlich gelebt und selig gestorben, hat dem Teufel das Handwerk verdorben. Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang, der bleibt ein Narr sein Lebelang, sagt unser großer Reformator. Sie haben sich auch noch mehr reformiert, mein lieber Herr Keßler, ich meine äußerlich, Ihr vortreffliches Herz, Geist und Verstand kenne ich von jeher genau genug. Aber auch von Ansehn und Gestalt – ein ungewöhnlich hübscher junger Mann – Sie wissen, wie sehr mir Schmeichelei zuwider ist, doch die Wahrheit der Ueberraschung läßt sich nicht zurückdrängen. Wenn ich Sie so mit den Augen eines jungen weiblichen Wesens ansehe – sehe, wie ich mir die Augen eines solchen denke – möchte ich wissen, welches Mädchen die Kraft dazu hätte, Ihnen in seinem Herzen Widerstand zu leisten? Ah, es scheint, ich habe da einen interessanten Punkt auch in dem Ihrigen getroffen; es steht Ihnen hübsch, mein lieber junger Freund, rot zu werden, doppelt hübsch. Aber bei mir brauchen Sie es nicht, ich wünsche Ihnen Glück, herzlich Glück. Und was ist's, was die Liebste besonders reizend kleiden würde? Ein Goldkettchen mit einem Medaillon? Ein Diamantringelchen? Vielleicht beides? Ohne Umschweife! Dazu steht meine Kasse Ihnen offen! Wer für die Liebe geizig sein wollte – pfui – das kommt nur einmal im Leben!«

Doktor Pomarius hatte ein Schubfach geöffnet, streckte die Hand hinein und hob ein Päckchen Banknoten heraus. Ich stand verwirrt, fühlte selbst, daß mein Gesicht rot überglüht sei und war vor Gedanken und um mich her gaukelnden Bildern keines Wortes mächtig. Eine goldene Kette für Aennchen – und da schwebte ihr Kopf auf dem weißen Nacken schon gegen mich heran – nun die Hand, an welcher der Diamantring funkelnde Lichter zog. Ich hatte bis heut' noch nie daran gedacht – aber war es nicht Brauch von Vorvätern her, sinnvolle Sitte und köstliches Glück, der Braut, der Geliebten einen goldenen Schmuck zum Geschenk darzubieten, das unvergängliche Metall, das sich in seiner Echtheit unverändert bis zum Ende des Lebens forterhielt, gleich der echten unwandelbaren Liebe, die es sich als Ausdruck, als Symbol erwählt? Das Herz klopfte mir freudig und zugleich halb anklägerisch. War dieser Mann, der die Regungen in meinem Innern las und ihnen in freundlich lächelnder, in verständnisvoll-freigebigster Weise entgegenkam, der sie als Vormund gleichsam sanktionierte, ihrer idealen Traumhaftigkeit den Uebergang in die reale Welt öffnete – war das der Doktor Pomarius, von dem meine Knabenerinnerung sich eine so völlig andere Vorstellung gemacht? Hatte mir schon je ein Mund gesagt, ich sei – ich sei kein Robert Lindström und brauche nicht zu fürchten, was Asta Ingermann, meine Mutter, ihm getan? Es hörte sich doch gut an und färbte die Schläfe rot, wenn das Ohr es zum erstenmal vernahm und das Auge ein goldumlocktes Bild dabei vor sich schweben sah –

Ich stand und sah auf die Banknoten nieder, die Doktor Pomarius mir gereicht, die meine Hand stumm und unwillkürlich in Empfang genommen. »Verzeihen Sie,« stotterte ich.

»Reicht es für das beabsichtigte Cadeau nicht aus?« fiel er ein. »Wenn es nicht genug ist, sagen Sie es offen; was ich habe, steht selbstverständlich zu Ihrer Verfügung.«

»Nein, ich meine – vergeben Sie mir, wenn ich früher vielleicht einmal gedacht, daß Sie nicht so freundlich gegen mich gesinnt –«

»Oh, oh« – versetzte Doktor Pomarius an seiner Pfeife ziehend, »wie kommt mein liebster ehemaliger Zögling auf solchen Gedanken? Pueri sunt pueri, pueri puerilia tractant! Ja, da gibt's wohl Eins und das Andere – die väterliche Pflicht und Liebe erheischt ab und zu für die Wohlfahrt des Knaben eine Versagung, die er nicht begreift, mit Kummer und Verdruß empfindet, vielleicht gar – hehe, Kinder sind kindisch – für ungerechtfertigt hält. Nachher blickt der Erwachsene zurück – und wenn er dies in solcher Stattlichkeit, blühenden Frische und Gesundheit, mit solcher frühzeitigen Reifung des Geistes, der Verstandesschärfe tut, wie Reinold Keßler, so sagt er sich, es muß eben doch wohl immer Alles zu meinem Besten gewesen sein, da ich aus dem manchmal verständnislosen Knaben ein so tüchtiger Mann an Leib und Seele, eine so allgemein bei Männern und Frauen beliebte Persönlichkeit geworden bin. Es geht mir nichts mehr zu Herzen, als wenn ich dies – und das geschieht täglich – von Ihnen reden höre; ich fühle manchmal, ein Vater kann nicht stolzer auf seinen eigenen Sohn sein, als unter Umständen ein Vormund, der selbst keine Kinder besitzt, auf seinen –« Doktor Pomarius hielt einen Augenblick inne und glitt sich mit dem Handrücken über die Wimpern – »nun, ich will mich nicht wie ein altes Weib behaben, das ist der Lauf der Welt, wenn die Jungen flügge werden und aus dem Nest flattern, das sie behütet hat – aber machen Sie auch ferner meinem väterlichen Stolz und meinen Empfindungen, die Sie allezeit auf Ihren Wegen begleiten, Ehre, Keßler.« Er drückte eine halbe Minute lang meine Hand fest in der seinigen, trat an den Schreibtisch, suchte und zog etwas hervor. »Ich fand vor einiger Zeit noch ein altes Schulheft von Ihnen und betrachtete mit Rührung Ihre stöckerige, ungelenke Kinderhandschrift darauf – sehen Sie, kein Mensch, Sie selbst würden Sie heute nicht mehr als die Ihrige erkennen, nicht wahr? So wird aus einem Knaben ein Mann und aus seinen Krähenfüßen die feste, prächtige Schrift, in der sein Charakter sich ausdrückt, von der jeder, der sie gesehen, in unserer Stadt mit Bewunderung spricht. Ich allein, glaube ich, habe sie noch nie gesehen, wie ja meine Augen Sie selbst leider auch fast nie zu sehen bekommen – nicht wahr, das soll anders werden? ich bin, ja wahrhaftig, ich bin ein ältlicher Mann nachgrade, und wer weiß, wie lang' ich noch – na, kein Weibergeschwätz! Wovon sprach ich? – ja, lassen Sie mich doch auch einmal sehen, wie Ihre Handschrift sich so wunderbar verändert hat –«

Er drückte mich sanft auf den Sessel vor dem Tisch und gab mir eine tief eingetauchte Feder in die Hand. »Was soll ich schreiben?« fragte ich lächelnd.

»Dasselbe, wie hier auf dem alten Heft, das gibt den besten Vergleich.« Er zog einen großen weißen Foliobogen heran, und ich versetzte umherblickend: »Es wäre schade um das schöne Blatt –«

»Hehe, noch immer die alte Sparsamkeit mit Papier,« lachte Doktor Pomarius. »Wie mich das wieder erinnert – es war doch eine schöne Zeit, die schönste meines Lebens. Haben Sie die Tante Dorthe auch schon gesehen? Nun, wenn es Dich hier in alter Weise überkommt, mit dem Papier zu knausern, Reinold – verzeihen Sie mir, Keßler, aber es überkam meinen Mund auch so in alter Gewohnheit – so schreiben Sie hier unten, ich schneide dann das Stückchen ab und der schöne Bogen bleibt zu Ihrer Beruhigung gerettet.«

»Reinold Keßler.« – Ich hatte es mit besonderer Achtsamkeit geschrieben, Doktor Pomarius bückte sich über meine Schulter herab und stieß aus: »Wahrhaftig, wie gestochen! Die Leute haben ganz Recht. Kein Zug von Aehnlichkeit mehr mit der ungelenken Kinderhand da! Bitte, setzen Sie hinzu – damit ich auch von Ihrer lateinischen Handschrift eine Vorstellung bekomme – Studiosus der Naturwissenschaft, manu propria, unter'm heutigen Datum –. Es ist erstaunlich und das Blättchen wirklich nicht nur zum erfreulichen Gedächtnis für mich, sondern gradezu als kalligraphisches Muster aufbewahrenswürdig.«

Ich hatte geschrieben und stand auf – es lag wirklich Charakter in der sicheren Handschrift, wie sie groß und deutlich am Fußende des weißen Bogens stand – Doktor Pomarius ergriff meine beiden Hände: »Mein bester Freund, kann ich Ihnen sonst nicht noch einen Wunsch erfüllen? Sie wollen mich doch nicht schon wieder verlassen?«

Mein Gesicht rötete sich wohl abermals etwas, im Gedanken hatte ich in einem Juwelierladen gestanden und prüfend goldene Kettchen durch die Hände gleiten lassen. Ich versetzte: »Was mich eigentlich heut' veranlaßt, kann ich ein andermal – ich wollte – ich dachte, wegen meiner Mündigkeit im Herbst –«

»Wahrhaftig, im September ist ja schon Ihr zweiundzwanzigster Geburtstag,« fiel Doktor Pomarius höchlichst überrascht ein. »Wie die Jahre fliegen – tacitis senescimus annis – Sie nicht, Sie haben die Blütezeit Ihres Lebens noch vor sich und meine innigsten Wünsche begleiten Sie. Ja, wahrlich, am letzten September treten Sie auch vor dem Gesetz zu voller Selbständigkeit in die Welt – das Bewußtsein, daß ich Ihnen diese auch vorher nie verkümmert habe, gereicht mir zur besonderen Befriedigung. Es wäre allerdings auch engherzig-schulmeisterlich gewesen, einem jungen Manne gegenüber, der das Leben so klug aufzufassen verstanden und mit unserem Dichter weiß, daß keine Ewigkeit das zurückbringt, was wir von der Minute ausgeschlagen. Hehe, Ihr Gesicht redet mir, daß Sie mit Ihrer gesetzlichen Mündigkeit sich noch in ein anderes Studium zu vertiefen gedenken! Etwa in ein juristisches? Vielleicht Sponsalien? Habe ich Recht? Hehe, qui tacet consentire videtur, ist auch ein rechtlicher Grundsatz. Dann kommt die Pädagogik auch an die Reihe, eine Wissenschaft um die andere, eine wahre Polyhistorie, die aus der Monogamie entspringt. Doch was verstehe ich davon, ich alter einsamer Mann! Ich habe keinen Teil daran, als daß ich vormundschaftliche Rechnungsablage dazu beisteure, wie der Lauf so vieler Jahre allmählich sich zur Erreichung solches Glücksziels zusammensummirt hat. Da muß ich denn einmal Geschäftsmann sein, in meine Bücher, statt in mein Herz blicken und die Regel-de-tri zur Hülfe nehmen. Aber Sie können sich fest darauf verlassen, daß es bis zum bestimmten Zeitpunkt geschehen sein wird, es ist ja meine letzte Pflicht gegen Sie und nachher bleibt nur die Liebe, die freudig-traurige Erinnerung der vergangenen Obsorge. Gott befohlen, liebster Keßler! Ich sehe, daß etwas Sie von Ihrem väterlichen Freunde forttreibt und will Sie nicht aufhalten! Alles Gute, die schönste Erfüllung auf Ihren Weg bei Tag und bei Nacht! Hehe, werden Sie nicht wieder rot! Es ist nicht gut, sagt die Schrift, daß der Mensch allein sei, ich will ihm eine Gefährtin geben. Ah, ich bin immer allein und werde es nun doppelt fühlen, wenn Sie wieder von mir gegangen sind. Leben Sie wohl, Reinold, und vergessen Sie mich nicht ganz in Ihrem Glück!«

Hätte ich mir je als Knabe zu denken vermocht, daß ich in einer so menschlich-befriedigten, fast weichmütigen Stimmung über diese Schwelle gehen könne? Die Rührung des Doktor Pomarius hatte sich mir beinah mitgeteilt, drängte sich durch die innerlichen Vorwürfe, mit denen ich auf das altbekannte Haus zurückblickte. Wie anders erschien Manches dem Kinde, als die Wirklichkeit es später ergab. Gemeiniglich freilich zerstörte sie eine schöne Täuschung, doch hier hatte sie offenbar einmal ein edleres Gewerk betrieben und einen häßlichen, ungerechten Irrtum vernichtet.

Oder war trotzdem eine Möglichkeit vorhanden –?

Ich sah auf die Banknoten in meiner Hand nieder und ein Wort Philipp Imhof's summte mir durch den Kopf:

»Das ist der sicherste Beweis, daß ein Mensch Dich nicht zu betrügen beabsichtigt, wenn er Dir mehr Geld gibt, als er zu geben nötig hat.«

Doktor Pomarius hatte mir nicht nur, eh' ich gebeten, freiwillig gegeben, er hatte mir das Geld aufgedrungen, mich ersucht, mehr zu fordern.

Beschämt empfand ich, wie mißtrauisch-kleinlich es von mir gewesen, überhaupt des Imhof'schen Satzes als einer Bestätigung zu gedenken. War es denn nicht würdiger, edler gedacht, pflichtgemäßer, zu sagen: Ich war ein einfältiger Knabe damals und täuschte mich?

Besaß Aennchen eine Uhr? Die Frage gaukelte mir plötzlich durch meine Selbstanklage hindurch. Nein, so viel ich wußte, nicht.

Nein – sie stand mir in jedem ihrer Kleider bis auf's Kleinste vor Augen – unzweifelhaft nicht.

War eine Uhr nicht noch sinnvoller, als eine Kette, ein Ring? Auch von dem echten, symbolischen Metall und zugleich Leben enthaltend, bestimmt, unser Leben, unsern Herzschlag bis an's Ende mit seinem Pochen zu begleiten, jede freudige Stunde desselben zu deuten?

»Hast Du Deine Uhr aufgezogen, Aennchen?«

Das Herz stockte mir beinah', wie diese Frage mir deutlich, als hätte mein Mund sie gesprochen, durch den Maienglanz in's Ohr klang. Ich stand eine Minute danach im Laden eines Uhrmachers und suchte, doch keine entsprach meiner Erwartung. »Eine Damenuhr zum Geschenk?« lächelte der Händler; »ich habe hier noch ein kleines Kabinettsstück, aber ziemlich hoch im Preis.«

»Vergißmeinnicht!« – Die Rückseite war auf's Zierlichste und Kunstvollste mit einem hellblauen Blütenstrauß aus winzigen Türkisen eingelegt.

»Eignen würde es sich vermutlich,« sagte der Uhrmacher.

Mein Päckchen Banknoten schmolz bis auf einige zusammen, ich trat hastig mit heißem Gesicht wieder in's Freie hinaus –

»Eignen, ja – aber nötig, glaub' ich, wäre es nicht!«

*

Manchmal gestalten sich in der Erinnerung Stunden, Minuten selbst zu einer Unendlichkeit, zu anderen Malen schrumpfen Tage, Wochen ineinander, und was sie gebracht und genommen, scheint kaum eine flüchtige Stunde zu füllen. Gemeiniglich deutet das Letztere auf einen Zeitraum hin, der weder rechte Befriedigung noch ihr Gegenteil in sich geborgen, vielmehr ein Hinleben auf der Mittellinie zwischen beidem, mit leichten wechselnden Curven hinüber und herüber, ein Harren im halben Guten auf ein ersehntes Ziel, dem nur geduldige tägliche Wanderung näher zu bringen vermag. In solcher Zeit hat man stets viel Gewohnheitsmäßiges und manches Notwendige getan, hie und da, vielleicht öfter als man glaubt, hat sich auch Erfreuendes eingemischt, aber der ganzen Periode ist der Charakter des Interiministischen, der Unselbständigkeit aufgeprägt, sie ist Mittel zum Zweck gewesen und mit der Erreichung des letzteren für das Gedächtnis wertlos zusammengeschwunden.

In solcher Weise verrann auch mir wohl der Uebergang des Frühlings zum Sommer, an dessen Beginn mir als ein Markstein in gleichförmiger Gegend steht, daß Magda Helmuth mir eines Abends auf die Pforte ihres Garteneingangs gestützt, entgegenblickte und zurief: »Kommst Du wirklich noch, Reinold? Ich hatte mich schon gefreut, daß Du zur Strafe an der verschlossenen Tür umkehren müßtest. Morgen oder übermorgen oder wann es Dir einmal eingefallen wäre, wieder an einen Besuch bei uns zu denken.«

Eine leise Bitterkeit durchzog die lächelnd gesprochenen Worte, nicht mit Unrecht, denn sie besagten allerdings wahrheitsgemäß, daß ich meine alte Kinderheimat in der letzten Zeit, wie nie zuvor, vernachlässigt hatte, und es stieg aus ihnen das Bild vor mir auf, wie Magda an manchem Abend so gestanden und vergeblich nach mir die Straße hinabgesehen haben mochte. Doch eh' ich antworten konnte, empfand sie in ihrer Güte offenbar selbst, daß der Ton ihrer Anrede das Schuldbewußtsein in mir schon genugsam als Strafe wachgerufen habe, denn sie fügte rasch hinzu:

»Verzeih' mir, Reinold, ich wollte Dir keinen Vorwurf über Deinen Fleiß machen. Der Onkel Billrod ist ja so zufrieden mit Dir, wie seit langer Zeit nicht mehr – er bemerkt Deine Arbeitsamkeit freilich wohl besonders daran, daß er Dich so selten hier antrifft – aber es ist gut, daß er es auch weiß, damit er den dummen oder den schlechten Leuten mit ihrem Gerede den Mund stopfen kann –«

»Mit welchem Gerede, Magda?« fragte ich verwundert.

Sie zögerte. »Ach, solch' ein sinnloses Geschwätz, wie die Menschen es hier immer machen und von Einem zum Andern tragen müssen. Wozu soll ich's auch noch an Dich kommen lassen?«

Ich nahm ihre Hand. »Doch eben von Dir, Magda, hätte ich wohl ein Recht, es zu verlangen. Mich deucht – oder meinst Du 's nicht? – es geht auch Dich an, wenn man Uebles von mir spricht.«

Nun errötete sie, wie von einem freudigen Schauer überhaucht, und hielt meine Hand fester. »O ich meine es, gewiß – aber ich kenne Dich ja bis in's Herz, Reinold, und weiß, wie albern und unwahr es ist, wenn die Leute sagen, Du hättest so verschwenderisch und toll gelebt, daß Dir fast nichts mehr von dem Vermögen Deiner –«

Ich mußte auflachen und fiel ein: »Verschwenderisch? Wofür soll ich denn verschwendet haben?«

»Das weiß ich nicht; wie's die reichen Studenten machen, heißt's.« Magda stockte einen Augenblick. »Für Geschenke –«

Das war der einzige Kern Wahrheit – die Uhr für Aennchen. Sollte ich Magda davon sprechen? Es hielt mich etwas ab, wie ich noch nie Anna Wende's bei ihr Erwähnung getan. Wenn wir uns verlobt, das goldumränderte Blättchen der Welt dargeboten haben würden – zuvor hatte ich kein Recht, selbst der Schwester gegenüber nicht, das Geheimnis, das nicht meines allein war, zu offenbaren. Aber wer wußte von der Uhr und konnte so der Urheber des Geredes sein? Ich fragte –

Magda schüttelte den Kopf. Bestimmt wisse sie es nicht, doch man sage, Doktor Pomarius habe sich derartig ausgesprochen.

Der Gedanke, daß ich etwas verschwiegen, ließ mir ebenfalls das Blut in's Gesicht steigen. »Doktor Pomarius,« versetzte ich eilig, »der? O nein, der gewiß nicht! Dafür habe ich den besten Gegenbeweis!« Doch zugleich kam's mir, von wem das Gerücht herstammen könne und müsse – natürlich hatte der Uhrmacher es verbreitet, die Lawine der Fama es angeschwellt – und um weitere Berührung des Gegenstandes zu vermeiden, fuhr ich hastig fort:

»Du hast Recht, Magda, das Geschwätz albern zu nennen und zu sagen, daß Du den Leuten erwiderst: ich sei kein Mensch, der toll und verschwenderisch gelebt. Aber was hieß es, daß ich morgen vor eine verschlossene Tür gekommen sein würde?«

»Daß der Onkel Billrod und der Doktor es durchgesetzt haben, daß wir morgen für den Sommer auf die Insel hinausziehen – um meines Herzklopfens willen. Ich halte sie in meiner Laieneinfalt beide für gleich schlechte Aerzte, wenigstens für mich, denn ich glaube, daß mein Herzklopfen dort viel häufiger und stärker sein wird. Aber die Großmama will's auch, da muß meine Torheit sich wohl all' der Klugheit fügen. Ich wollte, Deine Wissenschaft wäre erst so weit, Reinold –«

Sie brach verstummend ab; ich hatte halb an Anderes gedacht und fragte mechanisch: »Wie weit, Magda?«

»Daß sie sich auf mein Herzklopfen verstände –«

Magda Helmuth ließ bei der Antwort meinen Arm fahren und bückte sich, um eine Blume am Gartenwegrand zu pflücken, doch in der Bewegung folgte mein Blick ihrer Hand, blieb auf dem blauen Geäder derselben haften und erkannte deutlich an ihm, daß der Arzt Recht haben mochte, auf der Uebersiedlung Magda's in die frische Seeluft zu bestehen. Nun hob sie sich wieder vom Boden und lächelte:

»Im Grunde bin ich töricht, daß ich nicht hinaus mag, es ist ja so schön draußen auf meinem Königreich, und vielleicht sehe ich Dich dort öfter dann, als hier in der letzten Zeit. O ich freue mich eigentlich so – Du hast mir's versprochen, wenn wir da sein würden, einmal mit mir allein bis zu dem Wald drüben auf der Uferhöhe zu gehen – wir wollten Wein und Brot mit uns nehmen, weißt Du's noch, Reinold? Gib mir die Hand, daß Du Dein Versprechen hältst und laß die Blume hier Dich daran erinnern –«

Es war ein Vergißmeinnicht, das Magda mir zugleich mit ihren beiden Händen entgegenhielt. »Gewiß. Du Liebe, Treue,« sagte ich herzlich, die Hände fassend. »Es soll ein schöner Tag für uns sein und er bedarf keines Gedenkzeichens, daß ich ihn nicht vergesse.«

*

Und es war ein schöner Tag, ein Augusttag, wie der nordische Sommer ihn nicht schöner zu bringen vermag. Ich war am Abend zuvor auf die Insel hinausgesegelt, die blühenden weißen und roten Rosen übergitterten noch das Häuschen, lang', eh' mein Boot landete, sah ich Magda's helle, sommerliche Gestalt an den grünen Ufersteg gelehnt mir entgegenblicken und mit dem weißen Tuche winken. Nun sprang ich an's Land, scheinbar zog ihre Hand mich hinauf, und sie und ich und Frau Helmuth saßen erst beim Untergang der Sonne, dann in der tiefen weichen Dämmerung, unwillkürlich mußte ich an Robert Lindström, Asta Ingermann und ihre Mutter gedenken, nur daß hier das Dunkel keinen Zauber wob, den der klare Tag verscheucht hätte. Doch nichtsdestoweniger klang es mir – eben aus jenen Gedanken kam's wohl herauf – als ob Magda's Stimme einen eigenen, wundersameren Ton habe, als ich ihn sonst je von ihren Lippen vernommen. So glücklich-freudig und träumerisch dazu, wie sie von ihrer Kindervergangenheit sprach und nicht müde ward, bald dies, bald jenes aus halber Vergessenheit – für mich oftmals aus ganzer – heraufzuholen, daß ich über ihr Gedächtnis, in dem der unscheinbarste Umstand haften geblieben, erstaunte. Dabei legte sie nach alter Gewohnheit ihre Hand auf die meinige – so hatte auch früher Asta Ingermann es in der Syringenlaube getan, und es kam mir in traumhafter Verwechslung, als sei es die Hand Aennchens, daß ich mit den schmalen Fingern spielte, manchmal sie fest umschloß und mich der lieblichsten Täuschung des Dunkels hingab. Ja, so wollte ich auch Aennchens Hand fassen, sobald der gute, der ersehnte einsame Augenblick nach Erlangung meiner Mündigkeit uns zusammenführen würde, und ihr sagen –

Was hatte sie gesagt, als ich ihr halb zaghaft die vergißmeinnichtblaue Uhr in die Hand gelegt? »Ich soll sie haben, Reinold? So etwas schenkt man doch eigentlich nur einer Schwester oder Braut.« – »Und ich denke, wer es nimmt, Aennchen, hat keinen Zweifel darüber, wem es geschenkt worden.« Da hatte sie gelacht – aus dem Nebenzimmer rauschte Lydia Imhofs Kleid –: »Nun, wenn es Eines sein muß, so denk' ich sind wir beide auch nicht im Zweifel darüber; hab' Dank – ich weiß außer meinen Brüdern niemand auf der Welt, der sie mir geben, von dem ich sie nehmen würde, als von Dir, Reinold –«

Lag nicht eine andre, stumme und doch noch fast deutlichere Antwort darin, daß sie ihren Besuch im Imhof'schen Hause so lang' schon ausgedehnt und nicht vom Fortgehen noch redete? Redete wohl, doch niemals Anstalt zur Ausführung traf. Was hielt sie zurück? Philipp Imhof, Lydia? Ich wußte, daß sie es nicht taten –

Traumhaft spielte meine Hand mit den Fingern, die das sommerliche Dunkel, wie Alles um mich her, überwob –

Nun tönte Frau Helmuths Mahnung hinein: »Wenn Kinder am andern Morgen in die Welt hinauswandern wollen, müssen sie am Abend rechtzeitig zu Bette gehen.«

»Es ist doch etwas Neues im Leben, zum erstenmal, daß wir zusammen unter einem Dach schlafen; das kann auch nur in meinem Reich geschehen, sagte Magda, wie wir uns trennten. »Schlaf' wohl, Reinold, meine Wasserstimmen drunten sollen Dich in den Traum singen. Weißt Du's noch, wie wir beide sie fast einmal gehört?«

Es kam mir mit plötzlicher Erinnerung. »Als der Alte hier sagte, dann denke man noch einmal an das, was einem das Liebste auf der Welt sei –«

»Woran dachtest Du damals, Reinold?« lachte Magda. »An den Vater Homer oder an Professor Tix? Gut' Nacht – denk' wieder dran!«

Ich schlief fest und lang, dann rief Aennchen mich plötzlich aus dem Traum – ich mußte mich besinnen – nein, es war Magda's Stimme, die aus dem Garten herauftönte: »Reinold, Langschläfer, wachst Du noch nicht!« Wie ich durch die Vorhänge blickte, stand sie schon reisefertig drunten in der hellen Sonne. – »Ja, ich komme, mein Herz; der Tag wird schön.«

»Herrlich, er ist's schon lange – o wie lange schon!«

Unten packte Frau Helmuth sorgsam unser Mittagsmahl in ein Körbchen und gab mütterliche Ratschläge dazu. »Freilich, wenn Reinold bei Dir ist,« schloß sie, »brauche ich mich nicht zu ängstigen; ich weiß ja, daß es Niemanden gibt, der achtsamer für Dich besorgt sein könnte. Du versprichst mir nur, Magda, Alles zu tun, was er von Dir verlangt.«

»Alles, Großmama, ich verspreche es feierlich!«

Magda lachte so glückselig dazu und tat's immer wieder, wenn sie stets auf's Neue des geleisteten Versprechens gedachte. Dann sah sie mich neckisch an; »Was verlangst Du jetzt, Reinold? Ich gehorche im voraus!« Es lag kein Zug, kein noch so leichter Schleier der alten Kinderschwermut heut' in den hellen Augen.

Wir fuhren hinüber an den Strand des Fischerdorfs, befestigten unsern Kahn und wanderten landein, doch parallel mit dem Ufer gegen Westen hinauf. Nun auf einsamer Fahrstraße, die breitgekrönte Eichen überschatteten, nun schmalen Fußweg entlang durch das goldighohe, schnittreife Korn. Der rote Mohn war abgeblüht, doch Cyanen und Ackerrade leuchteten noch dazwischen hervor, an den Wällen nickten die weißen Blütenköpfe der Silene. Magda pflückte und ordnete sie im Gehen zum großen Strauß, sie kannte jede Blume und begrüßte sie wie eine Freundin bei Namen. »Woher kennst Du sie?« fragte ich manchmal erstaunt. Aber auch sie schüttelte verwundert unter dem breiten Strohhut den Kopf: »Ich weiß sie alle von Dir – hast Du sie denn vergessen?«

Ich mußte lächeln, es gab so viel Andres zu behalten – »Du wirst Dich müde machen,« warnte ich.

»Müde? O nein, ich könnte so bis an das Ende der Welt gehen,« versetzte sie übermütig. »Soll ich tanzen? Verlangst Du's von mir, Reinold?« und eh' ich zu antworten vermochte, hatten ihre Hände mich gefaßt und drehten mich im Kreise mit sich herum. Ich mußte sie gewaltsam festhalten. – »Versprich mir, vernünftig und artig zu sein, wenn ich Dich loslasse?«

»Nein – ja – wenn Du –«

»Was?«

»Wenn Du mir versprichst, daß wir nach unserm Mittag im Wald tanzen wollen. Tanzen muß ich heut'!«

»Kommt Zeit, kommt Rat! Du bist wie ein Kind heut', Magda!«

»Können Kinder so rasch gehen?«

Sie schritt mir eilfertig vorauf und beherrschte offenbar die Mängel, die Schwäche ihres Körpers. Ich sah's an ihrer freudigen Zuversicht, sie glaubte in diesem Augenblick wie Andre zu gehen, und es war doch ein wehmütiges Bild trotz ihrer äußersten Anstrengung. Aber wie sie nun innehielt, erwartungsvoll sich umwandte und mir entgegensah, fühlte ich, es hätte ihr den schönen Tag durchschattet, wenn ich ihrem Wunsche nicht entsprochen, und ich sagte: »Wahrlich, der Arzt hatte trotzdem Recht, die Seeluft tut doch Wunder, Magda.«

Ihre Augen leuchteten auf, sie erwiderte nichts, sondern nahm jetzt stumm beglückt meinen Arm und wir gingen weiter. Von der Höhe sahen wir über Felder, Wälder und See, ganz klein kam die Spitze des grünen Kirchturms am Ende der Welt herauf. Manchmal hielten wir Rast, hoch über uns zog ein Bussard im Blau seine Kreise, die Sonne stieg in ihren Mittagspunkt, als wir das Ziel unserer Wanderung, den tief dunklen, verrankten Waldrand erreichten. Kaum hie und da war uns den Vormittag hindurch ein Dorfbewohner der stillen Landschaft begegnet, jetzt nahm die volle Einsamkeit grünen Dickichts uns auf, in das nur ein schmaler, fast unbetretener Pfad hineinführte. Kein Ton zwischen den mächtigen, altgrauen Stämmen, in dem hohen, halbdunkelnden Laub. Nur jetzt ein eigentümlicher, von hoch droben durch das grüne Zwielicht tiefhingezogener Laut, daß Magda sich plötzlich durch das Untergezweig des engen Wegrandes an meine Seite drängte und wieder meinen Arm faßte. »Was war das, Reinold?«

»Läßt Dich Deine Vogelkenntnis einmal im Stich?« lachte ich. »Eine Wildtaube, die sich nach ihrem Liebsten sehnt – was hast Du?«

Sie stand still und sah von mir abgewendet in den Wald. »Mir graut's hier beinah' – wollen wir nicht in die Sonne zurück? Es ist so todeseinsam –«

Sie sprach's nicht aus, aber ich fühlte es aus ihrer Hand in die meinige, daß sie plötzlich unter einem heftigen Anfall ihres Herzklopfens litt. »Wir sind gleich an der Stelle, die ich mir für unsere Mittagsrast ausgedacht«, versetzte ich; »Du bist zu schnell gegangen, da sollst Du Dich ausruhen – ich verlange es.«

Das letzte fügte ich hinzu, weil sie mich jetzt wie mit abwehrenden Augen angeblickt hatte, ich zog sie zur Linken umbiegend mit mir, der Taubenruf vermurmelte hinter uns in der Waldtiefe. Vor uns jedoch öffneten sich nach kurzer Weile die grauen Stämme über tiefem, köstlichem Moosgrün, ein leises Rauschen, wie von frischem Atem getragen, schlug uns entgegen, und wir standen unter der hohen Buchenhalle im Schatten und doch in fast blendend zurückgeworfenem Goldlicht, mit dem die Spiegelung der Mittagssonne auf der weit hinausgedehnten See alles um uns übergoß. Ein schroffer, abgespülter Dünenstrand fiel gelbfarbig unter uns auf den glänzenden Vorstrand hinab, dann lag der blaue Himmel draußen und das blaue Meer, und wie die letzten Wächter des festen Landes wölbten die grauen Säulenträger der grünen Domkirche ihre Kuppeln gegen die spielenden Wellen hinaus.

Nun war die kurze, ängstliche Befangenheit Magda's mit einem Schlage vorüber. »O, hier ist's wie im Himmel und wieder mein Reich!« rief sie, »denn jetzt hat die Hausfrau zu tun.« Sie griff nach dem Korb und leerte seinen Inhalt aus. »Da ist Dein Mittagsplatz, Reinold, und hier meiner, und da ist der Katzentisch für unartige Kinder –«

»Der wird wohl leer bleiben«, fiel ich lachend ein. Magda hatte ihre Anweisung plötzlich abgebrochen und hantierte eine Weile stumm vorgebückt mit den Holztellern, Eßwaren und sonstigen Schätzen des Korbes. »O weh!« rief sie dann, mir das Gesicht wieder zuwendend, »die Großmama hat gedacht, ich solle keinen Wein abbekommen und nur ein Glas eingepackt.«

»Brauchen wir denn mehr, um ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen?« fragte ich.

Magda sah mich an. »Wenn ich mit aus Deinem Glase trinken darf –«

»Mich dünkt's wohl umgekehrt, wenn ich mit aus Deinem trinken darf? Aber wenn ich zurückdenke, scheint mir's, als wär's nicht zum erstenmal und als hätten wir's sonst getan, ohne zuvor erst drüber zu reden.«

»O, die schöne Zeit – nein, es ist heut' ja noch viel schöner!« rief Magda. »Die Tafel ist serviert, Herr – gefällt's Euer Liebden?«

»Wenn Euer Liebden befehlen.« Sie hielt sich ceremoniös, doch ihr Blick forderte mich auf, ihr den Arm zu reichen, und sie zum Speiseplatz zu führen. Da ließ sie mich los und knixte – sie glaubte offenbar wieder, daß es ihr in förmlichster, damenhafter Weise gelungen sei – und ich verbeugte mich und wir lagerten uns in das weiche, herrliche Moos. »Ich habe Hunger und Durst wie ein Bauernkind, das Pferde auf der Weide eingefangen,« lachte Magda.

Es mundete köstlich in der vereinigten See- und Waldluft, unter dem zusammenfließenden Rauschen der Wellen und Wipfel. Wir aßen und tranken – »Ein's ist doch dabei, wir können nicht anstoßen«, meinte Magda, »und es würde so hübsch durch's Grün hier klingen.«

»So trinken wir ohne Klang, auf das Klingen im Herzen kommt's an.« Ich reichte ihr das volle Glas, sie setzte es an die Lippen und sagte, mir über den Rand mit ihren Veilchenaugen in's Gesicht nickend: »Auf Dein Glück, Reinold!«

Ich saß beschämt; sie dachte meiner, während ich im Gedanken die andere Hälfte schon auf Aennchens Wohl getrunken hatte.

»Und auf Deines, Magda!« erwiderte ich schnell und fühlte, daß ich errötete, wie ich das Glas aus ihrer Hand zurücknahm. Sie nickte wieder mit stummem Glanz ihrer Augen, und ich lenkte halb verwirrt ab: »Sieh das Schiff dort!«

Ein weißes Segel zog weit am Horizont, die helle Sonne strahlte von der Leinwand. »Komm!« winkte Magda ihm mit der Hand.

»Was soll's?«

Sie lehnte den Kopf an den grauen Buchenstamm hinter ihr zurück und lächelte: »Ich wollt', es käme und holte uns von hier und wir führen mit ihm über die See, in's Meer, in den Ozean, immer weiter und immer weiter, wie's in den Märchen heißt.«

»Und wohin denn zuletzt, Magda?«

»Auf eine Insel – sie brauchte nicht größer zu sein, als meine da drüben – das sollte unser Reich sein. Aber Brotfruchtbäume müßten darauf stehen, von denen man nur zu pflücken hätte, und ein süßer Quell, und Vögel, die uns ihre weichen Federn hergäben, um drauf zu schlafen.«

»Du sprichst wieder wie als Kind, wie damals, als ich anfangs glaubte. Du hättest Alles, wovon Du redetest, wirklich erlebt und gesehen.«

Magda hatte die Augen geschlossen gehabt, öffnete jetzt langsam die Lider und sah mich an. Und in ihrem Blick stand deutlich, sonderbar zu lesen: »Ich hab' es auch Alles erlebt in dieser Sekunde,« aber ihr Mund sprach Anderes und erwiderte:

»Erzähle Du mir etwas, Reinold – etwas, das weniger töricht und unmöglich ist. Es muß sich hier so hübsch zuhören; ich schlafe nicht, wenn ich auch die Augen zumache.«

Sie legte den Kopf auf's Moos zurück, ich besann mich. Magda hatte Recht, es war Ort und Stunde, die Einbildung in die Welt hinausschweifen zu lassen, zu hören, wie auch selbst zu sprechen. Aber was? Ich wußte es kaum noch, als ich schon begonnen, daß sich mir die Geschichte Robert Lindström's und Asta Ingermann's über die Lippen gedrängt, wie mein Gedächtnis zu ihrer Wiedergabe fähig war.

Ich erzählte sie als etwas Fremdes, Gelesenes, und Wellen und Wipfel murmelten d'rein. Magda regte sich nicht; dann plötzlich erschrak ich und stockte. Ohne Arg hatte ich die Erwiderung des Vormundes an Robert Lindström gesprochen: »Frag' ein Mädchen, notabene, wenn es kein Krüppel, keine Blinde, höchstens keine Einäugige ist.«

Kein Krüppel – das Wort durchzuckte mich zum erstenmal mit einem verkörperten Verständnis. Also wenn Robert Lindström Magda Helmuth gefragt haben würde –

Doch sie, um deren willen ich erschrocken innegehalten, öffnete ruhig die Augen. »Warum erzählst Du nicht weiter, Reinold? Du glaubst gewiß, daß ich doch einschlafe, aber ich habe Alles gehört: Kein Krüppel, keine Blinde und keine Einäugige – siehst Du?«

Ihr Mund lächelte; das Wort, das mich stocken ließ, war an ihr abgeglitten, ohne eine Brücke zu ihr selbst hinüberzuschlagen, und ich setzte die Erzählung bis zum Ende fort. Als der Schluß herannahte, richtete Magda sich auf und hörte mit stummen weitgeöffneten Augen. Dann schwieg sie eine Weile und sagte darauf langsam:

»Das ist eine traurige Geschichte, aber ich kann mir denken, daß sie sich einmal im Leben zugetragen hat, und wenn es so war, hatte Asta Ingermann Recht.«

Ich erwiderte: »Du sprichst ihr keine Schuld zu, Magda? Mich deucht, sie hätte nur Recht gehabt, wenn sie einen Anderen geliebt –«

Doch Magda fiel, den Kopf schüttelnd, ein: »Wir fühlen das vielleicht anders, als ihr. Ich kann mir denken, daß ein Mensch der beste, edelste, geistvollste wäre und doch von einer solchen Häßlichkeit, daß kein Mädchen – nur eine Blinde, doch selbst eine Einäugige und ein Krüppel nicht –«

Sie stockte, aber hatte das böse Wort wieder so gelassen ausgesprochen, daß der Grund ihres Verstummens offenbar nicht in ihm zu suchen war.

»Daß –?« fragte ich.

Magda blickte sich einen Moment um. »Wenn es, um ein Beispiel anzuführen –«

Sie hielt wieder inne und setzte erst, als mein Blick sie zum Weitersprechen aufforderte, leiser hinzu: »Es ist schlecht von mir, aber wenn es der Onkel Billrod wäre. Da würde alle Vortrefflichkeit auch sein – nein, es ist sündhaft, Reinold, so zu sprechen. Ich will mich freuen, daß er übermorgen zu uns heraus kommt und einen Monat lang bei uns bleiben will. Weißt Du's nicht, und hat er Dir nichts davon gesagt? Sag' ihm auch nicht, daß Du heute hier gewesen bist, es könnte ihn ärgern – Du weißt ja, er ist wunderlich – und ich will ihm gewiß nicht weh tun. Aber eigentlich kann ich mich nicht darauf freuen, daß er so lange bei uns bleibt. Es ist recht undankbar, schilt mich dafür! Er hat so viel für mich getan und ich schulde ihm Alles, was ich weiß und kann und geworden bin. Aber das Alles reicht doch noch nicht aus, um zu verlangen – und das Leben hat er mir mit Gefahr seines eignen gerettet, und ihm dank' ich's, daß Du zu uns gekommen bist, Reinold. O daran will ich auch gewiß immer denken, wenn ich ihn sehe, und wenn – wenn – ich wollte nur, der Monat wäre vorüber.«

Magda hatte es gegen ihre sonst immer so klare Weise unschlüssig, manchmal nachdenklich und dann hastig fortfahrend, ja im Zusammenhange für mich zur Hälfte unverständlich gesprochen. Ich dachte vergeblich über den Sinn ihrer Worte; es war mir zuweilen aufgefallen, als habe ihr früheres Verhältnis zu Erich Billrod sich im Gang der letzten Jahre etwas verändert, doch es ließ sich mehr undeutlich empfinden, als sehen und hören, und ich wußte nicht, wer und was die Schuld daran trug. Indes ehe meine Gedanken auch jetzt einen Stützpunkt gefunden, von dem aus es ihnen möglich geworden, zu einem Verständnis zu gelangen, hub Magda wieder an:

»Was reden wir vom Morgen, laß uns vom Heut' sprechen, Reinold, von Dir. Hast Du Dir Dein Leben aufgebaut, draußen und drinnen, daß es mit seinem Können und Wollen deutlich vor Dir liegt, von einem schönen Ziel her Dir winkt und leuchtet? Ich müßte ein solches stets vor Augen haben, wenn ich ein Mann wäre, und könnte nicht so in das Künftige hinaussehen, wie hier auf das Meer, das ohne ein Ufer drüben aufsteigen zu lassen, mit planlosen Wellen hin und wieder treibt. Sag' mir, wohin lenkt der Steuermann Reinold Keßler seine Segel?«

Es war so schwesterlich besorgt, so innig-teilnahmsvoll gefragt, sie hatte wohl ein Recht dazu, wie kein Andrer auf Erden, und ich antwortete es ihr, und als Erwiderung legte sie schweigsam traulich ihre Hand auf die meine. So sprach ich ihr von meinen Plänen, der arbeitsamen Ausdauer, deren ich mich zu rühmen vermochte; sie schaltete klug verständnisvolle Fragen und zustimmende Aeußerungen ein: »Und dann, wenn Du so in einigen Jahren an das Ende Deiner Studien gelangt bist, Reinold?«

»Dann, Magda« – nein, Aennchens Name wollte mir nicht über die Lippen, aber ich konnte es ja sagen, ohne ihn zu nennen – »dann ist es wohl Zeit, zu denken, es sei nicht gut, wie das alte Buch sagt, daß der Mensch allein bleibe –«

Ich sagte es lächelnd und ihr in's Gesicht blickend, doch ich fühlte, daß ich dabei errötete, und dann stockte ich plötzlich. Magda's Augen gingen an mir vorüber auf die See hinaus, doch ihre Hand zitterte leise auf der meinigen – ich empfand zu spät, wie weh mein unbedachtes Wort ihr getan haben mußte. Sie war ja, aller Wahrscheinlichkeit nach, verurteilt, immer allein zu bleiben – und dennoch, trotz der Bitterkeit, die augenblicklich durch ihre Seele gehen mochte, fühlte ich einen kaum merklichen leisen Druck ihrer Hand, mit dem die Schwester aussprach, daß sie sich meines Zukunftsglückes freue. Ich erwiderte herzlich mit stummem Druck ihren Glückwunsch und stand in halber Verwirrung auf. »Es wird spät, Magda, wir müssen an den Heimweg denken.«

Nun ordnete sie unser Mittagsgerät wieder in den Korb, ich nahm ihn und trat rückwärts in den Wald hinein. Nach einigen Schritten wendete ich mich instinktiv um, Magda stand noch an der Buche und ich rief: »Komm, wonach siehst Du?«

Sie blickte mir durch das grüne Waldlicht entgegen. »Haben wir nicht etwas vergessen?«

»Ich glaube nicht.« Doch ich schritt zu ihr zurück. »Was sollte es sein?«

»Hast Du nichts vergessen, Reinold? – Wir kommen wohl in unserem Leben nicht wieder hierher.«

Indes ihre Augen suchten nicht auf dem Boden, sondern schauten mir nur immer noch groß und unbeweglich in's Gesicht. Nun wiederholte ich: »Nein, gewiß nichts, Magda,« und sie antwortete leise: »Du mußt es wissen,« und wir gingen. Als wir aus dem Wald heraustraten, stand die Sonne schon schräg, ein Windhauch lief manchmal über die goldenen Rücken der Felder, um uns schwankten die hohen Halmspitzen am Rand des Fußsteiges. Der Weg erschien länger als am Morgen, mir nicht, aber ich fühlte, Magda sei ermüdet. Sie sprach es nicht aus, doch willigte gern in immer häufiger wiederholte Rast. Allmählich umzog abendrötliches Licht den Horizont, so gelangten wir auf die einsame, von Eichen überwölbte Fahrstraße zurück und lagerten uns an den grünen Waldrand. Hin und wieder flimmerte es schon wie eine winzige Tauperle an den Blattspitzen des Wegwarts um uns her, kühlerer Luftzug säuselte über uns im Gezweig. Wir saßen schweigend, dann sagte Magda mit eignem Klang: »Nun ist der schöne Tag vorüber –«

Ich hörte es halb, und halb sah ich auf etwas hin, das plötzlich meine Augen auf sich zog. Etwas Hellschimmerndes im dunklen Hochsommergrün – nun erkannte ich's, und es überlief mich mit sonderbarem Schauer. Es war ein weißer Schmetterling, der noch im tiefen Schatten der beginnenden Nacht einsam an dem Eichenstamm hinflatterte.

Ein Schauer schmerzlich-trüber Poesie war's, der bis in's Herz hinabdrang, und es überkam mich mit tiefer Wehmut, daß ich unbewußt mich hastig niederbückte und meine Lippen auf Magda's arme, schöne Hand drückte. Kam bei dem einsamen weißen Falter das traurige Gleichnis auch ihr zum Bewußtsein? Sie schlang plötzlich ihren Arm fest um meinen Nacken und ich sah nicht, ich hörte zum erstenmal das ungestüme Herzklopfen in ihrer Brust.

Arme Magda –

Nein, wie seltsam täuschte ich mich, oder wie schnell zwang sie sich zu jener heiteren Freudigkeit zurück, mit der sie mich stets begrüßte, als ob das Leben nicht bitterstes Mißgeschick, sondern ein goldenes Los in ihre Wiege gelegt. »O wie herrlich ist die Welt, wie wonnevoll ist's zu leben!« rief sie jubelnd aus. »Sieh' den Schmetterling da, Reinold, er hat noch nicht genug von dem köstlichen Tag und fliegt noch selig umher!«

»Er sucht sein Schutzdach für die Nacht, Magda, wir müssen es auch noch. Fühlst Du Dich wieder kräftig genug?«

Müssen wir? Können wir nicht auch bleiben, wo er bleibt? Mit dem ganzen Himmel über uns –? Du hast Recht, Reinold, es ist töricht. Ob ich kann? O ich bin so stark – und Du hast doch nicht mit mir getanzt – Asta Ingermann war dran Schuld. Aber ich behalt' es zu Gute, nicht wahr?«

Wir setzten unsern Heimweg fort, doch mir hatte richtig geahnt, daß Magda ihre Kraft überschätzt habe. Sie konnte ihr Gemüt zum Frohsinn zwingen, nicht den ermatteten, immer schwerer nachziehenden Fuß. Ich vermochte ihre stumme Mühsal nicht mehr zu sehen und sagte: »Komm, Magda, ich trage Dich das letzte Wegstück.«

»Nein, ich kann –«

»Liebes Mädchen, sei nicht töricht!«

»Nein – ich bin Dir zu schwer – o nein –«

»Du schadest Dir, und ich verlange es, muß es verlangen.«

»Für die Großmama?«

»Nein, für mich selbst.«

»Dann muß ich Dir gehorchen.« Sie stand, und ich nahm sie auf die Arme und trug sie. Sie legte die Hände um mich, daß ich sie in der Dämmerung unter meinen Augen schimmern sah. »Hab' keine Sorge und halte Dich gut,« sagte ich, »Du bist so leicht wie ein Kind.«

Sie erwiderte nichts; es war nicht ganz wie ich gesagt, sondern sie war ein großes Mädchen, dessen zarter Gliederbau doch allgemach mit beträchtlicher Schwere auf mir lastete. Indeß der Weg dehnte sich nicht mehr lang und ich erreichte glücklich mit ihr unser Boot, löste es und stieß es vom Ufer ab. Vor uns hinüber hob sich's wie ein tiefglühender Brand vom Horizont, eine Sekunde lang mich wirklich täuschend, dann erkannte ich die im Dunst aufsteigende, feurige Mondscheibe. Ich wandte ihr nun während des Ruderns den Rücken, doch allmählich überfloß sie die Ruderwellen mit weißen spielenden Lichtern. Es nahm mich Wunder – »Sind wir denn so langsam gefahren, mich dünkt, wir müßten längst an der Insel sein,« sagte ich zu Magda, die schweigsam das Steuer in der Hand gehalten. Sie antwortete nichts und ich wendete mich um, doch keine Insel lag vor uns, sondern nur Wasser rund umher; Magda hatte, ohne daß ich es bemerkt, das Boot in eine falsche Richtung gelenkt. Verwundert sah ich sie an, jetzt nickte ihre Stirn mir durch das Mondlicht und sie lächelte: »Wenn man klug ist, kann man den Tag doch noch eine Weile um sein Ende betrügen. Es ist die Vergeltung für das Tanzen, Reinold – Asta Ingermann hat's mir zugeraunt, sie hatte ja auch die Mondnacht so gern. Nun bist Du einmal in meiner Hand und wenn Du jetzt nicht tust, was ich verlange, steure ich nach meiner Insel – nicht nach der, auf die Onkel Billrod übermorgen kommt, sondern nach der andern – Du weißt, immer weiter und immer weiter – wie's in den alten Märchen heißt – – –«

*

Es war am andern Nachmittag, als ich von Erich Billrod für sein zeitweiliges Hinausziehen auf die Insel Abschied nahm. Er packte Bücher und Papiere in seinen Koffer, dazwischen griff seine Hand plötzlich in ein Schubfach des Schreibtisches, zog einen kleinen eingewickelten Gegenstand hervor und reichte mir ihn mit den Worten entgegen: »Ich denke mir, daß Du gern das Bild Deiner Mutter im Besitz haben willst, Reinold Keßler. Da ist es, nimm's, Du hast mehr Anrecht darauf, als ich.«


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