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Das Leben im »Rincón«, wo jeder vom Morgen bis zum Abend mit Arbeit überhäuft war, brachte es mit sich, daß Hannelore ungebunden und selbständig aufwuchs. Sie hatte in Haus, Hof und Garten ihre bestimmte tägliche Beschäftigung, und häufig wurde sie von den Eltern auch mit Aufträgen betraut, die sie ganz allein in der Stadt oder irgendwo auf dem Gut zu bestellen hatte. Dabei hielt sie ihre Augen stets offen und beobachtete alles, Rechtes und Unrechtes, was sich rings um sie herum zutrug.
Mit den Jahren wurde sie auf diese Weise ein sehr selbstsicheres Menschenkind, das mit seinen Füßen und Gedanken fest auf der Erde stand und manchmal schon ganz selbständig in dem großen Betrieb kleine Anordnungen traf.
Solange sie damit im Sinne der Eltern handelte, freuten sich diese immer darüber und ließen sie gerne gewähren. In Hannelores begrenzter Gedankenwelt stand aber nicht nur wie ein helles Lichtlein die Vernunft, sondern etwas, das oft alle Klarheit in ihr über den Haufen warf und sie zu Handlungen verleitete, mit denen die Eltern gar nicht einverstanden waren.
Dieses Etwas war Hannelores weiches Herz, ihr Mitleiden und Mitfühlen und ihr rasches Helfenwollen, wo Menschen oder Tiere litten. An und für sich war diese Eigenschaft ja lobenswert, aber auch das Wohltun bedarf vernünftiger Überlegung und kann falsch angewandt werden, besonders von einem zwölfjährigen Kinde.
Darum geschah es denn auch, daß sich einmal über Hannelores Eigenmächtigkeit der väterliche Unwille wie ein kleiner Sturm entlud, daß sich aber noch am gleichen Tage trotz dieses Sturmes wieder eine fast unglaubliche Geschichte wegen ihres selbständigen Handelns zutrug.
Es war im Januar. Der graue Sommermorgen versprach keinen schönen Tag, und im »Rincón« wußte man auch genau, warum. Auf einigen benachbarten Gütern wurde nämlich gerodet, und überall brannten die Wälder. Zwar sah man die Feuer nicht, aber man litt seit Wochen unter deren Wirkungen. 83
Die Höhen ringsum waren in trüben Dunst gehüllt. Den Himmel überzog ein fahler Schein, und die Luft war schwül und drückend.
Gleich nach dem Frühstück hatte Siewers Hannelore in sein Büro gerufen, und froh und erwartungsvoll war sie hereingekommen. Sicher sollte sie mit dem Vater ausreiten, vielleicht zu den Kolonisten oder gar in die Stadt!
Ihre Erwartung wurde aber bitter enttäuscht, und während er sprach, wurde ihr Antlitz so blaß wie die kleinen, weißen Blumen, die sie ihm auf den Schreibtisch gestellt hatte, und ihre hellen, blauen Augen verdunkelten sich, als ob sich ein feiner Schleier über sie breite.
»Ein für alle Male muß ich dir streng verbieten, eigenmächtig zu handeln. Du bist viel zu jung und unerfahren, um selbständig Entscheidungen treffen zu können, wie du es nun schon verschiedene Male getan hast! Zum Beispiel neulich, als du das Jungvieh auf die fette Wiese triebst, nachdem es den ganzen Nachmittag geweidet hatte! Eine solche Überfütterung hätte die nachteiligsten Folgen haben können, und es war ein Glück, daß der Isidro noch rechtzeitig dazukam! . . . Und gestern! Da hast du den halben Schrank in der Speisekammer geplündert, nur um dieser faulen Bettlerin oben im ›Salto‹ zu helfen! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«
Er sah sie unwillig an, und sie senkte langsam ihre Lider unter seinem Blick.
»Nichts . . .,« hauchte sie, und ein leiser Seufzer entfloh ihren Lippen.
»Das ist es eben,« zürnte er. »Du denkst dir nichts dabei und handelst, als ob du erwachsen wärst und bist nicht imstande, das Nachher zu erfassen. Nächstens bringst du uns noch einen Pestkranken von der Straße ins Haus, oder du verschenkst meinen besten Anzug oder was dir gerade in die Hände fällt, nur weil dir jemand leid tut! Das geht auf keinen Fall so weiter! Künftig fragst du immer mich oder die Mutter, bevor du etwas unternimmst. Verstanden?«
Sie nickte und versprach leise: »Ja, Vater.« Und Siewers verließ das Zimmer, ohne ein einziges Wort hinzuzufügen.
Hannelore tastete nach der Tischkante und verharrte eine ganze Weile regungslos, den Kopf nach vorn gebeugt. Dann richtete sie sich auf und ging 84 hinaus, den Flur entlang in den Garten und hinunter an den Fluß. Dort setzte sie sich auf den Rand eines alten Bootes, das auf dem Sande lag, und dachte nach.
Sie war innerlich wie von einem Sturm durchrüttelt, denn in dieser Art hatte der Vater noch nie mit ihr gesprochen. Langsam überlegte und grübelte sie. Was hatte sie sich denn so Furchtbares zuschulden kommen lassen?
Ganz genau erinnerte sie sich an das, was er ihr vorgehalten hatte. Die Tiere hatten damals auf vollkommen abgeweidetem Boden gegrast, und ihr war es plötzlich eingefallen, daß sie wahrscheinlich schon den ganzen Tag so hungrig und mühselig nach einem Grashälmchen gesucht hatten, wo doch nebenan der üppige Potrero mit dem saftigen Futter lag! Da hatte sie die Tranca geöffnet, und dann war ein Tier nach dem andern hinüber auf die fette Weide gegangen, und sie hatte sich gefreut und war weitergeritten, ohne sich mehr um die Tiere zu kümmern . . . Und gestern? . . . Ja, da war sie oben im »Salto« bei der blinden Camila gewesen und hatte furchtbares Elend gesehen. Die Alte war blind und krank, und ihre Tochter, die sonst wöchentlich einmal aus der Stadt, wo sie arbeitete, zu ihr kam, hatte sie während eines ganzen Monats nicht mehr aufgesucht, und die Camila war buchstäblich am Verhungern. Da war sie wie gehetzt hinunter in den »Rincón« geritten, hatte die Mutter gesucht, aber nicht gefunden, und weil das doch so schrecklich eilte, hatte sie alles, was sie gerade im Schranke fand, zusammengepackt und war damit wieder zu der Alten hinaufgejagt. Sie sah kein Unrecht darin. Sie hatte in ähnlichen Fällen die Mutter ja genau so handeln gesehen . . ., aber . . . freilich . . . allmählich verstand sie es doch, was der Vater von ihr wollte . . . Sie dürfe nicht eigenmächtig handeln . . . Einer Schuld war sie sich zwar immer noch nicht bewußt, aber sie begriff das Verbot, weil es sie schmerzte, den Vater betrübt zu haben; und weil es ihr weh tat, daß er so streng und böse mit ihr gesprochen hatte, nahm sie sich vor, sich ganz nach seinem Befehl zu richten.
Bekümmert sah sie zu den fernen, dunstumhüllten Höhen. Sie fand den Morgen trübselig und bedrückend, innerlich und äußerlich, und ging langsam durch den Garten zurück ins Haus. 85
Die Mutter räumte im Eßzimmer auf, und Hannelore fragte, ob sie ihr nachher, wenn sie ihre Schlafstube in Ordnung gebracht habe, behilflich sein könne.
»Ja, gewiß. Du kannst im Garten Schoten pflücken und der Carmela helfen, sie putzen.«
Weiter verlor sie aber kein Wort, sondern ging rasch an ihr vorbei in die Küche.
Hannelore blieb einen Augenblick an der Tür und sah ihr nach. Sie war fest überzeugt, daß die Mutter ganz genau wußte, was der Vater ihr vorhin gesagt hatte, ja, daß sie sogar damit einverstanden war, denn das hatte sie längst erkannt, wenn es sie betraf, sei es zum Loben oder zum Tadeln, zum Gewähren oder Verbieten, immer waren die Eltern ein und derselben Meinung.
Nachdenklich stieg sie in ihr Giebelstübchen hinauf, legte Matratzen und Decken auf das Geländer des kleinen Balkons und brachte die Stube in Ordnung. Nachher ging sie in den Garten und pflückte Erbsen.
Vom Garten aus konnte man den ganzen Weg übersehen, der vom Hause aus zwischen den Potreros in die Wälder führte. Als Hannelore das Körbchen voll gepflückt hatte, trat sie an den Zaun und sah über die Wiesen. Weit hinten erblickte sie den Vater, der zu Pferd daherkam, und vom Fluß herauf ritt der Isidro ihm entgegen.
Der Isidro war wie der Bartolo ein alter, bewährter Angestellter im »Rincón«, aber während der Bartolo mehr im Hause und in dessen Nähe seine Beschäftigung hatte, war dem Isidro die Aufsicht über die Arbeiten und das Vieh im Tal übertragen.
Hannelore sah, wie der Vater und der Isidro eine ganze Weile beieinander standen, so lange, daß sie sich fragte, was die beiden wohl zu besprechen hätten?
Nun, das konnte sie unmöglich erraten, und sie zerbrach sich auch durchaus nicht den Kopf darüber, aber . . . soviel kann schon im voraus verraten werden: was für ein Glück war es, daß sie den Auftrag nicht vernahm, den der Vater dort oben dem Isidro gab, denn hätte sie ihn gehört, dann wäre in der darauffolgenden Nacht wirklich etwas Entsetzliches geschehen! . . . 86
Hannelore ging mit den Schoten in die Küche und stellte sie auf den Tisch. Die Mutter sprach mit der Carmela, und sie vernahm, daß der Vater in die Stadt reite und erst spät am Abend wieder zurückkomme.
Sie spürte bei den Worten der Mutter eine kleine Traurigkeit in sich aufsteigen. Sie hatte sich fest vorgenommen, sobald der Vater von den Feldern zurückkomme, mit ihm zu sprechen, denn sie empfand ein dringendes Verlangen, ihn wieder zu versöhnen, aber nun war dazu keine Gelegenheit. Mit solchen persönlichen Angelegenheiten durfte sie ihn jetzt nicht aufhalten. Das wußte sie. Er hatte ja so viel andres im Kopf: Arbeit, Geschäfte, Sorgen aller Art.
Aber als sie den Hufschlag des Pferdes und seine Stimme auf dem Hofe vernahm, eilte sie doch hinaus. Er war, obwohl er von der Arbeit kam, schon angezogen, um in die Stadt zu reiten. Er trug seinen besten Reitanzug, gelbe, blank geputzte Ledergamaschen und einen grauen, breitrandigen Filzhut mit einem schmalen, dunkelbraunen Lederband.
Flink lief sie ihm voraus, riß die Tranca auf, stellte sich seitlich an den Pfosten und sah ihm entgegen. Er blickte auf sie nieder, streichelte ihr im Vorüberreiten die Wange und sagte freundlich, als ob gar nichts Unerquickliches an diesem Morgen zwischen ihnen vorgefallen wäre: »Auf Wiedersehen, Hannelore, und verbringe den Tag recht schön!«
Sie sah ihm nach und fühlte, wie es warm und beruhigend in ihr aufstieg. Sorgsam machte sie die Tranca wieder zu, lief fröhlich ins Haus hinein und machte sich nützlich, wo sie nur konnte.
Wie vorauszusehen war, ging der Tag schwül und unfreundlich dahin. Irgendwo hinter dem grauen Dunst mußte die Sonne brennend stehen, denn die Luft war drückend heiß, und von Zeit zu Zeit roch man die fernen Brände.
Gegen Abend wollte Hannelore einen kleinen Spazierritt auf die Felder machen, wie sie sagte, längs der Potreros hin bis zum Waldrand und am Fluß entlang wieder zurück. Die Mutter gab ihr die Erlaubnis dazu, und so galoppierte sie davon.
In nächster Nähe des »Rincón« lagen sieben Weidekoppeln. Fünf davon konnte man von den Fenstern des Hauses aus überblicken, zwei dagegen lagen 87 hinter einem Hügel und grenzten an den Wald. Der Übersicht halber wurden die einzelnen Wiesen mit Nummern bezeichnet.
Als Hannelore den ersten Potrero hinter sich hatte, ließ sie die Zügel lässig sinken und ritt langsam an den Zäunen dahin. Rechts und links weideten friedlich die Tiere, aber von den Arbeitern war niemand zu sehen. Die meisten befanden sich weiter oben oder hinten im Walde beim Holzfällen.
Hannelores Gedanken eilten dem Weg voraus. Sie wollte bis zum Potrero Nr. 6 reiten. Dort befand sich nämlich das wertvollste Tier vom ganzen Fundo, ein junger Stier, namens Mulato. Siewers hatte ihn im vergangenen Sommer als die Verwirklichung eines seit Jahren gehegten Wunsches mit großen Geldopfern aus Deutschland nach Chile bringen lassen.
Hannelore erinnerte sich, wie damals sozusagen der ganze Fundo »auf den Beinen« gewesen war, als das Tier im »Rincón« ankam. Es war ein Ereignis gewesen, und nicht mit Unrecht. Der Mulato war wirklich ein Prachtexemplar seiner Art, ein Rassetier, braunschwarz, glatt und glänzend, kräftig und voll Ebenmaß und . . . hatte ein kleines Vermögen gekostet.
Als wäre er seiner Schönheit und seines Wertes bewußt gewesen, hatte er sich willig zwischen den Weiden bis zu dem für ihn bestimmten Potrero treiben lassen. Nur von Zeit zu Zeit war er einen Augenblick stehengeblieben, hatte den Kopf ein wenig erhoben und über die Wiesen geblickt, so, als wolle er das fremde Land in Augenschein nehmen, war dann aber immer nach zwei oder drei übermütigen, kleinen Sprüngen wieder ruhig weitergegangen.
Die Weidekoppel, die man ihm zugedacht hatte, war die fetteste und am besten eingezäunte, und, was von besondrer Wichtigkeit war, sie grenzte an einen festgefügten Stall.
Während nämlich das übrige Vieh jahraus, jahrein auch bei Gewitter mit Blitz und Donnerschlag und Hagelschauern stets im Freien übernachtete und nur unter Bäumen und Sträuchern ein wenig Schutz fand, wurde der Mulato jeden Abend sorgsam eingesperrt, damit ihm Sturm und Regen und Kälte nichts anhaben konnten.
Hannelore hatte sich mit dem Mulato bald recht befreundet. Immer wenn sie am Potrero Nr. 6 vorbeikam, hielt sie an und rief das Tier an den Zaun. Nach 88 und nach hatte sich der Mulato so an sie gewöhnt, daß sie ihn gar nicht mehr lange zu locken brauchte und er, schon wenn er ihrer ansichtig wurde, an die Tranca lief, den breiten Schädel senkte und sich zwischen den Hörnern streicheln ließ.
An das alles dachte Hannelore, wie sie so gemächlich auf dem Wege dahinritt. Wie staunte sie aber, als sie die Weidekoppel Nr. 6 leer fand! Was hatte das zu bedeuten? Wo war der Mulato? In einem andern Potrero untergebracht oder gar ausgerückt?
Letzteres war kaum denkbar, denn die Tranca war sorglich verrammelt und die Zäune nirgends durchgebrochen. Oder sollte er am Ende eingesperrt sein? Auch das schien ihr unwahrscheinlich, denn das Tier wurde selten vor sieben oder acht Uhr abends in den Stall gejagt.
Von Besorgnis erfüllt, ritt sie den schmalen Pfad zwischen den zwei Potreros hin bis zu dem Holzverschlag. An der Hinterwand des Stalles war eine Luke angebracht, und durch diese blickte Hannelore in den dämmerigen Raum. Aber nein! . . . Ein kleiner Unwille stieg in ihr auf. Wie war das möglich! Der Mulato war wirklich da drin angekettet! Dabei war es noch so früh am Tage! Kaum fünf Uhr!
Sie überlegte und fand nur eine Erklärung dafür. Der Mulato war an diesem Tage überhaupt noch nicht losgekettet worden. Man hatte ihn einfach vergessen. Natürlich! Wie konnte es auch anders sein! Der Isidro war bei den Holzfällern, der Bartolo mit der Karrete in die Stadt gefahren und der Vater schon am Vormittag weggeritten.
Es war klar, der Mulato, das arme Tier, hatte den ganzen Tag im Stall zugebracht und infolgedessen seit gestern nichts mehr zu fressen bekommen. Und dazu bei dieser Hitze und in dem dumpfen Raum!
Rasch entschlossen stieg sie vom Pferd, öffnete die Stalltür und ging längs einer niedrigen Wand, die den Raum teilte, hin, stieg auf den Futtertrog, langte darüber weg und kettete den Mulato los.
Sobald das Tier spürte, daß die Ketten fielen, wandte es sich und trottete hinaus. Hannelore machte die Stalltür wieder zu, und ohne daß ihr auch nur für einen Augenblick die Erinnerung an das Verbot des Vaters aufgestiegen wäre, setzte sie ihren Spazierritt fort. 89
Sie kam an den Waldrand, lenkte das Pferd zum Fluß hinunter und kehrte, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen, langsam wieder heimwärts.
Im Hause war Besuch: eine befreundete Dame aus der Stadt mit ihren beiden Mädchen. In einer hübschen, kleinen Kutsche waren sie gekommen und saßen nun mit der Mutter im Wohnzimmer.
Hannelore ging mit den Freundinnen über die Hügel hinter dem Hause hinunter ans Meer. Dort suchten sie Erdbeeren, und nachher spielten sie. Es war schon spät, als sie wieder wegfuhren, und Hannelore fühlte sich müde. Gleich nach dem Abendbrot legte sie sich zu Bett und schlief längst, als der Vater heimkehrte.
Er saß mit seiner Frau noch lange im Büro und erzählte ihr, wie es ihm in der Stadt ergangen war, und was er ausgerichtet und besorgt hatte, und dann sprachen sie vom »Rincón«. Er befürchtete einen Sturm für die Nacht.
»Ich glaube, diese Schwüle in der Luft hängt nicht nur mit den Waldbränden zusammen, sondern ist der Vorbote eines Gewitters. Ein Glück, daß wir das Korn gestern noch unter Dach brachten!«
Plötzlich aber, als habe er das Wichtigste beinahe vergessen, fügte er beunruhigt hinzu: »Hoffentlich hat der Isidro den Mulato in den Stall gesperrt! Ich habe es ihm heute früh noch ausdrücklich befohlen.« 90
Frau Siewers nickte. »Er hat es getan. Als er um vier Uhr hier vorbeikam und die Ochsen anspannte, um in die Stadt zu fahren, war ich zufällig in der Scheune und fragte ihn, ob du ihm besondere Aufträge gegeben hättest, und er sagte, weiter nichts als den Mulato einzusperren, und das habe er bereits besorgt.«
In dieser Nacht erhob sich mit einem Male ein heftiger Wind. Er kam vom Meere her, jagte über die Sandhügel hinter dem »Rincón« und verfing sich mit zornigem Brausen in den Bäumen des kleinen Wäldchens.
Dieses Wäldchen war der allerletzte Zipfel des Urwaldes und stand nur zehn Schritte vom Hause entfernt. Nicht mehr als einige zwanzig Bäume bildeten diesen winzigen Überrest vergangener gigantischer Waldespracht, aber wenn der Sturm sie schüttelte, rauschte es gewaltig in den mächtigen Kronen.
Und über diesem Rauschen war Hannelore erwacht. Einen Augenblick nur horchte sie nach draußen, dann wurde sie sich mit Schrecken verschiedener Dinge bewußt: Es stürmte, und der Mulato war nicht im schützenden Stall! Sie hatte ihn über dem Spiel mit den Mädchen vergessen, und sie hatte gegen das Gebot des Vaters gehandelt . . .
Aber alle Einsicht, alle Überlegungen kamen zu spät! Sie sprang aus dem Bett und sah nach der Uhr. Ein kalter Schrecken legte sich auf ihre Brust. Zwei Uhr! Zu dieser Stunde war kein Mensch mehr wach, und was geschehen war, war geschehen und nahm nun unabänderlich seinen Lauf.
Sie huschte ans Fenster und öffnete es. Draußen war nichts als das Heulen des Windes in nachtdunkler Finsternis. Anscheinend war ein Sturm im Anzuge.
Zitternd schloß sie das Fenster. Eine namenlose Angst umkrallte ihr Herz. Schuldbewußtsein und Reue, die Einsamkeit der Nacht und der Aufruhr in der Natur malten ihr das Bild eines riesengroßen Unglücks vor die Seele, viel größer, als es im schlimmsten Falle in Wirklichkeit hätte sein können: erfroren oder zerschmettert würde der Mulato am Morgen im Potrero liegen. Der Vater aber würde darüber ganz gebrochen sein, und sie . . . sie würde mutterseelenallein die schwere Schuld daran tragen . . . ein ganzes Leben lang! 91
Daß diese Nacht wie hundert andre viel stürmischere Nächte vorübergehen würde, daß der Wind nach Stunden aufhöre, fiel ihr gar nicht ein. Irgend etwas mußte . . . mußte geschehen, und mit einem Male war sie sich darüber klar: sie wollte mit dem Vater sprechen. Er allein wußte Rat. Er allein konnte helfen.
Sie eilte hinaus auf den Flur und stand einen Augenblick unentschlossen da. Im Hause war es totenstill und dunkel. Da lief sie hinüber bis vor die Schlafstube der Eltern.
Ihr Herz klopfte heftig, aber bevor sie die Hand auf die Klinke legte, kam die Überlegung: Was würde geschehen, wenn der Vater das Schreckliche vernahm? . . . Wahrscheinlich würde er sofort hinausreiten und in Nacht und Sturm den Mulato suchen und dabei vielleicht selbst in Gefahr geraten.
Nein! . . . Nein! . . . Sie durfte ihn zu dieser Stunde nicht mehr wecken! Sie mußte warten . . . Sie mußte diese entsetzliche Nacht mit all den Ängsten und Selbstvorwürfen allein durchkämpfen.
Sie ging in ihr Zimmer zurück und sah noch einmal zum Fenster hinaus. Dasselbe Toben, dasselbe Stürmen schlug ihr entgegen.
Sie rang die Hände. Was tun? Gott im Himmel! Wie hatte sie nur so unbegreiflich handeln können nach dem Verbot dieses Morgens! Und wie war es möglich gewesen, daß sie den Mulato so ganz vergessen hatte!
Da fiel ihr plötzlich etwas ein, etwas, das ihr ja so oft im Leben schon geholfen hatte. Das Gebet, das inbrünstige Gebet. Ja, sie wollte beten. Das gab Trost und Ruhe. Sie faltete die Hände und flehte mit gläubigem Herzen, der liebe Gott möge ihr doch verzeihen, daß sie wieder so eigenmächtig gehandelt habe, vor allem aber solle er in dieser Nacht keinen Sturm schicken und den Mulato in seine ganz besondre Obhut nehmen.
Nachdem sie gebetet hatte, wurde sie wirklich ruhiger, zog die Decke über die Ohren, um das tobende Stürmen des Windes nicht zu hören, und schlief ein.
Aber wie unliebsam war ihr Erwachen, als der Morgen graute! Mit wilder Heftigkeit klopfte man an die Schlafstubentür der Eltern. Stimmen 92 wurden laut . . . kurz und aufgeregt! . . . Jemand eilte die Treppe hinunter, und Minuten darauf jagte auch der Vater davon.
Bolzengerade saß Hannelore im Bett. Alles in ihr war gespanntes Horchen. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie wußte, etwas war geschehen. Die vergangene Nacht, der Sturm, der Mulato! . . . Ob das zusammenhing?
Sie eilte ans Fenster und riß es auf. Der Morgen dämmerte fahl über Wiesen und Wäldern. Der Sturm war vorbei. Totenstille lag über dem weiten Land.
Hannelores Augen wurden groß und starr. Vor dem Scheunentor sattelte der Vater sein Pferd, und drüben an der Tranca des ersten Potreros stand der Isidro. Der Vater rief ihm etwas zu, das sie nicht verstand, und der andere antwortete: »Si, señor.«
Und dann galoppierten die beiden davon, daß es aussah, als jagten Schatten an den Zäunen hin, und noch vom zweiten Potrero her war das heftige Aufschlagen der eilenden Pferdehufe zu hören.
Was war geschehen? Irgend etwas Schreckliches . . . Sie zog sich an. Sie wollte zur Mutter und fragen.
Aber da ging auch schon die Tür auf, und Frau Siewers trat herein . . . blaß und grenzenlos traurig. Hannelore starrte sie an.
»Ist etwas passiert?« hauchte sie.
Die Mutter setzte sich. Es war, als versagten ihre Glieder. Sie legte die Hand über die Augen und flüsterte: »Der arme Vater . . .«
Hannelores Herz klopfte, daß es ihr fast den Atem benahm. »Was ist mit ihm?«
Die Mutter faltete ihre Hände auf dem Tisch und schüttelte den Kopf. Ihre Stimme klang ganz heiser. »Es ist kaum faßbar . . . Der Mulato ist in der Nacht verbrannt . . .«
»Verbrannt!« Hannelore schrie auf . . ., und dann: »Verbrannt? . . . Wie kann das sein?«
Ihre Worte erstarben. Schuld legte sich auf ihre Seele. Wie entsetzlich war das! . . . Verbrannt? . . . Grauenhafter als irgendein andrer Tod! . . . 93
Wie konnte das sein? . . . Sicher war das Tier in der Nacht durch die Zäune gebrochen und in die brennenden Wälder gerannt.
»Mutter . . .,« sie stand zitternd vor ihr. Unnatürlich groß waren ihre Augen und ganz verschleiert. »Sprich . . . bitte! . . . Wie ist es geschehen?«
»Ich weiß es nicht, mein Kind. Der Junge meldete nur, der Mulato sei verbrannt . . . weiter nichts.«
»Ich werde hinaufreiten,« sagte Hannelore, aber die Mutter widersprach: »Nein . . . Nein! . . . Wozu? Das Unglück ist geschehen, und wir müssen es mit Fassung tragen. Es ist ja nur ein Tier, aber du weißt, wie der Vater an ihm hing und was für ein Verlust das für uns ist . . . Ein halbes Vermögen.«
Hannelore wußte das sehr gut, aber sie sagte kein Wort. Sie wollte sich kämmen. »Mutter,« bat sie. »Bitte, hilf mir! Ich zittere am ganzen Körper.« Und die Mutter flocht ihr die Zöpfe. Ganz still saß sie da, aber in ihrem Innern war Sturm.
»Wird der Vater wohl lange oben bleiben?« Sie konnte die Ungewißheit kaum ertragen.
»Ich glaube nicht. Was soll er denn auch da oben tun!« Sie gingen zusammen hinunter. Die Carmela war in der Küche und bereitete das Frühstück. Als sie Hannelores totenblasses Gesicht sah, meinte sie tröstend: »Nun, nun, mein Töchterchen, es gibt schlimmere Dinge auf dieser Erde. So ein Tier kann man alle Tage wieder kaufen.«
Hannelore ging ins Eßzimmer und half der Mutter den Tisch decken. Es war jetzt ganz hell geworden, und durchs Fenster sah man schon den leuchtenden Schein der aufgehenden Sonne.
Da kam Siewers zurück. Hannelore hörte, wie er auf den Hof ritt und dann ins Haus trat, aber sie ging ihm nicht entgegen, sondern starrte in bebender Erwartung nach der Tür.
Er kam herein. Sein Antlitz war grau und verhärmt, aber seine Augen blickten ruhig wie immer. Er setzte sich an den Tisch neben seine Frau, und Hannelore nahm ihm gegenüber Platz.
Da warf er einen Blick auf die beiden und mußte lächeln. »Ihr macht 94 ja Gesichter, als sei die Welt untergegangen,« sagte er. »Also, bevor ich erzähle . . . der Mulato ist Gott sei Dank nicht verbrannt, sondern grast ganz vergnügt oben im Potrero Nr. 6 . . .«
»Ah . . .,« Frau Siewers atmete erleichtert auf. »Aber wie kam denn der Junge zu dieser Hiobsbotschaft?«
Und da erzählte Siewers: »Alles ist höchst seltsam, und ich selbst sehe noch nicht klar in der Sache. Tatsache ist, daß der Stall im Potrero Nr. 6 zu einem Schutthaufen zusammengebrannt ist, aber der Mulato, den der Isidro gestern, wie du selbst weißt, um vier Uhr eingesperrt hat, ist unversehrt dem Feuertod entronnen. Ich habe keine Ahnung, wie das zugegangen ist. Ob sich das Tier, während der Stall brannte, selbst losriß? Ob ihm jemand die Tür geöffnet hat? Ich weiß es nicht. Doch wozu sich den Kopf zerbrechen! Die Hauptsache ist, daß der Mulato noch lebt.« Er blickte Hannelore an und staunte: »Nanu! Dir scheint der Schrecken ja tief gegangen zu sein! Du glühst wie ein kleines Kirchenlicht . . .«
Glücklicherweise wurde sie jeglicher Antwort enthoben. Die Mutter sagte nämlich, indem sie ihren Mann bediente: »Trink, Walther! Eine Tasse heißer Kaffee tut dir nach dieser Aufregung gut . . .«, und dann fügte sie noch gedankenvoll hinzu: »Eigentlich dürfte man sich nie so an äußeren Besitz hängen, und auch sein ganzes Bargeld sollte man nicht so auf eine einzige Karte setzen.«
»Ja,« gab Siewers zu, »du hast recht, aber das ist wohl immer so bei uns Siedlern. Man fängt mit nichts an. Man rackert sich ab und freut sich über jeden kleinen Fortschritt. Man will verbessern und vorwärtskommen und hängt sich an das schwer Errungene.«
Während sie so miteinander sprachen, hatte keines von beiden auch nur die geringste Ahnung, wie es in Hannelore aussah. Wie einem Wunder hatte sie den Worten des Vaters gelauscht. Eine Wärme, ein Gefühl unendlichen Dankes, eine Klarheit, ein Strom von Glück hatte von ihrem ganzen Sein Besitz ergriffen, aber so überwältigend, daß sie unter seiner Wucht still und stumm wurde. Es wäre ihr unmöglich gewesen, jetzt etwas zu sagen, jetzt diesen wunderbaren Zauber zu zerstören und zu bekennen, wie sehr sie im 95 gleichen Augenblick recht und unrecht gehandelt hatte. Darum schwieg sie und genoß das schier Unglaubliche wie eine stille, heimliche Freude.
Während dieses Tages wurde überall von nichts anderm als von dem Ereignis der Nacht gesprochen. Niemand wußte, wie das Feuer entstanden war: Vielleicht durch eine Unvorsichtigkeit, vielleicht auch durch Böswilligkeit?
Auch darüber, daß der Mulato nicht mitverbrannt war, wurde hin und her geredet, aber Bestimmtes wußte keiner.
Die einzige, die wie auf sonnigen Höhen ging, war Hannelore, aber sie verschloß ihr Geheimnis vorläufig noch tief in ihrer Brust.
Am Abend aber, als sie mit der Mutter im Wohnzimmer saß und handarbeitete, konnte sie doch nicht mehr alles, was in ihr wogte, allein tragen, und sie begann mit bebender Stimme: »Mutter, ich möchte dir etwas ganz Geheimnisvolles sagen . . . Ja? . . . Soll ich? . . . Mutter, ich habe gestern . . .«, und sie erzählte ihr alles. Es war ja nur wenig . . . eine Kette abgehakt, eine Türe aufgemacht . . . Aber die Folgen!
Die Mutter hob jäh ihr Gesicht von der Arbeit. »Weiß es der Vater?«
Hannelore schüttelte den Kopf. »Er hat mir gestern morgen streng verboten, irgend etwas auf dem Fundo zu tun, ohne dich oder ihn vorher zu fragen, und wenn er jetzt hört, daß ich . . .«
Die Mutter unterbrach sie lebhaft: »Nein, nein! So ist das nicht . . .! Weißt du was? . . . Geh jetzt gleich zu ihm hinein und sage es ihm! Er ist im Büro . . .«
Hannelore zögerte. »Ja . . ., ja . . ., tu es nur!« wiederholte die Mutter aufmunternd.
Da stand sie auf und ging hinüber. Der Vater saß am Tisch und schrieb. Sie sah ihn einen Augenblick an. Dann ging sie auf den Zehenspitzen auf ihn zu, schlang ihre beiden Arme von hinten um seinen Hals, lehnte ihren Kopf an seinen und begann: »Vater, ich möchte dir etwas sagen, etwas sehr Wichtiges, aber du mußt mir versprechen, ganz still zuzuhören und nicht gleich zu antworten.«
Siewers reckte sich ein wenig auf. »Das nenne ich aber eine seltsame Einleitung . . . Ja . . . also . . . los!« 96
Und dann wurde er wirklich ganz still, auch wenn sie ihn nicht darum gebeten hätte.
»Du hast mir doch gestern morgen verboten, so ganz selbständig zu handeln, und am Nachmittag habe ich dann doch wieder etwas getan . . . Ich ritt noch spät oben am Potrero Nr. 6 vorbei und sah, daß der Mulato eingesperrt war. Da dachte ich, man habe das Tier den ganzen Tag vergessen, . . . und da habe ich ihn auf die Weide getrieben . . .«
Eine lange Weile herrschte Schweigen. Nur die Uhr tickte so laut . . . und Hannelore wurde es eng und bang.
Endlich aber faßte Siewers nach Hannelores Händen und zog sie nach vorn, so daß sie vor ihm stand und ihn ansehen mußte. Sie wagte aber noch immer nicht, in seine Augen zu blicken, sondern stand mit gesenkten Lidern in großer Verwirrung da.
Siewers betrachtete sie sinnend und schüttelte den Kopf: »Was soll ich dazu sagen? . . . Jetzt, nachdem sich alles so glücklich gewendet hat . . .«
»Bist du mir nicht böse?« fragte sie und sah ihn an. »Wie kann ich!« erwiderte er ernst. »Wolle Gott, daß dein eigenmächtiges Handeln immer so gesegnet sei wie dieses Mal!«
Hannelores Augen leuchteten auf, aber schon waren ihre Gedanken wieder auf das Praktische gerichtet. »Wo wird der Mulato jetzt untergebracht?«
Der Vater lächelte über ihre Sorge. »Den werden wir in größere Sicherheit bringen. Das kannst du dir wohl denken. Vorläufig ist er drüben in der Scheune, und den neuen Stall bauen wir ihm auch mehr hier in der Nähe.«
In dieser Nacht erhob sich wieder der Wind vom Meere her und stürmte wild um den »Rincón« herum, aber Hannelore störte er nicht, denn sie schlief so fest, wie Kinder schlafen, wenn sie ein sehr gutes Gewissen haben. 97