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Zehntes Kapitel

Erst im Sommer kehrte Erich Refstrup nach zweijährigem Aufenthalt aus Italien zurück. Als Bildhauer war er fortgereist, er kehrte als Maler heim, und er hatte schon Glück gemacht, hatte seine Bilder verkauft und verschiedene Aufträge bekommen.

Daß es nun so, gleichsam auf den ersten Wink, gekommen war, das verdankte er der sicheren Selbstbegrenzung, mit der er sein Talent um sich zusammenzog. Er gehörte nicht zu den großen, verheißungsvollen Talenten, deren Hände jedem Lorbeer so nahe sind, deren Gang auf Erden einem Bacchuszug gleicht, der sich durch alle Gegenden hindurchjubelt, mit goldnem Samenstreuen nach allen Seiten hin und Genien auf allen ihren Panthern. Er gehörte zu den Menschen, in denen ein Traum begraben liegt, der Heiligkeit und Friede um einen kleinen Fleck in ihrer Seele ausbreitet, wo sie am meisten sie selbst und am wenigsten sie selbst sind. Und das, was sie in der Kunst, die sie besitzen, schaffen, das klingt stets von demselben sehnsuchtsvollen Refrain wieder, und jedes einzelne ihrer Werke trägt stets denselben ängstlich engen Stempel von Verwandtschaft, als seien es Bilder aus derselben kleinen Heimat, demselben kleinen Winkel tief drinnen zwischen den Bergen. Mit Erich war es also – wo er auch in den Schönheitsozean hinabtauchen mochte, stets holte er dieselbe Perle ans Licht.

Seine Bilder waren klein. Im Vordergrund eine einzelne Gestalt, lehmblau in ihrem eigenen Schatten, dahinter Heideerde, Heide oder Campagna, am Horizont der rotgelbe Schein einer untergegangenen Sonne. Eins von ihnen zeigte ein junges Mädchen, das sich selbst nach Art der Italiener weissagte. Sie kniet auf einem Fleck nieder, wo die Erde bräunlich zwischen dem kurzen Gras hervorsieht. Herz, Kreuz und Anker, von geklopftem Silber, hat sie von ihrem Halsschmuck gelöst und auf die Erde gestreut; nun kniet sie, getreulich die Augen geschlossen, die eine Hand bedeckt sie, die andre ist suchend ausgestreckt nach unsagbarem Liebesglück oder bitterem Leid, das das Kreuz mildert, und dem hoffenden Alltagsschicksal der Hoffnung. Sie hat es noch nicht gewagt, die Erde zu berühren. Die Hand ist so ängstlich in dem kalten, geheimnisvollen Schatten, die Wangen glühen, und der Mund steht zwischen Gebet und Weinen. Es ist so feierlich in der Luft, die Sonnenröte droht so wild und heiß da draußen, kommt so wehmutsweich über die Heide daher. Wüßtest du nur: – Liebesglück, unsagbar – bitteres Leid, das das Kreuz mildert, oder der Hoffnung hoffendes Alltagsgeschick?

Dann war ein andres, wo sie aufrecht dasteht und sich nach der braunen Heide sehnt, die Wange in den gefalteten Händen zur Ruhe gezwungen, so süß in ihrer naiven Sehnsucht, so ein klein wenig unglücklich über das häßliche Leben, das sie gehen ließ. Warum kommt nicht Eros mit küssenden Rosen; glaubt er, daß sie zu jung sei? Er sollte nur ihr Herz fühlen, wie das pocht, nur mit seiner Hand kommen; ach, es liegt eine Welt da drinnen, die Welt einer Welt; wenn die nur erwachen wollte. Warum ruft es denn nicht? Da drinnen liegt es wie eine Knospe, um all ihre Süße und Schönheit zusammengefaltet, nur für sich selber da und durch sich selbst beklommen. Denn sie weiß ja, daß es das gibt, das, von dem sie nicht weiß, was es ist. Ist es nicht warm um die deckenden Blätter gewesen, ist die Wärme nicht in sie hineingesickert, so daß sie innen licht wurden, ganz bis in ihr innerstes rötestes Dunkel hinein, wo der Duft, sich selbst ahnend, zu einer zitternden Träne duftlos zusammengepreßt liegt? Wird es niemals kommen? Soll sie nie das ausatmen, was die Ahnende besitzt, reich in ihrem Reichtum sein, soll sie nie, niemals sich entfalten und errötend erwachen, während Sonnenstrahlen glitzernd unter alle ihre Blätter hineinsausen? Sie hat wirklich keine Geduld mehr mit Eros; schon zittern ihre Lippen von dem aufsteigenden Weinen; hoffnungslos herausfordernd schweift ihr Blick durch den Raum, und ihr kleiner Kopf sinkt immer verzagter herab, wendet langsam das feine Profil in das Bild hinein, wo ein leiser Luftzug mit rötlichem Staub über dunkelgrünen Ginsterbüschen in den sherrygoldnen Himmel hineinsegelt.

So malte Erich, und das, was er geben wollte, fand stets seinen Ausdruck in Bildern wie diese. Er konnte sich wohl andre erträumen, konnte sich aus dem engen Kreis hinaussehnen, innerhalb dessen er sie heraufbeschwor; aber kam er außerhalb desselben und versuchte sich auf anderen Gebieten, so überkam ihn bald das kühle, mißmutige Gefühl, daß er darauf aus war, bei andern zu leihen, und daß das, was er tat, nicht sein war. Kehrte er dann von einem solchen mißglückten Ausflug zurück, der ihn doch jedesmal mehr lehrte, als er selbst ahnte, so wurde er noch mehr als früher Erich Refstrup, gab sich noch mutiger, fast mit einer schmerzlichen Innerlichkeit, seiner Eigentümlichkeit hin und hielt sich, wo er auch ging, in einer pietätvollen Feststimmung, die jede seiner geringsten Handlungen prägte, sich in der ganzen Art und Weise zeigte, wie er mit sich selber verkehrte. Es war, als wenn die schönen Gestalten, die vor ihm aufdämmerten – jüngere Schwestern von Parmeggianinos schlankgliedrigen Frauen mit den langen Hälsen und den großen schmalen Prinzessenhänden –, mit ihm zu Tische säßen und ihm den Becher mit Bewegungen voller Adel und Anmut kredenzten und ihn in der Gewalt ihrer hellen Träume mit dem mystischen nach innen gewandten Lächeln Luinis hielten, einem Lächeln, so unergründlich fein in seiner geheimnisvollen Süße.

Aber hatte er dann seinem Gott während der elf Tage treu gedient, so konnte es geschehen, daß andre Mächte in ihm die Oberhand gewannen, und er konnte von einem wahnsinnigen Drang nach groben Genüssen, nach grober Lust ergriffen werden und sich ihnen in die Arme werfen, fieberbesessen von dem menschlichen Trieb nach Selbstvernichtung, der, während das Blut brennt, wie Blut brennen kann, nach Erniedrigung, Verkehrtheit, Schmutz und Dreck strebt, mit genau demselben Maß von Kraft, das von jenem anderen, ebenso menschlichen Trieb besessen wird, dem Trieb, sich selbst zu erhalten, größer, als man selbst ist, und reiner.

In solchen Augenblicken war nur wenig ihm roh oder gewaltsam genug, und es währte lange, bevor er das Gleichgewicht wiederfand, nachdem sie vorübergezogen waren; denn gewissermaßen war es ihm eigentlich nicht natürlich; er war zu gesund, zu wenig von Träumen vergiftet, und es kam fast wie ein Ausschlag in entgegengesetzter Richtung zu seiner Hingebung an die höheren Mächte der Kunst, glich fast einer Rache, als fühle sich seine Natur gekränkt durch die Wahl jenes ideellen Lebenszieles, das zu verfolgen die Umstände ihn gezwungen hatten.

Indessen beherrschte dieser Kampf nach zwei Seiten hin Erich Refstrup nicht in dem Maße, daß er sich bei ihm nach außen gewandt hätte oder daß es ihm zu einem Bedürfnis geworden wäre, durch ihn sich mit seiner Umgebung in Verständnis zu setzen. Nein; er war derselbe unzusammengesetzte, lebensfrohe Bursche wie früher, ein wenig eckig durch seine Scheu vor Gefühlen, die sprechen konnten, ein wenig freibeuterhaft durch seine Fähigkeit, zuzugreifen und zu nehmen. Aber es lag ja doch trotzdem in ihm und konnte sich in stillen Stunden bemerkbar machen, gleich Glocken, die in der versunkenen Stadt auf dem Meeresgrunde läuten; und er und Niels hatten sich gegenseitig niemals so gut verstanden wie jetzt, das fühlten sie und schlossen schweigend, ein jeder für sich, neue Freundschaft miteinander; und als die Ferienzeit kam und Niels endlich einmal Ernst daraus machen mußte, seine Tante Rosalie zu besuchen, die mit Konsul Claudi in Fjordby verheiratet war, da reiste Erich mit.

 

Die Hauptlandstraße, die von Fjordbys reichstem Hinterland kommt, erreicht die Stadt zwischen zwei mächtigen Dornenhecken, die das Gehege für Konsul Claudis Küchengarten und seinen großen Strandgarten bilden. Wo die Landstraße dann bleibt, ob sie gerade vor des Konsuls Hofplatz, der so groß ist wie ein Markt, aufhört oder ob sie es ist, die eine Biegung macht und zwischen seiner Scheune und dem Holzplatz als Straße durch die Stadt weiterläuft, das ist eine Ansichtssache, denn viele von den Reisenden nehmen die Biegung mit und fahren weiter; aber es gibt auch viele, die anhalten und das Ziel erreicht glauben, wenn sie innerhalb des geteerten Torwegs des Konsuls angelangt sind, der stets weit offen steht, mit zurückgeschlagenen Flügeln und mit ausgespreizten, zum Trocknen aufgehängten Häuten auf diesen Flügeln.

Die Gebäude des Hofes waren alle alt, mit Ausnahme des hohen Speichers, dessen langweiliges totes Schieferdach das Neueste von allem Neuem auf dem Gebiete der Baukunst in Fjordby war. Das lange niedrige Vorderhaus sah aus, als sei es in die Knie gedrückt von drei großen Giebeln, und lief in einem dunklen Winkel zusammen mit dem Brauhaus und den Stallgebäuden, in einem helleren Winkel aber mit dem Packhaus. In der dunklen Ecke lag die Hintertür, die zu dem Laden führte, der zusammen mit der Bauernstube, dem Kontor und der Leutestube eine etwas düstere Welt für sich bildete, wo der gemischte Geruch von billigem Tabak und stockfleckigen Fußböden, von Gewürzen und ranzigem Stockfisch und nassem Beiderwand die Luft so dick machte, daß man sie fast schmecken konnte. Aber war man dann durch das Kontor mit seinem durchdringenden Qualm von Siegellack bis in den Gang hinausgelangt, der die Grenzscheide zwischen dem Geschäft und der Familie bildete, so wurde man von dem hier herrschenden Duft von neuem Damenputz auf die milde Blumenluft der Stuben vorbereitet. Es war nicht der Duft eines Straußes, einer wirklichen Blume; es war die mystische, erinnerungsreiche Atmosphäre, die über einem jeden Heim ruht und von der niemand bestimmt sagen kann, woher sie kommt. Jedes Heim hat ihre eigene, die an tausenderlei Dinge erinnern kann: an den Geruch alter Handschuhe, an neue Spielkarten oder an offenstehende Klaviere; aber stets ist sie verschieden; sie kann von Weihrauch übertäubt werden, von Parfüms, von Zigarrenrauch, aber man kann sie nicht töten; stets kehrt sie wieder und ist da, so unverändert wie früher. Hier glich sie Blumen, nicht Levkojen oder Rosen, keiner Blume, die es gibt, sondern so, wie man sich den Duft dieser phantastischen, saphirmatten Lilienranken vorstellt, die sich in Blumen an den alten Porzellan-Vasen emporranken. Und wie sie zu diesen niedrigen, großen Stuben mit ihren ererbten Möbeln und ihrer altmodischen Zierlichkeit paßte! Die Fußböden waren so weiß, wie nur die Fußböden der Großmutter es sind; die Wände waren einfarbig, mit einer leichten, hellen Girlandenzeichnung unter dem Gesims entlang; es war eine Stuckrose mitten in der Decke, und die Türen waren kanneliert und hatten blanke Messingdrücker, die Delphinen glichen. Um die kleinscheibigen Fenster hingen luftige, filierte Gardinen, weiß wie Schnee, faltenreich und kokett mit farbigen Bandschleifen gerafft, so wie die Vorhänge vor einem Brautbett für Koridon und Phyllis; und auf dem Fensterbrett blühten in grüngesprenkelten Töpfen altmodische Blumen, blauer Agapanthus, blaue Pyramidenglocken, feinblättrige Myrten, brandrote Verbenen und schmetterlingsbunte Geranien. Aber es waren besonders die Möbel, die dem Ganzen das Gepräge verliehen, diese unerschütterlichen Tische mit den großen Flächen aus nachgedunkeltem Mahagoni, Stühle, deren Rücken sich wie ein Spahn um einen krümmen, Möbel mit Schiebladen in allen möglichen Formen, Riesenkommoden mit mythologischen Szenen in hellgelbem Holz, Daphne, Arachne und Narziß, oder auch kleine Sekretäre auf dünnen, geschnörkelten Beinen, wo jede kleine Schublade ein Mosaik aus dendritischem Marmor zeigt, das einsame, viereckige Häuser mit einem Baum in der Nähe vorstellt,– das stammt alles aus der Zeit lange vor Napoleon. Da gibt es auch Spiegel mit Blumen in Weiß und Bronze, auf Glas gemalt: Schilf und Lotus, die auf einem blanken See schwimmen; und dann ist da das Sofa, nicht diese Spielerei auf vier Beinen, mit Platz für zwei, nein, grundgemauert und massiv hebt es sich vom Fußboden ab, eine ganze geräumige Terrasse, nach jeder Seite zu in eins mit einem brusthohen Konsolenschrank gebaut, über welchem wieder ein kleiner Schrank architektonisch bis zu Mannshöhe emporsteigt und eine kostbare alte Kruke außerhalb des Bereichs der Menschenkinder stellt. Es war kein Wunder, daß sich so viele alte Sachen bei dem Konsul fanden, denn sein Vater und sein Großvater vor ihm hatten innerhalb dieser Wände ihr Leben genossen und sich ausgeruht, wenn die Arbeit auf dem Holzlager und im Kontor ihnen Ruhe ließ.

Der Großvater, Berendt Berendtsen Claudi, dessen Namen das Geschäft noch führt, hatte das Haus erbaut und sich am meisten für den Laden und Produkten-Handel interessiert; der Vater hatte den Holzhandel emporgetrieben, Ackerboden zu dem Hof gekauft, die Scheune erbaut und zwei Gärten angelegt; der jetzt lebende Konsul Claudi hatte sich stark auf den Kornhandel geworfen, hatte den Speicher errichtet und seine Tätigkeit als englischer und hannoveranischer Vizekonsul und als Lloydagent mit seiner kaufmännischen Arbeit verbunden; und das Korn und die Nordsee machten ihm so viel zu schaffen, daß er nur eine dilettantische Oberaufsicht über die übrigen Zweige des Betriebes zu führen vermochte, die zwischen einem bankerotten Vetter und einem alten unliebenswürdigen Großknecht verteilt waren. Dieser Knecht setzte dem Konsul jeden Augenblick den Stuhl vor die Tür, indem er hervorhob, daß, wie es auch mit dem Kaufmannsgeschäft gehen mochte, die Felder in erster Linie bestellt werden müßten; und wenn er pflügen sollte, so konnten sie sich die Pferde zum Holzfahren nehmen, woher sie wollten, seine durften sie, hol ihn der Teufel, nicht nehmen. Da aber der Knecht tüchtig war, so war ja hierbei nichts zu machen.

Konsul Claudi war Anfang der Fünfziger, ein recht ansehnlicher Mann mit regelmäßigen, bis ans Plumpe grenzenden, kräftigen Zügen, die sich ebensoleicht zu einem Ausdruck von Energie und schlauer Klugheit sammeln konnten, wie sie im nächsten Augenblick zu einem fast verschlagenen Ausdruck naschhaften, schmatzenden Genusses erschlafften; und er befand sich auch ebensosehr in seinem richtigen Element, gleichgültig, ob er bei schlauen Bauern listig einen Handel zustande brachte, oder ob er mit einer Schar eigensinniger Bergungsleute akkordierte, oder ob er bei einer letzten Flasche Portwein zwischen ergrauten Sündern den mehr als schlüpfrigen Geschichten lauschte oder sie selbst in jener unvorbehaltenen, ausmalenden Art erzählte, für die er berühmt war.

Indessen war dies nicht der ganze Mann.

Die Ausbildung, die er erhalten hatte, führte es mit sich, daß er sich außerhalb der Fragen von rein praktischer Natur auf fremdem Grund befand; aber deshalb sprach er nicht höhnisch von dem, was er nicht verstand, verheimlichte auch nicht, daß er sich nicht darauf verstand, und noch weniger fiel es ihm ein, mitzureden und seine Rede respektiert wissen zu wollen, mit Rücksicht darauf, daß er der ältere, praktisch erfahrene, höchstbesteuerte Bürger war. Im Gegenteil; er konnte mit einer fast rührenden Andacht dasitzen und dem Gespräch der Damen oder der jungen Leute über solche Dinge lauschen und hin und wieder mit einer umständlichen Entschuldigung eine bescheidene Frage hervorbringen, die so gut wie immer mit der größten Sorgfalt beantwortet wurde, und dann dankte er für die Antwort mit jener ganzen Verbindlichkeit, die der Ältere so hübsch in seinen Dank an den Jüngeren hineinlegen kann.

Es konnte überhaupt in einzelnen, glücklichen Augenblicken etwas überraschend Zartes über Konsul Claudi liegen, ein sehnsuchtsvoller Ausdruck in seinen klaren, braunen Augen, ein wehmütiges Lächeln um seine starken Lippen, ein suchender, erinnerungsvoller Tonfall in seiner Stimme, als sehne er sich nach einer in seinen Augen besseren Welt als die, von der seine Freunde und Bekannten glaubten, daß er ihr mit Haut und Haar verfallen war.

Zwischen jener besseren Welt und ihm war seine Gattin die Vermittlerin. Sie gehörte zu diesen bleichen, sanften jungfräulichen Naturen, die nicht den Mut oder vielleicht nicht den Instinkt besitzen, ihre Liebe auszulieben, bis da auch kein Selbst mehr auf dem tiefsten Grund ihrer Seelen zurückgeblieben ist. Nicht einmal den flüchtigsten Augenblick vermögen sie so zu greifen, daß sie sich blind mit fortgerissen unter die Wagenräder des Götzenbildes werfen. Das vermögen sie nicht; aber sonst können sie alles tun für den, den sie lieben. Die schwersten Pflichten können sie erfüllen, zu den schmerzlichsten Opfern sind sie bereit, und es gibt nicht die Demütigung, die zu tragen sie sich fürchten. So sind die besten unter ihnen.

Es wurden nun nicht so große Forderungen an Frau Claudi gestellt; aber ganz ohne Sorge war ihre Ehe auch nicht verlaufen; es war nämlich ein offnes Geheimnis in Fjordby, daß der Konsul nicht der allertreueste Ehegatte war, oder wenigstens bis vor einigen wenigen Jahren gewesen war, und daß er mehrere uneheliche Kinder sowohl in der Stadt wie auch auf dem Lande hatte. Natürlich war das ein großer Kummer für sie, und es war ihr nicht leicht geworden, ihr Herz dazu zu zwingen, festzuhalten und nicht loszulassen in dem Aufruhr von Eifersucht, Verachtung, Zorn und Scham und krankhaftem Schrecken, der ihr damals das Gefühl eingeflößt hatte, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Aber sie kämpfte dagegen an. Es kam nicht allein kein vorwurfsvolles Wort über ihre Lippen, sondern sie verhinderte auch jedes Geständnis von seiten des Mannes, eine jede deutliche Bitte um Verzeihung und überhaupt all das, was wie ein reuiges Versprechen aussehen konnte. Sie fühlte, daß, käme es zu Worten, es sie mit sich reißen würde, weg von ihm. Schweigend sollte es getragen werden, und schweigend versuchte sie, sich mitschuldig an dem Vergehen ihres Mannes zu machen, indem sie sich der Selbstverschanzung anklagte, die aufzugeben ihre Liebe nicht stark genug gewesen war.

Es glückte ihr, diese Sünde so groß zu gestalten, daß sie einen unbestimmten Drang zur Verzeihung zu empfinden vermochte, und im Laufe der Zeiten kam sie dann so weit mit sich selber, daß das Gerücht entstehen konnte, daß für die Mädchen, die der Konsul Claudi verführt hatte, und deren Kinder außer mit Geld noch anders gesorgt werde; es müsse da eine verborgene Frauenhand sein, die sie beschützte, Böses von ihnen fernhielt, sie hochhielt und sie leitete.

So geschah es, daß Sünden sich in Gutes verwandelten und daß ein Sünder und eine Heilige einander besser machten.

Claudis hatten zwei Kinder, einen Sohn, der ein Handelskontor in Hamburg besuchte, und eine neunzehnjährige Tochter, die Fennimore hieß, nach der Heldin in »St. Roche«, einem der Romane der Frau von Paalzow, die in Frau Claudis Mädchenzeit so sehr beliebt gewesen waren.

Fennimore und der Konsul waren an dem Tage unten am Dampfer, als er Niels und Erich nach Fjordby brachte; und Niels wurde angenehm davon überrascht, daß seine Cousine hübsch war; denn bis dahin hatte er sie nur nach einer schrecklichen, alten Familien-Daguerreotypie gekannt, wo sie in einer dampferfüllten Atmosphäre mit ihrem Bruder und ihren Eltern eine Gruppe bildete, alle mit hektischem Karmin auf den Wangen und mit starker Vergoldung ihres Goldschmucks. Und nun war sie so allerliebst, wie sie dastand in ihrem hellen Vormittagsanzug, mit schmalen Schuhen und schwarzen Kreuzbändern über den weißen Strumpfspann hinauf, dastand mit dem einen Fuß auf der Kante eines Bollwerkbalkens und sich lächelnd vornüberbeugte, um ihm den Griff ihres Sonnenschirmes als »guten Tag« und »Willkommen« zu reichen, bevor noch der Dampfer richtig angelegt hatte. Wie rot waren nicht ihre Lippen und wie weiß ihre Zähne, und wie fein zeichneten sich ihre Stirn und Schläfen ab unter dem breiten Eugenienhut, durch den Schatten der lang herabhängenden schwarzen Spitze, die von jettblanken Perlen schwer war. Endlich wurde die Landungsbrücke hinausgeschoben, und der Konsul zog mit Erich von dannen, dem er sich schon vorgestellt hatte, als noch sechs Ellen Wasser zwischen ihnen lagen; gleich darauf hatte er ihn rufend in ein scherzhaftes Gespräch über die Qualen der Seekrankheit mit einer welken Hutmacherwitwe verwickelt, die auch an Bord des Dampfers war, und jetzt war er im Begriff, seine Bewunderung auf die großen Lindenbäume draußen vor dem Hause des Amtsverwalters hinzuleiten und auf den neuen Schoner, der auf Thomas Rasmussens Werft im Bau begriffen war.

Niels folgte mit Fennimore. Sie machte ihn darauf aufmerksam, daß man oben im Strandgarten die Flagge gehißt hatte, um ihn und seinen Freund zu ehren, und dann begannen sie von Etatsrats drüben zu sprechen. Sie waren sofort einig miteinander darin, daß die Etatsrätin ein klein – ein ganz klein wenig – sie wollten das Wort nicht sagen, aber Fennimore setzte ein strammes Lächeln auf, indem sie eine katzenartige Bewegung mit der Hand machte, und das war augenscheinlich bezeichnend genug für die beiden, so wie sie lächelten, und dann sahen sie sofort wieder ernsthaft aus. Schweigend schritten sie weiter, stark in Anspruch genommen von dem Gedanken, wie der eine sich in den Augen des andern ausnehmen mochte.

Fennimore hatte sich Niels Lyhne ansehnlicher vorgestellt, ausgeprägter in seinem Wesen, schärfer charakterisiert, gleichsam wie ein Wort mit einem schwarzen Strich darunter. Niels dahingegen hatte soviel mehr gefunden, als er erwartet hatte; er fand sie reizend, fast bezaubernd, trotz ihrer Kleidung, die soviel von der allzu großen Aufgeputztheit einer Provinzdame an sich hatte; und als sie die Diele des Konsuls betraten und sie ihren Hut abnahm, sich damit beschäftigend, ihr Haar mit solchen wunderbar graziösen, lässigen, weichen Bewegungen der Hand und des Handgelenks zu ordnen, da fühlte er sich so dankbar für diese Bewegungen, als seien sie eine Liebkosung gewesen; und weder diesen Tag noch den nächsten konnte er sich von dieser, ihm selbst etwas rätselhaften Dankbarkeit befreien, die zuzeiten so seltsam schwellend wurde, daß er glaubte, es würde das größte Glück sein, wenn er ihr in Worten danken dürfte, weil sie so schön und so lieblich war.

Bald fühlten Erich wie auch Niels sich heimisch in dem gastfreien Hause des Konsuls, und nach Verlauf einiger weniger Tage waren sie völlig in Anspruch genommen von dem gemütlich geordneten Faulenzen, das das richtige Ferienleben bedeutet und das so schwer vor der freundlichen Überlast guter Menschen zu beschützen ist; und sie mußten alles aufbieten, was sie an diplomatischen Fähigkeiten besaßen, um all die beklemmenden Abendgesellschaften, die großen Wasserfahrten, die Sommerbälle und Dilettantenvorstellungen zu vermeiden, die beständig ihren Frieden bedrohten. Sie waren nahe daran, zu wünschen, daß das Haus und der Garten des Konsuls auf einer öden Insel lägen; und Robinson war nicht mehr von Furcht befallen, da er fremde Fußspuren im Sande fand, als sie es waren, wenn sie fremde Überröcke auf der Diele sahen oder unbekannte Arbeitstäschchen auf dem Wohnstubentisch entdeckten. Sie wollten viel lieber allein sein, denn sie waren ja noch nicht über die Mitte der ersten Woche hinausgelangt, als sie sich schon in Fennimore verliebt hatten. Nicht mit der Vollreifen Verliebtheit, die ihr Schicksal wissen muß und soll, die sich danach sehnt, zu besitzen, zu umarmen und sich geborgen zu fühlen; die war es noch nicht, es war noch das Dämmern der ersten Liebe, das wie ein seltsamer Lenz in der Luft liegt und mit einer Sehnsucht schwellt, die Wehmut ist, mit einer Unruhe, die dem leise pochenden Glück gleicht. Das Gemüt ist so weich und leicht bewegt, so bereit, sich hinzugeben. Ein Licht über der See, ein Sausen im Laub, ja nur eine Blume, die ihre Blätter auseinanderfaltet, das alles hat eine so seltsame Macht erlangt –; und unbestimmte Hoffnungen ohne Namen brechen plötzlich hervor und verbreiten Sonnenglanz über alles in der Welt, und ebenso plötzlich wieder ist keine Sonne da; ein weiches Verzagtsein segelt wolkenbreit über den Glanz dahin und malt die Funken der Hoffnung hinab in das Grau seines Kielwassers. – So mutlos, schmelzend mutlos und schmerzenssüß ergeben in sein Schicksal, das Herz voller Mitleid mit sich selber und einem Entsagen, das sich selber liebt und sich in stillen Elegien spiegelt und in Seufzern vergeht, die halbwegs Verstellung sind ... und dann wieder, dann raschelt es mit Rosen: das Traumland taucht aus dem Nebel auf, mit Golddunst über weichen Buchenkronen und duftreichem Sommerdunkel unter dem Laub, das sich über Steigen wölbt, von denen niemand weiß, wo sie enden.

 

Eines Abends nach dem Tee waren sie alle in der Wohnstube beisammen. Es konnte gar keine Rede vom Garten oder von etwas anderem außerhalb der vier Wände sein, denn es goß in Strömen. Sie waren eingesperrt, aber sie waren keineswegs unzufrieden damit; es lag etwas von der Traulichkeit eines Winterabends über der Stube, so zwischen seinen vier Wänden eingeschlossen zu sein, und außerdem war es so gut mit dem Regen. Alles sehnte sich so entsetzlich nach Wasser; und wenn es so recht herabspülte und mit schweren Tropfen auf den Kasten des Spions trommelte, so rief der Laut ganz flüchtig undeutliche Bilder von üppig grünen Feldern, von erfrischtem Laub hervor, und der eine und der andre sprach vor sich hin: »Wie es doch regnet!« und sah zu den Fenstern hinüber, mit einem Gefühl des Wohlbehagens und mit einem kleinen Schimmer von Genuß, in halbbewußtem Einverständnis mit dem da draußen.

Erich hatte eine Mandoline geholt, die er von Italien mitgebracht, und hatte von Napoli und leuchtenden Sternen gesungen, und nun saß eine junge Dame, die zum Tee gekommen war, am Klavier und begleitete sich selber zu »Mein kleines Nest in den Bergen« und setzte A's in alle Endungen hinein, damit es recht schwedisch klingen sollte.

Niels, der nicht sonderlich musikalisch war, wurde sanft melancholisch von der Musik und verfiel in Gedanken, bis Fennimore zu singen begann.

Das weckte ihn.

Aber nicht auf eine angenehme Weise; ihr Gesang erfüllte ihn mit Unruhe. Sie war nicht mehr das kleine Provinzmädchen, wenn sie sich dem Klang ihrer Stimme hingab; – wie sie sich doch von diesen Tönen hinreißen ließ, und wie sie in ihnen aufatmete, so rückhaltslos und frei, ja, er empfand es fast als etwas Schamloses; es war, als singe sie nackend vor ihm! Ihm wurde so heiß ums Herz, seine Schläfen klopften, und er schlug die Augen nieder. Sah denn keiner von den andern das? Nein, sie sahen es nicht. Sie war ja ganz außer sich, war weit fort von Fjordby, von Fjordbyer Poesie und Fjordbyer Gefühlen. Sie war in eine andere gewagtere Welt gezogen, wo die Leidenschaften wild auf den großen Bergen wuchsen und dem Sturme die roten Blumen schenkten.

War es, weil er sich so wenig auf Musik verstand, daß er so viel in ihren Gesang hineinlegte? Er konnte es nicht ganz glauben, aber er hoffte es; denn er hatte sie viel lieber so, wie sie sonst war. Wenn sie mit einem Nähzeug dasaß und mit der sanften, ruhigen Stimme sprach, mit diesen klaren, treuen Augen aufsah, dann wurde sein ganzes Wesen von der unwiderstehlichen Gewalt eines starken und stillen Heimwehs zu ihr hingezogen. Er sehnte sich danach, sich vor ihr zu demütigen, das Knie zu beugen und sie heilig zu nennen. Stets sehnte er sich so seltsam nach ihr hin, nicht nur, wie sie war, sondern er sehnte sich nach ihrer Kindheit und allen den Tagen, wo er sie nicht gekannt hatte; und wenn sie allein waren, konnte er die Vergangenheit stets in ihrer Rede heraufbeschwören und sie dahin bringen, von ihren kleinen Leiden, ihren kleinen Verirrungen, kleinen Eigenarten, an denen eine jede Kindheit so reich ist, zu erzählen. Und er lebte in diesen Erinnerungen, beugte sich in einem unruhig eifersüchtigen Schmachten zu ihnen hin, in einem unbestimmten Begehren, zu greifen, zu teilen, eins zu werden mit diesen feinen, leise gefärbten Schatten eines Lebens, das zu reicherer und reiferer Glut aufgeflammt war. Aber nun plötzlich dieser Gesang, der so stark war, der ihm so überraschend kam, wie uns ein weiter Horizont bei der Biegung eines Weges überraschen kann und den gemütlichen Waldwinkel, der unsere ganze Welt war, zu einem winzigen Teil einer Landschaft verwandeln und die feinen, gekräuselten Linien klein und unbedeutend vor dem großzügigen Zug der Hügel und fernen Sümpfe gestalten kann! – Ach, aber die Landschaft war nur eine Fata Morgana, nur eine Phantasterei, war das, was er aus dem Gesang herausgehört hatte; denn jetzt sprach sie ja wieder, wie sie immer sprach, und war wieder so herrlich sie selbst. Er wußte es ja an hunderterlei Beispielen, welch stilles Wasser sie war, ohne Sturm und ohne Wellen, den Himmel blau mit Sternen widerspiegelnd.

So liebte er Fennimore, so sah er sie, und so wurde sie auch allmählich ihm gegenüber. Nicht durch eine bewußte Verstellung, denn es lag gewissermaßen so viel Wahres darin, und es war so natürlich, wenn jedes seiner Worte, jeder Ausdruck, sein Traum und Gedanke, wenn sie alle mit dem Wunsche, der Bitte und Huldigung gerade zu dieser Seite von ihr kamen –, da war es so natürlich, daß sie sich der Verkleidung, die er ihr aufzwang, ganz anpaßte. Wie sollte sie auch darauf achtgeben können, daß jeder einzelne einen ganz richtigen Eindruck von ihr erhielt, so wie sie war, jetzt, da ihre Gedanken nur von dem Einzigen, von Erich dem Einzigen, ihrem liebeserkorenen Herrn erfüllt waren, von ihm, den sie mit einer Wildheit liebte, die ihr nicht selbst gehörte, und mit einer abgöttischen Anbetung, die sie entsetzte. Sie hatte geglaubt, daß die Liebe eine süße Würde sei, nicht solch eine verzehrende Unruhe, voller Furcht und Demütigung und Zweifel. Oft, wenn sie das Geständnis sich auf Erichs Lippen hervordrängen zu sehen glaubte, konnte es sie überkommen, als sei es ihre Pflicht, die Hand auf seinen Mund zu legen und ihn vor dem Sprechen zu warnen und sich selbst vor ihm anzuklagen und zu sagen, daß sie ihn betrüge, zu sagen, wie wenig sie seiner Liebe wert sei, wie irdisch klein, wie backfischartig sie sei, so weit entfernt von dem Erhabenen, ach, so erbärmlich niedrig und alltäglich häßlich. Sie fühlte sich so falsch unter seinen bewundernden Blicken, so berechnend, wenn sie es nicht vermied, ihm zu entgehen, und so schuldbeladen, wenn sie es nicht übers Herz bringen konnte, den lieben Gott in ihrem Nachtgebet zu bitten, seinen Sinn von ihr zu wenden, so daß eitel Tag, Hoheit und Herrlichkeit über seinem Schicksal ruhen konnte; denn sie würde ihn mit ihrer erdgeborenen Liebe herabziehen.

Fast widerstrebend liebte Erich sie. Sein Ideal war immer vornehm gewesen, groß, stolz, mit stiller Schwermut in den bleichen Zügen und tempelkühler Luft um die strengen Falten des Gewandes; aber Fennimores Süße hatte ihn bezwungen. Er konnte ihrer Schönheit nicht widerstehen. Es lag eine so frische, unbewußte Sinnlichkeit über ihrer ganzen Gestalt; wenn sie ging, flüsterte ihr Gang von ihrem Körper; es lag eine Nacktheit über ihren Bewegungen, eine träumende Beredsamkeit über ihrer Ruhe, aber sie konnte nichts dafür, weder für das eine noch für das andere, es wäre ihr nicht möglich gewesen, es zu verbergen oder es zum Schweigen zu bringen, selbst wenn sie eine Ahnung davon gehabt hätte. Niemand sah das besser als Erich, und er wußte zur Genüge, einen wie großen Teil ihre rein körperliche Schönheit an seiner Neigung hatte; darum stritt er dagegen an, denn in seiner Seele bewegten sich hohe, schwärmerische Ideen von Liebe, Ideen, die er vielleicht nicht nur von der Tradition und Poesie übernommen hatte, sondern die aus tieferen Schichten in seiner Natur stammten als die, die im allgemeinen in seinem Wesen zum Ausdruck gelangten. Woher sie auch sein mochten, sie mußten weichen.

Noch hatte er Fennimore seine Liebe nicht gestanden; aber dann geschah es, daß »Berendt Claudis Andenken« zurückkam und draußen auf der Reede lag. Weiter oben im Fjord sollte er löschen, deshalb ging er nicht in den Hafen hinein; und da der Konsul sehr stolz auf seinen Schoner war und ihn seinen Gästen zeigen wollte, so ruderte man eines Abends hinaus, um dort Tee zu trinken.

Das Wetter war prachtvoll, ganz windstill, und alle waren sie aufgelegt, sich zu amüsieren. Die Zeit verging auch gut, man trank englischen Porter, biß in englische Biskuits hinein, die groß waren wie Monde, und aß gesalzene Makrelen, die auf der Reise über die Nordsee gefangen worden waren. Man pumpte mit der Schiffspumpe, bis sie schäumte, wippte mit dem Kompaß, zog das Wasser aus den Wassertonnen mit dem großen blechernen Schöpfer heraus und hörte den Steuermann auf einer achteckigen Handharmonika spielen.

Es war ganz dunkel, als sie sich anschickten, nach Hause zu fahren.

Sie ruderten in zwei Abteilungen, Erich, Fennimore und einige der älteren in der Schiffsjolle, die übrigen im Boot des Konsuls. Das erste Boot sollte vorausrudern, erst eine Biegung nach draußen machen und dann langsam hineinrudern, während die andern in gerader Linie an Land fuhren; und die Ursache zu dieser Anordnung war die, daß man hören wollte, wie der Gesang an einem stillen Abend wie dieser über das Wasser hin klingen würde. Deshalb saßen Erich und Fennimore zusammen auf der hintersten Bank des ersten Bootes, sie hatten die Mandoline mitgenommen. Aber lange dachte man nicht an den Gesang, denn als man die Ruder auslegte, zeigte es sich, daß ein ungewöhnlich starkes Meerleuchten im Wasser war, und das nahm sie alle ganz in Anspruch. Leise glitt das Boot dahin, und die glanzlos glatte Fläche wurde von den fortlaufenden Linien und Kreisen eines milden, weißen Lichts durchfurcht, das nur gerade in dem Strich leuchtete, in dem sie fuhren, und nur, wo es am stärksten war, einen feinen, matten Schein, gleich einem Lichtrauch, von sich über die Umgebung hinaussandte. Weiß glänzte es um die Ruder auf und glitt in zitternden Kreisen um die Ruder rückwärts hinweg, in Kreisen, die schwächer und schwächer wurden; und von den Blättern der Ruder spritzten helle Tropfen in einem Phosphorregen auf, der in der Luft erlosch, aber, Tropfen auf Tropfen, das Wasser entzündete. Es war so still über dem Fjord, und der Takt der Ruderschläge maß gleichsam die Stille in gleichgroße Pausen ab. Dämpfend und weich lag die graue Dämmerung über der schweigenden Tiefe, und Boot und Leute waren zu einer dunklen Einheit gesammelt, aus der der schwache Schein des Meerleuchtens nur die dahingleitenden Ruder und hin und wieder einen Strick, der nachschleppte, und das ruhige, braune Gesicht des Matrosen auslöste.

Niemand sprach; Fennimore kühlte ihre Hand in dem Wasser, und sie und Erich saßen zurückgelehnt und starrten nach dem Phosphornetz hinaus, das sich lautlos hinter dem Boot herzog und ihre Gedanken in seinem lichten Gewebe einfing.

Ein Ruf nach Gesang drüben vom Lande her weckte sie, und sie sangen einige italienische Romanzen zusammen zu der Begleitung der Mandoline.

Dann wurde es wieder still.

Endlich legten sie neben der kleinen Landungsbrücke an, die sich vom Strandgarten hinausschob. Das Boot des Konsuls lag leer neben der Brücke, und die Gesellschaft hatte sich ins Haus begeben. Die Tante und die andern gingen auch hinauf, aber Erich und Fennimore blieben stehen und sahen dem Boot nach, das zum Schiff zurückruderte. Die Gartenpforte daroben fiel ins Schloß, das Geräusch der Ruder wurde schwächer und schwächer, und die Bewegung des Wassers um die Brücke erstarb. Dann strich ein Windhauch durch das dunkle Laub um sie her, gleich einem Seufzer, der sich versteckt hatte und der jetzt ganz leise die Blätter hob und wegflog und sie einsam zurückließ.

Fast gleichzeitig wandten sie sich einander zu, vom Wasser ab. Er ergriff ihre Hand, zog sie langsam, fast fragend, an sich und küßte sie dann. »Fennimore«, flüsterte er, und sie schritten durch den dunklen Garten.

»Du hast es so lange gewußt«, sagte er. Sie antwortete ja. Dann schritten sie weiter, und dann fiel die Pforte wieder ins Schloß.

Erich konnte nicht schlafen, als er schließlich auf sein Zimmer hinaufgekommen war, nachdem er mit den Gästen Kaffee getrunken und sich an der Haustür von ihnen verabschiedet hatte.

Es war keine Luft hier drinnen; er öffnete die Fenster; dann warf er sich auf das Sofa und lauschte.

Er wollte wieder hinaus.

Wie laut es doch in diesem Hause war! Er konnte die Morgenschuhe des Konsuls hören, und nun öffnete Frau Claudi die Küchentür, um zu sehen, ob das Feuer gelöscht war. – Was nur Niels zu dieser Zeit der Nacht aus seinem Koffer holen wollte! – Da! – Da war eine Maus hinter der Holztäfelung. Jetzt ging da jemand auf Socken über den Boden. – Jetzt gingen da zwei. – Endlich! Er öffnete die Tür, die zu dem dahinter liegenden Gastzimmer führte und lauschte; dann öffnete er das Fenster dort ganz leise und sprang rittlings über das Gesimse in den Hof hinab. Durch die Rollstube konnte er nämlich in den Strandgarten hinausgelangen. Wenn jemand ihn sähe, wollte er sagen, er habe die Mandoline unten auf der Brücke vergessen und wolle sie vor dem Tau retten. Darum trug er sie auf dem Rücken.

Der Garten war jetzt heller; es rührte sich ein leiser Lufthauch, und ein klein wenig Mond war zu sehen, der einen zitternden Silberstreifen von der Landungsbrücke bis hinaus zu »Berendt Claudis Andenken« spann.

Er trat hinaus auf den Damm, der den Garten beschützte und der sich von dort in scharfem Winkel um einen großen, aufgedämmten Platz bis an die Mole des Hafens hinauszog. Während der ganzen Strecke balancierte er auf den unbequemen, großen, schrägen Steinen entlang.

Ein wenig außer Atem, erreichte er den Kopf des Hafens und setzte sich dort auf eine Bank.

Hoch über seinem Haupte bewegte die rote Laterne des Hafenfeuers sich leise mit einem seufzenden Laut von Eisen hin und her, und die Flaggenleine klatschte sanft gegen die Stange.

Der Mond wurde klarer, aber nicht viel, und warf ein vorsichtiges, grauweißes Licht über die stillen Fahrzeuge im Hafen und über das Wirrwarr der Dächervierecke und die weißen schwarzäugigen Giebel der Stadt. Und dahinter, hoch über dem Ganzen, erhob sich der Kirchturm licht und ruhig.

Er lehnte sich träumend zurück, und eine Welle unendlicher Wonne und unsagbaren Jubels schwoll in seinem Herzen an und ließ ihn sich so reich und erfüllt von Macht und Lebenswärme fühlen. Es war ihm, als könne Fennimore jeden Liebesgedanken hören, der aus seinem Glück emporwuchs, Ranke in Ranke und Blume über Blume; und er erhob sich, griff rasch über die Mandoline hin und sang im Triumph der schlafenden Stadt da drinnen zugewandt:

Wach liegt auf dem Lager mein Mädchen,
Sie lauschet zu mir hinauf!
Wach liegt auf dem Lager mein Mädchen,
Sie lauschet zu mir hinauf!

Immer von neuem wiederholte er die Worte des alten Volksliedes, wenn seine Brust zu zerspringen drohte.

Allmählich wurde er ruhiger; die Erinnerung an die Stunden vergangener Tage, wo er sich am schwächsten, am geringsten und am verlassensten gefühlt hatte, drängten mit einem kleinen spannenden Schmerz hervor, gleich dem, der die ersten Tränen in unsern Augen erstehen läßt; und er setzte sich auf die Bank, und während seine Hand beschwichtigend auf den Saiten der Mandoline lag, starrte er über die weitgestreckte Fläche des graublauen Fjords hinaus, wo sich die Mondbrücke, an dem dunklen Schiff vorbeiblitzend, bis zu der feinen, melancholischen Linie der Morsöhügel hinüberspannte, gezogen von wolkenblauem Land, durch einen Nebeldunst von Weiß.

Und die Erinnerungen drängten sich hervor, milder und milder, sie hoben sich empor zu lichteren Ländern, strahlten gleichsam in einer Morgenröte von Rosen

– – – – – – mein Mädchen!

Er sang vor sich hin:

Wach liegt auf dem Lager mein Mädchen,
Sie lauschet zu mir hinauf!


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