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Im vorigen Jahr, als wir im Krieg zwischen Frankreich und Deutschland lebten, traf es sich so, daß ich mich einen Monat auf der kleinen Insel Anholt aufhielt.
Es mochte ungefähr acht Tage nach Beginn des Krieges sein, als ich in einer Mittagsstunde in den kleinen Gäßchen stand, das die Anholter Kirche auf der einen und den Bretterzaun eines Gartens auf der andern Seite hat. Drinnen im Garten stand eine Anholterfrau, und mit ihr sprach ich. Ich erinnere mich des Ganzen noch so deutlich, daß, sobald meine Gedanken darauf verfallen, ich die rote Brandleiter der Kirche und die blauen Glockenblumen auf dem Kirchhofsdeich vor mir sehe; die schwüle Sommerluft und den starken, schweren Duft von großen Nesseln spüre ich im selben Augenblick, und ich höre, was ich damals hörte.
Wir hatten von Steffen Storm gesprochen, der im Lager bei Hald lag, und wie traurig es wäre, daß er in solchen unruhigen Zeiten da sein müsse und daß er der einzige jetzt lebende Anholter sei, den ich nicht gesehen hatte. Wir sprachen davon, daß alle Leute auf der Insel untereinander verwandt waren und daß alle Häuser auf einem Fleck nebeneinanderliegen; deswegen äußerte ich, daß die Bewohner sich im Laufe des Tags Dutzende von Malen sehen müßten, und da erzählte sie mir, daß sie im Laufe der letzten fünf Tage keinen Fuß in das Westende des Dorfes gesetzt habe. Da auf einmal kam ein wunderlich dumpfer Laut und erschütterte die Luft drinnen in dem Gäßchen, und ehe ich begriffen hatte, was es war, kam noch einer. Es war ein ferner Kanonenschuß – es war der Krieg, es war die französische Flotte, die im Heransegeln begriffen war, so setzten meine Gedanken fort. Der Laut hielt an, und meine Hoffnung schlug Seeschlachten, schäumte dahin mit französischem Geschwader und strich deutsche Flaggen, so daß ich nur schwach, gleichsam aus der Entfernung, und vielleicht war sie auch gegangen, die Frau rufen hörte: »Ach Gott, behüte Steffen Storm!«
Eine einsame Kuh brüllte vor Sehnsucht nach dem Stall, wurde heimgeholt und schwieg. Ein Kind stand in einer von den Türen und weinte; da wurde die Tür geschlossen, das Kind weinte da drinnen, und dann verstummte auch das. »Ach Gott, behüte Steffen Storm!«
Welch wunderliches Volk, das sein ganzes Leben hier, das nur hier leben kann. Leute, denen das Treiben der übrigen Welt, ihre Kämpfe und wechselnde Schicksale fern, nebelhaft und farblos sind wie die Träume vom vergangenen Jahr. An die hundert Menschen, deren Dasein so miteinander verschlungen, verknüpft, verwoben ist, daß der Tod wohl Kummer, aber kein Vergessen bringen kann: denn von demjenigen, der vor sieben Jahren starb, wird jetzt so gesprochen, als habe er gestern noch gelebt, und seine Witwe kommt jeden Sonntag in Trauerkleidern in die Kirche bis an ihr Lebensende, und wenn der Segen über die Gemeinde gesprochen wird, darf sie nicht aufstehen, denn das Licht von Gottes Antlitz darf nicht voll auf sie fallen, weil eine so große Freude ihr nicht zukommt, deren Ehegatte davongegangen ist.
Ich entsinne mich noch, wie ich mich an jenem Abend danach sehnte, einen dieser Menschen so recht zu verstehen, einen Augenblick mit ihren Gehirnen zu denken, mit ihren Herzen zu fühlen und mit ihren Sinnen zu empfinden: das würde mehr neu sein, als es die neue Welt für Kolumbus war.
Gleicher Art war meine Stimmung und gleicher Art waren meine Gedanken, als ich im Sommer auf den Dämmen draußen vor Eppenföhrde stand ... Da lag das Dithmarschenland mit seiner blaugrünen Marsch und seiner fetten Geest, da lag das Meer, Dithmarschens Schöpfer, Ernährer und Feind, das Meer, von dem sie dachten, was Hiob von Jehova sagte: das Meer hat es gegeben, das Meer hat es genommen, der Name des Meers sei gelobt. –
Herbst 72 ?