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Siebentes Kapitel

Es war an einem Frühlingsabend; die Sonne schien so rot ins Zimmer hinein, sie war im Begriff unterzugehen. Die Flügel der Mühle oben auf dem Wall jagten ihre Schatten über die Fensterscheiben und über die Wände des Zimmers, sie kamen, sie schwanden in einförmigem Wechsel von Dämmerung und Licht: – eine Sekunde Dämmerung, zwei Sekunden Licht.

Am Fenster saß Niels Lyhne und starrte durch die bronzedunklen Rüstern des Walles auf den Brand der Wolken. Er war draußen vor der Stadt gewesen, unter neu ausgeschlagenen Buchen, zwischen grünen Roggenfeldern, über blumenbunten Wiesen. Alles war so leicht und licht gewesen: der Himmel so blau, der Sund so blank und die lustwandelnden Damen so seltsam schön. Singend war er den Waldsteig entlanggegangen; dann fielen die Worte weg aus dem Gesang, dann legte der Rhythmus sich, dann erstarben die Töne, und die Stille kam wie ein Schwindel über ihn. Er schloß die Augen, aber trotzdem merkte er, wie das Licht sich gleichsam in ihn hineintrank und durch alle Nerven flimmerte, während die kühl berauschende Luft ihm bei jedem Atemzuge das seltsam benommene Blut mit immer wilderer Kraft durch die machtlos bebenden Adern trieb; und ihn überkam ein Gefühl, als wenn alles dies Emporschießen, das Springen und Sprießen und Gebären der Frühlingsnatur um ihn her, sich in ihm zu einem großen, großen Ruf zu sammeln versuchte; und er durstete nach diesem Ruf, lauschte, bis sein Lauschen die Form eines unklaren, schwellenden Sehnens annahm.

Jetzt, wie er so am Fenster dasaß, erwachte die Sehnsucht wieder.

Er sehnte sich tausend zitternden Träumen, Bildern von kühlender Zartheit entgegen: – leichten Farben, fliehendem Duft und der feinen Musik von ängstlich gespannten, bis zum Zerspringen gespannten Strömen silberner Saiten entgegen; – und dann Schweigen, bis in das innerste Herz des Schweigens hinein, wohin die Wellen der Luft niemals auch nur ein Atom eines Tones hintrugen, sondern wo alles sich in der stillen Glut roter Farben und in der wartenden Wärme feurigen Wohlgeruchs zu Tode ruht. – Er sehnte sich nicht nach diesem, aber es glitt heran, hervor aus dem andern und ertränkte dies, bis er sich von ihm wandte und sein eigen hervorholte.

Er war müde seiner selbst, der kalten Gedanken und der Hirngespinste. Das Leben ein Gedicht! Nicht, wenn man beständig einherging und an seinem Leben dichtete, statt es zu leben. Wie inhaltslos war es, leer, leer, leer! Diese Jagd auf sich selbst, diese schlaue Beobachtung seiner eignen Spur – natürlich in einem Kreis; dies sich zum Schein in den Strom des Lebens Hinauswerfen und gleichzeitig Dasitzen und nach sich selber Angeln und sich selbst Herausfischen in der einen oder andern kuriosen Vermummung! Wenn es ihn doch nur überkommen wollte – das Leben, die Liebe, die Leidenschaft, so daß er nicht darüber zu dichten brauchte, sondern daß es mit ihm dichtete.

Unwillkürlich machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Im innersten Innern war ihm doch bange vor diesem Mächtigen, das man Leidenschaft nannte. Dieser Sturmwind, der all das Bestehende, all das Berechtigte, all das Erworbene des Menschen von dannen wirbelte gleich welken Blattern! Dies mochte er nicht. Diese lärmende Flamme, die sich verschwenderisch in ihrem eignen Rauch verzehrte –, nein – er wollte langsam brennen.

Und doch – es war so jämmerlich mit diesem Dahinleben mit halber Kraft, in stillen Gewässern, die Küste in Sicht; käme doch nur ein Strom, ein Sturm! – wüßte er nur wie, so sollten all seine Segel zu einer Fahrt nach der spanischen See des Lebens gesetzt werden. Lebt wohl dann, ihr langsam tropfenden Tage; lebt wohl, ihr glücklichen, kleinen Augenblicke; ein Lebewohl euch, ihr matten Stimmungen, die ihr vielleicht mit Poesie verziert werden mußtet, um zu schimmern; ihr lauen Gefühle, die ihr in warme Träume gekleidet werden mußtet und die ihr doch erfrort, lebt, so gut ihr könnt! Ich richte den Kurs auf einen Strand, wo die Stimmungen sich wie üppige Ranken an allen Fibern des Herzens emporschlingen – ein wilder Wald; für jede welkende Ranke stehen dort zwanzig in Blüte, für jede blühende Ranke schießen dort hundert Schösser.

Ach, wäre ich nur dort!

Er lief sich müde in seiner Sehnsucht, er war seiner selbst überdrüssig. Er brauchte Menschen. Aber Erich war natürlich nicht zu Hause, mit Frithjof war er am Vormittag zusammen gewesen, und es war zu spät fürs Theater.

Trotzdem ging er aus und trieb sich mißmutig in den Straßen umher.

Vielleicht war Frau Boye zu Hause? Es war nicht ihr Abend, und es war ziemlich spät.

Ob er es trotzdem versuchen sollte?

Frau Boye war zu Hause.

Sie war allein zu Hause; die Frühlingsluft hatte sie so sehr ermüdet, deshalb ging sie nicht mit der Schwestertochter in die Mittagsgesellschaft, sondern hatte es vorgezogen, sich auf das Sofa zu legen, starken Tee zu trinken und Heine zu lesen; aber nun war sie der Verse müde und hatte Lust, Lotto zu spielen.

So spielten sie denn Lotto.

Fünfzehn, zwanzig, siebenundsiebzig und eine lange Reihe Zahlen, das Rasseln der Holzklötzchen und ein irritierendes Rollen mit Kugeln über den Fußboden in der Wohnung über ihnen.

»Das ist nicht amüsant«, sagte Frau Boye, als sie nach einer ganzen Weile noch keine Karte besetzt hatten. »Wie? – nein!« antwortete sie sich selber und schüttelte mißmutig den Kopf. »Aber was wollen wir dann spielen?«

Sie faltete die Hände vor sich über den Klötzchen, und sah Niels hoffnungslos forschend an.

Niels wußte wirklich nichts.

»Sagen Sie bloß nicht Musik!«

Sie neigte das Gesicht über die Hände herab und berührte die ineinandergeflochtenen Finger mit ihren Lippen, den einen nach dem andern, die ganze Reihe nach vorne und wieder zurück.

»Es ist das abscheulichste Dasein, das es gibt«, sagte sie und sah empor. »Es ist nicht möglich, das Allergeringste zu erleben, und wie sollte das bißchen, was das Leben abwirft, uns im Fluge erhalten; nicht wahr, fühlen Sie nicht dasselbe?«

»Ja, ich weiß wirklich nichts Besseres, als daß wir es wie der Kalif in Tausendundeiner Nacht machen. Wenn Sie sich nur zu dem seidenen Schlafrock, den Sie anhaben, ein weißes Tuch um den Kopf bänden und ich ihren großen, ostindischen Schal leihen dürfte, so könnten wir ausgezeichnet für zwei Kaufleute aus Mosul gelten.«

»Und was sollten wir beiden unglücklichen Kaufleute dann beginnen?«

»An die Sturmbrücke hinabgehen, für zwanzig Goldstücke ein Boot mieten und den dunklen Fluß hinaufsegeln.«

»An den Sandkasten vorbei?«

»Ja, mit bunten Lampen am Mast.«

»So wie der Liebessklave Ganem. – Wie ich ihn wiedererkenne, diesen ganzen Gedankengang; es ist so echt männlich, sofort in aller Eile sich damit zu beschäftigen, die Szenerie und die Situation aufzubauen und die Hauptsache selbst vor all diesem Drum und Dran liegen zu lassen. Haben Sie nicht beobachtet, daß wir Frauenzimmer so unendlich viel weniger Phantasten sind als die Männer? Wir können in unserer Phantasie nicht dem Genuß so vorgreifen oder uns das Leiden mit phantastischem Trost vom Leibe halten. Was da ist, das ist da. Die Phantasie! – Das ist so jämmerlich wenig. Ja; wenn man so wie ich älter geworden ist, so begnügt man sich zuweilen mit der Armenkomödie der Phantasterei. Aber das sollte man niemals tun, niemals!«

Sie setzte sich erschöpft im Sofa zurecht, halb liegend, halb sitzend, die Hand unter dem Kinn und den Ellbogen auf das Sofakissen gestützt.

Der Blick sah träumend in das Zimmer hinein, und sie schien ganz versunken in traurige Gedanken.

Niels schwieg auch, und es wurde ganz still. Man hörte das rastlose Hüpfen des Kanarienvogels, die Tafeluhr tickte sich durch das Schweigen hindurch, lauter und lauter, und eine Saite in dem geöffneten Klavier jammerte mit einem kleinen, plötzlichen Ruck und klang in einem langen, leisen, sterbenden Ton zusammen mit dem weichlichen Singen des Schweigens.

Sie sah so jung aus, wie sie dalag, gerade unter dem milden, gelben Schein der Astrallampe, vom Scheitel bis zur Sohle beleuchtet, und es lag ein bezauberndes Mißverhältnis zwischen dem herrlichen, starkgeformten Hals, der matronenhaften Charlotte Corday-Haube und dann den kindlich unschuldigen Augen und dem offnen, kleinen Mund mit den milchweißen Zähnen.

Niels sah sie bewundernd an.

»Wie eigentümlich es ist, wenn man sich nach sich selber sehnt,« sagte sie, indem sie langsam ihre Träume losließ und mit ihrem Blick zurückkehrte, »und ich sehne mich so oft, so oft nach mir selber als junges Mädchen, und ich liebe es wie eine, der ich innerlich nahegestanden habe, mit der ich Leben und Glück und alles andre dazu geteilt und dann verloren habe, ohne daß ich auch nur das Allergeringste dafür konnte. Was war das doch für eine schöne Zeit! Sie ahnen nicht, wie zart und rein das Leben eines solchen jungen Mädchens ist, ganz bis zu der Zeit der ersten Liebe. Man kann das nur in Tönen sagen; aber stellen Sie es sich vor wie ein Fest, ein Fest in einem Feenschloß, wo die Luft leuchtet wie errötendes Silber. Dort sind lauter kühle Blumen, und sie wechseln ihre Farbe, sie tauschen langsam ihre Farben miteinander aus. Alles klingt da drinnen, jubelnd, aber doch gedämpft, und die dämmernden Ahnungen glänzen und glühen wie ein mystischer Wein in feinen, feinen Traumschalen, und es klingt und duftet: tausend Düfte ziehen durch die Säle; ach, ich könnte weinen, wenn ich daran denke, und auch wenn ich daran denke, daß, bekäme ich das Ganze durch ein Wunder wieder, so wie es war, so würde das Leben mich jetzt gar nicht mehr tragen können, ich würde hindurchfallen wie eine Kuh, die auf Spinngeweben tanzen will.«

»Nein, gerade nicht,« sagte Niels eifrig; und seine Stimme zitterte, als er fortfuhr: »Nein, Sie würden gerade weit feiner und weit geistvoller lieben als das junge Mädchen.«

»Geistvoll! wie ich diese geistvolle Liebe hasse. Das ist nichts weiter als Zeugblumen, die aus dem Erdboden einer solchen Liebe emporwachsen; sie wachsen nicht einmal, sie werden vom Kopf heruntergenommen und ins Herz gesteckt, weil das Herz selbst keine Blumen hat. Gerade darum beneide ich das junge Mädchen, daß bei ihr nichts Unechtes ist; sie tut nicht das Surrogat der Phantasterei in ihren Liebesbecher. Sie dürfen nicht glauben, daß, weis ihre Liebe von Phantasiebildern und von Bildern von einzig großer, üppiger Unbestimmtheit durchwebt und überschattet ist, daß sie sich deshalb mehr aus den Bildern macht als aus der Erde, auf die sie tritt; das geschieht nur, weil alle Sinne und Instinkte und Gaben in ihr überall nach der Liebe greifen, – überall, ohne daß sie ermüdet. Aber nicht, weil sie ihre Phantasien genießt oder auch nur in ihnen ruht; nein, sie ist ganz anders wirklich, so wirklich, daß sie oft und manches Mal auf ihre eigene, unwissende Art unschuldig zynisch wird. Sie ahnen zum Beispiel nicht, welch ein berauschender Genuß für ein junges Mädchen darin liegen kann, heimlich den Duft des Zigarrenrauches einzuatmen, der dem Anzug ihres Geliebten anhaftet – das bedeutet tausendmal mehr für sie als ein ganzer Feuerbrand von Phantasie. Ich verachte die Phantasie. Wenn unser ganzes Wesen sich nach dem Herzen eines Menschen sehnt, was nützt es dann, in die kalte Vorstube der Phantasie eingelassen zu werden. Und wie oft ist es nicht also! und wie oft müssen wir uns nicht darein finden, daß der, den wir lieben, uns mit seiner Phantasie herausputzt, uns einen Glorienschein um das Haupt legt, uns Flügel an die Schultern bindet und uns in ein sternenbesäetes Gewand einhüllt und uns erst so recht liebenswert findet, wenn wir in all dem Maskeradenzeug einhergehen, in dem niemand von uns sich selber richtig ähnlich sieht, weil wir allzu herausgeputzt sind und weil man uns verwirrt, indem man sich vor uns in den Staub wirft und uns anbetet, statt uns zu nehmen, so wie wir sind, und uns dann nur zu lieben.«

Niels war ganz verwirrt; er hatte ihr Taschentuch aufgehoben, das sie verloren hatte, und saß nun da und berauschte sich an ihrem Parfüm und war gar nicht darauf vorbereitet, daß sie ihn ungeduldig fragend ansehen würde, gerade jetzt, wo er sich so in das Studium ihrer Hand vertieft hatte; aber schließlich brachte er doch eine Antwort zustande; er fand, es sei der beste Beweis dafür, wie groß die Liebe des Mannes sei, daß er einen Menschen mit einem Schein von Göttlichkeit umgebe, um dadurch eine unsagbar große Liebe zu ebendiesem Menschen vor sich selbst verantworten zu können.

»Ja, das ist ja gerade das Beleidigende,« sagte Frau Boye, »wir sind ja, so wie wir sind, göttlich genug.«

Niels lächelte entgegenkommend.

»Nein, Sie dürfen nicht lächeln, dies soll gar kein Scherz sein. Im Gegenteil; es ist sehr ernst, denn diese Anbetung ist in ihrem Fanatismus im Grunde tyrannisch; wir sollen gezwungen werden, in das Ideal des Mannes hineinzupassen. Haue eine Ferse ab und schneide eine Zehe weg! das in uns, was nicht zu seinen idealen Vorstellungen paßt, das soll entfernt werden, wenn nicht durch Unterdrückung, so doch dadurch, daß man es übersieht, es systematisch vergißt, daß man ihm jede Entwicklung versagt; und das, was wir gar nicht haben oder was gar nicht eigentümlich für uns ist, das soll zu der wildesten Blüte getrieben werden, indem man es in die Wolken hebt und indem stets vorausgesetzt wird, daß wir es in höchstem Maße besitzen, und indem es zu dem Haupteckstein gemacht wird, auf dem die Liebe des Mannes aufgebaut wurde. Ich nenne es eine Vergewaltigung gegen unsre Natur. Ich nenne es Dressur. Die Liebe des Mannes ist dressierend. Und wir beugen uns davor; selbst die, die niemand liebt, sie beugen sich mit, so verächtlich schwach, wie wir sind!«

Sie erhob sich aus ihrer liegenden Stellung und sah drohend zu Niels hinüber.

»Wäre ich schön! ach, aber betörend schön, schöner als irgendeine Frau, die gelebt hat, so daß alle, die mich sähen, von einer unauslöschlichen, schmerzlichen Liebe erfaßt und gepackt würden wie von einem Zauber: wie wollte ich sie da durch die Macht meiner Schönheit dazu zwingen, mich anzubeten, nicht ihr traditionelles, blutleeres Ideal, sondern mich selbst, wie ich ginge und stünde, mich selbst Zoll für Zoll, Falte für Falte meines Wesens, Strahl für Strahl meiner Natur.«

Sie hatte sich ganz erhoben, und Niels dachte auch daran, zu gehen; aber er stand da und drehte an vielen dreisten Wendungen herum, die er jedoch nicht auszusprechen wagte. Endlich faßte er sich Mut, ergriff ihre Hand und küßte sie; sie aber reichte ihm auch die andre Hand zum Kuß, und da brachte er weiter nichts hervor als: »Gute Nacht.«

Niels Lyhne hatte sich in Frau Boye verliebt, und darüber war er froh.

Als er durch dieselben Straßen nach Hause ging, durch die er früh am Abend mißmutig geschlendert war, erschien es ihm, als sei es lange, lange her, seit er hier gegangen war. Außerdem war auch eine solche Sicherheit, ein so ruhiger Anstand über seinen Gang und seine Haltung gekommen; und als er seine Handschuhe sorgfältig zuknöpfte, geschah es unter dem Eindruck, daß eine große Veränderung mit ihm geschehen sei, und mit dem halbbewußten Gefühl, daß er es dieser Veränderung schulde, seine Handschuhe – sorgfältig zuzuknöpfen.

Durch seine Gedanken zu sehr in Anspruch genommen, um schlafen zu können, ging er auf den Wall.

Er denke so merkwürdig ruhig, meinte er; und er wunderte sich über die Ruhe, die in ihm war; aber er glaubte nicht recht an diese Ruhe; es war ihm, als brodele es auf dem tiefsten Grund seines Wesens ganz leise, aber unaufhörlich, als quelle es hervor und gäre und dränge sich vorwärts, aber weit, weit entfernt. Ihm war zumute, als warte er auf etwas, das aus der Ferne kommen sollte, eine ferne Musik, die sich ganz allmählich nähern, die tönend, brausend, schäumend, sausend, schallend auf ihn herabwirbeln, ihn ergreifen würde, er wußte nicht wie, ihn tragen würde, er wußte nicht wohin, die wie ein Fluß kommen, wie eine Brandung kämpfen würde, und dann – – –

Jetzt aber war er ruhig, nur dies zitternde Singen in der Ferne; sonst war alles Klarheit und Friede.

Er liebte; er sprach es laut vor sich hin, daß er liebte. Viele Male. Es lag ein so wunderbarer Klang von Würde in diesen Worten, und sie bedeuteten so viel. Sie bedeuteten, daß er nicht länger ein Gefangener in der Gewalt all jener phantastischen Kindheitseinflüsse, daß er nicht länger das Spiel zielloser Sehnsucht und verschleierter Träume war, daß er sich aus diesem Elfenland herausgerettet hatte, das mit ihm, um ihn aufgewachsen war und ihn mit hundert Armen umschlungen, ihm die Augen mit hundert Händen geschlossen hatte. Er hatte sich aus diesem Griff herausgewunden und sich selbst zurückgewonnen; streckte es auch die Arme nach ihm aus und flehte es ihn auch an mit dem Locken stummer Blicke, winkte es ihn auch zu sich mit weißen Gewändern, – seine Macht war tot, ein Traum, den der Tag vernichtet, ein Nebel, den die Sonne vertrieb. Denn war seine junge Liebe nicht Tag und Sonne und die ganze Welt! War er früher nicht in einem Ruhmespurpur einherstolziert, der nicht gesponnen war, hatte er sich nicht auf einem Thron breit gemacht, der nicht errichtet war; aber jetzt: er stand auf einem hohen Berg und sah über die weite Ebene der Welt hinaus, einer liederdurstigen Welt, in der er nicht lebte, in der man ihn nicht ahnte, ihn nicht erwartete. Es lag ein jubelnder Gedanke darin, zu denken, daß kein Hauch seines Atems ein Blatt berührt oder eine Welle gekräuselt hatte, in dieser ganzen weiten, wachen Unendlichkeit. All dies war sein, um es zu gewinnen. Und er fühlte, daß er es vermochte, fühlte sich siegessicher und stark, wie nur der es kann, der all seine ungesungenen Lieder in seiner Brust schwellen fühlt.

Die laue Frühlingsluft war voll von Duft, nicht geschwängert mit Duft, wie eine Sommernacht es sein kann, sondern gleichsam gestreift von Duft, von dem würzigen Balsamduft junger Pappeln, dem kühlen Atem später Veilchen, dem süßen Mandelwohlgeruch des Faulbaums. Und all dies kam und vermischte sich, ging und trennte sich, loderte einen kurzen Augenblick vereinzelt auf, erlosch plötzlich oder löste sich langsam in der Nachtluft auf. Und gleich wie die Schatten dieses launenvollen Tanzes aller Düfte jagten luftige Stimmungen durch das Gemüt. Und gleich wie die Sinne von den Düften umgaukelt wurden, die schwanden und kamen, wie es ihnen selber beliebte, so sehnte sich das Gemüt auch vergeblich danach, in stillem Fluge, sanft ruhend, von leise fächelnden Flügeln einer Stimmung dahingetragen zu werden; aber es waren keine Vögel mit Flügeln, die tragen konnten; nur Daunen und Federn, die der Wind vor sich hertrieb, schneiten herab und verschwanden.

Er versuchte, ihr Bild hervorzurufen, so wie sie auf dem Sofa gelegen und mit ihm gesprochen hatte, aber es kam nicht; er sah sie unten in einer Allee gehen, sah sie sitzen, einen Hut auf dem Kopf, lesen, indem sie eins der großen weißen Blätter des Buches zwischen ihren behandschuhten Fingern hielt, eben dabei, umzublättern, und sah sie blättern und immer weiter blättern; er sah sie abends nach dem Theater in den Wagen steigen, ihm hinter der Fensterscheibe zunicken, und dann fuhr der Wagen; er stand da und sah ihm nach, und der Wagen fuhr weiter, und er verfolgte ihn noch immer mit den Augen; gleichgültige Gesichter kamen und sprachen mit ihm; Gestalten, die er viele Jahre nicht gesehen hatte, gingen die Straße hinab, wandten sich um und sahen ihm nach; und immer noch fuhr der Wagen und fuhr fort zu fahren, er konnte den Wagen nicht los werden, konnte dieses Wagens wegen an keine andern Bilder denken. Und dann gerade in dem Augenblick, als er vor Ungeduld ganz nervös war, da kam es: das gelbe Licht, die Augen, der Mund, die Hand unter dem Kinn, so deutlich, als sähe er es gerade vor sich in der Dunkelheit.

Wie schön war sie nicht, wie mild, wie rein! Er liebte sie in kniender Begierde, er bettelte zu ihren Füßen um all diese berückende Schönheit. Wirf dich von deinem Thron herab zu mir! Mach dich zu meiner Sklavin, lege dir selbst die Sklavenkette um deinen Hals, aber nicht im Spiel; ich will an der Kette zerren, es soll Gehorsam in all deinen Gliedern, Knechtschaft in deinem Blick sein! Könnte ich dich zu mir hinabbeugen durch einen Liebestrank, nein, kein Liebestrank, denn der würde dich zwingen, und du würdest willenlos seinem Zwang gehorchen, und nur ich allein will dein Herr sein, und ich würde deinen Willen entgegennehmen, der gebrochen in deinen demütig ausgestreckten Händen liegt. Du solltest meine Königin sein und ich dein Sklave, aber mein Sklavenfuß sollte auf deinem stolzen Königinnennacken stehen. Was ich begehre, ist nicht Wahnsinn; denn ist es nicht Weiberliebe, stolz und stark zu sein und sich zu beugen; ich weiß, es ist Liebe, schwach zu sein und zu herrschen.

Er fühlte, daß sich das in ihrer Seele, was die Seele des Üppigen, Blühenden, sinnlich Weichen ihrer Schönheit war, niemals zu ihm hinziehen lassen würde; das würde ihn niemals mit diesen blendenden Juno-Armen umschlingen, niemals im Leben diesen wollustatmenden Nacken seinen Küssen ausliefern. Er sah es genau, das junge Mädchen in ihr konnte er gewinnen, hatte er wohl gewonnen, und sie, die Üppige, das glaubte er sicher, sie hatte gefühlt, wie die junge Schönheit, die in ihr gestorben war, sich mystisch in ihrem lebenden Grabe rührte, um ihn mit schlanken Jungfrauenarmen zu umfangen, ihm mit bangen Jungfrauenlippen zu begegnen. Aber seine Liebe wollte dies nicht. Er liebte nur das, was nicht zu gewinnen war, liebte gerade diesen Nacken mit seiner warmen Blütenweiße und dem Schein betauten Goldes unter dem dunklen Haar. Er schluchzte vor Liebessehnsucht und rang die Hände in schmerzlicher Ohnmacht; er schlang die Arme um einen Baum, lehnte die Wange gegen die Rinde und weinte.


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