Maria Janitschek
Der rote Teufel
Maria Janitschek

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Im September gabs großen Festtrubel in Canterbury. Der neue Bischof zog nun öffentlich in seine 100 Residenz ein, vom Volk und der Geistlichkeit mit wirklicher Freude empfangen.

Er bezog seine Gemächer im Kloster St. Alban, das an seiner Metropolitankirche lag. Man erzählte viele Geschichten von seiner Güte und Menschenfreundlichkeit, und wie grenzenlos schlicht und einfach er lebte, trotzdem er nun einer der größten Würdenträger in England geworden war. Seine Mienen verrieten nichts weniger als Genugtuung über die ihm zuteil gewordene Ehre. Er sehnte sich heiß nach den stillen Klostermauern von Bec zurück, nach der friedlichen Einsamkeit seiner Spaziergänge, aus denen ihm die Gedanken zu seinen Schriften gekommen waren. Beständig sah er die drei uralten Mühlen des kleinen Tales vor sich, das mitten im Baumdunkel des Forstes von Brionne gelegen war, jenem Eiland der Stille, des Friedens. Und er gedachte des Tages, da er, hochfliegender Pläne voll, sich aus den Armen seiner Eltern, aus einem Haus voll Wohlhabenheit und Luxus, losgerissen hatte, um nach dem einsamen Bec zu wandern. Lanfranc, damals Abt des Klosters, war der Magnet gewesen, der ihn nach Bec zog. Bei ihm lernen und arbeiten und dann, mit geistigen Schätzen bereichert, wieder in die Welt zurückkehren, das war sein Plan gewesen. Nachdem er indes aus dem tiefen Brunnen der Weisheit seines Lehrers geschöpft hatte, war ihm der Durst nach der Welt und ihren Darbietungen vergangen. Er blieb im Kloster und wurde Mönch. Hier störte nichts die Flüge seines Geistes, der weit über den Sternen 101 Land entdeckte und sich da seine Heimat schuf. Was Hehres er geschaut, innerlich erlebt hatte, das legte er in den Schriften nieder, die nicht nur seine Mitwelt, auch die Nachwelt zu den tiefsten Schöpfungen im Reiche des Geistes zählte. Ergriff ihn das Verlangen nach menschlicher Teilnahme, nach Aussprache mit Gleichgesinnten, so fand er unter den Brüdern manchen, der ihm alles bot, was seine Sehnsucht sich wünschte. Nie ist die lautere Freundschaft zwischen hochgemuten Männern so verherrlicht worden wie durch Anselmus in dessen Briefen an seine Freunde. Es war ein Stück Himmel, das da zwischen den dunklen Forsten der Normandie glühte und leuchtete und seine Strahlen weit hinaus in die Welt sandte. Geist, Wissen, Frömmigkeit, Lauterkeit der Gesinnung schmückte die Brüder des Klosters. Bec hieß es von »Bach«. Es stand nämlich an einem Bach, einem Seitenflüßchen der Risle. Fürsten und Könige holten sich aus Bec die Lehrer ihrer Söhne, die geistigen Leiter des Volkes. Und all dies reine, stille Glück sollte Anselmus für immer missen, um einem König zu dienen, dessen ungezügelter Charakter das Zusammenleben mit ihm zur Qual machte, um einer Diözese vorzustehen, in der er Zustände antraf, daß ihm das Herz jammerte. Wird er jemals wieder an seine Arbeiten kommen, die Freude geistigen Schaffens genießen?

Mit stummer Ergebung hörte er die lobpreisenden Reden an, die ihm von allen Seiten ertönten.

Kurze Zeit später begab er sich zu dem Hoftag, der 102 gewöhnlich um die Winterzeit gehalten wurde. Rufus kam ihm höflich entgegen, wenngleich er anders zu ihm war, als damals in Winchester.

Nun war es Brauch, daß beim Tode eines Lehnsmannes der Nachfolger desselben bei der Belehnung eine Abgabe entrichtete. Auch Äbte und Bischöfe hatten sich diesem Brauch gefügt. Edgars Gesetz hatte ihn wohl als Simonie verboten, doch ein freiwilliges Geschenk wurde noch immer entrichtet. Rufus hatte ungeduldig diese Gabe seines jüngsten Lehnsmannes erwartet. Anselmus bot ihm fünfhundert Pfund Silber an. Enttäuscht wies Rufus die Summe zurück. Fünfhundert Pfund Silber! Das war ja lächerlich! Der erste Anlaß zur Verstimmung war gegeben.

In diesen Tagen begab sich Anselmus nach Herga, einem der Dörfer des Erzstifts, die in der Diözese von London lagen, um da eine noch von Lanfranc erbaute Kirche einzuweihen. Bei dieser Gelegenheit mischte sich einer der Kleriker, die mit den Domherrn gekommen waren, unter die Ministranten und eignete sich das erzbischöfliche Chrismatorium an, mit dem er in der Menge verschwand. Der Täter verriet sich selbst und die Sache machte ungeheures Aufsehen. Mit allerlei Legenden ausgeschmückt, durchflog sie das Land und fand selbst in das still gelegene Troarn ihren Weg. Albereta hörte ihre Frauen darüber sprechen und ihre innere Bedrücktheit mehrte sich. Schien nicht alles in diesem Lande für die Rache des Himmels reif zu sein? Der König rüstet sich – 103 ach, daß sie ihn an die Spitze ihrer Anklagen stellen muß, zu einem Bruderkrieg, der viel Elend heraufbeschwören wird, Simonie, diese Pest, die das Volk um jegliches Vertrauen zu seinen geistigen Leitern bringt, ist an der Tagesordnung, Laster, die näher zu bezeichnen die Lippen sich sträuben, werden mit einigen Witzen gerichtet, hingegen der Töter eines Edelhundes mit hohen Geldbußen oder dem Galgen bestraft. Gibt es noch einen Menschen in England, der nicht stiehlt, betrügt, heuchelt, bis ins Herz hinein verfault ist?

* * *

Im Februar, an einem Donnerstag, dem Tag, den Rufus für seinen Glückstag hielt, – zog er mit seinen Truppen nach Hastings, um von hier aus in die Normandie überzusetzen. Alle Großen versammelten sich dort, um ihm das Geleite zu geben.

Auch Troarn war hingeeilt, um ihn noch einmal zu begrüßen, und hatte auf ihre Bitte Albereta mit sich genommen.

Im Schloß zu Hastings wurden noch wichtige Unterhandlungen gepflogen und die Minister hatten schwere Stunden. Rufus war in finsterster Stimmung. Böse Winde zwangen die Schiffe, untätig im Hafen zu liegen, und in ihm fieberte doch alles, hinauszueilen. Tag um Tag verstrich und es änderte sich nichts an der Lage. Man erzählte von wilden Vorgängen im Schloß, und Albereta bat ihren Gemahl, mit dem sie bei Bekannten Absteigequartier genommen hatte, ihr nichts von diesen 104 Dingen mitzuteilen, deren Zeuge er einige Male gewesen war. Hingegen sah sie einen andern langgehegten Wunsch in Erfüllung gehen. Anselmus war mit seinen Mitbischöfen erschienen und hielt sich hier auf. Es wurde bekannt, daß es zwischen ihm und dem König zu einer heftigen Aussprache gekommen war. Er hatte um Audienz nachgesucht. Rufus hatte sie ihm unfreundlich bewilligt. Trieben doch seine Gedanken und Wünsche nach einer andern Richtung und er war augenblicklich nicht geneigt, Vorwürfe oder Ermahnungen anzuhören.

Nach einigen einleitenden Worten sagte der sanfte Erzbischof von Canterbury zu Rufus:

»Sir, wenn Ihr Segen und Glück für die Ausführung Eures Planes wünscht, so tut vor allem eins: Schenkt der Kirche Euern Schutz.«

Da hatte der König stirnrunzelnd ihn angefahren: »Welchen Schutz?«

»Laßt eine Synode zusammenkommen, Sir, es ist dringend nötig, es geht nicht weiter.«

Da soll sich Rufus barsch auflachend auf der Ferse umgedreht haben: »Nach nichts anderem steht jetzt mein Sinn. Laßt mich zufrieden.«

Es war noch ein und das andere Wort zwischen den beiden gefallen und traurig aber gefaßt und voll Würde hatte Anselmus den König verlassen. In der Schloßkirche von Hastings erteilte er Robert Bloet, der zum Bischof von Lincoln ernannt worden war – auch das Kanzleramt versah er bei Rufus – die Ordination.

105 Albereta konnte es nicht schwer fallen, bei Anselmus vorgelassen zu werden. Er hatte sich für die Zeit über, die der König anwesend war, in einem der Klöster mit seiner Begleitung niedergelassen. Man meldete ihm die Gräfin Troarn. Da dieser Tag indes schon bis zu den späten Abendstunden besetzt war, so ließ er sie bitten, am nächsten zu kommen. Er empfing sie im Presbyterium. Nur ein junger Mönch, er, der in der Folge sein treuester Freund und Jünger werden sollte, Bruder Eadmer, befand sich bei ihm. Auf den verzagten Blick Alberetas zu diesem Zweiten hin, winkte der Erzbischof, und Eadmer entfernte sich. Sie war nun allein mit ihm, den sie nicht kannte, nach dem sie sich indes schon seit langem gesehnt hatte. Sie fiel vor ihm nieder und blickte in sein schönes, ruhiges Gesicht. Eine kleine Pause wartete er darauf daß sie zu sprechen beginnen würde, dann fragte er sie gütig nach ihrem Begehr.

»Ich wünsche einen ehrlichen Menschen zu sehen, nichts weiter, Herr Erzbischof, schenkt mir Euern Segen und entlaßt mich wieder.«

Als sie das gesagt hatte, brach plötzlich die Erinnerung an alle Enttäuschungen dieser zwei Jahre in ihr hervor, Tränen drängten sich in ihre Augen und sie verbarg ihr Gesicht in die Hände.

Er betrachtete ihre junge Schönheit, ihre kostbaren Gewänder, das Ausländische, das sich in ihrer Art kundgab und als Seelenkenner begriff er, daß es sich da um kein gewöhnliches Menschenschicksal handeln mochte.

106 »Vor allem, erhebt Euch, Gräfin.« Er bot ihr die feine Hand hin. »Mich dünkt, der Trubel und die Aufregung der letzten Tage hat sich Euch schwer auf die Nerven gelegt. Seid Ihr mit Eurem Gemahl hier?«

Albereta fuhr sich mit dem Saum ihres Ärmels über die nassen Augen, stand auf und bejahte.

»Ja, ich bin mit ihm hier. Seit zwei Jahren ihm angetraut, habe ich mich noch immer nicht mit den Sitten und Gebräuchen hier befreunden können.«

»Kommt Ihr aus dem Orient?«

»Meine Eltern stammen von dort. Später hat sich mein Vater mit seinem Hause taufen lassen. Er und Mutter sind gestorben. Ich lebte bei einer Muhme in Alia. Graf Troarn hat mich von dort geholt.«

»Und nun gefällt es Euch hier nicht, das begreif ich wohl. Der Himmel Siziliens geht Euch ab.«

»Nein, Herr Erzbischof,« sie schüttelte das Haupt, »der Himmel, den man sieht, geht mir nicht ab. Die Verworfenheit der Menschen, mit denen man hier leben muß, stößt mich zurück.«

»Hattet Ihr als Mägdlein vielen Verkehr?«

»Sehr wenig. Meine Muhme war fast mein einziger.«

»Nun seht, da ist es, däucht mich, nicht billig von Euch, daß Ihr gerade hier die Menschen so verworfen findet. Hättet Ihr daheim so regen Umgang, wie auf Eueres Gemahls Schloß gehabt, so würdet Ihr finden, daß die Menschen hier den Menschen dort sehr ähnlich sind.«

107 »Das kann nicht sein, Herr Erzbischof,« rief sie freimütig, »sonst wären dort die Kirchen verödet, die Landstraßen anstatt mit Bäumen und freundlichen Marienbildern mit Galgen bepflanzt, die Schlösser von einer Unzahl Verhungerter belagert, die lieblichen Wälder von Frevlern geschändet, ach – Ihr seid kaum zwei Jahre lang hier, mein Fürst, wäret Ihr länger da, Ihr würdet verzweifeln in diesem Lande leben zu müssen.«

Er hatte sie ruhig ausreden lassen, jetzt richtete er die milden Augen auf sie.

»Ich glaube, Ihr habt eine kleine Gruppe Menschen ins Auge gefaßt, die Ihr so herb verurteilt. Sie verschwindet im Vergleich mit der großen Menge des Volkes, mit den vielen Tausenden und Abertausenden, die Euch fremd geblieben sind und die Ihr daher nicht beurteilen könnt. Tretet in die elenden Hütten der Hörigen, in die dumpfen Stuben des Dienstvolkes, besucht die Stätten der Barmherzigkeit, wo unbeachtet Dienerinnen Christi Aussätzige pflegen und Straßenbettlern mit dem notwendigsten auch noch ein Lächeln der Liebe darreichen. Nicht von einem Fürstenhof hat sich der Herr seine Apostel geholt. Aus der Schar der Verachteten, Übersehenen, Ungekannten, aus den Armen hat er sie erwählt. Bei ihnen findet Ihr ihn, sucht nur. Unter ihnen werden Euch Helden der Barmherzigkeit, der Liebe und Selbstaufopferung, der Treue und Wahrhaftigkeit begegnen.«

Sie sah ihn zweifelnd an.

108 »Gelten Euere Worte auch diesem Lande?«

»Der ganzen Welt, meine Tochter. Ihr seht nur falsch, und bildet Euch ein unrichtiges Urteil.«

»Aber,« warf sie zaghaft ein, »ist es notwendig, daß, wenn das Volk gut ist, seine Leiter verdorben sein müssen?«

»Nein, das ist nicht notwendig. Aber ist es notwendig, daß Ihr Euch mit dem Richteramt befaßt? Hold und jung, wie Ihr seid, solltet Ihr nichts als Liebes und Gutes sehen, wohin Ihr blickt, anstatt dessen gebt Ihr Euch Mühe, das Gegenteil zu entdecken.«

»An König Rufus Hofe Liebes und Gutes? Ach, Herr Erzbischof, zeigt mir etwas derartiges, und ich werde Euch dankbar sein.«

»Darf ich sagen, blickt – Euch selbst an, um der Gerechtigkeit, Tugend und Güte, so wie Ihr sie von andern fordert, zu begegnen?«

»Mich selbst?« Leichter Schreck durchfuhr sie. »Nein!«

»Nein! ruft Ihr? Nun, Ihr wißt doch, nur wer sich selbst rein weiß von jeder Schuld, darf einen Stein gegen seinen Nächsten erheben. Zieht die Folgerung daraus und erfreut Euch an all dem Guten, das Ihr plötzlich erkennen werdet.«

Er neigte leicht das Haupt und wollte sich entfernen. Sie machte eine bittende Geberde nach ihm hin.

»Verlaßt mich noch nicht. Wer weiß, wann in meinem Leben ein Diener Gottes mir Worte der Güte und Aufmunterung, wie Ihr, sagen wird.«

»Kennt Ihr Bischof Gandulph nicht?« Ein Ausdruck 109 der Zärtlichkeit brach aus Anselmus Augen, als er des Freundes gedachte. »Gewiß aber habt Ihr einen Geistlichen in Euerer Kapelle.«

»Den haben wir, doch – soll ich Euch Namen nennen, damit Ihr begreift, daß mein Vertrauen zu den geistlichen Führern dieses Landes nicht groß ist.«

»Seid Ihr genötigt, über sie zu Gericht zu sitzen?«

»Nein, aber –«

»Dann nehmt das, was sie Euch nicht aus sich selbst, sondern aus der Macht Christi geben, und um das übrige bekümmert Euch nicht.«

»Hat sich nicht einer aus ihnen jüngst als – Dieb erwiesen?«

»Unleugbar. Ein junger Kleriker hat sich eines Diebstahls schuldig gemacht. Welch glänzendes Zeugnis für die Sitten der Diener der Kirche, daß dieser Fall so ungeheures Aufsehen erregt und so große Empörung hervorgerufen hat.«

»So denkt Ihr?« Sie blickte sinnend vor sich hin. »Ach, weshalb darf ich nicht öfter in Euerer Nähe sein, um von Euch zu lernen!«

»Kommt wieder, wenn Ihr Euch nicht zu raten wißt.«

»Ach, noch eins, mein Vater. Helft mir, legt mir das Wort auf die Lippen, damit sie wagen, es auszusprechen.«

»Bleibt gelassen, ich richte Euch nicht.«

»Ach.«

110 »Sprecht, die Zeit drängt, viele Arbeit harrt meiner noch.«

Sie sah sich schüchtern in dem hohen, dämmerigen Raum um.

»Ich liebe einen Mann, der mir nicht gehört, was kann ich ihm sein?«

»Was Ihr ihm sein könntet, wenn Ihr tot wäret.«

Ein leichter Schauer durchflog sie. Sie verstand.

Ohne Erwiderung tastete sie nach seiner Hand, um sie an die Lippen zu führen und zu gehen.

Er hob die Rechte segnend auf.

»Christus beruhige Euere Seele.«

Troarn war besorgt um seine Gemahlin geworden, als sie solange ausblieb. Und als sie endlich erschien, überhäufte er sie mit allerlei Fragen.

Sie war zerstreut, bewegt. »Zürnt nicht, wenn ich jetzt nicht zum Sprechen aufgelegt bin. Ich möchte einen langen Ritt in den Frühling hinaus tun.«

»Soll ich Euch begleiten?« Das gewöhnliche Grinsen lag um seinen Mund, indeß seine Augen ängstlich auf ihr ruhten, was sie antworten würde. Ohne ihn anzublicken, sagte sie:

»Wenn Ihr so gefällig sein wollt, zu schweigen, dann bitte ich um Euere Begleitung.«

Später ritten sie hinaus, gegen die Wiesen zu, die hier und da noch kleine Schneefelder aufwiesen. Doch schon nach kurzem brach sie selbst das Schweigen und sagte:

111 »Was ist's nun? Wann gehen die Schiffe ab?«

Troarn fuhr aus seinen Gedanken empor. »Morgen gedenkt der König aufzubrechen.«

»Morgen schon! Ich wollte, ich dürfte mit, um Seeluft um meinen Kopf zu spüren.«

»Nach Frankreich zu möchtet Ihr? Und ich erwog eben –« er hielt sein Roß zu langsamerer Gangart an, »ob ich Euch nicht für eine Zeitlang in Euere Heimat zu Eurer Muhme bringen soll. Vielleicht fändet Ihr dort Euere Frohheit wieder.«

Gestern noch hätte eine Aufwallung des Mißtrauens ihr ein bitteres Wort auf die Lippen gelegt. Heute schwieg sie und sann still vor sich hin. Wollte er allein mit Frau von Tyrell sein? Und wenn es der Fall wäre, dachte sie, da ich ihn von mir weise, weshalb soll ich ihn der andern nicht gönnen? Dann aber sagte eine Stimme in ihr: Wie, wenn dein Argwohn falsch wäre, und nur seine Güte ihn zu diesem Vorschlag bestimmt hat?

»Möchtet Ihr nicht die Goldapfeldüfte Euerer Heimat wieder atmen?«

»Nein, mein guter Ilbert, augenblicklich habe ich keine Sehnsucht nach Sizilien. Vielleicht kommt sie später einmal.«

Sie ritten schweigend ein Stück weiter. Mehrere Herren kamen ihnen auf ihren Pferden entgegengesprengt. Troarn legte die Hand über die Augen, um besser zu sehen.

112 »Tyrell, wenn ich nicht irre, und – welches Wunder! Der finstere Robert Mowbray an seiner Seite.«

Die Herren begrüßten einander. Mowbray und die übrigen ritten weiter, indeß Tyrell sein Pferd anhielt.

»Wohin? Dort längs des Waldes gibts böse Wege. Knietiefer Morast hemmt das Weiterkommen.«

»So weit wollten wir auch nicht. Was treibt Ihr, man hört und sieht Euch nicht mehr.« Albereta blickte ihn freundlich an. »Müßt Ihr nicht in der Nähe des Königs sein und stiebt da so leichtfertig umher? Werden ihn seine Lieblingsrosse begleiten? Wird viel Jagdgerät mitgenommen? Geht die Meute mit?«

»O, gnädige Frau, ich bin tiefbeschämt, Euch gestehen zu müssen, daß ich auf Euere Fragen keine Antwort geben kann.« Troarn und er hatten Albereta in die Mitte genommen und ritten weiter. »Ihr wißt ja, der König hat mich aus seiner Nähe entfernt, er fragt nicht nach mir und hat mir sein Vertrauen entzogen.«

»Aber sagt wenigstens, führt er St. Cuthberts Fahne mit sich, die ihn immer geschützt hat?«

»Auch das weiß ich nicht.«

»Wahrhaftig, dann wißt Ihr wenig, ja gar nichts mehr.«

»Es ist so, Gräfin. Ich weiß gar nichts mehr, nicht einmal, weshalb auch Ihr mich aus Euerm Antlitz verbannt habt. –«

Troarns Roß machte einen Seitensprung und fing an zu galoppieren.

113 »Was tut Ihr, Ilbert?« Albereta ließ die Gerte auf ihre Stute niedersausen und suchte ihren Mann einzuholen. »Wir werden uns das Genick brechen auf diesem elenden Weg.«

Sie jagte, Tyrell zunickend, Troarn nach.

Etliche Tage später lag Hastings wieder ruhig und verlassen da. Der König und seine Truppen waren fortgezogen und die königliche Burg sah nur das graue Volk der Mäuse in ihren Räumen sich vergnügen.

* * *

Der Mai kam.

Unten grünte der Rasen und Sonnenstrahlen ruhten still darauf und Albereta neigte heimlich das Haupt vor ihnen und grüßte sie. Sie fühlte sich als jüngere Schwester von ihnen. Manchmal glitten ihre Hände streichelnd über die goldnen Kleidsäume der Stillen, dann kams den kleinen Vergißmeinnicht und Gräserchen zugute, die gleich mit liebkost wurden.

In keinem Jahr noch war der Frühling so sanft und schön gewesen wie in diesem. Eine fast unirdische Ruhe lag über dem Park und den nahen Wäldern von Winchester. Wars, weil das Gehetze und Getriebe des königlichen Hofes ruhte? Keine Ruchlosigkeit die Schatten der Wälder noch finsterer machte? Kein Schrei der Verwünschung ihre Rachegeister weckte?

Umherstreifendes Wild richtete auf den mageren Feldern der kleinen Pächter Schaden an, aber selbst den 114 eigenen Boden durfte keiner gegen den Übermut der Tiere verteidigen.

Man erzählte sich tausend Geschichten über die Grausamkeit, womit die königlichen Forstbeamten im Auftrag ihres Herrn die kleinsten Schutzmaßregeln der Geschädigten ahndeten. Und man erzählte andere dunkle Geschichten, wie die wilden Gelage, die nach großen Jagden in den Tiefen der Wälder veranstaltet wurden, die diabolischen Instinkte der Zecher entfesselten, so daß sie zum Scherz die eigenen Leute als Ziele ihrer Pfeile erkoren und manch unschuldiges Blut der Laune seines Herrn zum Opfer fiel. Albereta traten Tränen der Entrüstung in die Augen, wenn sie mit ihren Frauen ab und zu in die Hütte eines Kleinpächters tretend, solche Erzählungen vernahm.

Weshalb blickte der Bettler, der am Waldrand Holz sammelte, sich scheu und ängstlich um, bevor er den Mut fand, ein dürres Zweiglein aufzuheben?

Albereta begriff, daß trotz mancher Vorteile, die das Amt mit sich brachte, der König nicht leicht Leute fand, die den Dienst in seinen Wäldern versehen wollten. Mehr als einmal sollte es vorgekommen sein, daß ein königlicher Jäger, anfangs robust und fröhlich, nach kurzem elend und siech, seine Stellung niederlegen mußte.

Sie sahen, hörten und erlebten mehr als andere Leute, und das verträgt die menschliche Natur auf die Dauer nicht.

Doch – ich soll ja nicht richten, dachte die Gräfin, 115 Schutzengeldienste sind mir erlaubt. Wohlan, ich will suchen, sie zu erfüllen. Das häßliche Gelichter, das durch Verbrechen ins Leben gerufen worden ist, das körperlos, Unsegen stiftend und Verwirrung säend, in den finstern Schatten umherirrt, soll gebannt werden. Nicht mehr mit Entsetzen, mit Freude sollen die Waldhüter und Jagdmeister ihre einsamen Gänge vollenden.

Und Albereta ließ Wolken feinen weißen Stoffes kommen, setzte sich in ihren alten königlichen Sessel und begann zu nähen. Um sie her hatten ihre Frauen Platz genommen, denen sie geboten hatte, dasselbe wie sie zu tun. Auch in den Mägdestuben unten flog die Nadel auf und nieder. Es wurden Kinderkleider verfertigt, weiß und fein und durchsichtig, und Troarn glaubte, seine Gemahlin habe den Verstand verloren, denn er konnte sich nicht erklären, wozu die Kleider dienen sollten.

Als der ganze Stoff verarbeitet war, schickte Albereta ihre Dienerinnen mit Körben auf die Wiesen hinaus, damit sie Vergißmeinnicht heimbrächten und Kränzlein daraus bänden. Sie selbst aber nahm Basilia, ging in die Dörfer und Ortschaften um Winchester und trat in jedes Haus ein, in dem ein Kindlein wohnte. Und Mutter und Muhme mußten es ihr leihen für einen Tag. Sie lächelte dabei die Kleinen so holdselig an, daß sich alle rauhen und feinen Händlein willig in die ihren legten.

Dann erschien der letzte Tag der Woche und, wie immer, war dieser von besonders andächtiger Schönheit. 116 Kein Lüftchen regte sich, der Himmel prangte ganz in Blau und viele Millionen junger Knospen waren in der Nacht aufgebrochen und sahen jetzt am Morgen voll dankbarer Seligkeit ins Licht.

Da kamen alle die Kindlein mit frischgewaschenen Gesichtern und hellen Augen und stellten sich brav in den Gesindestuben auf, und jedes erhielt ein weißes Kleid und ein Vergißmeinnicht-Kränzlein.

Und während Troarn ganz verdutzt herabblickte, und nicht imstande war, sich zu erklären, was das alles bedeutete, nahte seine Gemahlin. Auch sie hatte ein weißes Kleid an und einen Kranz auf dem niederwallenden Haupthaar, nur war ihr Kranz nicht aus Vergißmeinnicht, sondern aus kleinen weißen Rosen. Sie sah sehr hold und lieb aus und trug eine Fahne in der rechten Hand. Darauf war ein schönes Bild zu sehen: im blauen Mantel unsere hehre Frau Maria mit ihrem Söhnlein. Albereta trat an die Spitze ihrer Kinder und dann zogen sie alle hinaus in den Sonnenschein. Wie sie weiter draußen waren, begann sie mit ihrer weichen Stimme ein Lied zu singen und die Kinder fielen ein, glücklich, daß sie nun singen durften.

Am Forst angelangt, links von der königlichen Burg, hielten alle an und die Fahne zauderte ein wenig. Aber dann sah man sie tapfer in die Waldhalle einbiegen und die Kleinen folgten ihr nach.

Wo die süße Frau Maria in ihrem blauen Mantel erschien, ging ein Wehen der Liebe durch die alten Bäume 117 hindurch, die Wipfel neigten sich, aber so leise, daß kein Kindlein erschrak. Und weiter, weiter ging der Zug. Sie sangen und riefen: Ave, ave, Maria! Und was nicht von Gott war, das verkroch sich oder floh, was aber edler Art war, das stimmte in seiner Sprache mit ein. Plötzlich aber hielt die junge Gräfin und sagte: »Horcht, horcht!« Es war, als ob Glockenklänge ertönten, zuerst die einer Glocke, dann die mehrerer, dann klang es wie ein wundersamer Choral. Die alten im Waldboden begrabnen Glocken waren aufgewacht bei den Worten: Ave Maria! und hatten zu klingen angefangen und läuteten und läuteten in sehnsüchtiger Freude. Albereta sank nieder und drückte die Hände an die weinenden Augen.

»Herr, vergib ihm!« . . . Die Kinder sprachen andächtig die Worte nach, ohne zu wissen, was sie sagten.

Da brannte es goldrot zwischen den Wipfeln auf. Es war aber nicht der unheimliche Feuerschein, den böse Gewissen hier zu erblicken pflegten. Es war die Sonne, die von Westen aus warnend einige Strahlen herübersandte, damit die Kinder rechtzeitig umkehrten, bevor die Nacht sie überraschte. Und so kehrten sie um und riefen mit ihren unschuldigen Lippen den Bäumen und Wegen und Eichkätzchen und Hirschen, den Wildkatzen und Rehen, den Raben und allem andern Viehzeug, das hier hauste, ein letztes Friedens- und Segenswort zu.

Wie sie aber schon fast den Wald hinter sich hatten und die Wiese und das Schloß vor ihnen aufstieg, da 118 hielten sie bestürzt inne über ein Bild, das sich ihnen bot. Ein Weib, schrecklich anzuschauen, mit uraltem, verwittertem Gesicht, in das ein unergründliches Leid tausend Furchen gegraben hatte, kauerte am Waldrand, den Kopf auf die Hände gestützt, und starrte finster auf die Zinnen der Burg hinüber. Albereta schauerte es. So hatte sie sich die Vergeltung gedacht, mit so ehernen, unerbittlichen Zügen, mit diesem zielsichern Blick, der unter buschigen Brauen hervordrang. Wehe demjenigen, den er traf! Albereta umschloß fester ihre Fahne. Wußte man bestimmt, ob das Weib Fleisch und Bein war?

Die Kinder und ihre Führerin, sie alle atmeten erleichtert auf, als die Erscheinung weit hinter ihnen lag.

Bald war die Wiese überquert. Heute Nacht sollten all die kleinen Pilger Gäste auf Troarn sein.

Am nächsten Morgen verließen sie, mit Geschenken bedacht, die freundliche Schloßfrau. Und sie erzählten daheim von ihr und wie sie den traurigen Wald hatte froh machen wollen.

* * *


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