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Wer im Rincón lebte, hatte das Gefühl vollständiger Einsamkeit, obwohl man das nächste Städtchen in einer kurzen Stunde erreichen konnte. Es war, als sei hier Anfang und Ende allen Lebens, und als gebe es außerhalb keine Welt mehr.
Die wenigen Menschen, die aus der Wildnis kamen und am Gartentor vorübergingen, und die paar Arbeiter, die die Felder bestellten und das Vieh versorgten, störten diesen Eindruck der Stille und Abgeschiedenheit nicht. Sie sprachen wenig und verrichteten ihre täglichen Obliegenheiten ohne Lärm.
Landgüter, die in ähnlicher Einsamkeit lagen, gab es viele, und zwar nicht nur auf der Insel, sondern allenthalben auch auf dem chilenischen Festlande. Häufig hatte man aus den südlichen Provinzen von blutigen Überfällen auf solche entlegene Wohnsitze gehört. Im »Rincón« aber lebte man in dieser Hinsicht ganz ruhig. Man schlief oft bei unverriegelten Türen und offnen Fenstern und gab sich einer glücklichen Sorglosigkeit hin.
Ein paar Schafe aus einem entfernten Potrero, ein Stück Vieh aus den Bergen, das war alles, was man etwa an Diebstählen zu verzeichnen hatte. Im »Rincón« selbst und in seiner nächsten Umgebung aber war, solange Siewers da lebten, nie etwas weggekommen.
Trotzdem geschah es einmal, daß auch die Bewohner dieses stillen Winkels recht unliebsam aus ihrer Ruhe aufgeschreckt wurden, und daß es ihnen zum Bewußtsein kam, daß man in der Einsamkeit der Wildnis immer Gefahren ausgesetzt ist.
Das Ereignis trug sich ungefähr folgendermaßen zu: Nach einer Reihe gänzlich verregneter Wochen war der Frühling mit einem Male ins Land gezogen. Wiesen und Hänge überzogen sich mit zartem Grün, und Büsche und Bäume trieben junge Knospen und Blätter.
Hannelore war in der Stadt gewesen und hatte Besorgungen gemacht und ritt nun bei sinkender Sonne langsam und in den Anblick des schimmernden 59 Landes versunken heimwärts. Die letzten Häuser lagen längst hinter ihr, und Einsamkeit und Stille breiteten sich um sie.
Auf der letzten Höhe aber, wo man zum ersten Male von der Stadt aus den »Rincón« erblickte, gewahrte sie plötzlich zwei Menschen, einen Mann und eine Frau. Sie saßen am Wegrand und schienen müde zu sein und auszuruhen.
Als der Mann ihrer ansichtig wurde, stand er auf und ging ihr entgegen. Ein paar Schritte von ihr entfernt blieb er stehen, doch so, daß sie das 60 Pferd anhalten mußte. Er hielt den zerbeulten, schwarzen Filzhut zwischen den Händen und sagte: »Señorita, wir sind heute schon fünf Stunden weit gelaufen. Wissen Sie nicht, wo wir vielleicht unterkommen könnten? Wir suchen Arbeit.«
Die Haltung des Mannes, seine Worte, seine Stimme, alles war bescheiden und bittend. Hannelores Blick ging prüfend über ihn hin, und dem Äußern nach wußte sie sofort, mit wem sie es zu tun hatte. Es war keiner von der Insel, sondern ein Arbeiter aus dem Norden, vielleicht ein Indianer. Sein Gesicht wies die typischen Merkmale dieser Rasse auf, Züge, die sich unter dem Einfluß der Zeit kaum verändern. Der Mann konnte dreißig, vielleicht aber auch weit über vierzig Jahre alt sein.
Hannelores Blick glitt hinüber zu der Frau. Sie war noch jung und hatte ein freundliches Aussehen, große, schwarze Augen und Kraushaar. Sie trug einen Korb und in ein dunkles Tuch gehüllt ein kleines, nur wenige Wochen altes Kind.
Hannelore sah das Bündel, aus dem ein schwarzer Haarschopf lugte, und alles andre versank im Augenblick für sie. Zuneigung, Hilfsbereitschaft, Mütterlichkeit und Mitleid stiegen wie ein einziges Gefühl in ihrer warmen Mädchenseele auf. Seit sie ein wenig älter geworden war, liebte sie kleine Kinder leidenschaftlich, und wenn im »Rincón« irgendwo ein Kind geboren wurde, umhegte und umsorgte sie es, als ob es ihr gehöre.
Diese Liebe zu den kleinen, hilflosen Wesen beeinflußte denn auch sofort ihre Gedankenrichtung. Sie überlegte mit Blitzesschnelle; vor drei Wochen hatte der Vater einen Wächter samt dessen Familie, die weit hinten in den Bergen, im »Salto«, gewohnt hatte, entlassen, weil er die Leute auf Unehrlichkeiten ertappte. Seither war das Haus leer geblieben, aber der Vater hatte gesagt, wenn sich eine gute Gelegenheit biete, würde er wieder einen Hüter im »Salto« anstellen, einen, der verheiratet wäre.
Hannelores Entschluß war gefaßt. Sie sah wieder den Mann an und fragte ernst und sachlich, genau so, wie sie den Vater in ähnlichen Fällen hatte sprechen hören: »Was für Arbeit versteht Ihr?«
»Alles, was es auf einem Gute zu tun gibt,« antwortete er. 61
»Wo habt Ihr früher gedient? Kann Euch jemand empfehlen?«
Der Mann geriet in Verlegenheit, nicht äußerlich, aber man konnte es aus dem Zögern seiner Antwort schließen: ». . . Ich arbeitete bald hier, bald dort, immer auf Tagelohn . . . Sie wissen . . .«
Ja, Hannelore wußte: das waren diese sogenannten »Forasteros«, die im Sommer und Herbst wie die Zigeuner herumzogen, aber, überlegte sie, meist hatten sie keine Frau, und . . . in ihrem Herzen loderte das Mitleid als helle Flamme auf . . ., niemals hatten sie so ein kleines Kind bei sich wie diese hier.
»Gut,« sagte sie darum, »kennt Ihr den ›Rincón‹?« Der Mann schüttelte den Kopf.
»Seht einmal da geradeaus!« befahl sie. »Da geht der Weg hinunter, dann über die Brücke, dann entweder links zwischen den Wiesen oder rechts am Fluß entlang. Seht Ihr das graue Haus dort hinten, wo der Wald beginnt?«
»Ja, Señorita.«
»Gut. Das ist der ›Rincón‹. Ihr könnt ihn gar nicht verfehlen. Es ist das einzige Haus weit und breit. Dort wohnt mein Vater. Vielleicht hat er für Euch Arbeit. Bestimmt weiß ich es nicht, aber wenn er Euch auch nicht brauchen kann, so bekommt Ihr heute abend doch etwas zu essen und könnt in der Scheune schlafen. Ihr müßt Euch aber gleich auf den Weg machen, sonst wird es zu spät.«
»Vielen Dank, Señorita!« Der Mann trat auf die Seite. Hannelore streifte noch einmal mit einem raschen Blick die Frau und jagte davon. Langsam folgten ihr nach ein paar Minuten die beiden.
Im Galopp ritt Hannelore auf den Hof im »Rincón«. Eilig versorgte sie das Pferd und ging dann zum Vater. Er saß in dem kleinen Büro neben der Wohnstube und rechnete.
»Hast du einen Augenblick Zeit, Vater?«
»Ja,« er wandte sich ihr zu.
»Vater,« begann sie ein wenig unsicher und setzte sich ihm gegenüber, »sagtest du nicht, du würdest gern wieder jemand oben im ›Salto‹ anstellen?«
»Gewiß, wenn ich einen vertrauenswürdigen Menschen finde . . . Warum?« 62
»Ich traf vorhin auf dem Wege ein Ehepaar. Der Mann hielt mich an. Er sucht Arbeit.«
Siewers überlegte. »Sind es Leute aus unsrer Gegend? . . . Du weißt, alles, was sich nur so auf der Straße herumtreibt, ist fragwürdig. Vielleicht aber könnte ich den Mann morgen einmal sehen und sprechen.«
»Vater,« gestand Hannelore nach einer ganz kleinen Pause, »ich habe den beiden gesagt, sie sollten schon heute abend hierherkommen. In einer halben Stunde werden sie hier sein.«
»Ah . . .!« Siewers blickte überrascht auf. Sein Gesicht war ernst, aber innerlich freute er sich: das war Art von seiner Art, kurz und bündig und rasch im Handeln. »Du hast es aber eilig, Hannelore. Und wenn ich den Mann nun nicht anstelle? Du weißt, nicht jeder paßt mir.«
Sie sah ein klein wenig erschrocken auf, aber sie antwortete rasch: »Dann kriegen sie ein warmes Abendbrot und schlafen in der Scheune und können morgen wieder in die Stadt zurück.«
»Schön,« nickte Siewers. »Ich werde also mit ihnen sprechen. Sobald sie hier sind, kannst du mich rufen.«
Aus der halben Stunde, die Hannelore den beiden in Gedanken für den Weg nach dem »Rincón« gegeben hatte, wurde reichlich eine ganze. Erst als die Sonne untergegangen war und das Land in blaugrauen Schatten lag, standen der Mann und die Frau mit dem kleinen Bündel am Gartentor.
Hannelore hatte sie mit Ungeduld am Zaune erwartet und führte sie nun auf den Hof hinter dem Hause. Dann rief sie den Vater. Als dieser mit den beiden sprach, kam Frau Siewers aus dem Garten und hörte überrascht, was da verhandelt wurde.
Der Mann stammte aus dem Norden und hieß Juan Barros. Er gab kurze, aber klare und bestimmte Antworten, die den Schein der Wahrheit trugen, und das Ergebnis der Untersuchung war, daß er probeweise auf Tagelohn angestellt wurde und in einer der leeren Arbeiterwohnungen am Fluß wohnen sollte.
Beim Abendbrot sprachen Siewers über die Fremden, und es stellte sich heraus, daß sie über diese ganz gegenteiliger Meinung waren. Siewers 63 urteilte wohlwollend: »Man kann sich in diesen Leuten ja grenzenlos täuschen, aber der erste Eindruck, den sie auf mich machten, war gut.«
Frau Siewers erwiderte darauf warnend: »Sei ja vorsichtig, Walther! Der Mann ist mir geradezu unheimlich. Ich finde, er hat etwas Böses in den Augen. Überhaupt . . .,« sie wandte sich an Hannelore, »ich verstehe nicht, wie du dazu kommst, uns diese wildfremden Menschen ins Haus zu holen, ohne den Vater vorher zu fragen.«
Hannelore sah ein wenig schuldbewußt auf den Teller und gestand leise: »Weil sie so ein armes, kleines Kind bei sich hatten.«
Siewers lachte laut auf: »Ach so! Ja, das war allerdings ein triftiger Grund! Ein kleines, schmutziges Kind!«
Hannelore wurde rot und meinte verwirrt: »Schmutzige Kinder kann man doch waschen.«
»Ja, sicher!« Siewers lachte noch immer. Seine Frau aber schüttelte mißbilligend den Kopf: »Hoffentlich erleben wir damit keinen bösen Ausgang.« Ihre Stimme und ihre Worte verrieten ernste Befürchtungen.
Während der folgenden Wochen wurde der neue Arbeiter unauffällig, aber dauernd beobachtet, und wenn Siewers, veranlaßt durch die Warnungen seiner Frau, dem Manne auch nicht ganz traute, so wurde er bald recht angenehm enttäuscht. Der Barros war geschickt, fleißig, zuverlässig und nüchtern.
Auch bei den Arbeitern des Gutes war er wohl gelitten. Sie hatten schon am zweiten Tage beobachtet, daß er den Lasso mit der linken Hand warf und ihm sofort den Namen »Zurdo«, das heißt »Linkshand«, gegeben. Mit demselben Recht hätten sie ihn zwar auch den »Schweiger« nennen können, denn er war mit seinen Worten genau so sparsam wie ein Geizhals mit seinem Gelde. »Ja«, »nein«, »warum nicht«, »gut«, das waren seine gebräuchlichsten Antworten, und wenn abends etwa beim Roden des Waldes oder nach dem Eintreiben des Viehes ein paar zusammenstanden und Witze erzählten, lachte er zwar auch, aber um selbst etwas zum besten zu geben, schien er weder Humor noch Lust zu haben.
Der einzige Mensch auf dem Fundo, der nach Monaten immer noch Mißtrauen gegen ihn empfand, war Frau Siewers. Sie sagte sogar einmal zu 64 ihrem Manne, sie sei fest überzeugt, daß man mit dem Barros noch etwas Unliebsames erlebe. Siewers dagegen sah keinen Grund zu solchen Vermutungen und übertrug ihm vertrauensvoll den Posten eines Wächters im »Salto«.
Als der Barros mit seiner Frau, der Raquel, noch unten am Fluß gewohnt hatte, war Hannelore fast täglich in das kleine Haus gegangen. Sie hatte bei diesen Besuchen an der Frau Vorzüge entdeckt, die sie ein wenig über die gewöhnlichen Arbeiterfrauen hinaushoben.
Im Gegensatz zu diesen war ihre Wohnung stets in Ordnung und sauber. In Töpfen und in dem winzigen Garten blühten allerlei Blumen, und hinter dem Häuschen gab es bald eine Menge Hühner und Enten. Außerdem konnte sie hübsche Spitzen häkeln und Wäsche und Kleider zuschneiden und nähen. Sie erzählte Hannelore, daß sie einmal eine Nähmaschine gehabt und mit Schneidern gut verdient habe, und daß sie dasselbe jetzt auch tun könnte, aber so mit der Hand lohne es sich nicht, weil sie dabei zu viel Zeit verbrauche.
Diese Worte gingen Hannelore nicht aus dem Sinn, denn sie wäre der Raquel gern behilflich gewesen. Sie erinnerte sich, daß im Hause in der Gerümpelkammer eine alte Handmaschine stand, die niemand benutzte, und darum ging sie mit ihrem Anliegen zur Mutter und fragte, ob sie die Maschine wohl der Raquel borgen dürfte.
Die Mutter aber meinte ablehnend: »Wir wollen die Leute nicht verwöhnen. Die Maschine bleibt vorläufig, wo sie ist, aber wenn die Raquel gern etwas verdienen möchte, so kann sie wöchentlich ein- oder zweimal ins Haus kommen. Wir haben immer etwas auszubessern oder neu zu machen. Ich selbst habe so wenig Zeit dazu.«
Hannelore gab sich damit zufrieden, besonders als sie sah, wie man sich im »Salto« darüber freute. So geschah es denn, daß die Raquel wöchentlich einmal mit ihrem kleinen Jungen in den »Rincón« kam und dort arbeitete. Meist erhielt sie außer dem Tagelohn auch noch irgend etwas Eßbares mit eingepackt, und es konnte den beiden da oben in den Bergen für ihre Verhältnisse gar nicht besser gehen, denn Siewers bezahlte seine Arbeiter gut und pünktlich. 65
Als Siewers den Barros angestellt hatte, war es Frühling gewesen. Mittlerweile aber hatte der Sommer dem Herbste Platz gemacht, und dieser ging auch schon seinem Ende entgegen. Die Ernte war unter Dach und Fach, und ein großer Teil davon glücklich vor den ersten Regengüssen nach dem Norden verschickt.
Korn, Kartoffeln und Wolle hatten gute Preise eingetragen, und Siewers freute sich bereits über die erste Geldanweisung. Es kam selten vor, daß er größere Summen im Hause aufbewahrte. Meist holte er sich am Sonnabend das Notwendige von der Bank, um die Arbeiter auszuzahlen. Dieses Mal aber wollte er ausnahmsweise den ganzen Betrag einlösen, weil er allerlei besondere Auslagen zu decken hatte.
So ritt er denn an einem dieser Herbstnachmittage ins Städtchen. Hannelore begleitete ihn. Auf der Plaza trennten sie sich, Hannelore ging einkaufen, und Siewers begab sich auf die Bank.
In dem schmalen Gang zwischen den Schaltern und einem langen Tisch drängte sich eine Menge Menschen.
Siewers trat an den Tisch und schrieb. Neben ihm standen zwei Männer, Huasos in Reitanzügen mit Ledergamaschen, Sporen, Ponchos und Strohhüten. Ihrem Äußern nach konnten sie Gutsbesitzer aus der Umgegend sein.
Als Siewers an den Schalter trat, folgten sie ihm unauffällig. Plötzlich drängte sich Hannelore durch die Leute. »Du . . .,« sagte sie eilig, »Doktor Ramirez ist draußen. Er läßt fragen, ob er dich und die Mutter bestimmt heute abend zum Essen erwarten darf, und um wieviel Uhr er euch das Auto in den ›Rincón‹ schicken soll.«
Der eine der beiden Huasos rückte einen Schritt näher heran, der andre hielt sich dicht am Schalter.
Siewers hatte einen Augenblick überlegt und erwiderte: »Sage dem Doktor, er möchte uns um acht Uhr abholen . . . Ich bin hier sofort fertig, und wir reiten gleich wieder zurück.«
Hannelore nickte und war rasch bei der Tür. Siewers wurde ausbezahlt, es waren etwas über zweitausend Pesos. Er zählte das Geld, nahm seine Brieftasche heraus, ordnete die Scheine und verwahrte sie, ohne die geringste 66 Ahnung zu haben, daß alles, was er tat, von zwei funkelnden Augenpaaren scharf beobachtet wurde.
Draußen erwartete ihn Hannelore, und dann ritten sie sorglos plaudernd heimwärts.
»Wie lange bleibt ihr heute abend in der Stadt?« fragte sie. Siewers lächelte: »Das kommt ganz auf die Stimmung an. Eigentlich könntest du uns begleiten. Ramirez' wissen, daß du so allein da draußen bist, wenn wir weggehen, und haben dich noch besonders eingeladen.«
Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand und lachte: »Fällt mir nicht ein! Ist mir viel zu langweilig unter lauter Erwachsenen. Und wegen des Alleinseins! Was macht mir das aus! Denkst du etwa, ich habe Angst? Keine Spur!« 67
Als sie im »Rincón« auf den Hof ritten, trafen sie den Bartolo, der im Begriffe war, das Vieh einzutreiben.
Siewers rief ihn zurück. »Bartolo,« sagte er, »meine Frau und ich sind heute abend in der Stadt. Schlaft darum diese Nacht in Eurer alten Wohnung hier unten! Es ist nur, daß Hannelore weiß, im Notfall ist jemand in der Nähe.«
Ein wenig später ritt der Zurdo wie gewöhnlich um diese Zeit am Hause vorbei. Siewers hielt ihn an: »Barros, ich bin heute abend außerhalb. Wenn Ihr Euren nächtlichen Rundgang auf den Höhen macht, so reitet auch noch einmal am Hause vorbei!«
Der Zurdo nickte: »Gut, Herr!« und Siewers wußte, daß er sich auf ihn verlassen könne.
Und während auf diese Weise im »Rincón« alles still und ruhig für die Nacht geordnet wurde, spielte sich in der Stadt etwas äußerlich ebenso Harmloses ab wie da draußen.
Gleich nachdem Siewers die Bank verlassen hatte, waren auch die beiden Huasos auf die Straße getreten, hatten sich auf ihre Pferde geschwungen und waren mit einem Blicke des Einverständnisses durch die Stadt geritten, erst an der Plaza vorbei und dann in südlicher Richtung eine Seitenstraße hinunter bis dorthin, wo der breite Fluß ins Meer mündete.
Da lag eine alte Spelunke, ganz überschattet von hohen Weiden, unter denen ein großer Kahn und zwei kleinere Boote angebunden auf dem Wasser schaukelten. Dieses Wirtshaus trug den Namen »La Tortuga« und gehörte einem Manne, der in Wirklichkeit José Vargas hieß, in gewissen Kreisen aber nur unter dem Namen »El Cabro« bekannt war.
Hier stiegen die beiden Huasos von den Pferden, banden sie an Pfähle unter den Weiden und kehrten ein.
Die Schatten der Dämmerung lagen bereits tief über dem stillen Lande, aber trotzdem war jede Bewegung in der weiten Runde noch deutlich erkennbar, so auch das Auto von Ramirez, das von den fernen Höhen eilig herunterglitt und nun am Gartentor im »Rincón« hielt.
Hannelore begleitete ihre Eltern bis auf den Weg. »Wenn es dich 68 beruhigt, so schlafe in unserm Zimmer, Hannelore,« sagte die Mutter, »und laß das Licht brennen! Die Carmela wird wachen, bis wir kommen, und der Bartolo schläft im Nebenhaus.«
»Ja doch,« erwiderte Hannelore vollkommen sorglos, »ich habe ja gar keine Angst . . . Und vergnügt euch auch recht gut!«
Die Tür schlug zu, und das Auto rollte davon. Hannelore stand noch ein Weilchen auf dem Weg und blickte dem Wagen nach, bis sie ihn jenseits der Brücke hinter den Büschen verschwinden sah. Dann lief sie durch den Garten ins Haus zurück.
Sie ging in die Küche, sprach ein wenig mit der Carmela und aß dann ganz allein in dem traulichen Speisezimmer Abendbrot. Nachher stieg sie in den zweiten Stock hinauf, trat in ihr Zimmer, öffnete das Fenster und sah hinaus.
Draußen war es jetzt Nacht geworden, aber über dem Flusse stand der Mond in vollem Glanze und durchströmte weithin mit seinem Scheine das totenstille Land. Wie flüssiges Silber leuchtete der Spiegel des Flusses, und wie in tiefem Schlummer lagen Wiesen und Wälder dahinter. Unbewegt war die Luft, und ohne Laut die nächtliche Natur. Nur die Einsamkeit wogte und webte geheimnisvoll durch das Tal und über die schattenhaften Hügel.
Hannelore ließ das Fenster offen und zündete die Lampe an. Eine Weile las sie, dann legte sie sich zu Bett und schlief fast augenblicklich ein.
Währenddessen saßen unten in der Küche die Carmela und der Bartolo beim Abendbrot und sprachen über dieses und jenes. Sie waren beide schon alt und grau, ein paar treue und bewährte Menschen, die den »Rincón« und alles, was dazu gehörte, hüteten, als ob es ihr Eigentum wäre.
»Sind die Hunde frei?« fragte die Carmela. »Nein,« erwiderte der Alte, »aber wenn ich nachher ins Haus hinübergehe, will ich sie losketten.«
Und während so der »Rincón« im tiefsten Frieden lag, und seine wenigen Bewohner sich sorglos der nächtlichen Ruhe hingaben, fand weit hinten auf den Höhen, die nach den Wäldern zu lagen, eine gar seltsame und unheimliche Begegnung statt.
Schon seit Stunden standen auf einem Vorsprung, von wo aus man das 69 ganze Tal vor sich liegen sah, zwei Männer zu Pferd. Es waren die beiden Huasos, die am Nachmittag auf der Bank im Städtchen gewesen und dann in der »Tortuga« am Fluß unter den Weiden eingekehrt waren.
Freilich, wie harmlose Landleute sahen sie aus, aber in Wirklichkeit waren sie nichts andres als ein paar der gefährlichsten Übeltäter aus dem Norden. Viele Räubereien, Diebstähle und Brandstiftungen hatten sie auf dem Gewissen, und wie oft hatte die Polizei nach ihnen gefahndet, ohne daß es ihr je gelungen war, ihrer habhaft zu werden! Da ihnen aber schließlich der Boden auf dem Festlande doch zu heiß geworden war, hatten sie es auf der Insel versuchen wollen.
Seit Tagen waren sie schon in der Stadt und hatten nichts weiter getan, als herumspioniert und Wege und Schlupfwinkel ausfindig gemacht, wo sie bei Verfolgungen am schnellsten verschwinden konnten. Ganz unvermutet hatten sie bei diesem Herumschleichen und Aushorchen in El Cabro einen gleichwertigen Genossen gefunden, der Fahrzeuge und Helfer besaß, die einen im dichtesten Nebel oder in der dunkelsten Nacht sicher auf die benachbarten Inseln entführten.
Augenblicklich hatten sie keinen andern Gedanken, als im »Rincón« einzubrechen. Sie vermuteten ganz richtig, daß das Geld, das Siewers in ihrer Gegenwart auf der Bank eingelöst hatte, noch irgendwo im »Rincón« war . . ., und Geld war vor ihnen nirgends sicher.
Sie standen also wie Geier auf hoher Warte und spähten nach dem grauen Haus am Fluß. Die Dämmerung war schon tief gesunken, aber noch nicht tief genug für ihr schwarzes Vorhaben. Sie wollten warten, bis die Finsternis sie ganz umhüllte und im »Rincón« kein Licht mehr brannte.
Vor wenigen Minuten hatten sie mit großer Genugtuung beobachtet, wie das Auto vom »Rincón« weg und der Stadt entgegen fuhr, und sie fanden, daß sich alles glatt nach ihren Wünschen entwickelte.
Da . . .! Was war denn das für ein Geräusch? Gespannt horchten sie nach dem Walde hin. Kein Zweifel, jemand kam zu Pferd daher. Abwartend und lauernd verharrten sie regungslos. Der Schlag von Pferdehufen auf hartem Waldboden kam näher. Die Büsche teilten sich. Auf dem schmalen 70 Seitenpfad erschien ein Reiter . . . ein Huaso wie sie . . . Sekunden nur . . ., und die beiden hatten den Mann erkannt. Unwillkürlich reckten sie sich hoch, kniffen die Augen ein, zwinkerten sich zu und erwarteten ihn.
Der ahnungslos Daherreitende war niemand anders als der Zurdo. Auch er erkannte die andern im Augenblick, aber sein Gesicht blieb eine Maske. Keine Bewegung darin verriet, was in seinem Inneren vorging.
Und doch, was für ein Sturm war mit Urgewalt in ihm entfacht! Mit Blitzesschnelle jagte eine böse Geschichte aus vergangenen Tagen an seinem Geiste vorüber.
Einst, als er noch ein ganz junger und schuldloser Bursche gewesen war, hatten die beiden ihn veranlaßt, an einem Einbruch auf einem Fundo im Norden teilzunehmen. Das Ende war gewesen, daß sie mit dem Raub auf und davon gelaufen waren und ihn schmählich im Stiche gelassen hatten, und daß er, obwohl er nur Wache gestanden war, ein Jahr lang für die andern hatte büßen müssen.
Nun, er hatte sich wieder zu einem anständigen Menschen durchgerungen, aber vergessen hatte er nie, und wenn er an jene Geschichte dachte, sah er heute noch alles rot wie in Blut getaucht vor seinen Augen.
Was die wohl hier suchten? Zum Teufel mit euch, Negro und Flaco! Mich fangt ihr nicht mehr! Aber . . . Vorsicht, Barros! Der Böse naht in mancherlei Gestalt, oft auch in doppelter wie eben jetzt. Er stand vor ihnen und sah sie an. Da kam Bewegung in die andern.
»Hallo, wie geht es dir, Pipo?« So hatten sie ihn früher genannt, damals, als er ihnen noch zu Willen gewesen war.
»Gut . . .,« erwiderte er zögernd.
»Bist du hier ansässig?«
Er blickte sie unverwandt an. »Nein,« erwiderte er kurz und abweisend.
»Arbeitest du in der Gegend?«
»Ich denke nicht daran.«
»Wohin des Weges?«
Er sah auf sein Pferd. »Ich will noch vor Mitternacht in Quepe sein.« Er rang sich die Worte mühsam ab, und es klang wie ein Geständnis. 72
Die andern überlegten. »Quepe . . .? Das ist aber weit von hier.« Ein Schweigen ging zwischen ihnen. Dann wandte der Negro sein Pferd in die Nähe vom Zurdo. »Pipo . . .,« sagte er lauernd und eindringlich, »willst mit uns einen ›Strich‹ machen?« Er gab ihm einen leichten, vertraulichen Stoß. »Alte Kameraden . . . eh?«
»Wohin?« fragte der Zurdo zurück.
Die Frage konnte Entgegenkommen bedeuten, aber so schnell gaben sie ihr Geheimnis denn doch nicht preis. Wer wußte überhaupt, was in diesem Pipo vor sich gegangen war! Sie hatten ihm ja damals übel mitgespielt . . . So etwas vergaß keiner.
»Oh . . .,« machte jetzt der Flaco gedehnt und log, »dahinten bei den Kolonisten . . .«
Der Zurdo richtete sich plötzlich auf und sagte, als habe er schon zu viel Zeit versäumt: »Ich muß gehen. Der Weg ist weit, und vor Mitternacht will ich in Quepe sein . . . Viel Glück!«
Er gab seinem Pferde die Sporen und verschwand wie ein Geist auf der entgegengesetzten Seite hinter den Büschen im Wald.
Einen Augenblick verharrten die beiden unbewegt. Dann setzten sie sich wie auf Verabredung in Trab und ritten, als müßten sie einen unsichtbaren Verfolger täuschen, nicht in der Richtung nach dem »Rincón«, sondern dorthin, wo hinter dem Wald die fremden Kolonisten ihre Siedlungen hatten. Sie sprachen kaum. Nur hin und wieder fiel ein Wort aus ihren Überlegungen heraus.
»Glaubst du, daß er nach Quepe reitet?«
»Warum nicht? . . . Er ist ein Idiot . . .«
»Wer weiß! . . . Vielleicht hat er uns nur täuschen wollen . . .«
»Ach was . . . und wenn . . .! Kommt er uns in die Quere . . .,« er zuckte verächtlich die Schultern, »mit dem sind wir bald fertig.«
Plötzlich machten sie kehrt. Langsam und bedächtig ritten sie durch den dämmerigen Wald zurück, durch eine Schlucht und dann geradeaus auf dem Wege längs des Flusses dahin. Nach einer guten Viertelstunde lenkten sie ihre Pferde gerade auf den »Rincón« zu, und eine halbe Stunde später 73 jagten sie mit reicher Beute, ohne sich ein einziges Mal umzusehen, im Galopp der Brücke zu und von da über die Hügel in die Stadt.
Sie wollten von der »Tortuga« aus noch in der Nacht auf die nächste Insel und dann wieder zurück auf das Festland.
Vorsichtshalber wählten sie einen Seitenweg, und darum entging ihnen auch das Auto, das zu gleicher Zeit auf der Fahrstraße Siewers und seine Frau wieder in den »Rincón« zurückbrachte.
Wegen der steigenden Flut, die vom Meere her in den Fluß eindrang und das Wasser weit über den Weg trieb, verabschiedeten sich Siewers schon bei der Brücke von Ramirez und gingen langsam, in Gedanken noch ganz bei dem kleinen Fest im Kreise der Freunde verweilend, zu Fuß ihrem Hause zu.
Alles lag still und friedlich da, genau so wie sie es verlassen hatten, und nichts verriet ihnen da draußen etwas von dem, was sich vor kaum einer halben Stunde im Hause zugetragen hatte.
Am Eingang des Gartens aber gewahrten sie schon etwas Verdächtiges . . . Das Tor war aus den Angeln gehoben . . .
Ein jäher Schrecken durchfuhr sie, und von plötzlich erwachten bösen Ahnungen erfüllt, eilten sie durch den Garten.
»Herrgott! Waren die Fenster offen, als wir wegfuhren?« fragte Siewers, während er hastig die Haustür aufschloß.
»Ich erinnere mich nicht,« erwiderte seine Frau. Sie zitterte so vor Erregung, daß sie sich kaum aufrecht halten konnte.
Auf der Schwelle blieben sie einen Augenblick stehen und horchten, aber nichts regte sich, und alles war in Dunkelheit gehüllt.
Siewers zündete die Flurlampe an, und Sekunden danach standen sie auch schon vor dem aufgebrochenen und ausgeplünderten Schreibtisch.
Ihr erster Gedanke war Hannelore. Um Gottes willen! Sie jagten die Treppe hinauf, Siewers immer zwei Stufen überspringend, und rissen die Tür zu ihrem Zimmer auf. Gottlob! . . . Sie schlief, als ob nichts geschehen wäre.
Da eilten sie wieder hinunter und mußten sich nun von der traurigen Tatsache überzeugen: ihr ganzes Geld war weg! 74
»Wer kann das gewesen sein?« sagte Siewers wie verloren.
Seine Frau hatte sofort einen bestimmten Verdacht: »Glaube mir, Walther, es ist niemand anders als der Barros,« behauptete sie.
Aber Siewers widersprach: »Das ist ausgeschlossen.« Wie betäubt gingen sie dann von einem Zimmer ins andere und sahen nach, ob noch mehr gestohlen worden war, aber nirgends fehlte etwas.
In der Küche jedoch bot sich ihnen ein geradezu schreckenerregendes Bild: der Bartolo und die Carmela lagen geknebelt und bewußtlos auf dem Boden.
Zitternd lösten Siewers' die Riemen und halfen ihnen zurecht. Die Carmela fiel von einer Ohnmacht in die andre, Bartolo dagegen kam einigermaßen wieder zu sich und berichtete stotternd, was er in den wenigen Augenblicken des Überfalls gesehen hatte: zwei wildfremde Männer . . . Huasos mit großen Hüten und Ponchos . . . Weiter wußte er nichts . . .
Siewers wollte trotz der vorgerückten Nachtstunde in die Stadt zurück und Anzeige erstatten, aber seine Frau geriet bei dem Gedanken, daß er den Räubern vielleicht da draußen in der Dunkelheit begegnen könne und daß sie allein in dem Hause bleiben solle, außer sich, und so unterließ er es.
Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit verschlossen sie nun alles sorgfältig und legten sogar Waffen bereit.
Unterdessen torkelte der Bartolo draußen wie ein Betrunkener über den Hof nach seiner Wohnung. Doch bevor er diese erreichte, fiel er schwer wie ein Sack zu Boden und lag wie ein Toter da, wahrscheinlich infolge eines Schlages, den ihm die Banditen versetzt hatten.
Eine ganze Weile später kam ein Mann gemächlich aus dem Dunkel des Waldes auf den Hof im »Rincón«. Es war der Zurdo, der seinen nächtlichen Rundgang machte.
Langsam ritt er an den Zäunen hin, und da mit einem Male erblickte er im Scheine des Mondes die dunkle, unbewegte Gestalt des Bartolo. Erschrocken sprang er vom Pferd und trat auf ihn zu.
»Mann, was ist geschehen?« fragte er teilnehmend und rüttelte ihn auf.
Der Bartolo kam nach und nach zu sich, und aus abgebrochenen Sätzen erfuhr der andre von dem Einbruch. 75
Sekunden nur . . . und in seinem Vorstellungsvermögen war eine Klarheit wie selten.
Die Einbrecher waren niemand anders als der »Flaco« und der »Negro«, aber er, der dumme Juan Barros, den sie um ein Jahr seines Lebens geprellt hatten, er würde ihnen dieses Mal die Suppe versalzen. Ja, er, er ganz allein würde mit ihnen abrechnen und wie! Ha, jetzt kam die Reihe an ihn! Jetzt würde er sich bezahlt machen!
»Weißt du, in welcher Richtung sie davon sind?«
Der Bartolo verneinte. »Keine Ahnung . . . wahrscheinlich in die Wälder.«
O nein! Der Juan Barros wußte es besser. Die waren in die Stadt geritten . . . zum Cabro . . . Dort traf sich ja alles Gesindel, und von dort war mehr als ein Verbrecher der Polizei entkommen.
Er half dem Bartolo, seine Wohnung aufschließen, und verabschiedete sich hastig. »Gute Nacht! . . . Ich will noch über die Brücke . . . Wer weiß . . .!«
Mit einem Satz saß er im Sattel und ritt wie ein Wilder in die Nacht hinein.
»Entweder sind sie noch auf der Straße . . . oder aber in der ›Tortuga‹ . . .«, überlegte er. Er kannte einen Weg, der in gerader Linie in die Stadt führte. Den nahm er und ließ die Fahrstraße weitab.
In weniger als einer Viertelstunde bog er um die Ecke, wo die Spelunke des Cabro lag. Durch die Ritzen der Fensterläden schimmerte noch Licht, und unten zwischen den Weiden sah er schattenhaft zwei Pferde. Eine wilde, jauchzende Freude stieg senkrecht in ihm auf. Es fehlte wenig, so hätte er einen jubelnden Schrei ausgestoßen. Wie ein Pfeil sauste er an der Schenke vorbei und schnurstracks auf die Wache.
Es ging zwar auf Mitternacht, aber der Bericht des Zurdo machte die Polizei sofort wach und munter. Vier handfeste Carabineros waren im Nu auf ihren Pferden und galoppierten durch die Stadt nach der »Tortuga«. Dort stiegen sie ab und klopften dröhnend an die Holztür, und als diese nicht gleich aufgemacht wurde, splitterte sie unter ihren Hieben wie eine Streichholzschachtel zusammen.
In der kleinen Wirtsstube entstand ein wüstes Geschrei und Gepolter. 76 Tische stürzten, und Flüche wurden laut, aber dann kamen sie mit der gesuchten Beute heraus.
Der Zurdo stand seitab, als ob ihn das alles nichts anginge. In Wirklichkeit jedoch verfolgte er mit wilder Genugtuung, was sich da vor ihm abspielte.
Der »Flaco« und der »Negro« waren mit Handschellen gefesselt und wurden je einer zwischen zwei Carabineros an den Sattel gebunden und abgeführt. 77
Er sah ihnen nach, und seine Gedanken stürmten durcheinander. Endlich . . .! Endlich war die erlittene Schmach gerächt! Und ganz langsam flackerte noch eine eigentümliche Erkenntnis und Freude am Horizonte seiner aufgewühlten Gefühle auf: er hatte auch seinem Herrn einen Dienst geleistet!
Er ballte die linke Hand, schlug sie in die hohle Rechte und knirschte mit grenzenloser Befriedigung: »Bezahlt . . .! Bezahlt . . .! Banditen des Teufels!«
Eine ganze Weile überließ er sich dieser wonnigen Vorstellung, dann stieg er ab und trat ruhig in die »Tortuga«. Der Cabro machte große Augen, als er ihn sah und fragte barsch: »Wie kommst du hieher? . . . Und was hast du so spät noch hier zu suchen?«
Der Zurdo tat harmlos: »Was ist denn los?« und log dazu: »Ich war in der Stadt und habe mich verspätet. Zufällig komme ich hier vorbei und sehe noch Licht. Ich möchte nämlich eine Flasche Wein mitnehmen.«
Unwillig und mit mißtrauischen Blicken brachte der Cabro das Gewünschte. Der Zurdo zahlte und ritt dann im Galopp nach dem »Rincón« zurück.
Als er beim Hause von Siewers vorbeikam, blieb er einen Augenblick stehen und sah empor. Im zweiten Stock brannte noch Licht. Langsam ritt er weiter und dachte: »Regt euch nur nicht auf. Es lohnt sich nicht . . . Morgen werdet ihr schon Augen machen . . .«
Es war weit nach Mitternacht, als er endlich im »Salto« anlangte. Seine Frau hatte auf ihn gewartet, und als sie ihn kommen sah, rief sie: »Um Gottes willen, Juan, ist dir etwas zugestoßen?«
»Nein,« antwortete er gemütlich und holte den Wein aus der Tasche. »Mir ist nichts passiert, aber,« er zwinkerte vielsagend mit den Augen, »dafür ein paar andern um so mehr. Trinken wir erst, und bring etwas zu essen!«
Und wie sie so in später Nachtstunde beisammensaßen und der Wein dem Zurdo die Zunge gelöst hatte, erfuhr die Raquel denn auch die ganze Geschichte. Sie erkannte sogleich den Vorteil des Ereignisses und meinte voller Überzeugung: »Paß auf! Wenn der Patron erst alles weiß, wird er dir sicher mehr Lohn geben.« 78
»Was nicht noch!« erwiderte der Zurdo wegwerfend. »Ich habe es schließlich doch nur für mich getan.«
»Das kommt auf eins heraus,« entschied seine Frau, und angeregt und zufrieden gingen sie an dem Abend zu Bett und erwachten am nächsten Morgen erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand.
Im »Rincón« jedoch war Siewers nach einer unruhig verbrachten Nacht früher als sonst aufgestanden. »Ich will mein möglichstes tun,« sagte er, »aber an ein Wiedererlangen des Geldes glaube ich nicht. Doch, wir wollen nicht klagen. Es hätte ja alles noch viel schlimmer sein können. Stelle dir vor, es wäre dem Kind etwas passiert!«
Seine Frau wollte wissen, wann er zurückkomme. »Vielleicht um elf Uhr . . . Wenn es aber später wird, ängstige dich nicht! Solche Angelegenheiten dauern manchmal unerwartet lange . . .«
Als er vom Hof ritt, kam Hannelore ganz verstört in das Schlafzimmer ihrer Mutter und fragte, warum der Vater denn so früh schon in die Stadt reite, und da erst erfuhr sie, was in der vergangenen Nacht geschehen war.
Mit entsetzten Augen hörte sie zu, und mit Grauen stellte sie sich vor, welcher Gefahr sie ausgesetzt gewesen war. Den ganzen Morgen ging sie bedrückt und niedergeschlagen umher, und jeden Augenblick lief sie hinaus auf den Hügel hinter dem Haus und sah mit einem Fernglas nach den Höhen über der Brücke, ob der Vater nicht zurückkehre. Sie hatte eine kindische Angst um ihn, und er tat ihr auch so leid wegen des großen Verlustes.
Aber es wurde zehn und elf, ja sogar zwölf Uhr, und Siewers war noch nicht da. Mit schwerem Herzen setzten sich Hannelore und ihre Mutter gegen ein Uhr an den Mittagstisch.
Da hörten sie plötzlich das Galoppieren eines Pferdes und dann einen kurzen Ruf. Es war der Vater. Beide eilten hinaus. Gott Lob und Dank, daß er nur wieder da war! Hannelore hing sich an seinen Arm, und Frau Siewers legte ihre Hand auf seine Schulter, und so führten sie ihn in das Speisezimmer.
»Nun . . . Walther . . .? Hast du etwas erreicht?« Frau Siewers wagte kaum zu fragen. Ohne ein Wort zu sagen, holte er seine Brieftasche heraus. 79 Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht, und seine Augen blickten hell und zufrieden.
»Hier . . .!« Er zählte langsam einen Geldschein nach dem andern auf den Tisch. »Zweitausend Pesos!«
»Walther! Wie ist das möglich . . .! Woher . . .?« Frau Siewers konnte vor Überraschung kaum sprechen, und da erzählte er denn, was sich in der Stadt zugetragen hatte, wie man ihn beim Gericht bereits erwartet habe, daß ihm zwei unbekannte Kerle vorgeführt worden seien, und daß diese alles gestanden hätten, von ihrem Herumspionieren auf der Bank an bis zu ihrer Festnahme in der »Tortuga«.
Frau Siewers fragte verständnislos: »Und das haben sie alles freiwillig zugegeben . . .?«
»Freiwillig? Freiwillig allerdings nicht, aber du weißt, sie machen beim Gericht mit solchen Banditen nicht viel Federlesens. Daumenschrauben sind auch heute noch wirksam.« »Ja . . . aber . . .« Frau Siewers verstand nur halb, »wie kam es, daß die Polizei sie schon gestern abgefaßt hat?«
»Ja, das ist nun beinahe das Wunderlichste an der ganzen Geschichte,« erklärte Siewers, »nämlich der, der uns diesen außerordentlichen Dienst geleistet hat, ist niemand anders als der Barros im ›Salto‹ oben.«
»Der Barros?« »Der Zurdo?« Hannelore und Frau Siewers fragten es wie aus einem Munde, und Siewers erzählte ihnen so viel, wie er selbst davon wußte.
»Alles ist mir allerdings auch noch nicht klar, aber darüber will ich mich nach dem Mittagessen mit ihm persönlich unterhalten. Was meinst du, Hannelore, begleitest du mich nachher hinauf in den ›Salto‹?«
»Ja, Vater, sehr gern,« antwortete sie mit großen, verwunderten Augen.
Sie erinnerte sich plötzlich an den Frühlingsabend auf der Höhe hinter dem Städtchen, wo sie den Barros und die Raquel mit dem kleinen Kinde zum ersten Male getroffen hatte. Monate lagen zwischen damals und heute, und wie hatten sich nun die Dinge für die beiden zum Guten gewendet!
»Siehst du, Mutter,« sagte sie nach einer Weile des Nachdenkens, »du hast dem Zurdo doch unrecht getan. Er hat wirklich nichts Böses im Blick. Im Gegenteil, das ist lauter Ehrlichkeit.« 80
Frau Siewers erwiderte darauf ernst: »Gott sei Dank, daß ich mich täuschte! Und wenn ich dem Manne unrecht getan habe, so will ich es jetzt gern wieder gut machen. Wenn du mit dem Vater in den ›Salto‹ reitest, so sage der Raquel, sie solle nachher zu mir herunterkommen. Ich will ihr einen ordentlichen Korb vollpacken, und . . .« sie sah Hannelore lächelnd an, »wenn sie die Nähmaschine noch brauchen kann, so mag sie sie holen, wann es ihr beliebt.«
»Oh, Mutter! Die wird sich aber freuen!« Hannelore war überglücklich. Am Nachmittag ritt sie mit dem Vater in den »Salto«. Unterwegs sprachen sie noch einmal über alles und mutmaßten dieses und jenes, wie der Barros wohl dazugekommen sei, die beiden auf frischer Tat zu erwischen.
Das Haus im »Salto« stand auf einer sonnigen Anhöhe. Eine kleine Bank war unter dem einzigen Fenster, und hinter dem Hause blühten in einem Gärtchen die letzten Blumen des Herbstes, ein paar Astern, Geranien und eine riesengroße Sonnenblume.
Der Barros und seine Frau standen vor der Tür, als Hannelore und ihr Vater ankamen. Siewers stieg vom Pferd und trat zu dem Manne, der ihm ein wenig verlegen entgegensah.
»Barros,« begann Siewers ernst und freundlich, »ich bin hier, um Euch zu danken. Ihr wißt schon warum.«
Der Barros rührte sich nicht, aber er meinte, während es in seinen dunklen Augen aufblitzte: »So viel ist das nicht, Herr . . .«
»Doch,« beharrte Siewers, »ich will Euch das auch nie vergessen, aber nun erzählt mir ein wenig, wie sich die Geschichte eigentlich zugetragen hat!«
Viel war aus dem Barros nicht herauszukriegen. »Ich traf die zwei am Abend da hinten im Walde. Ich kannte beide von früher . . . vom Norden her. Es sind Banditen, Herr! . . . Als ich um Mitternacht von den Bergen herunterkam, sah ich den Bartolo. Er sagte mir, was geschehen war. Da wußte ich Bescheid . . .«
Siewers schüttelte den Kopf. »Ein gefährliches Erlebnis mit einigermaßen glücklichem Ausgang, den ich aber wirklich nur Euch zu verdanken habe.«
Er drückte ihm einen schönen Geldschein in die Hand und meinte: »Den habt Ihr Euch ehrlich verdient, Barros.« 81
Dann rief er Hannelore, die unterdessen auch ihren Auftrag ausgerichtet hatte, und freundlich grüßend ritten sie wieder talwärts.
Der Barros und die Raquel standen noch eine Weile vor dem Häuschen und sahen ihnen mit freudestrahlenden Gesichtern nach. Dann sagte die Raquel triumphierend: »Siehst du wohl, Juan! Habe ich es dir nicht schon gestern gesagt? Der Patron ist gerecht und dankbar.«
Der Barros aber sah auf den Geldschein in seiner Hand und murmelte, noch ganz in die Ereignisse der letzten zwölf Stunden versunken: »Banditen! . . . Banditen des Teufels!« 82