Ina Jens
Hannelore im Urwaldwinkel
Ina Jens

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Ausfahrt

Als Hannelore fünfzehn Jahre alt war, machte sie ihre erste Reise vom »Rincón« in die Welt hinaus. Obwohl diese Reise voll kleiner und großer Aufregungen war, nahm sie doch ein so eigenartig glückliches Ende, daß sich auch Unbeteiligte darüber freuten, wenn man ihnen davon erzählte.

In Hannelore, dem Kinde der Wildnis und Einsamkeit, war nämlich plötzlich die Sehnsucht nach der Großstadt, nach dem Leben in der Welt draußen erwacht. Schuld an diesem Erwachen trug aber nicht etwa die Abgeschiedenheit des stillen Erdenwinkels oder die aus einem Nichts entstandenen Träume und Wünsche ihres jungen Mädchenherzens, sondern die kleine, phantasievolle Inge Henriksen, eine quecksilberige Plappertasche aus der Hauptstadt.

Henriksens und Siewers verband eine alte Freundschaft aus jener Zeit, da sie gemeinsam die deutsche Heimat verlassen hatten und ausgewandert waren, Henriksens nach Santiago und Siewers auf die Insel. Seither waren viele Jahre vergangen, ohne daß sie sich je wieder gesehen hatten, aber im Herzen war die Zuneigung, die sie füreinander empfanden, immer gleich geblieben.

Auf eine dringende Einladung der Freunde im »Rincón« hin hatten sich Henriksens endlich entschlossen, die weite Reise von der Hauptstadt auf die ferne Insel zu machen, und so war es geschehen, daß mit dem tiefblauen Himmel und der goldnen Sonne des Hochsommers auch die gleichaltrige Freundin zu Hannelore in den »Rincón« kam.

Die beiden Mädchen verstanden sich vom ersten Tage an vorzüglich. Sie waren so grundverschieden, daß eine die andre fast magnetisch anzog. Für Hannelore war Inge ein schillernder Vogel aus einem fremden Zaubergarten, während Inge in dieser Hannelore mit den großen, blauen Augen, den goldnen Zöpfen und dem stillen, sichern Wesen so etwas wie ein verwunschenes Märchenkind sah. 98

Während der schönen Sommertage, an denen die zwei Mädchen stundenlang durch die grüne Einsamkeit der Wälder ritten, kam unendlich viel zwischen ihnen zur Sprache, und Hannelore vernahm Dinge und Begebenheiten, die ihr bis dahin so fremd wie Mond und Sterne gewesen waren, ihr aber grenzenlos schön und verlockend erschienen.

Inge, der das Leben im »Rincón«, so einfach und ruhig es auch war, doch fein und großartig vorkam, hatte nämlich auf einmal das Bedürfnis, Hannelore gegenüber mit etwas zu prahlen, was diese nicht besaß, und sie begann, allerlei mögliche und unmögliche Dinge aus der Großstadt zu erzählen und immer so, als ob sie selbst das alles jeden Tag erlebe.

Sie sprach vom Kino, von Tanzvergnügungen, von Autofahrten in die Cordillera, von Hockey- und Tennisspielen und vielen ähnlichen Unterhaltungen. Hannelore lauschte mit angehaltenem Atem und steigendem Staunen, und als sie eines Tages Inge gestand, daß sie für ihr Leben gern auch einmal nach Santiago führe, da war das »Unheil« geschehen.

Inge pickte diesen Wunsch wie ein Goldkorn auf und trug ihn mit allerlei Ausschmückungen zu ihren Eltern. Diese waren von der Freundschaft der beiden Mädchen so entzückt, daß sie sofort mit Siewers sprachen und ihnen den Vorschlag machten, Hannelore auf ein Jahr zu ihnen nach Santiago zu geben, damit sie wenigstens eine Ahnung davon bekomme, wie es anderswo zugehe.

Siewers nahmen das Anerbieten nicht mit derselben Begeisterung auf, mit der es ihnen gemacht wurde. Unruhe und Unsicherheit schlichen sich in ihre Herzen.

Die Einsamkeit verbindet die Menschen inniger und fester als der Lärm der Welt, und wenn da einer vom andern geht, bleibt eine Leere zurück, die quält und schmerzt.

Aber Siewers waren keine Egoisten, und als ein paar Tage über dem ersten, wehen Gefühl vergangen waren, besprachen sie die Angelegenheit ruhig und verständig.

Tatsache war, daß Hannelores Wissen und Können überall Lücken aufwies, und daß sie weltfremd und unerfahren war. Ein Jahr in 99 Santiago konnte ihr darum nur von Nutzen sein, und bei den Freunden war sie ja so gut wie zu Hause aufgehoben. Es fragte sich für sie nur, wie Hannelore selbst darüber dachte, denn drängen wollten sie sie auf keinen Fall.

Als Hannelore eines Tages mit ihrem Vater auf die Höhen ritt, während Inge mit ihren Eltern ins Städtchen gefahren war, sprach sie ganz begeistert von Santiago, und da fragte Siewers sie geradeheraus, ob sie wohl auch gern einmal für längere Zeit dahinführe.

Aus der Antwort, die er darauf erhielt, erkannte er, daß sie innerlich lichterloh vor Verlangen brannte, die Hauptstadt kennenzulernen.

Infolgedessen einigten sich Siewers und Henriksens über alles weitere. In ihren Besprechungen kamen aber Wörter wie Kino, Theater, Tanz und Autofahrten nicht ein einziges Mal vor, wohl aber konnte man da etwas von Sprachkursen, von Literatur und Kunstgeschichte und ähnlichen schönen Dingen hören.

Sie kamen auch überein, daß der Vater Hannelore in der zweiten Hälfte des Monats Februar persönlich nach Santiago bringen solle, und als diese Beschlüsse den beiden Mädchen mitgeteilt wurden, waren sie außer sich vor Freude.

Nach drei unvergleichlich schön verbrachten Ferienwochen reisten Henriksens ab. Inge nahm stürmischen Abschied von Hannelore, und diese tröstete sie mit heiligen Versicherungen auf ein baldiges Wiedersehen in Santiago.

Im »Rincón« wurden nun alle Vorbereitungen für Hannelores Aufenthalt in der Hauptstadt getroffen. Die Raquel aus dem »Salto« war wochenlang im Hause und nähte Wäsche und Kleider, und Hannelore ging wie in einem Traum von Erwartung umher.

Im übrigen aber lief alles wie sonst im gewohnten Geleise. Der Herbst war da, und jeder ging seiner besondern Arbeit nach. Frau Siewers kochte Früchte und Gemüse ein. Siewers sah der Ernte entgegen. Er erwartete eine neue Dreschmaschine aus dem Norden und freute sich auf ihren Gebrauch. Es war das erstemal, daß er eine eigne besaß. Bis dahin hatte er sich immer eine alte von einem benachbarten Fundo borgen müssen. 100 Außerdem stand eine stattliche Scheune mitten im Bau, und er sah ungeduldig ihrer Vollendung entgegen.

Auch Hannelore war vollauf beschäftigt. Zwei Hennen brüteten, und sie betreute diese mit großer Sorgfalt. Die Ventanita hatte ein geschwollenes Bein und bedurfte täglicher Pflege. Die »Pinta«, Hannelores schwarzweiße Kuh, erwartete ein Kälbchen, und im Garten waren die Himbeeren zum Pflücken reif.

Hannelore war bald hier, bald dort und immer geschäftig, und zeitweise ganz vergessend, daß sie in wenigen Tagen dies alles schon verlassen solle. Und überall, wohin sie ging, und wo sie stand, begleitete sie der »Huacho«, ein kleines, schwarzes Schaf.

So einen »Huacho« findet man fast auf jedem Fundo. Es ist ein armes, verlassenes Wesen, ein Zicklein oder ein Lamm, das keine Mutter hat. Dem, der sich seiner annimmt, folgt es dann wie ein Hündlein auf Schritt und Tritt und meidet die Herden, zu denen es eigentlich gehört.

Hannelores Schützling war besonders anhänglich. Immer trieb er sich auf dem Hof herum, und sobald er nur ein Zipfelchen von ihr sah, lief er blökend auf sie zu und wich nicht von ihrer Seite.

Ein paar Tage vor der Abreise sprachen sie zusammen über die Fahrt. Ihr nächstes Ziel war Montt, die erste Stadt auf dem Festlande. Von dort ging 101 es mit der Eisenbahn vierundzwanzig Stunden lang ohne Aufenthalt geradewegs nach Santiago.

Von der Insel weg nach Montt gab es zwei Wege: entweder man fuhr vom Städtchen gleich mit dem Schiff erst durch eine Wasserstraße und dann durch einen Golf, oder man benutzte die einzige Eisenbahn nach einem zweiten Städtchen der Insel. Von dort fuhr man dann mit dem Schiff einen Tag und eine Nacht lang durch die sogenannten Kanäle und dann erst durch den Golf nach Montt. Der erste Weg hatte den Vorzug der Einfachheit und Kürze. Der zweite schien interessanter zu sein, und darum entschloß man sich für diesen.

Der Morgen der Abreise war da. Die Sonne schien warm und golden vom Himmel hernieder. Ein herrliches Blau wölbte sich über dem Land, nur über dem »Rincón« stand merkwürdigerweise eine kleine, unfreundliche, graue Wolke.

Siewers war wortkarg. Vieles ging ihm durch den Sinn: die bevorstehende Ernte und was alles mit damit zusammenhing, die unvollendete Scheune, die neue Maschine, die jeden Tag ankommen konnte, die Reise und der Abschied.

Frau Siewers war leidend, aber sie klagte nicht, denn sie wollte ihrem Manne die Sorgen nicht vergrößern. Die Carmela hatte ein verweintes Gesicht, und der »Huacho« lief ganz verloren auf dem Hofe umher und blökte jämmerlich.

Hannelore dagegen war ruhig und fühlte sich freudig bewegt. Sie stand ja vor ihrem ersten großen Erleben.

Schließlich aber lag der »Rincón« und alles, was darin lebte und was man darin liebte, doch glücklich hinter ihnen, und nach einer letzten, raschen Fahrt durch das morgenfrische, leuchtende Land standen sie auf dem Bahnhof.

Hannelore kannte diesen Bahnhof nur vom Sehen aus der Ferne, und in einer Eisenbahn war sie auch noch nie gefahren. Mit staunenden Kinderaugen blickte sie sich darum um.

Der Bahnhof war ein kleiner, unscheinbarer Winkel. Zwei schmale Geleise liefen nebeneinander dahin. Auf dem einen stand eine winzige 102 Lokomotive, die gewaltige, pechschwarze Rauchwolken aufsteigen ließ, und an die sich zwei Wagen reihten.

An der Seite des Bahnsteiges war ein sechseckiges Holzhäuschen mit einer Tür, einem Fensterchen und einem kleinen Schalter. Davor standen Leute: eine ältere Dame und ein junges Mädchen, vier Herren in Reitanzügen, drei Frauen mit Bündeln voll Gemüse und Körben, in denen sie Hühner verstaut hatten, und dann noch drei zerlumpte Männer aus der Wildnis.

An einem Pfahl hing eine schwarze Tafel, und darauf stand: Abfahrt: halb neun Uhr. Es war aber schon neun, und man sah weder den Schaffner, noch den Führer, und die kleine Eisenbahn machte den Eindruck, als ob sie gar nicht daran dächte, noch an diesem Morgen abzufahren.

Als Siewers die Fahrkarten lösen wollte, war der Schalter von den drei Gestalten aus der Wildnis besetzt. Zwischen ihnen und der Frau, die hinter der kleinen Öffnung stand, war ein heftiger Wortwechsel entbrannt. 103

Die drei steckten abwechselnd ihren Kopf in das winzige Loch und schrien hinein. Sie wollten die Taxe nicht bezahlen und handelten wie Juden. Der eine schimpfte auf die Regierung, die armen Leuten für eine so kleine Strecke so viel Geld abfordere. Der andre glaubte, die Frau bestimme die Höhe des Fahrgeldes und sagte, sie sei eine alte Hexe, und wenn er sie einmal allein treffe, schlage er ihr die Knochen entzwei. Der dritte aber versuchte es mit Güte. Er nannte die Frau »Töchterchen« und »Täubchen« und verlegte sich aufs Bitten.

Die Frau blieb den dreien nichts schuldig. Dem ersten warf sie ein Schimpfwort ins Gesicht. Dem zweiten drohte sie, wenn er noch ein einziges Wort laut werden lasse, die Carabineros zu rufen, und den dritten schrie sie an: »Bezahlt Ihr, oder bezahlt Ihr nicht! Ja oder nein? So! also nicht!« Bumm! Krachend flog der Schalter zu.

Draußen entstand Stille mit verblüfften Gesichtern. Jetzt konnte man warten, bis der Schalter wieder aufgemacht wurde.

Da geschah zum Überfluß plötzlich noch etwas ganz Unerwartetes. Mit einem Male wurde es dunkel. Unbemerkt hatte sich vom »Rincón« her eine graue Wolkenwand gespannt, und obwohl es im Osten noch wie von hellem Sonnenschein leuchtete, goß es urplötzlich in Strömen hernieder. Was tun? Niemand hatte einen Schirm! Nirgends war ein Dach zum Unterstehen! Also jagte alles ohne Fahrkarten in den kleinen Eisenbahnwagen hinein.

Die einzigen Sitzgelegenheiten darin waren zwei schmale Bänke auf jeder Längsseite des Wagens, und es wurde sofort unfreundlich und ungemütlich in dem engen Raum.

Die Kerle aus der Wildnis rauchten stinkende Zigaretten und spuckten rücksichtslos aus. Die Hühner in den Körben schrien auf, und auf dem Dach prasselte der Regen wie aus Gießkannen, doch glücklicherweise nur eine Viertelstunde lang. Dann hörte das Unwetter genau so schnell auf, wie es gekommen war. Die dunklen Wolkenmassen zerteilten sich, und vom blauen Himmel lachte freundlich wieder die Sonne hernieder.

Hastig stiegen alle aus, um sich endlich eine Karte zu sichern, und nun ging alles wie geölt, sogar die drei Widerspenstigen zahlten willig, was ihnen abgefordert wurde. 104

Unterdessen war es genau halb zehn geworden, aber nun setzte sich das Bähnlein denn doch eilfertig in Bewegung. Dreimal pfiff es hell und lang in den lachenden Morgen hinaus und fuhr dann ratternd ins unbekannte Land hinein.

Hannelore sah staunend zum Fenster hinaus. Alles war ihr fremd, aber sie fand es schön und war entzückt. Da glitt man an grünen Hängen hin. Da öffnete sich ein liebliches Tal mit einsamen, von Bäumen beschatteten Häusern. Bewaldete Höhen umrahmten lieblich die Landschaft, und von ferne grüßte der graue Turm der alten Stadtkirche. Grüne Hügel wechselten mit flachen Weiden. Büsche und Bäume säumten den Schienenstrang. Nirgends verlor sich der Blick in weite Fernen. Alles war nahegerückt, traulich, freundlich, einsam.

Auf einmal aber war es, als ob das Züglein stehenbliebe. Das rasche Rollen war einem mühsamen Schnaufen gewichen, und vorsichtig, ganz vorsichtig krochen die Wagen dahin. Außerdem gerieten sie in ein sanftes Schwanken, und unter den Rädern knarrte es, wie wenn eine allzu schwere Last auf altes Gebälk niedergleitet.

Hannelore wurde es ungemütlich. Was mochte das bedeuten? Sie stand auf und beugte sich zum Fenster hinaus, aber was sie da sah, war gar nicht gefährlich, im Gegenteil ganz harmlos und vertrauenerweckend.

Man fuhr allerdings über eine Holzbrücke, die vielleicht alt und morsch sein mochte, aber diese Brücke spannte sich in kaum einem Meter Höhe über eine ebene, mit hohem, üppigem Gras bewachsene Wiese. Wozu nur dieses bedächtige Fahren? Wenn die Brücke auch wirklich einbrechen sollte, was weiter? Man saß dann einfach im weichen Gras. Mehr als einen derben Ruck konnte man da unmöglich erleben.

Jetzt zog die Lokomotive die kleinen Wagen vollends über die letzten Balken, aber dann, als sei sie einer Gefahr entronnen, jagte sie jenseits mit verdoppelter Geschwindigkeit davon.

Hannelore setzte sich und überlegte. Als der Schaffner vor ihr stand und die Fahrkarten forderte, mußte sie eine Frage stellen. »Warum sind wir so schrecklich langsam über die Brücke dahinten gefahren?« 105

Der Schaffner wurde ein wenig verlegen und warf einen raschen Blick auf die übrigen Fahrgäste. Als er aber sah, daß auch diese neugierig auf seine Antwort warteten, gestand er zögernd: »Ja . . . das ist so 'ne faule Sache . . . wir sind immer froh, wenn wir die Brücke hinter uns haben . . . Vor einer Reihe von Jahren ist nämlich dort ein Zug hinuntergefallen, das heißt, die Brücke ist unter ihm zusammengekracht, und in weniger als einer halben Stunde war der ganze Zug auf Nimmerwiedersehen verschwunden.«

»Wohin verschwunden?« Hannelore lief ein Schauer über den Rücken. »Unter der Brücke ist doch eine Wiese.«

Der Mann kniff die Augen zu. »Wiese?« Er sah sich wieder um und begegnete lauter erschreckten Augen. »Wiese? Hat sich was mit Wiese! Grundloser Sumpf ist das. Vielleicht hundert Meter tief. Was weiß ich!«

Hannelore schwindelte es. »Aber . . . die Brücke . . ., über die wir gefahren sind, die ist doch fest? Oder nicht?« . . . Ihre Augen sahen ihn in tödlichem Erschrecken an.

Der Mann hob ein wenig die Schultern. »Vielleicht . . . vielleicht auch nicht . . . Morsch und verfault ist sie wie ein alter Baum. Haben Sie denn nicht gehört und gespürt, wie sie krachte und schwankte?«

Jetzt mischte sich Siewers in die Unterhaltung und zwar sehr nachdrücklich: »Was fällt Ihnen ein, den Reisenden solche Dinge zu erzählen! Entweder sind das Lügen, oder aber es ist ein richtiges Verbrechen. Da kann ja schon der nächste Zug versacken! Jemand muß doch dafür verantwortlich gemacht werden! Warum wird die Brücke nicht untersucht und ausgebessert?«

Der Schaffner verzog sein Gesicht zu einer Grimasse: »Regen Sie sich nur nicht auf, mein Herr! So wie heute knarrt und schwankt die Brücke schon seit längerer Zeit. Sie wissen ja . . ., meist kümmert man sich um dergleichen erst, wenn ein Unglück geschehen ist.«

Hannelore war es, als stünden ihr die Haare zu Berge, aber da fuhr der Zug langsam und sicher in die grüngoldene Dämmerung des Urwaldes hinein, und es gab so viel zu sehen, daß sie den Schrecken vergaß.

Zu beiden Seiten ragten Bäume und Büsche wie Mauern empor und 106 drängten sich so dicht an die Geleise heran, daß man sie mit der Hand streifen konnte, und über dem Züglein neigten sich die Wedel der Baumfarne und die Kronen der Urwaldriesen freundlich zueinander und verflochten sich zu einem grünen Dach, so daß man wie durch einen schimmernden Tunnel fuhr.

Geheimnisvoll, schön und märchenhaft war es. Bald aber wichen die Schatten des Waldes einer freundlichen Helle. Die Büsche und Bäume zur Rechten verschwanden, und von der Bahnlinie weg spannte sich gleich einem grünen Teppich verschlungenes Pflanzengewirr bis weit hinüber zu einem Hang, an dem wieder dichter Urwald begann. In der Mitte schien sich diese Matte zu senken, so als bilde der Boden dort eine Mulde.

Hannelore war so in den Anblick der Wildnis versunken, daß es ihr entging, wie der Zug auf einmal wieder mit derselben Vorsicht fuhr wie kurz vorher über die Brücke.

Die ältere der beiden Damen aber, die auf jede veränderte Bewegung des Wagens und auf jedes verdächtige Geräusch achtete, packte plötzlich den Schaffner am Ärmel und zitterte in jäh erwachter Angst: »Warum fahren wir denn jetzt wieder so langsam?«

Der Mann sah sie an, aber er zögerte mit der Antwort. Aufmerksam blickte er hinaus und sprach erst, als das Züglein wieder im gewohnten Gleichmaß fuhr. »Weil es sicherer war, dahinten langsam zu fahren.«

»Sicherer?« schrie die Dame. »Sicherer? Was ist denn da unsicher?«

Der Mann antwortete gleichmütig: »Jetzt ist gar nichts mehr unsicher. Da hinten aber an der Stelle, wo wir langsam fuhren, ist einmal ein Zug hinuntergestürzt und nie wieder aufgefunden worden.«

»Ja . . . aber . . .,« stammelte die Frau, »wohin konnte er denn stürzen? Da war doch nichts als Gestrüpp.«

»Oben . . . Jawohl . . . scheinbar . . . Das ist aber nur so eine grüne Decke über einer grundlosen Schlucht.«

Die Frau hielt einen Augenblick die Hand über die Augen. Dann aber sprang sie auf und schrie wie irrsinnig: »Der Zug soll halten! Halten! Sonst springe ich zum Fenster hinaus!« 107

Es gab eine furchtbare Aufregung unter den Mitfahrenden, und jeder versuchte die Frau zu beruhigen. Auch der Schaffner, der dieses Unheil angestiftet hatte, tröstete: »Beruhigen Sie sich, Señora! Wir sind ja längst an dem Teufelsgraben vorbei. Von jetzt ab fahren wir so gemütlich und sicher, als ob wir daheim im Bette lägen.«

Und es war auch wirklich so. Dunkler Wald, undurchdringliches Dickicht, dann abgeholzte Plätze mit verkohlten Baumstümpfen und herumliegenden Stämmen, dazwischen Gras, Blumen, die der Königskerze und dem Fingerhut glichen, das waren die lieblichen Bilder, die sich rechts und links dem Auge boten.

Als die Sonne hoch im Mittag stand, war die erste Station erreicht. Das Züglein hielt, und zwar genau so lange, wie die Mitreisenden es wünschten, das heißt, statt der vorgeschriebenen halben Stunde konnte sich jeder nach Belieben ein oder zwei Stunden lang die malerische Gegend ansehen.

Es war ein kleines, wildes Paradies, sonnenüberschienen, grasbewachsen, mit zwei alten windschiefen Zäunen, dazwischen ein Pfad, der zu einem Hause führte, wo man speisen konnte.

In bester Laune nahmen die Gäste Platz: die beiden Damen, die vier Herren und Siewers mit Hannelore.

Das Essen bestand aus kaltem Hühnerfleisch als Vorspeise, einer Suppe mit sehr viel Hühnerfleisch und einem herrlichen Hühnerbraten mit Rotkohl und Kartoffeln.

Die Herren machten Witze, und Hannelore lachte, daß ihr beinah ein Stückchen Hühnerfleisch in die unrechte Kehle rutschte. Einer sagte nämlich, wenn das mit dem Hühnerfleisch so weiter ginge, würden sie sicher noch alle anfangen Eier zu legen, und ein andrer behauptete, es kitzle ihn so im Halse, daß er gleich zu gackern anfange, während ein dritter jeden Augenblick ganz täuschend wie ein Hahn krähte.

Nach dem Essen gingen die Herren mit dem Wirt auf die Jagd. Der Führer und der Schaffner legten sich draußen in die Sonne und schliefen. Siewers aber setzte sich unter einen Baum an dem Fluß hinter dem Hause und angelte. 108

Hannelore hatte ihm ein Weilchen Gesellschaft geleistet, aber bald wurde ihr dieses stumme Ins-Wasser-Starren langweilig, und sie besah sich die Umgebung des Hauses.

Da war ein Garten mit wunderbarem Gemüse, alles ein wenig wild durcheinander gepflanzt, aber genährt von dem fruchtbaren Urwaldboden in fast unwirklicher Größe. Der Blumenkohl reichte ihr bis zum Ellbogen, und seine Köpfe waren so groß wie kleine Wagenräder. Rund um den Garten herum reiften rote und gelbe Himbeeren, und in den Ecken streckte eine fingerhutähnliche Pflanze ihre rote Pracht empor.

Hinter dem Garten entdeckte Hannelore ein kleines, niederes Holzhaus mit einem buschumstandenen Platz davor, und als sie durch das zerbrochene Fenster blickte, gewahrte sie ein paar Reihen Bänke, Tische und eine Wandtafel. Es war eine Urwaldschule.

Nach einer guten Stunde saßen alle wieder vergnügt in dem Züglein. Die Herren erzählten, daß sie ein chilenisches Reh gesehen hätten, eines jener kleinen, rotbraunen Zwerghirschchen, zwei handbreit hoch und drei handbreit lang. Siewers aber gab lachend zu, daß er die Stunde vollkommen unnütz verbracht habe.

Das Bähnlein fuhr jetzt abwechselnd durch Wald und Weideland. Auf einmal aber schoß Hannelore wieder ein kleiner Schrecken durch die Glieder. Das lustige Dahineilen wich einem immer langsamer werdenden Fahren, und vorsichtig . . . vorsichtig, genau wie vor Stunden, schleppte sich das Züglein dahin, und jetzt stand es mit einem kleinen, bockbeinigen Ruck still. Die Lokomotive aber pfiff und pfiff, als riefe sie um Hilfe.

Man sprang auf. Man starrte zum Fenster hinaus. Was war denn nun schon wieder geschehen? Da . . . alle lachten. Auf den Schienen stand ein schwarzweißes Kälbchen und wollte und wollte nicht weg, sondern glotzte neugierig das schwarze Ungetüm an und hörte nicht, daß die Mutter, die auf dem Wege stand, jämmerlich muhte. Alle stiegen aus, und Hannelore war die erste bei dem dummen Tierchen. Sie jagte es mit Streicheln und Stoßen endlich der Alten nach, und dann stiegen sie frohgelaunt wieder in den Wagen, und nun ging die Reise ohne weitere Verzögerung glatt bis an ihr Endziel. 109

Die Landschaft hatte sich unterdessen ganz verändert. Der Wald lag zwar noch sichtbar, aber ganz schattenhaft weit hinten. Strand, mit Steinen, Tang und Muscheln bedeckt, schob sich vor, und dahinter dehnte sich das weite, blaue Meer.

Sie hielten am Fuß eines Hügels, an dessen Rücken sich schmutzige, unfreundliche Häuser lehnten. Die Reisenden trennten sich, und Hannelore ging mit ihrem Vater in ein Gasthaus, wo sie übernachten mußten, weil das Schiff erst am folgenden Tage fuhr.

Am andern Morgen standen sie reisefertig auf der Mole. Das Schiff, mit dem sie fahren sollten, hieß »Gaviota« und war ein alter Kasten mit zwei oder drei Kabinen. Siewers konnte sich nur mit vielem Geld und mit 110 guten Worten eine davon sichern. Und was für eine! So etwas wie ein besserer Hühnerverschlag, drei Schritte lang, zwei Schritte breit, darin eine schmale Bank mit einem alten Polster und an der Wand ein Brettchen, das man, falls man das Bedürfnis hatte, etwas hinzustellen, herunterlassen konnte. Und doch! Wie froh waren sie, daß sie wenigstens diesen kleinen Raum für sich hatten!

Auf dem Schiff waren nur wenige Reisende: ein altes Ehepaar und ein paar Geschäftsleute.

Hannelore war ganz versunken in den Anblick der Gegend. Es war aber auch wirklich wunderschön: das spiegelglatte, blaue Meer, rechts und links die kleinen und großen Inseln, hier und dort im Waldesgrün eine alte, graue Holzkapelle und Möwen, die in Scharen zu Lande flogen.

Von Zeit zu Zeit tauchte eine Landungsbrücke auf. Dann hielt das Schiff und nahm Ladung, meist Holz, oft aber auch Säcke mit Kartoffeln und Korn.

Die Arbeit ging schweigend vonstatten. Einzelne Befehle klangen hinüber und herüber, aber sie verhallten und erstarben in der großen Stille und Einsamkeit, und dann ging es wieder weiter, immer an lieblichen Inseln vorbei und auf unbewegter Meeresfläche dahin.

Gegen Abend waren sie zwar immer noch in den Kanälen, aber die Inseln lagen fernab und hoben sich nur wie feine Streifen vom Horizont ab.

An einer Stelle ragten Kiel und Mast eines versunkenen Seglers aus dem Wasser empor. Siewers erzählte Hannelore, daß er sich gut an den Untergang dieses Schiffes erinnere. Es sei ein großes Unglück gewesen. Der Sturm habe es ganz unversehens in der Nacht überrascht und mit solcher Gewalt, daß ihm das alte Schiff nicht habe standhalten können und untergegangen sei. Eine Menge Menschen hätte damals ihr Leben verloren, und nur zwei seien gerettet worden.

Hannelore starrte gedankenvoll die gespenstischen Trümmer an und meinte, während sie an der Unglücksstätte vorüberglitten: »Wenn uns so etwas passierte!«

Siewers lächelte und erwiderte: »Wir haben das herrlichste Wetter, und Gefahr ist in den Kanälen nur bei Nacht und Sturm.« 111

Nach dem Abendessen, das in einem kleinen Raum eingenommen wurde, den eine trübe Petroleumlampe spärlich erhellte, stand sie wieder an der Reling.

Am Himmel zeigte sich das Bild des Mondes, aber nicht voll und klar, sondern wie in grauen Dunst gehüllt, und Sterne gab es nur wenige, hier einer und dort einer. Sonst war über ihr schwarze, drohende Finsternis.

Hannelore wurde es schwer ums Herz. Vielleicht waren es nur die ersten Regungen von Heimweh nach der Mutter. Siewers stand in ihrer Nähe mit ein paar Herren zusammen. Sie rauchten und sprachen von Geldkursen und Preisen.

Mit einem Male spürte Hannelore eine seltsame Kälte im Gesicht und gleichzeitig einen leichten Windhauch. Er kam von Norden her, und sie erkannte in ihm sofort den warnenden Vorboten nahender Gefahr. Auch das Wasser, soweit sie es in der Dunkelheit zu sehen vermochte, war nicht mehr wie vor einer Stunde, sondern eigentümlich bewegt und unruhig. Kleine Wellen schlugen gegen die Schiffswand und zerbarsten an ihr mit kurzem, zornigem Rauschen.

Hannelores Blick suchte den Himmel, und sie erschrak. Über ihr war es stockdunkel. Kein tröstendes Lichtlein weit und breit! Auch der Wind wurde jetzt heftig und anhaltend, und das Meer geriet zusehends in Aufruhr. Mächtige Wellen wälzten sich heran und brachen sich schäumend am Schiff.

Siewers trat zu Hannelore und sagte: »Geh hinein! Es wird zu kalt und unfreundlich hier draußen.«

In jäh erwachter Angst horchte sie auf seine Worte und auf deren Klang. Warum er nicht noch etwas sagte? Er wußte doch ebensogut wie sie, daß ein »Norther« im Anzug war.

»Vater,« sagte sie leise, und ihre Stimme zitterte, »wir bekommen Sturm.«

Siewers antwortete nicht gleich, aber dann antwortete er ruhig. »Kann sein, aber es ist kein Grund, sich zu ängstigen. Das Schiff ist erprobt, und wir sind nicht allzu weit vom Land entfernt.«

Einer der Herren trat zu ihnen, und während er sich bemühte, eine Zigarette anzuzünden, meinte er: »Hoffentlich überstehen wir die Nacht ohne 112 Schrecken! Der Sturm nimmt ja unheimlich zu, und so um Mitternacht herum haben wir eine äußerst gefährliche Stelle zu passieren.«

»Wieso?« fragte Siewers. Er war noch nie durch die Kanäle gefahren und kannte ihre Tücken nicht.

Der andere erklärte, es seien da Klippen und Sandbänke, die am Tage und bei ruhigem Wetter keine Gefahr böten, aber so in der Nacht und bei Sturm . . . Immerhin . . . der Kapitän sei tüchtig und zuverlässig und kenne den Weg wie seine Tasche . . . Auch sei da ein Leuchtturm, und es sei nicht schwer, sicher zu fahren.

Wo denn dieser Leuchtturm stehe?

In weniger als einer halben Stunde müsse man ihn sehen. Wenn man den Bug des Schiffes vor sich habe, erblicke man sein Licht auf der linken Seite.

Hannelore, die mit gespannter Aufmerksamkeit den Worten des Fremden gelauscht hatte, stellte sich unwillkürlich so, um nachher genau zu wissen, wo sie den Leuchtturm suchen mußte. Links, sagte sie leise zu sich, nicht rechts.

Die Herren sprachen noch ein paar gleichgültige Worte miteinander, und dann begab sich Siewers mit Hannelore in die Kabine. Er tastete im Dunkeln nach dem Wandbrettchen, ließ es herunter, stellte eine Kerze darauf und zündete sie an.

So saßen sie im Scheine des trübseligen Flämmchens nebeneinander und sprachen von daheim: von der Mutter, von der Ernte, von der Scheune und der neuen Dreschmaschine, aber Hannelore war nur halb dabei.

Mit einer zitternden Angst im Herzen horchte sie auf das Brüllen und Brausen ringsum. Mit zornigem Geheul umtobte der Wind das Schiff, und die Wogen zerschellten donnernd an den Planken.

Langsam verstummte auch Siewers. Es unterlag keinem Zweifel, sie befanden sich mitten in einem entsetzlichen Norther, jenem Sturmwind, der das Meer im Nu in ein tobendes Ungeheuer verwandelt, und dem keine menschliche Gewalt standzuhalten vermag.

Einen Augenblick fuhr es ihm bedauernd durch den Sinn: »Warum haben wir nicht den andern Weg gewählt!« . . . Schicksal? . . . Bestimmung? . . . Es blieb nichts übrig, als mit Fassung dem Unvermeidlichen ins Auge zu sehen. 113

Er sprach wieder ruhig und sachlich mit Hannelore. So ein Sturm sei nie von langer Dauer. Meist verschwinde er ebenso schnell, wie er komme. Man müsse nur Geduld haben. Wahrscheinlich sehe man auch schon den Leuchtturm, und wenn sie den erst hinter sich hätten, sei keine Gefahr mehr . . .

Aber während er so sprach, geschah plötzlich etwas Außergewöhnliches, etwas Unerhörtes . . . Trotz des Tobens und Brüllens von Wind und Wellen war da mit einem Male eine unheimliche Stille, eine Stille, die wie Eiseskälte durch den Körper kroch . . . Die Maschine war verstummt . . . Die Maschine arbeitete nicht mehr . . . stand . . . Gott im Himmel! . . . Was war geschehen?

Siewers und Hannelore tasteten sich in die Finsternis hinaus. Es regnete in Strömen. Trotzdem standen alle auf dem Verdeck, alle in Todesangst, vom Wind gepeitscht und vom Regen durchnäßt . . . Was war geschehen? . . . War die Maschine entzwei? . . . War das Schiff aufgelaufen? . . .

Nein, nichts von alledem, aber doch Beängstigendes genug . . . Man hatte die Richtung verloren! In Nacht und Sturm den Weg verloren! . . .

Ob das denn so gewiß sei? Woher man es wüßte?

Durch den Leuchtturm . . . Statt zur Linken habe man ihn weitab zur Rechten gelassen.

Siewers und Hannelore starrten in die Dunkelheit hinaus, den Bug des Schiffes vor sich . . . Es stimmte . . . Links war undurchdringliche Finsternis. Draußen aber wie in endloser Ferne tauchte zeitweilig der schwache Schein eines Lichtes auf . . . der Leuchtturm!

Darum der Befehl, die Maschine abzustellen! Es war vernünftiger als ziellos hinauszufahren, um vielleicht schon im nächsten Augenblick an den Klippen zu zerschellen.

Siewers nahm Hannelore bei der Hand: »Komm, wir wollen unter Dach! Wir müssen uns fassen.«

Er hatte dem Kapitän ins Auge gesehen. Kein Wort war zwischen ihnen gesprochen, aber er hatte begriffen. Man mußte auf das Schlimmste gefaßt sein. 114

Sie saßen zusammen in dem elenden, halbdunklen Raum und wurden unbarmherzig hin und her geschleudert. Siewers löschte die Kerze aus und warf sie weg.

»Setze dich dicht an meine Seite,« sagte er still. Hannelore drückte sich an ihn. Sie umschlang seinen Arm und preßte ihr Gesicht an seine Schulter.

»Vater . . .,« jammerte sie einmal auf, » . . . die Mutter!« Er suchte ihr Gesicht und streichelte es. »Aber Hannelore! Du mochtest zu Hause doch immer den Sturm so gern. Wie kannst du denn jetzt so verzweifeln? Wir müssen auf Gott vertrauen und dürfen nicht verzagen.«

»Oh . . .,« schluchzte sie nun, »was ist ein Sturm im Wald gegen dieses Schreckliche hier! Ach!« Krampfhaft preßte sie ihres Vaters Hand. »Vater! Vater! Denken müssen, daß wir hier sterben! Und daß ich allein schuld daran bin!«

»So etwas darfst du nicht denken, Hannelore!« beruhigte er. »Es geschieht nichts ohne den Willen Gottes . . . Alles ist Fügung . . . Schicksal . . . wie man es nennen will. Und niemand trägt Schuld . . . wir waren ja alle mit dieser Reise einverstanden . . .«

Sie sprachen nicht weiter. Aneinandergekauert, hin und her geworfen, verharrten sie lange, lange in der entsetzlichen Finsternis.

Dann aber, nach Stunden, als bereits der Morgen graute, wurde es ihnen plötzlich bewußt: der Sturm nahm ab. Der Wind blies nicht mehr so wild. Die Wellen schlug nicht mehr mit derselben Gewalt gegen das Schiff. Es war Tatsache, es wurde merklich ruhiger und ruhiger . . ., und . . . wie es im Osten langsam heller wurde, . . . da! . . . was war das für ein befreiendes Gefühl! . . . da ratterte mit einem Male die Maschine wieder . . . Man fuhr . . .! Man fuhr!

Siewers sprach mit dem Steuermann und vernahm eine seltsame Geschichte. In Wirklichkeit waren sie ganz richtig gefahren, nicht eine Handbreit vom richtigen Kurs abgewichen, aber der Leuchtturm, nach dem sie sich richten mußten, hatte überhaupt nicht gebrannt, und das Licht, das sie weit draußen zur Rechten für den Schein des Leuchtturmes gehalten hatten, war das Licht eines dahinziehenden Seglers gewesen und hatte sie getäuscht. 115

Doch was auch der Grund dieser Schreckensnacht gewesen sein mochte, der Sturm war vorbei. Man war gerettet. Man sah wieder ruhig dem Leben entgegen.

Langsam dämmerte der Tag. Still, wortlos, ganz in sich versunken stand Hannelore an der Reling. Wenn der Vater neben sie trat und ein freundliches Wort sprach, sah sie ihn an, lächelte und faßte nach seiner Hand, aber sie sagte nichts.

Ruhig fuhren sie jetzt durch die herbe Morgenluft dahin. Die Kanäle lagen weit hinter ihnen. Das Meer trug sie mit seiner größeren Sicherheit und Stille. Nach Stunden ging auch die Sonne auf, strahlend, goldener denn je. Der Himmel wölbte sich wie ein blauer Dom über der schimmernden Wasserfläche. Hier und dort stand noch wie ein zarter Schleierfetzen eine kleine Wolke. Sonst war alles in jungen Glanz getaucht. In blendendem 116 Weiß grüßten von ferne die Schneeberge des Festlandes, und bald tauchten die Häuser von Montt auf.

Langsam, ruhig wie ein ziehender Schwan glitt das Schiff dahin und hielt in der grünschimmernden Bucht.

Siewers und Hannelore begaben sich ins Hotel. Mit sechs Stunden Verspätung waren sie angekommen und hatten darum den Zug verpaßt. So mußten sie bis zum nächsten Tage warten.

Hannelore war müde und blaß, und jeden Augenblick schossen ihr ganz grundlos die Tränen in die Augen, aber sie erklärte einmal übers andre, sie sei furchtbar glücklich.

Am Nachmittag saßen sie im Speisesaal und tranken Kaffee. Nachher wollten sie sich die Stadt ansehen. Da wurde Siewers ein Brief überreicht. Er blickte flüchtig auf die Adresse. »Großartig, Hannelore, ein Brief von der Mutter!«

»Ah . . .!« Hannelores Augen wurden hell, und gespannt beobachtete sie das Gesicht ihres Vaters, während er las.

Der Ausdruck darin war wechselnd. Endlich blickte er auf. »Ach so!« Er lächelte. »Du möchtest natürlich auch wissen, was die Mutter schreibt.«

Er machte den Brief wieder auf und las ihn vor: »Im ›Rincón‹ ist eine traurige Stille, obwohl sich die Arbeit zusehends häuft. Seit gestern steht die neue Maschine in der Scheune. Wir haben sie noch nicht ausgepackt, denn diese Freude wollte ich Dir überlassen. Heute wollten die Arbeiter auf dem Giebel der Scheune ein Bäumchen aufpflanzen. Ich sagte aber, sie sollten damit bis zu Deiner Rückkehr warten. Auf dem Hof laufen fünfzehn goldgelbe Küken herum. Sie sind an demselben Nachmittag herausgeschlüpft, an dem Ihr abgefahren seid, und drüben im ersten Potrero leckt die alte ›Pinta‹ ihr struppiges Kälbchen. Der ›Huacho‹ streckt jeden Augenblick den Kopf zum Küchenfenster herein und blökt kläglich. Ja, ich kann das verstehen, wenn es auch nur ein unvernünftiges Tier ist. Ich selbst fühle mich grenzenlos einsam und warte mit großer Sehnsucht auf ein Lebenszeichen von Euch und auf Deine Rückkehr . . .«

Siewers steckte den Brief ein, stand auf und sagte: »Es wird Zeit, daß wir nach Santiago kommen. Heute sind wir schon drei Tage unterwegs, und 117 im ›Rincón‹ ruft die Arbeit. Ich will mich also rasch wegen des Gepäcks und unsrer Fahrkarten umsehen.«

Hannelore war ebenfalls aufgestanden. »Vater,« bat sie und sah ihn ernst und groß an, »willst du vorher noch einen Augenblick auf mein Zimmer kommen. Ich möchte mit dir sprechen. Hier kann ich es nicht, weil so viele Menschen da sind.«

Er konnte ein kleines Staunen nicht verbergen, aber er entgegnete bereitwillig: »Schön . . . In einer Viertelstunde bin ich wieder hier . . .«

Hannelore ging in ihr Zimmer, trat ans Fenster und sah über die fremde Stadt. Zwischen zwei Häuserreihen leuchtete das blaue Meer. Daran blieb ihr Blick haften, aber die Gedanken lagen weitab.

Fragen und Überlegungen, geboren aus den Schrecknissen der vergangenen Nacht, tauchten in ihr auf, aber es war nicht ein Schatten von Dunkelheit in ihren Vorstellungen, sondern vollkommene Klarheit über das, was sie zu tun hatte, und eine Festigkeit des Entschlusses, die unumstößlich war.

Als Siewers hereintrat, ging sie auf ihn zu und blickte ihm gerade in die Augen. »Vater, wenn dir das, was ich dir jetzt sagen werde, auch kindisch erscheint, nimm es doch für wichtig, denn ich weiß, daß es für uns alle das einzig Richtige ist . . . Vater, . . . ich reise nicht nach Santiago . . . Ich kehre mit dir morgen wieder zurück.«

Siewers tat weder erstaunt noch unwillig, vielleicht, daß er selbst so etwas erwartet oder gewünscht hatte. Er sah sie nur eindringlich an und wandte sich ab. Mit verschränkten Armen ging er im Zimmer auf und ab, und Hannelore wartete, lange und regungslos. Sie wußte, er überlegte, aber, dachte sie, was er auch beschließt, dieses Mal geht es nach meinem Willen.

Nach einer drückenden Stille sagte er ruhig, als ob es die einfachste Sache der Welt wäre: »Ich bin einverstanden. Ändere die Adressen auf dem Gepäck! Ich will mich unterdessen nach dem nächsten Schiff erkundigen. Ich glaube, morgen fährt die ›Union‹.«

Und so geschah es denn, daß sie am folgenden Morgen bei herrlichstem Wetter aus der Bucht von Montt fuhren und nach einer selten schönen Reise schon um vier Uhr nachmittags wieder auf der Insel landeten. 118

In einer kleinen Mietskutsche ratterten sie still vergnügt zum Städtchen hinaus. Als sie auf der ersten Höhe von ferne den »Rincón« auftauchen sahen, gestand Hannelore überwältigt: »Ich freue mich grenzenlos, wieder heimzukommen. Vier Tage nur waren wir weg, aber mir ist es, als seien es mindestens vier Jahre gewesen.«

Siewers lächelte verständnisvoll: »Eine richtige Rundreise mit Aufregungen und Schrecken und glücklichem Ende! Was wohl die Mutter dazu sagen wird?«

Gerade als sie am Gartentor abstiegen, ging die Haustür auf, und Frau Siewers jagte wie von Flügeln getragen durch den Garten.

»Walther! . . . Hanne – l – o – re!« Sie umfaßte beide und weinte, aber nicht vor Kummer, sondern vor lauter Freude, und so kehrten denn alle drei wieder glücklich vereinigt ins Haus zurück.

Am Abend dieses bedeutungsvollen Tages saßen sie noch lange in der traulichen Wohnstube beisammen, denn was gab es nicht alles zu erzählen! Von jener entsetzlichen Brücke über dem abgrundtiefen Sumpf, von der mit so trügerischem Grün überspannten Schlucht, von der Station im Urwald, von dem Kälbchen, um dessentwillen das Züglein geduldig gehalten hatte, und von vielen andern Dingen! Am wenigsten sprachen sie von der schrecklichen Nacht in den Kanälen. Das war ein Erlebnis gewesen, das sie innerlich noch nicht ganz verwunden hatten.

Mit bewegtem Herzen hörte Frau Siewers zu und meinte schließlich: »Gott sei Dank!« Und leise fügte sie hinzu: »Auch für den Sturm in den Kanälen.«

Siewers aber blickte auf Hannelore und sagte: »Unser Schiff hatte die Richtung verloren . . .«, er lächelte . . ., »und wir beinahe auch . . . Aber was nun? In Santiago wird man sich schön über uns lustig machen! Was willst du denn nun deiner lieben Freundin darüber schreiben?«

»Der Inge?« Ohne eine Sekunde zu zögern, erwiderte Hannelore: »Oh, der schreibe ich, daß, solange unser Haus steht und solange meine Eltern leben, ich nie, nie mehr vom ›Rincón‹ fortgehen werde.«

 


 


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