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[Einleitung]

Die Sonne schien, als ich die vorliegende Erzählung schrieb, wie an dem Herbstsommertag, mit dem sie schließt. Ein sonderbares Klingen und Ahnen ging wehmüthig durch die Luft; die Astern standen buntfarbig geheimnißvoll im Sonnenschein und sahen mich todesahnend an, wenn ich in der Morgenfrühe zu ihnen hinabkam, und der weiße feine Reif über den Gräsern lag. Er sah zierlich und leuchtend aus wie ein bräutlicher Spitzenschleier, und es waren poesiereiche Gemüther, die ihn in wohlgestimmten Accorden und holperndem Text als solchen besangen; aber die Vögel, die nicht mehr jubelten, und die bunten Astern wußten es besser, und von ihnen erfuhr ich, daß es ein Todtenlaken sei, an dem Frau Holle nächtlich fortwebe, bis es stark genug wäre, um dem Sonnenschein zu trotzen und Himmel, Erde und Blumen mit gleichfarbigem Sterbeweiß zu überziehen.

»Und sie webt es auch für euch Menschen«, wisperten die kleinen Unheilpropheten schadenfroh-vertraulich fort, »diesmal werdet ihr mit uns sterben, wenn der Winter kommt, es wird ein allgemeines großes Sterben sein«, und die letzten Schmetterlinge wiegten sich lauschend über den flüsternden Kelchen und klappten die zerflatterten, farblosen Flügel bejahend auf und zu. Endlich kam ein Trauermantel geflogen, der die neueste Kunde brachte, und um ihn sammelte sich das ganze Geschlecht Vanessa, die Admiräle mit ihren hochrothen Aufschlägen auf der dunklen Sammetuniform, die klugen Füchse und die eitlen neugierig-zudringlichen Pfauenaugen. Auch verspätete Bläulinge, wie lebendig gewordene Hanfblüthen, gaukelten herzu – der Plebs der weißen Kohlfalter hielt sich aufhorchend in respectvoller Entfernung – und der silbernumränderte Patriarch hielt eine lange Rede über die Vergänglichkeit und Eitelkeit des Lebens und die Gleichberechtigung aller Creaturen vor dem Frost, dem Erbfeind aller Lebendigen.

Ich kann nicht läugnen, daß es mich dabei im schönsten Sonnenschein etwas überfröstelte. Die geheimnißvollen Gespräche der kleinen Welt vor mir stimmten seltsam mit den Berichten überein, welche uns die Zeitungen täglich aus der großen Welt draußen übermittelten. Auch durch diese ging das prophetische Klingen und Ahnen eines kommenden Unheils, und Abends sprachen die Leute vor der Thür mit furchtsamen Gesichtern von der Cholera, die aus Egypten an der mittelländischen Küste gelandet und wie viel Opfer sie täglich verzehre, und wie viel Meilen sie jedesmal, auf uns zurückend, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang vorwärts mache.

Dazu flog der Altweibersommer mir um die Stirn und verdeckte mir oft mit seinem dichten Gewebe die Augen, daß ich alle Gegenstände durch ihn wie trüb verschleiert erblickte. Um mich fielen die Blätter, und gedankenlos griff ich nach dem alten Buch, das ich schon manchmal in Herbstestagen zur Hand genommen. Nach dem Buche, in welchem die tausendjährige Klage eines Volkes stand, um den Bruch des Bundes, den sein Ahnherr mit Jehova gestiftet, vor dessen Angesicht die Geschlechter hinschwanden, wie das Sommerlaub vor mir, und die immer gläubig warteten und vertrauensvoll fortharrten auf den Frühling des verheißenen Messias – –

Es ist das ein Buch, das man im Herbste lesen muß, um es zu verstehen. Und wenn man es recht verstehen will, muß man als Commentar die Geschichte dazu lesen. Und wenn man es in seiner Tiefe begreifen will, da muß man es am Meeresstrande lesen, wo die Wellen kommen und sich überstürzen, eine nach der andern, und auf den Sand hinrauschen und wieder zurückrollen ins ewige Gewoge des Meeres.

Die Bücher aber, die ich als Commentar las, waren der Zeit angemessen, denn sie enthielten die Krankheitserscheinungen dessen, was wir die Weltgeschichte, die Lehrerin der Gegenwart, benennen. Dicht zusammengedrängt waren die unheimlichen Stoffe darin, welche, das Verderben über die Erde ausstreuend, aus den Jahrhunderten auftauchen, ihnen ihr Gepräge verleihen und verschwinden. Die den Körper tödten und den Geist mit Finsterniß umhüllen; die Epidemien der Seele und des Leibes, diesen mit greifbaren Geschwüren, mit ekelhaftem Auswurf behaftend, jene unsichtbar vergiftend, unheilvoller mit den großen Geschwüren des Hasses, der Habgier, des Fanatismus überdeckend. Und wie ich jene Commentare zusammenlas mit dem Buch der Bücher, da begann ich den Klageschrei zu verstehen, der aus seiner Tiefe kam. Die große, tausendjährige Krankheit des alten Volkes stieg vor mir auf, ich sah sie – ich sah den Fluch Jehova's, der auf ihm lastete, denn es war der Wahnwitz, mit dem das Gehirn seiner Mitmenschen geschlagen wurde, wohin es in seinem Elend kam und seine zerstörten Tempel aufzurichten suchte.

Das Mittelalter mit seinem schwarzen Tod, seinen Ausgestoßenen, seiner blinden, rechtlosen Willkür ist vorüber und seine rohe Barbarei vom Throne gestürzt. Doch die feine ist geblieben und wendet sich unausgesetzt wider ihre alten Opfer. Die Zenithgluth des zügellosen Grimmes, welche Scheiterhaufen und Städte entzündete, um Unschuldige zu martern und zu berauben, ist im kühleren Luftzug der Neuzeit erloschen. Die Leidenschaft ist in den Adern der alternden Mutter Europa verraucht, aber der Altweibersommer umspinnt mit häßlichem Gewebe die verrunzelten Züge der Matrone. Und die feine Barbarei lebt in den Herzen fort. Sie hat ihre Paria's bewahrt und mit der zusammengestürzten Ohnmacht ihres Grolles hat seine Fläche sich ausgedehnt. Wie er das unterdrückte Volk des Mittelalters weniger um den Vorwand des Glaubens als um seine Betriebsamkeit, seine Ausdauer, seinen Verstand, die Schönheit des Glaubens und die Vorzüge des Geistes haßte, so erstreckt er sich heute unter dem alten Deckmantel der Häresie auf jede Begabung, die neiderfüllend aus der Menge aufragt. Die Weiber weinen über die Ungläubigen und christliche Facultäten schlagen pharisäerhaft an die besoldeten Staubkisten ihrer Autorität und rufen wehe über die Verirrten, die nicht Schafe zu ihren Füßen bleiben wollten, sondern Böcke mit stoßenden Hörnern geworden. Aber von ihren Hofrathszähnen trieft das heimliche Gift und die frommen Thränen des Altweibersommers, der über der Erde schwebt, mischen sich darein und brauen den ekelhaften Krankheitsstoff zusammen, an dessen chronischer Wirkung unsere Zeit darniederliegt.

Die vorliegende Erzählung ist die Darstellung eines einzelnen acuten Falles am Krankenbette der Menschheit. Die Geschichte hat ihn aufgezeichnet mit allen seinen Schrecken, seiner für uns stolze Epigonen unglaublichen Umnachtung der Vernunft – kommenden Geschlechtern wird sie die langweilige, lähmende Fieberohnmacht unserer Tage überliefern und die unauslöschlichen, abgeschwächten Symptome der wüsten Verstandesepidemien des Mittelalters in ihnen darthun.

Ja, schön bist du freie, unendliche, wogende See! Der Wahnwitz der Menschen beherrscht nur die feste Rinde des Erdballs, aber dein Athem verweht ihn, und seine Hand erlahmt vor deiner Stärke. Du bist wie die Geschichte, die den Mächtigsten in den Staub zurückweht, der ihn gebar, und wie Jahrhunderte rollen deine Wellen –

Ich saß oft am Meeresstrande in den Tagen, als die schlimmen Berichte des Mittelalters sich zu lebendigen Bildern vor meinen Augen gestalteten, und die Wellen mögen manchen Gedanken aus ihrer Tiefe heraufgezaubert haben, der mir sonst niemals gekommen wäre. Schiffe mit glänzenden Segeln kamen und gingen über die große Bühne des Lebens, und Ruhe kam über mein Herz. Denn ich gedachte der großen, ordnenden Hand, nach deren Gesetz jede Welle zu meinen Füßen aufrollte, und ich gedachte, wie Millionen daherkommen müssen und in fruchtloser Brandung zerschellen, bis das Meer, bis die Menschheit erobernd einen Schritt vorwärts thut, auf dem sie sich siegreich behauptet.

Manchmal dachte ich auch der zierlichen Kiesel, die Marie am Strande suchte, wo sie aufgethürmt zwischen Muscheln und ausgeworfenen Seepflanzen umherlagen, und ich dachte, wie lange Frist seit der grauen Urzeit vergangen sein müßte, in der das Meer sie von der trotzigen Felsküste Norwegens losgebrochen, bis es ihre schroffen Zacken zerrieben, ihre rauhen Flächen abgeschliffen und sie so hübsch und nutzbar gerundet habe, wie sie da zu unsern Füßen lagen – –

Die Sinnesart der Menschen mag zäher und härter sein als Granitkiesel, rastlos spülen die schleifenden Wellen der Zeit auch über sie, und wer lauschend zu ihren Füßen sitzt, versteht das Geheimniß ihrer Kraft.

 

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