Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.
Dritte neuzeitliche Phase.
Das System der natürlichen Freiheit.

Die Veränderungen, welche im Laufe der dritten Phase in der inneren Organisation der Wirtschaftswelt eintraten, waren: erstens die vollständigere Trennung des Bankwesens vom allgemeinen Handelsverkehr, verbunden mit einer weiteren Ausdehnung seiner Verrichtungen, insbesondere durch das System des öffentlichen Kredits; und zweitens die grossartige Entwickelung des Gebrauchs von Maschinen auf dem Gebiet der Produktion. Die letztere machte sich in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nicht besonders bemerklich. Während diese Entwickelung die Hebung der arbeitenden Klassen durch deren Befreiung von erniedrigender und erschöpfender physischer Arbeit herbeiführte, erweiterte sie die Kluft zwischen diesen Klassen und den sie beschäftigenden Kapitalisten. Es zeigte sich hierdurch, dass die endgültige Ordnung der wirtschaftlichen Tätigkeit eine sittliche Reform als notwendige Vorbedingung erfordere.

Was die Beziehungen der wirtschaftlichen Tätigkeit zum Staate anlangt, so zeigte sich hier eine merkwürdige Umkehr. Die systematischen Aufmunterungen, welche die Regierungen ihr in der vorhergehenden Phase hatten zu teil werden lassen, waren durch ihr Bestreben veranlasst, sie als Werkzeug zur Erlangung ihrer militärischen Ueberlegenheit, des Hauptzieles ihrer Politik, zu benutzen. Nunmehr ordnete sich im Gegenteil der militärische Geist dem wirtschaftlichen unter: die Heere und die Diplomatie der Regierungen wurden in den Dienst des Handelsverkehrs gestellt. Die Kriege, welche einen grossen Teil des achtzehnten Jahrhunderts ausfüllten, waren in der Hauptsache durch Handelsinteressen hervorgerufen und entstanden aus dem Bestreben, die in der vorhergehenden Phase gegründeten kolonialen Niederlassungen zu halten oder zu erweitern oder auch wetteifernde Nationen von den mit dem Besitze solcher Niederlassungen verknüpften wirtschaftlichen Vorteilen auszuschliessen. Diese veränderte Haltung bedeutete, trotzdem sie bedauerlicherweise das Entstehen von Feindseligkeiten und Eifersüchteleien unter den Völkern begünstigte, einen tatsächlichen und wichtigen Fortschritt: sie wies hin auf die wirtschaftliche Tätigkeit als die einzige dauernde, praktische Bestimmung der neuzeitlichen Gesellschaft.

Während indessen die leitenden Gewalten durch dieses Vorgehen das Aufstreben der neuen Kräfte förderten, wurde sowohl in England als in Frankreich ihr Misstrauen durch die der neuen Bewegung anscheinend eigentümlichen Neigungen zum Umsturz wachgerufen und äusserte sich in einer widerstrebenden Stellungnahme auf dem Gebiete der inneren Politik. In Frankreich triumphierte während der letzten Hälfte der Regierung Ludwigs XIV. die Reaktion unter dem verderblichen Einfluss der Madame von Maintenon. In England wurde die staatliche Politik nach der Uebereinkunft von 1688, durch welche sich die Regierung auf der doppelten Grundlage der aristokratischen Gewalt und offiziellen Orthodoxie befestigt hatte, nicht so sehr eine rückschrittliche als eine stillstehende; man liess es sich angelegen sein, Eroberungen auf wirtschaftlichem Gebiet zu machen, um hierdurch die Mittelklassen zu befriedigen und sie von dem Streben nach einer gesellschaftlichen Erneuerung abzulenken. In beiden Ländern erlitt die geistige Entwickelung für einige Zeit eine bemerkenswerte Unterbrechung. Roscher und andere haben die Beobachtung gemacht, dass besonders auf dem Felde der wirtschaftlichen Forschung die drei ersten Jahrzehnte des achtzehnten Jahrhunderts eine Periode allgemeiner Stockung darstellen, in welcher sich meistenteils der Eklektizismus an Stelle des ursprünglichen Schaffens breit machte. Die Bewegung sollte indessen bald, aber mit einem veränderten und bedrohlicheren Charakter, wieder in Gang kommen. Die verneinende Lehre, welche in England entstanden war und dort eine bestimmte Form angenommen hatte, wurde in Frankreich verbreitet und dem Volke zugänglich gemacht. Es zeigte sich hier schon vor dem entscheidenden Ausbruch der Revolution klar, dass eine gründliche gesellschaftliche Umgestaltung den einzig möglichen Ausweg biete. Die einseitigen Richtungen eines Voltaire und Rousseau drängten auf eine gewaltsame Entscheidung hin, während sie sich wenig um die Bedingungen eines neuen Systems bekümmerten, welches das alte zu ersetzen hätte. Die umfassendere und organischere Schule indessen, als deren begabtester Vertreter Diderot gilt, blickte über die Freiheit hinweg nach einer gründlichen Reorganisation aus. Ihr auf einen Neubau hinzielendes Streben zeigt sich in dem Plan der »Encyclopédie«, welches Unternehmen indessen nur einen zeitweiligen Erfolg haben konnte, da hierbei nichts von einem umfassenden und Bestand habenden Gedankensystem herauskam, und dieses vereinte Schaffen öfters nicht übereinstimmender Geister nur eine äusserliche Einheit besitzen konnte. Namentlich mit dieser berühmten Schule unterhielten die Physiokraten Beziehungen, und wie deren Mitglieder hätten auch sie, obgleich auf eine gänzliche Veränderung der bestehenden Ordnung hinarbeitend, gern einen staatlichen Zusammenbruch durch die Ausübung einer königlichen Machthaberschaft vermieden oder einen solchen nur als die notwendige Bedingung einer neuen und besseren Ordnung der Dinge betrachtet. Allein trotzdem sie sich durch derartige Neigungen von den rein revolutionären Sekten unterschieden, waren doch ihre Methoden und ihre Grundanschauungen verneinende, da sie im wesentlichen auf der Basis des Naturrechts ruhten. Wir werden diesen französischen Entwickelungen in eingehender Weise folgen, soweit ihre besondere Beziehung zur Wirtschaftswissenschaft in Frage kommt, und dann unsere Aufmerksamkeit den entsprechenden Bewegungen in andern europäischen Ländern zuwenden, die sich vor dem Auftreten Adam Smith's bemerklich machten oder wenigstens von ihm nicht beeinflusst wurden.


Die Zeit vor Adam Smith.

 

Frankreich.

Die sowohl freieren als rationelleren Grundsätze, welche von den englischen Denkern der neuen Richtung aufgestellt worden, fanden gleich zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts einen Widerhall in Frankreich, wo die klarsehenden und kräftigeren Geister für ihre Aufnahme vorbereitet waren durch die schwer empfundenen Uebel, welche ein dem politischen Ehrgeiz dienender übertriebener Merkantilismus in diesem Lande geschaffen hatte. Die armseligen Verhältnisse der ländlichen Bevölkerung, die drückende und ungleich verteilte Steuerlast und der ungesunde Zustand der öffentlichen Finanzen hatten ein allgemeines Gefühl der Unzufriedenheit hervorgerufen und verschiedene hervorragende Schriftsteller veranlasst, der Colbert'schen Politik nachdrücklich entgegenzutreten und eine vollständige Umgestaltung zu verlangen.

Der bedeutendste unter diesen war Pierre Boisguillebert (gest. 1714), welcher sein ganzes Leben jener Fehde widmete. In seinen statistischen Schriften – »Ausführliche Beschreibung Frankreichs unter der gegenwärtigen Regierung« (Détail de la France sous le règne présent, 1697), »Denkschrift über Frankreich« (Factum de la France, 1707) – schildert er in düsteren Farben die Schattenseiten des Zeitalters Ludwigs XIV. Seine theoretischen Werke – »Abhandlung über Getreidehandel« (Traité de la nature et du commerce des grains), »Dissertation über das Wesen des Reichtums, des Geldes und der Abgaben« (Dissertation sur la nature des richesses, de l'argent et des tributs), »Ueber den Geldmangel« (Essai sur la rareté de l'argent) – zeigen ihn als einen eifrigen, ja leidenschaftlichen Gegner der merkantilistischen Schule. Immer wieder kommt er auf die Tatsache zurück, dass der Volksreichtum nicht in Gold und Silber bestehe, sondern in nützlichen Dingen, unter denen die landwirtschaftlichen Erzeugnisse voranstehen. Er geht sogar so weit, von »verbrecherischem Gelde« zu sprechen, welches, anstatt, wie sich dies gehöre, der Sklave des Handels zu sein, dessen Tyrann geworden wäre. Er stellt den »echtfranzösischen Sully« weit über den »italisierenden Colbert« und verurteilt jede willkürliche Regelung des aus- oder inländischen Handelsverkehrs und insbesondere des Getreidehandels. Der Volksreichtum hänge nicht von den Regierungen ab, deren Einmischung mehr Schaden als Nutzen stifte. Die natürlichen Gesetze der Wirtschaftsordnung könnten nicht ungestraft verletzt oder umgangen werden. Die Interessen der verschiedenen Gesellschaftsklassen unter einem freiheitlichen System seien identisch, und die der Einzelnen fielen mit den staatlichen zusammen. Eine ähnliche Gemeinsamkeit bestehe unter verschiedenen Völkern; in ihrem wirtschaftlichen Austausch verhielten sie sich zur Welt wie einzelne Städte zur Nation, und ihr ungehinderter Verkehr werde nicht nur Ueberfluss, sondern auch Friede und Eintracht zur Folge haben. Boisguillebert teilt die Menschen in zwei Klassen: Die einen tun nichts und geniessen alle Vorteile, die andern arbeiten von früh bis spät und gewinnen oft nicht den notdürftigsten Unterhalt. Die letztere will er auf jede Art begünstigt wissen. Hier spüren wir den Odem der Sympathie für das Volk, welche die gesellschaftliche Atmosphäre des achtzehnten Jahrhunderts erfüllt. Mit besonderem Nachdruck betont er die Ansprüche der Landwirtschaft, welche in Frankreich unverdienter Vernachlässigung anheimgefallen war, und verlangt zum Zwecke ihrer Förderung eine Reform der Besteuerung. Die indirekten Steuern möchte er durch Einkommensteuern ersetzen und die Zahlung der Abgaben in natura wieder in Aufnahme bringen, wodurch er eine gleiche Verteilung der Lasten sichern und jedes Element der Willkür ausschliessen will. Er hegt einige interessante Ansichten allgemeinen Charakters. So nähert er sich einer richtigen Auffassung der landwirtschaftlichen Rente und weist auf die Ordnung hin, in welcher die menschlichen Bedürfnisse einander ablösen: es folgen in der erwähnten Ordnung aufeinander die Bedürfnisse der Notwendigkeit, der Annehmlichkeit, der Behaglichkeit, des Ueberflusses und des Prunks, während mit abnehmendem Reichtum sich die umgekehrte Reihe fühlbar macht. Der geringschätzige Ton, in welchem Voltaire von Boisguillebert spricht (Zeitalter Ludwigs XIV. Kap. 30) ist sicherlich nicht gerechtfertigt. Er besass ein grosses wirtschaftliches Talent, und seine Schriften enthalten Keime bedeutsamer Wahrheiten. Indessen scheint er in seiner Zeit wenig theoretischen oder praktischen Einfluss ausgeübt zu haben.

Derselbe allgemeine Gedankengang, wie wir ihn bei Boisguillebert finden, wurde von dem Marschall Vauban (1633-1707) in seinen volkswirtschaftlichen Abhandlungen verfolgt. Besonderer Erwähnung verdient die Schrift »Vorschlag zu einem Königlichen Zehnten« (Projet d'une dixme royale, 1707), welche von den Behörden unterdrückt wurde und ihn um die Gunst seines Herrschers brachte, jedoch den Glanz seines Namens in dem Urteil der Nachwelt nur vermehrt hat. Die klägliche Lage der arbeitenden Klassen Frankreichs in seinen Tagen bewegt ihn tief. Nachdrücklich betont er als Ziel der Regierung die Wohlfahrt aller Stände der staatlichen Gemeinschaft. Alle hätten Anspruch auf gleiche Gunst und Förderung. Die oft verachtete und übel behandelte niedere Klasse bilde die Grundlage der gesellschaftlichen Organisation. Die Arbeit begründe allen Reichtum, und die Landwirtschaft sei deren wichtigste Gattung. Die hauptsächlichste Voraussetzung erfolgreicher wirtschaftlicher Tätigkeit sei Freiheit. Alle unnötigen oder übermässigen Beschränkungen der Gewerbe oder des Handelsverkehrs müssten verschwinden. Im besonderen wendet er sich gegen die Ungleichheiten der Besteuerung sowie gegen die Freiheiten und Vorrechte, welche die höheren Stände geniessen. Einige Konsumtionssteuern ausgenommen, möchte er alle vorhandenen Abgaben abschaffen und an ihre Stelle eine einzige Einkommen- und Grundsteuer setzen, die ohne Unterschied allen Klassen aufzulegen sei. Er bezeichnet diese Abgabe als »Königlichen Zehnten« (dixme royale), das soll heissen, eine Naturalabgabe im Betrage eines Zehntels vom gesamten landwirtschaftlichen Ertrage und ein den Gewerbetreibenden und Händlern aufzulegendes Zehntel vom Geldeinkommen.

Der edle und menschenfreundliche Sinn eines Fénélon veranlasste diesen, die Freiheit des Handelsverkehrs mit anderen Völkern anzustreben und die Lehre zu predigen, dass die tatsächliche Ueberlegenheit eines Staates über den andern allerdings in der Zahl, aber auch in der Sittlichkeit, in der Bildung und in der Betriebsamkeit seiner Bevölkerung begründet sei. Der »Telemach«, in welchem diese Ansichten in anziehender Form dargeboten wurden, fand Aufnahme und Leser in allen Ständen und Klassen und diente somit als wirksames Mittel zur Verbreitung der erwähnten Lehren.

Nach diesen Schriftstellern macht sich auf dem Felde des französischen Denkens über wirtschaftliche Dinge eine auffällige Leere bemerkbar. Sie wird nur unterbrochen durch die »Politischen Betrachtungen über die Finanzen und den Handel« (Réflexions politiques sur les finances et le commerce, 1738) von Dutot, einem Schüler Law's, und die halbmerkantilistischen »Politischen Versuche über den Handel« (Essais politiques sur le commerce, 1731) von Mélon, bis wir schliesslich auf den grossen Namen eines Montesquieu stossen. Der »Geist der Gesetze« (Esprit des lois, 1748) ist, soweit er sich mit wirtschaftlichen Gegenständen befasst, im ganzen von einem dem Merkantilsystem feindlichen Standpunkt aus geschrieben, insbesondere tritt dies gelegentlich der Behandlung des Geldthemas hervor, obwohl Montesquieu in seinen Bemerkungen über die Kolonien und an andern Stellen in die Anschauungen dieses Systems zurückfällt. Seine unsterbliche Leistung besteht indessen nicht in irgend einer speziellen Untersuchung, sondern in seiner überzeugenden Begründung der Theorie, dass die gesellschaftlichen Erscheinungen nicht minder als die physikalischen durch Naturgesetze geregelt werden. Nach ihm begegnen wir in Frankreich keinem anderen Denker von Bedeutung, welcher sich mit volkswirtschaftlichen Dingen beschäftigt hätte, bis zu dem Auftreten der Physiokraten, welches eine denkwürdige Zeit in der Geschichte der Wissenschaft bedeutet.

Die Häupter der physiokratischen Schule sind Francis Quesnay (1694-1774) und Jean Claude Marie Vincent, Herr von Gournay (1712-1759). Schon im Jahre 1755 waren die Grundsätze dieser Schule durch Richard Cantillon veröffentlicht worden, und zwar in seiner »Abhandlung über die Natur des Handels im allgemeinen« (Essais sur la nature du commerce en general). Cantillon war ein französischer Kaufmann irischer Herkunft, über welchen Jevons aufklärende Mitteilungen gebracht hat Richard Cantillon und die Nationalität der Volkswirtschaftslehre« in der Contemporary Review, Jan. 1881. Cantillon wird erwähnt in Smith's Volkswohlstand, Buch I, Kap. 8., und den er als den wahren Begründer der Volkswirtschaftslehre ansieht. Allein erst unter den Händen von Quesnay und Gournay Gournay empfahl seinen Freunden nachdrücklich Cantillon's Buch als »ein vortreffliches Werk, welches man nicht beachte«. Memoires de Morellet. I. 38. gewannen diese Grundsätze eine systematische Form und wurden zum Glaubensbekenntnis einer vereinigten Gruppe von Denkern und praktischen Männern, die alle bestrebt waren, sie zu verwirklichen. Die Mitglieder der Gruppe nannten sich selbst »die Oekonomisten«, aber es ist wohl passender, da unzweideutiger, sie mit dem Namen »Physiokraten« zu bezeichnen, welchen Dupont de Nemours, einer der ihrigen, erfand. Dieser Name, welcher den Grundgedanken der Schule zum Ausdruck bringen soll, schliesst viel mehr ein als die Unterwerfung der Erscheinungen der gesellschaftlichen und insbesondere der wirtschaftlichen Welt unter feststehende Beziehungen des gleichzeitigen Vorhandenseins und der Aufeinanderfolge. Es ist dies die positive Theorie, welche jeder echten Wissenschaft zugrunde liegt. Indessen war das Naturgesetz, auf welches sich der Name der Sekte bezog, etwas hiervon gänzlich Verschiedenes. Das theologische Dogma, welches die Auffassung vertrat, dass alle Bewegungen des Weltalls von göttlicher Weisheit und Güte behufs Schaffung der grösstmöglichen Summe von Glückseligkeit geleitet würden, hatten die Metaphysiker in den Begriff eines Naturrechts – jus naturae – verwandelt, eines von der Lieblings-Wesenheit dieser Denker, der Natur, aufgestellten Inbegriffs übereinstimmender und heilsamer Gesetze, welcher den menschlichen Einrichtungen vorhergehe und diesen das Vorbild liefere, dem sie sich anzupassen hätten. Diese Idee, welche Buckle anscheinend als eine Erfindung Hutcheson's auffasst, war durch die römische Rechtstheorie als ein Ergebnis griechischen Denkens überliefert worden Siehe Cliffe Leslie's Essays in political and moral philosophy, P. 151.. Sie wurde aufgenommen von der neueren verneinenden Richtung von Hobbes bis Rousseau und als mächtige Angriffswaffe in dem Anstürme auf die bestehende gesellschaftliche Ordnung benützt, als deren fortwährender Gegensatz die natürliche Ordnung hingestellt wurde, von welchem vollkommenen Urbild die Wirklichkeit bedauerlicherweise abgewichen sei. Die Lehre fand, der Verschiedenheit der Auffassungen und der Umstände entsprechend, verschiedene Anwendung. Bei einigen richtete sie sich gegen die gekünstelten Sitten jener Zeit, bei andern gegen bestehende politische Einrichtungen. Von den Physiokraten wurde sie besonders zur Kritik der wirtschaftlichen Politik europäischer Regierungen benutzt.

In allgemeiner politischer Hinsicht ist folgendes der Inhalt dieser Lehre: Die Gesellschaft wird gebildet von einer Anzahl Einzelner, welche alle dieselben natürlichen Rechte haben. Wenn auch nicht alle gleiche Fähigkeiten besitzen (wie dies einige Anhänger der verneinenden Richtung behaupteten), so versteht doch jeder sein eigenes Interesse am besten und wird durch die Natur zu dessen Wahrung veranlasst. In Wahrheit ist die gesellschaftliche Vereinigung ein Vertrag unter diesen Einzelnen, welcher die Beschränkung der natürlichen Freiheit eines jeden bezweckt, soweit diese mit den Rechten anderer unverträglich ist. Die Regierung ist ein, da unentbehrliches, so notwendiges Uebel, und die durch den Volkswillen eingesetzte regierende Gewalt sollte auf dasjenige Mass der Einmischung beschränkt bleiben, welches zur Sicherung der Erfüllung jenes Vertrags unbedingt erforderlich ist. In wirtschaftlicher Hinsicht schliesst dies das Recht des Einzelnen auf solche natürlichen Genüsse ein, wie er sie durch seine Arbeit zu erwerben vermag. Es sollte daher diese Arbeit vor Störungen und Beschränkungen bewahrt bleiben und der Besitz ihrer Früchte verbürgt werden, mit anderen Worten, das Eigentum sollte heilig sein. Jedem Bürger müsse die grösstmögliche Ausnützung seiner Arbeitskraft freistehen, daher sei gesicherte Freiheit des Austausches sowie unbeschränkter Wettbewerb auf dem Markte vonnöten, während weder Monopole noch Vorrechte gestattet werden dürften.

Die Physiokraten knüpfen hieran die wirtschaftliche Analyse wie folgt: Wahrhaft »produktiv« sind nur jene Arbeiten, welche die Menge der, menschlichen Zwecken dienenden Rohstoffe vermehren, und der wirkliche jährliche Zusatz zum Reichtum der Gemeinschaft besteht in dem Ueberschuss der Masse landwirtschaftlicher Produkte (Mineralien natürlich eingeschlossen) über die Kosten ihrer Gewinnung. Von dem Betrage dieses »Reinertrags« (produit net) ist sowohl der Wohlstand der Gemeinschaft als die Möglichkeit ihres Fortschreitens in der Zivilisation abhängig. Der Handwerker gibt den aus der Erde gewonnenen Stoffen nur eine neue Form; der höhere Wert, den der Gegenstand besitzt, nachdem er durch seine Hände gegangen, stellt nur die Menge von Lebensmitteln und andern Stoffen dar, welche bei dessen Herstellung verzehrt und zu derselben verbraucht wurden. Die Verrichtungen des Handels bestehen lediglich in der einfachen Uebertragung des bereits vorhandenen Reichtums von einer Hand in eine andere; der Gewinn, welcher von der handeltreibenden Klasse hierbei erzielt wird, geschieht auf Kosten der Nation, und es ist daher zu wünschen, dass dessen Betrag so klein als möglich sei. Allerdings sind die Beschäftigungen des Handwerkers und des Kaufmanns sowie auch die der höheren Berufe und jede Art persönlicher Dienste »nützlich«, aber sie sind »unfruchtbar«, da sie ihr Einkommen nicht aus einem von ihnen selbst geschaffenen Fonds beziehen, sondern aus der überschüssigen Ernte des Ackerbautreibenden. Vollkommene Erwerbsfreiheit ist nicht nur, wie wir bereits gesehen haben, im natürlichen Recht begründet, sondern empfiehlt sich auch durch die Erwägung, dass sie dem »Reinertrag«, von welchem aller Reichtum und der allgemeine Fortschritt abhängen, das grösstmögliche Mass zu verleihen imstande ist. »Freiheit des Handels, Freiheit der Bewegung« (laissez faire, laissez passer) müsste daher der Wahlspruch der Regierungen lauten. Die Staatseinkünfte, welche insgesamt diesem Reinertrag zu entnehmen seien, sollten in der unmittelbarsten und einfachsten Weise erhoben werden, nämlich durch eine einzige Abgabe in Gestalt einer Grundsteuer.

Die Theorie insbesondere, dass die Landwirtschaft allein produktive Fähigkeit besitze, entstand aus einer Verwechslung von »Wert« einerseits und »Stoff und Kraft« andrerseits. Wie Smith und andere nachgewiesen haben, war der Versuch, dem Handwerk und dem Handel das Merkmal der »Unfruchtbarkeit« anzuheften, auf einem Irrtum begründet, und mit der Theorie fällt auch der Vorschlag einer einzigen Grundsteuer, welche sich auf jene stützte. Indessen hing der Einfluss, welchen die physiokratische Schule ausübte, nur wenig – wenn überhaupt – ab von diesen speziellen Sätzen, die sogar von einigen ihrer Mitglieder nicht aufrecht erhalten wurden. Tatsächlich wirkte ihre Lehre im grossen ganzen zerstörend. Sie setzte in einer mehr systematischen Gestalt die Bemühungen zu gunsten der Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit fort, welche in England und Frankreich bereits ihren Anfang genommen hatten. Der geschichtliche Beruf der Physiokraten bestand im wesentlichen darin, die Methoden, welche die europäischen Regierungen in ihrer Behandlung dieser Tätigkeit befolgten, gründlich in Verruf zu bringen. Und in der Tat konnte sich eine derartige Kritik in der umfassendsten Weise betätigen: Die Colbert'sche Politik, welche nur vorübergehenden Nutzen zu stiften vermochte, hatte ungerechtfertigte Ausdehnung und Macht erlangt. Die Wirksamkeit der Regierung hatte sich in die kleinsten Einzelheiten des Erwerbslebens gedrängt, und jeder einzelne gewerbliche Vorgang, jedes einzelne Handelsgeschäft war durch gesetzliche Beschränkungen erschwert. Es war im voraus anzunehmen, dass die Reformatoren, dem Geiste der verneinenden Philosophie getreu, die Mängel des bestehenden Systems übertreiben würden. Und zweifellos haben sie die wirtschaftliche Tätigkeit des Staates, sowohl was deren grundsätzliche Berechtigung als was ihre geschichtlichen Aeusserungen anlangt, in zu schroffer Art verurteilt und der Lehre des »Gehenlassens« einen zu unbeschränkten Spielraum angewiesen. Es stand dies jedoch im notwendigen Zusammenhang mit ihren engen Beziehungen zu der revolutionären Bewegung, deren einen Flügel sie tatsächlich bildeten. Im Verlaufe dieser Bewegung war es zur Gewohnheit geworden, sich in Sachen der eigentlichen Politik auf den gesellschaftlichen Urvertrag, auf die Oberherrlichkeit des Volkes und auf nunmehr als unhaltbar erkannte andere Sätze zu berufen, die sich vorübergehend als brauchbare und wirksame Kampfmittel erwiesen. In gleicher Weise wurden innerhalb des wirtschaftlichen Interessenkreises mit zeitweiligem Nutzen als geeignete und dienliche Waffen zur Vernichtung der bestehenden Ordnung angewandt: die Lehren vom natürlichen Rechte, zu kaufen und zu verkaufen, vom aufgeklärten Eigennutz als einem hinlänglichen Wegweiser im gegenseitigen Verkehr, von der Gewissheit, dass jedes Mitglied der Gesellschaft seine wahren Interessen am besten verstehe und verfolge und von der Uebereinstimmung dieser Einzelinteressen mit der öffentlichen Wohlfahrt, obwohl alle diese Aufstellungen einer leidenschaftslosen Prüfung nicht Stand halten können. Das Bestreben der Schule war ohne Zweifel darauf gerichtet, sowohl den Geist des Individualismus als den regierungslosen Zustand zu rechtfertigen. Mag auch ein derartiges Bestreben bei Nationalökonomen der Gegenwart mit Recht eine scharfe Verurteilung erfahren – damals war es entschuldbar, da unvermeidlich. Während es heute der Arbeit des Wiederaufbauens im Wege steht, die unsere Tagesordnung bildet, beschleunigte es damals den Prozess der gesellschaftlichen Zerstörung, welche die notwendige, obgleich bedauerliche Voraussetzung einer neuen gesellschaftlichen Organisation war.

Diese Ansichten über die revolutionären Bestrebungen der physiokratischen Schule verlieren keinesfalls durch die Tatsache, dass die von Quesnay und einigen seiner Hauptanhänger befürwortete Regierungsform ein von ihnen so genannter gesetzlicher Despotismus war, der sowohl die gesetzgebende als die ausführende Gewalt in sich vereinigen sollte. Als Grund dieser Befürwortung machten sie geltend, dass eine aufgeklärte Zentralgewalt die von ihnen verteidigte Politik schneller und nachdrücklicher verwirklichen könne als eine Körperschaft, welche von einander abweichende Ansichten vertrete und durch Verfassungsvorschriften in ihrer Tätigkeit beschränkt und gehindert sei. Wie wir wissen, benützte Turgot die unumschränkte Gewalt der Krone, um einige seiner Massnahmen zur Befreiung der Industrie durchzusetzen, jedoch misslang dieser Plan infolge mangelnder Unterstützung von seiten des charakterschwachen Ludwig XVI. Was aber die Physiokraten unter ihrem Muster einer Regierung verstanden, erhellt aus dem Rat Quesnay's an den Dauphin. Der zukünftige König wurde ermahnt, als solcher »nichts zu tun als die Gesetze regieren zu lassen«, wobei als selbstverständlich angenommen wurde, dass die Gesetze mit dem Naturrecht übereinstimmten. Die Eingenommenheit der Schule für die Landwirtschaft entsprach dem vorherrschenden Gefühl für das »Natürliche« und für ursprüngliche Einfachheit, welches sich zu jener Zeit in so mannigfaltigen Formen in Frankreich äusserte, besonders in Verbindung mit dem revolutionären Geist, und welchem Rousseau den beredtesten Ausdruck verlieh. Bei den physiokratischen Schriftstellern war es zudem begleitet von einer gerechten Entrüstung über den elenden Zustand, welchem die ländliche Bevölkerung Frankreichs durch die schmähliche Gleichgültigkeit der oberen gesellschaftlichen Stände überliefert worden, dessen erschütterndes Gemälde, wie es La Bruyère entwirft, einen unverwischbaren Eindruck hinterlässt. Die Mitglieder der Physiokraten-Gruppe waren zweifellos Männer von gründlicher Rechtschaffenheit, durchdrungen von einem aufrichtigen Streben nach dem allgemeinen Besten und insbesondere nach der materiellen und sittlichen Hebung der arbeitenden Klassen. Quesnay war Leibarzt Ludwig's XV. und hatte seinen ständigen Aufenthalt in dem Palast zu Versailles, aber inmitten dieses lasterhaften Hofes bewahrte er seine moralische Unversehrtheit und sprach freimütig und offen aus, was er für richtig hielt. Und nie hat sich ein Staatsmann mit einheitlicheren Vorsätzen oder mit ernsterem Bemühen in den Dienst seines Vaterlandes gestellt, als Turgot, in praktischer Hinsicht der Hauptvertreter der Schule.

Die Veröffentlichungen, in denen Quesnay sein System darlegte, waren die folgenden Eine vollständige Sammlung der »Oeuvres économiques et philosophiques de Quesnay« hat Oncken 1888 herausgegeben.: Zwei Aufsätze über »Pacht« (fermiers) und über »Getreide« (grains) in der »Encyclopédie« von Diderot und d'Alembert (1756, 1757); eine Abhandlung über das Naturrecht in der »Physiocratie« des Dupont de Nemours (1768); »Allgemeine Grundsätze für die wirtschaftliche Verwaltung eines ackerbautreibenden Reiches« (Maximes générales de gouvernement économique d'un royaume agricole, 1758) und das zu gleicher Zeit erschienene »Wirtschafts-Tableau nebst Erläuterungen« (Tableau économique avec son explication, ou extrait des économies royales de Sully – mit dem berühmten Motto »Arme Bauern, armes Reich; armes Reich, armer König«); »Dialog über den Handel und die Arbeiten der Handwerker« (Dialogue sur le commerce et les travaux des artisans) und andere kleinere Abhandlungen. Das »Tableau économique« kann als die wichtigste Kundgebung der Schule betrachtet werden, obgleich es wegen seiner nüchternen Darstellung und abstrakten Form die allgemeine Aufmerksamkeit nur in geringem Grade erregte. Nach der Meinung der Anhänger Quesnay's konnte es sich den vornehmsten Erzeugnissen menschlicher Weisheit zur Seite stellen. Der ältere Mirabeau bezeichnet es in einer von Adam Smith Völkerreichtum, 4. Buch, 9. Kapitel. angeführten Stelle als eine Erfindung, welche neben jener der Schrift und des Geldes am meisten zur Beständigkeit der staatlichen Gemeinschaften beigetragen habe. Das »Tableau« suchte vermittelst gewisser Formeln die Wege darzustellen, auf denen die Erzeugnisse der Landwirtschaft, welche als einzige Reichtumsquelle angesehen wird, sich in einem Zustand vollkommener Freiheit unter die verschiedenen Klassen der Gesellschaft verteilen würden. Diese Klassen sind die produktiven der Grundbesitzer und der Ackerbautreibenden und die unproduktive, welche sich aus den Handwerkern und Kaufleuten zusammensetzt. Durch weitere Formeln macht das »Tableau« die Verteilungsweisen ersichtlich, welche unter einem System regierungsseitiger Einschränkung und Regelung platzgreifen, sowie die übeln Folgen, welche der Gesamtheit aus den verschiedenen Graden einer solchen Verletzung der natürlichen Ordnung erwachsen. Nach Quesnay's theoretischen Ansichten erfordert vor allem die Vermehrung des »Reinertrags« die ungeteilte Sorgfalt des praktischen Nationalökonomen und des Staatsmanns, auch gelangt er zu der Folgerung, welche Smith späterhin, wenn auch nicht aus ganz denselben Gründen, bestätigte, dass das Interesse des Grundeigentümers »eng und unzertrennlich mit dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft verknüpft sei« Smith, Völkerreichtum, I. Buch, II. Kapitel..

Wie erwähnt, gilt Herr von Gournay als einer der Gründer der physiokratischen Schule und hat anscheinend sogar die Quesnay'schen Anschauungen in ihrem Entstehen beeinflusst. Mit Ausnahme der Uebersetzungen von Culpeper und Child Gournay befand sich zweifellos stark unter englischem Einfluss. Morellet sagt: »Er hatte gute englische Bücher über volkswirtschaftliche Dinge gelesen, wie Petty, Davenant, Gee, Child u.s. w.« – Mémoires I, 38. – verfasste Gournay nur Denkschriften, welche an Minister gerichtet waren und nicht in die Oeffentlichkeit gelangten. Indessen besitzen wir eine vollkommene Darlegung seiner Ansichten in dem »Éloge«, welches sein berühmter Freund Turgot seinem Andenken widmete. Während Quesnay seine Jugend auf dem Lande zugebracht und frühzeitig Gelegenheit gehabt hatte, sich mit den Arbeiten des Feldbaus bekannt zu machen, war Gournay als Kaufmann erzogen worden und hatte das Comptoir verlassen, um das Amt eines Intendanten des Handels zu übernehmen. Sie näherten sich also dem Studium der Volkswirtschaftslehre von verschiedenen Seiten, und diese Verschiedenheit ihres Vorlebens erklärt wohl zum Teil das Auseinandergehen ihrer Ansichten. Gournay milderte die Härten des Quesnay'schen Systems und brachte es der Wahrheit näher durch Verwerfung desjenigen, was Smith dessen »Hauptirrtum« nennt –, nämlich der Theorie von der Unfruchtbarkeit der Gewerbe und des Handels. Seine Bemühungen waren darauf gerichtet, dem Grundsatz der wirtschaftlichen Freiheit Anerkennung und Geltung zu verschaffen, und durch ihn wurde dieser in der seitdem so oft für Gutes und Böses gebrauchten Phrase »Laissez faire et laissez passer« zum Ausdruck gebracht.

Einer der frühesten und ergebensten Anhänger der physiokratischen Richtung, ein glühender und unermüdlicher Förderer ihrer Lehren war Victor Mirabeau, dessen aufrichtiger und unabhängiger, obgleich etwas wunderlicher und launischer Charakter dem englischen Leser aus Carlyle's Aufsatz über seinen berühmteren Sohn bekannt ist. Schon vor Quesnay hatte er einige physiokratische Ansichten geäussert, doch anerkannte er diesen als seinen geistigen Vater und pflichtete dessen meisten Anschauungen bei. Der Hauptunterschied zwischen beiden bestand darin, dass Mirabeau dem landwirtschaftlichen Kleinbetrieb (petite culture) im Gegensatz zum Grossbetrieb (grande culture) günstig gesinnt war, indessen sein Meister letzterem den Vorzug gab, da dieser, wenn auch nicht den grössten Gesamtertrag, so doch den grössten Reinertrag liefere. Mirabeau's Hauptschriften waren »Der Menschenfreund, oder Abhandlung über die Bevölkerung« (Ami des hommes, ou traité sur la population, 1756-1760, deutsch 1795), »Lehre von den Steuern« (Théorie de l'impôt, 1760) und »Die landwirtschaftliche Philosophie oder allgemeine und politische Oekonomie des Ackerbaus« (Philosophie rurale, ou économie générale et politique de l'agriculture, 1763, deutsch von Wichmann, 1797-98). Letzteres Werk war die erste vollständige Darstellung des physiokratischen Systems. Ein weiterer eifriger und beharrlicher Verfechter desselben war Dupont de Nemours (1739-1817), bekannt durch folgende Schriften: »Ueber Getreide-Ein- und Ausfuhr« (De l'exportation et de l'importation des grains, 1764), »Ueber Ursprung und Fortschritt einer neuen Wissenschaft« (De l'origine et des progrès d'une science nouvelle, 1767), »Ueber den Handelsverkehr der Westindischen Gesellschaft« (Du commerce de la compagnie des Indes, 1767). Besondere Aufmerksamkeit verdient sein umfassenderes Werk: »Die Physiokratie, oder natürliche Verfassung der dem Menschengeschlecht vorteilhaftesten Staatsleitung« (Physiocratie, ou constitution naturelle du gouvernement le plus avantageux au genre humain, 1768). Der Titel dieses Werkes gab, wie bereits erwähnt, der Schule den Namen. Eine andere förmliche Darstellung des Systems, auf welche Adam Smith als dessen »klarste und zusammenhängendste Rechenschaft« Bezug nimmt, wurde von Mercier de la Rivière unter dem Titel »Die natürliche und notwendige Ordnung der staatlichen Gemeinschaften« (L'ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, 1767) geliefert, ein Titel, der uns deshalb interessiert, weil er den Gedanken des Naturrechts verkörpert. Sowohl Mercier de la Rivière als Dupont de Nemours wollen die menschlichen Gemeinschaften nicht nur nach ihrer wirtschaftlichen, sondern auch nach ihrer politischen und allgemeinen gesellschaftlichen Seite hin erforschen. Allein ungeachtet dieses umfassenderen Vorhabens beschränkten sich ihre Ansichten in der Hauptsache gewöhnlich auf das wirtschaftliche Gebiet; wenigstens überwiegen in ihren Untersuchungen entschieden materielle Rücksichten. Dies wurde übrigens auch von de la Rivière selbst unbewusst angedeutet, als er sagte: »Eigentum, Sicherheit, Freiheit – diese drei schliessen die gesamte gesellschaftliche Ordnung in sich. Das Eigentumsrecht ist ein Baum, und alle Einrichtungen der Gesellschaft sind seine Zweige«.

Das bedeutendste Mitglied der Gruppe war ohne Zweifel Anne Robert Jacques Turgot (1727-1781). Es kann hier weder eingegangen werden auf seine rühmliche praktische Wirksamkeit, – zuerst als Intendant von Limoges und darauf für einen kurzen Zeitraum als Finanzminister –, noch auf die Umstände, welche seine Entfernung von diesem Amte herbeigeführt haben, noch auf das hieraus folgende Misslingen seiner Bemühungen zur Rettung Frankreichs. Seine volkswirtschaftlichen Ansichten sind dargelegt in den Einleitungen zu den von ihm erlassenen Verordnungen und Vorschriften, in Briefen und gelegentlichen Schriftstücken, besonders aber in seinen »Betrachtungen über die Entstehung und Verteilung des Reichtums« (Réflexions sur la formation et la distribution des richesses, 1766, deutsch von Dorn, eingeleitet von H. Wäntig, 1903.) Es ist dies eine gedrängte, aber ungemein klare und anziehende Darlegung der von den Physiokraten aufgestellten Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. In ihr finden sich allerdings ebenso die irrtümlichen wie die gesunden Ansichten der Schule. Jedoch werden einzelne Gegenstände, namentlich die wechselnden Formen der ländlichen Wirtschaft, die verschiedenen Anlagearten des Kapitals und die Berechtigung des Zinses im allgemeinen ebenso richtig als überzeugend behandelt, und die Art, die Begriffe darzustellen, sowie die lichtvolle Anordnung des Ganzen sind jedenfalls Turgot's Eigentum. Die Abhandlung, welche auf verhältnismässig kleinem Raum überraschend viel an stofflichem Inhalt aufweist, wird stets ihren Platz unter den Klassikern der Wissenschaft behaupten.

Einen bedeutenden unmittelbaren Einfluss auf die grosse Menge erlangte die physiokratische Richtung nie, selbst nicht in ihrem Vaterlande, obwohl sie auf viele der begabteren und einsichtigeren Köpfe nachhaltige Anziehungskraft ausübte. Ihre Mitglieder, welche in ihren Schriften trockene Gegenstände in einem schmucklosen und oft schwerfälligen Styl behandelten, fanden keinen Beifall bei einem Publikum, das vor allen Dingen von denen, welche sich an die Oeffentlichkeit wandten, eine ansprechende Darstellungsweise verlangte. Wie sehr Geistreichigkeit, verbunden mit der Gewandtheit des Ausdrucks, über die zwar gediegene, aber sich schwerfällig bewegende Wissenschaft den Sieg davontragen konnte, zeigte sich in den Plänkeleien Morellet's, eines Anhängers der Schule, mit Galiani Ueber Galiani's dialogues siehe S. 91. Bald nach dem Erscheinen dieses Buches schrieb Turgot an Fräulein Lespinasse: »Meiner Ansicht nach ist es möglich, ihn gründlich abzufertigen, doch erfordert dies viel Geschick. Die Oekonomisten sind zu arglos, um gegen einen solchen geriebenen Krakehler aufzukommen. Was den Abbé Morellet anlangt, so glaube ich nicht, dass er sich hierzu eignet«. Das Werk Morellet's wurde durch den General-Kontrolleur Terray verboten; obgleich im Jahre 1770, einige Monate nach Galiani's Buch gedruckt, gelangte es erst im Jahre 1774 an die Oeffentlichkeit. Adam Smith spricht von Morellet als von »einem hervorragenden französischen Schriftsteller, der grosse Kenntnisse in wirtschaftlicher Hinsicht besitzt«. (Buch 5. Kap. 1.) Die zum Teil wirklich irrtümlichen physiokratischen Programmsätze wurden von vielen als Hirngespinnste angesehen und in der zeitgenössischen Literatur verspottet, so z. B. die »einzige Steuer« von Voltaire in seinem »Mann mit vierzig Talern« (L'homme aux quarante écus), welche Schrift sich besonders gegen Mercier de la Rivière richtete. Mit Recht wurde der Gruppe der Physiokraten gegenüber geltend gemacht, dass sie die Dinge zu einseitig auffassten. Wie Adam Smith bei Erwähnung Quesnay's bemerkt, nahmen sie an, dass der Staat nur unter einer bestimmten Regierungsform – nämlich der von ihnen empfohlenen – gedeihen könne, und glaubten, dass ihre Lehren überall und ohne weiteres im praktischen Leben anwendbar seien In einem Briefe an Morellet, im Jahr 1769, nennt sie Hume »die eingebildetste und anmassendste Gesellschaft, welche es nur geben kann«. Mit Absicht scheint er hierbei die engen Beziehungen Morellet's zu ihnen zu übersehen.. Als Theoretiker nahmen sie nicht genügende Rücksichten auf nationale Verschiedenheiten Turgot sagte: »Wer nicht vergisst, dass es von einander getrennte Staaten mit verschiedenartigen Verfassungen gibt, wird niemals eine volkswirtschaftliche Frage richtig behandeln«. Brief an Frl. Lespinasse, 1770. – oder auf die verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwickelung. Als Politiker vergassen sie die Hindernisse in Anschlag zu bringen, welche Unwissenheit, Vorurteile und Parteiinteressen einer erleuchteten Staatsleitung entgegenstellen. Es ist möglich, dass der Misserfolg Turgot's, wie Grimm vermutet, teilweise verursacht wurde durch die allzu unbeugsame Strenge seiner Politik sowie durch seine Abneigung gegen jeden Ausgleich widerstrebender Interessen. Sicherlich aber trug seine Niederlage dazu bei, den Glauben an seine Grundsätze zu erschüttern, von denen man nunmehr behauptete, dass sie die ihnen auferlegte Probe nicht bestanden hätten.

Nachdem das physiokratische System in einem gewissen Grade die Politik der konstituierenden Versammlung beeinflusst und im Auslande hie und da einen schwachen Widerhall gefunden hatte, verlor es bald den Charakter einer lebendigen Macht. Seine besseren Elemente gingen indessen der Menschheit nicht verloren: sie wurden dem dauerhafteren und vollendeteren Gebäude Adam Smith's einverleibt.

 

Italien.

Während der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entfaltete sich, wie in anderen europäischen Ländern, so auch in Italien nur geringe Regsamkeit auf wirtschaftswissenschaftlichem Gebiet. Indessen gerade in jener Zeit trat ein wahrhaft bedeutender Mann auf, der Archidiakon Salustio Antonio Bandini (1677-1760), Verfasser der bereits 1737 geschriebenen, aber erst im Jahre 1775 veröffentlichten »Abhandlung über die Sieneser Maremma« (Discorso sulla Maremma Sienese). Dieses Werk bezweckte die wirtschaftliche Hebung der Maremma, welche durch den Verfall der Landwirtschaft in eine klägliche Lage geraten war. Als mindestens teilweise Ursache dieses Verfalls wird von Bandini besonders das damals herrschende elende Finanzsystem bezeichnet, und sein Buch gab Veranlassung zu wichtigen Reformen in Toskana, wo sein Name noch in hohen Ehren gehalten wird. Pecchio und andere italienische Schriftsteller wie auch Roscher behaupten, dass er einige leitende Theorien der Physiokraten vorweggenommen habe, doch wird ihm dies Verdienst streitig gemacht.

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist in Italien ein auffälliges Wiederaufleben wirtschaftlicher Forschungen zu verzeichnen, das sich teils auf französischen Einfluss, teils vielleicht auch auf die bessere Regierung in den nördlichen Staaten zurückführen lässt. Diese Bewegung folgte zuerst den Bahnen der merkantilistischen Schule. So überwiegen z. B. in Antonio Broggia's Abhandlung über Geld und Steuern sowie über die staatliche Leitung der Gesellschaft« (Trattati dei tributi e delle monete e del governo politico della società, 1743), und in Girolamo Belloni's Schrift »Ueber den Handel« (Dissertazione sopra il commercio, 1750), welche anscheinend einen ihre Verdienste weit übertreffenden Erfolg und Ruf erlangt hat, entschieden merkantilistische Bestrebungen. Der ausgezeichnetste Schriftsteller jedoch, welcher diese wirtschaftliche Theorie während des letzten Jahrhunderts in Italien vertrat, war der Neapolitaner Antonio Genovesi (1712 bis 1769). Tief berührt von dem gedrückten geistigen und sittlichen Zustand seiner Landsleute, trachtete er nach einer Wiederbelebung der Philosophie und nach einer Umgestaltung des Erziehungswesens, als der ersten Bedingung des Fortschritts und Wohlstandes. Um ihn vor den Verfolgungen zu schützen, die ihm wegen seiner vorgeschrittenen Meinungen von theologischer Seite drohten, gründete Bartolomeo Intieri, auf welchen wir später gelegentlich der Besprechung Galiani's zurückkommen werden, im Jahre 1755, ausdrücklich für Genovesi, einen Lehrstuhl für Handel und mechanische Künste. Eine der Gründungsbedingungen bestand darin, dass niemals ein Mönch diesen Platz einnehmen dürfe. Es war dies die erste Professur für Volkswirtschaftslehre in Europa; die zweite erstand in Stockholm im Jahre 1758, und die dritte wurde zehn Jahre später in der Lombardei für Beccaria gegründet. Die Früchte der Wirksamkeit Genovesi's auf diesem Lehrstuhl waren seine »Vorlesungen über den Handel und die Staatswirtschaft« (Lezioni di commercio, ossia di economia civile, 1769; deutsch von Wichmann, 1772 bis 1776), welche die erste, in Italien erschienene systematische Behandlung des gesamten einschlägigen Stoffs enthielten. Als nachahmenswertes Muster für Italien stellte er England hin, für das er, wie Pecchio sagt, eine fast an Schwärmerei grenzende Vorliebe hegte. Er vermag sich nicht über das falsche Wirtschaftssystem zu erheben, welches zu jener Zeit in England herrschte; doch verwirft er einige der gröberen Irrtümer der von ihm vertretenen Richtung. Er befürwortet Freiheit des Getreidehandels und wendet sich gegen die staatliche Regelung des Darlehens-Zinses. Im Geiste seines Zeitalters weist er hin auf die Ueberbleibsel mittelalterlicher Einrichtungen, wie z. B. die unveräusserlichen Besitztümer der Toten Hand, als auf Hindernisse der nationalen Wohlfahrt.

Ein zweiter hervorragender Anhänger der merkantilistischen Schule war Ferdinando Galiani. Schon vor vollendetem einundzwanzigstem Lebensjahr veröffentlichte er ein Werk über das Geld (Deila moneta libri cinque, 1750), dessen Grundsätze von zwei erfahrenen praktischen Männern, dem Marchese Rinuccini und dem bereits erwähnten Bartolomeo Intieri diktiert sein sollen. Seinen Ruf verdankt er indessen einem in französischer Sprache geschriebenen Buch, das im Jahre 1770 in Paris erschien, wo er den Posten eines Gesandtschaftssekretärs bekleidete. Es ist dies seine Schrift über den Getreidehandel (Dialogues sur le commerce des blés; deutsch von Barkhausen 1777 und von einem ungen. Uebersetzer 1802). Der leichte und gefällige Styl des Buches und der lebhafte Witz, von welchem es übersprudelte, erregten das Entzücken Voltaire's, der es als ein Werk bezeichnete, wie es vielleicht Plato und Molière vereint hätten schaffen können Ebenso auch Grimm: »Das ist Plato mit dem Schwunge und dem Gebahren eines Possenreissers«. Diderot nannte das Buch »ein Muster von Dialogen, welches seinen Platz neben Pascal's Briefen behaupten wird«.. »Der Verfasser«, sagt Pecchio, »behandelte sein trockenes Thema in derselben Weise, in welcher Fontenelle die Wirbel des Descartes oder Algarotti das Newton'sche Weltsystem behandelt hatten«. Veranlassung zu dieser Schrift gab die damals vielbesprochene Frage des freien Getreidehandels und insbesondere die Politik der königlichen Verordnung von 1764, welche die Getreideausfuhr so lange gestattete, als der Preis nicht eine bestimmte Höhe erreicht hätte. Galiani's Ausführungen laufen im allgemeinen darauf hinaus, dass das beste, bezüglich dieses Handels zu befolgende System darin bestehe, überhaupt kein System zu befolgen, da Länder mit verschieden gearteten Verhältnissen auch verschieden behandelt werden müssten. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus erscheint dies als eine lahme und nichtssagende Schlussfolgerung. Zweifellos aber stellten die Physiokraten, gegen welche Galiani sich richtete, über diesen Gegenstand sowie über andere Dinge Regeln auf, die sich für eine sichere, staatsmännische Leitung als zu schroff erwiesen, und er hat sich vielleicht wirklich verdient gemacht, als er gegen ihre einseitige Lösung praktischer Fragen Stellung nahm. Er geriet jedoch in einige der schwerwiegendsten Irrtümer der Merkantilisten, indem er, wie es übrigens auch Voltaire und selbst Verri getan, behauptete, dass ein Land nicht gewinnen könne, ohne dass ein anderes verliere; in seiner früheren Abhandlung ging er sogar so weit, die seitens der Regierung bewirkte Verschlechterung der Geldumlaufsmittel in Schutz zu nehmen.

In der Reihe der italienischen Nationalökonomen, welche sich am meisten unter dem Einfluss des modernen Geistes befanden und aufs engste mit der allgemeinen Bewegung übereinstimmten, welche die Völker Westeuropas einer neuen gesellschaftlichen Ordnung entgegentrieb, nimmt Cesare Beccaria (1738 bis 1794) eine hervorragende Stelle ein. Am meisten bekannt ist er durch sein berühmtes Buch »Ueber die Verbrechen und Strafen« (Dei delitti e delle pene, 1764), das ihn, wie Voltaire sagt, zum Wohltäter des gesamten Europa gemacht hat, und von welchem es Uebersetzungen in zweiundzwanzig Sprachen geben soll. Die Kaiserin Katharina hatte ihn eingeladen, seinen dauernden Aufenthalt in St. Petersburg zu nehmen, und um ihn in der Heimat festzuhalten, errichtete daraufhin die österreichische Regierung der Lombardei für ihn besonders eine Professur der Volkswirtschaftslehre. In seinen »Grundsätzen der Staatswirtschaft« (Elementi di economia pubblica, 1769-1771, indessen erst im Jahre 1804 veröffentlicht) hat er die Früchte seiner Lehrtätigkeit niedergelegt. Dieses Werk ist unvollendet geblieben. Das Gesamtgebiet der Wissenschaft hatte er eingeteilt in Landwirtschaft, Gewerbe, Handel, Besteuerung und Verwaltung, doch bearbeitete er nur die beiden ersten Unterabteilungen in angemessener Weise und die beiden letzten überhaupt nicht, da ihn die Berufung zur Teilnahme an den Verhandlungen des Staatsrats hiervon abhielt. In einem gewissen Grade stand er unter dem Einflusse der physiokratischen Ideen und ist der Ansicht, dass die Landwirtschaft die einzige wirklich produktive Tätigkeitsform sei, während er Manufakturen und Handwerk als eine unfruchtbare Klasse bezeichnet. Er verwarf jede Art von Monopolen und Vorrechten sowie alles Zunftwesen in Handel und Gewerbe. Im allgemeinen befürwortete er warm die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit im Innern, obzwar er in betreff des auswärtigen Handels auf Schutz abzielenden Bestrebungen huldigte. In dem besonderen Falle des Getreidehandels war er, wie Galiani, kein Anhänger unbedingter Freiheit. Seine Darstellung volkswirtschaftlicher Grundsätze ist knapp und übersichtlich. Oft stellt er in mustergültiger Art die wichtigsten auf den behandelten Gegenstand Bezug habenden Betrachtungen an, ohne jedoch dieselben so ausführlich zu entwickeln, wie es vielleicht zwecks einer erleichterten Auffassung und stärkeren Ueberzeugung erwünscht wäre. So gibt er über unbewegliches Kapital (capitali fondatori), als verschieden vom beweglichen (annui), was die Anwendung desselben in der Landwirtschaft anlangt, in gedrängter Form im wesentlichen die gleichen Erklärungen, wie sie Turgot ungefähr um dieselbe Zeit brachte. Auch in betreff der Arbeitsteilung und der Umstände, welche in verschiedenen Beschäftigungsarten verschiedene Lohnsätze verursachen, kommt er in der Hauptsache Adam Smith nahe, ohne jedoch in der Schilderung der Einzelheiten eine solche Fülle zu entwickeln, wie sie dem »Völkerreichtum« ein so anziehendes Gepräge verleiht.

Pietro Verri (1728-1797), ein vertrauter und lebenslänglicher Freund Beccaria's, war fünfundzwanzig Jahre lang einer der Hauptleiter der lombardischen Verwaltung, in welcher Eigenschaft er viele wirtschaftliche und andere Reformen veranlasste. In seinen »Betrachtungen über einschränkende Gesetze, mit besonderer Bezugnahme auf den Getreidehandel« (Riflessioni sulle leggi vincolanti, principalmente nel commercio de' grani, geschrieben 1769, gedruckt 1796) untersucht er die Frage der Regelung des Getreidehandels sowohl vom Standpunkt der Geschichte als im Lichte theoretischer Grundsätze und gelangt dabei zu dem Schlusse, dass die Freiheit das beste Heilmittel gegen Hungersnot und übermässige Preisschwankungen sei. Im allgemeinen ist er ein Gegner des staatlichen Eingreifens in den inneren Verkehr wie der Zünfte, desgleichen der Versuche einer Beschränkung der Preise oder einer Festsetzung des Zinsfusses. Doch will er die heimische Industrie durch einen verständig eingerichteten Tarif geschützt wissen. Diese Anschauungen sind dargelegt in seinen »Betrachtungen über die Volkswirtschaft« (Meditazioni sull' economia politica, 1771, deutsch von Schmid, 1785), einem Lehrbuch dieser Wissenschaft, welches günstige Aufnahme fand und in verschiedene fremde Sprachen übersetzt wurde. Einer seiner Hauptgrundsätze ist dasjenige, was er die Vermehrung der Reproduktion nennt – das heisst in der Sprache Smith's die Vermehrung des »jährlichen Produkts des Bodens und der Arbeit« einer Nation, und jede Massregel, jede Einrichtung beurteilt er nach ihrer Geeignetheit, diese Vermehrung zu befördern oder einzuschränken. Daher gibt er, im Gegensatz zu Beccaria, dem landwirtschaftlichen Kleinbetrieb den Vorzug vor dem Grossbetrieb, da jener einen höheren Gesamtertrag liefere. Bei der Behandlung des Steuerwesens verwirft er den physiokratischen Vorschlag einer einzigen Grundsteuer In seinen »Grundsätzen der polit. Oekonomie« (deutsch von Soetbeer) 1. Buch, 1. Kapitel, rechnet es Mill seinem Vater als Verdienst an, zuerst erläutert und darauf hingewiesen zu haben, dass »Alles, was der Mensch mit dem Stoff tut oder tun kann«, darin bestehe, »einen Gegenstand von einem andern hinwegzunehmen oder einem andern hinzuzufügen«, und nennt dies seltsamer Weise »einen Fundamentalsatz der Volkswirtschaftslehre«. Aber schon Verri hat dasselbe in seinen »Meditazioni« sect. 3, klar ausgesprochen: »Die gedankliche Zergliederung des Begriffes der Reproduktion wird als dessen einzige Bestandteile das Trennen und Zusammenfügen von Gegenständen ergeben«..

Giovanni R. Carli (1720-1795), ebenfalls amtlich bei der Förderung der Reformen in der Verwaltung der österreichischen Lombardei beteiligt, verfasste neben gelehrten und gründlichen Abhandlungen über die Theorie des Geldes die »Ansichten über die Wirtschaftsbilanzen der Völker« (Ragionamenti sopra i bilanci economici delle nazioni). In diesem Werke widerlegt er die Anschauung, dass ein Staat im auswärtigen Verkehr je nach dem Stande der sogenannten Handelsbilanz verliere oder gewinne. Einen Standpunkt, welcher dem Galiani's nahekommt, nimmt er ein in seinem Briefe an Pompeo Neri »Ueber die Freiheit des Getreidehandels« (Sul libero commercio de' grani, 1771), indem er die Frage des unbeschränkten Getreidehandels nicht so sehr als eine wissenschaftliche als eine die Verwaltung angehende betrachtet, die unter abweichenden örtlichen oder anderen Bedingungen eine verschiedenartige Behandlung erfordere. Unter Verwerfung der physiokratischen Lehre von der ausschliesslichen Produktivität der Landwirtschaft schildert er anziehend die Notwendigkeit der verschiedenen wirtschaftlichen Klassen innerhalb einer Gemeinschaft sowie die günstige Rückwirkung, welche die Gewerbe auf die Bewirtschaftung des Bodens ausüben.

Giambattisla Vasco (1733-1796) schrieb auf Veranlassung von Universitäten und Souveränen Abhandlungen über verschiedene Fragen. Er verurteilte in ihnen das Zunftwesen und die von Regierungen ausgehenden Versuche, die Brotpreise festzusetzen und den Darlehnszins zu beschränken. Gelegentlich seiner Befürwortung des bäuerlichen Besitzsystems stellt er anheim, auf gesetzlichem Wege das grösste und kleinste Mass des Grundeigentums zu bestimmen, welches ein Bürger besitzen dürfe. Ferner macht er zur Verhütung einer ungesunden Vermögenshäufung den Vorschlag, das Recht der Testierfreiheit abzuschaffen und die gleiche Teilung der Erbschaft unter die Kinder der Erblasser einzuführen.

Gaëtano Filangieri (1752-1788), einer der italienischen Schriftsteller des letzten Jahrhunderts, deren Namen weit und breit in Europa bekannt sind, widmete der Behandlung wirtschaftlicher Fragen das zweite Buch seiner »Theorie der Gesetzgebung« (Scienza della legislazione, 5 Bände, 1780-1785, deutsch von Link, 1784-93). Von dem lebhaften Streben nach Besserung der Zustände und von einer glühenden Vaterlandsliebe erfüllt, benutzte er seine hinreissende Beredtsamkeit zur Aufdeckung aller Missstände seiner Zeit. Anscheinend ohne Adam Smith zu kennen, besteht er auf unbeschränkter Handelsfreiheit, beansprucht die Abschaffung der mittelalterlichen Einrichtungen, welche die Produktion und die Wohlfahrt des Volkes hemmten, und verurteilt das zu jener Zeit von England, Spanien und Holland befolgte Kolonialsystem. Er prophezeit, wie dies vor ihm bereits Raynal, Turgot und Genovesi getan, dass das gesamte Amerika dereinst unabhängig sein werde, eine Voraussage, welche jedenfalls dazu beitrug, die Bewunderung hervorzurufen, welche Benjamin Franklin seinem Buche zollte. Mehr Verbreiter als Entdecker von Ideen, eignete er sich zuweilen die irrtümlichen Meinungen anderer an, wie dies z. B. seine Billigung der »einzigen Steuer« der Physiokraten beweist. Im grossen ganzen jedoch vertritt er die fortgeschrittensten politischen und sozialen Bestrebungen seines Zeitalters, und während er, sowohl was Veranlagung als was Schreibweise anlangt, einen starken Gegensatz zu Beccaria darstellt, arbeitete er doch würdig mit diesem zusammen in der Sache des nationalen und allgemeinen Fortschritts.

Ludovico Ricci (1742-1799) war Verfasser eines von Fähigkeit zeugenden Berichtes über die Reform der Wohltätigkeitsanstalten in der Stadt Modena (Sulla riforma degli istituti pii della città di Modena, 1787). Er behandelt das Thema der Armenpflege und der Wohltätigkeitsanstalten so umfassend, dass dem Werke ein allgemeines und dauerndes Interesse innewohnt. Eingehend schildert er die übeln Folgen einer unterschiedslosen Unterstützung, welche sowohl eine Vermehrung des Elendes nach sich ziehe, das sie entfernen wolle, als den sittlichen Charakter der Bevölkerung erniedrige. Insbesondere legt er die mit Entbindungsanstalten und Findelhäusern verknüpften Missbräuche dar. Vieles bei ihm zeugt von einer Verwandtschaft mit Malthus'schen Ansichten; wie dieser ist er ein Gegner irgend welcher staatlichen Fürsorge zu gunsten der Armen, welche seiner Meinung nach am besten der freiwilligen Privatwohltätigkeit zu überlassen sind.

Ferdinand Paoletti (1717-1801) war ein hervorragender und für das öffentliche Wohl beseelter Priester, der viel zur Verbreitung der Bildung unter der ländlichen Bevölkerung Toskana's beitrug und für die Erleichterung der auf dieser lastenden Steuern wirkte. Er stand in schriftlichem Verkehr mit Mirabeau, dem Verfasser des »Menschenfreundes«, und scheint sich die physiokratische Lehre, wenigstens in ihrem allgemeinen Inhalt, angeeignet zu haben. Seine Schriften sind: »Gedanken über die Landwirtschaft« (Pensieri sopra l'agricoltura, 1769) und »Die wahren Mittel, der Gesellschaft zur Glückseligkeit zu verhelfen«, (I veri mezzi di render felici le società, 1772); in der letzteren tritt er für die Freiheit des Getreidehandels ein.

Die noch heute lesenswerte Schrift »Der Colbertismus« (Il Colbertismo, 1791, deutsch von Utzschneider, 1794) des Grafen Francesco Mengotti ist eine kräftige Verwahrung gegenüber der übertriebenen Verbots- und Schutzzollpolitik. Mengotti schrieb auch eine Abhandlung über den Handelsverkehr der Römer (Del commercio de' Romani, 1791), welche sich hauptsächlich gegen die Ueberspanntheiten eines Huet in dessen »Geschichte des Handels und der Schiffahrt der Alten« (Histoire du commerce et de la navigation des anciens, 1716) richtete und insofern von Nutzen ist, als sie den grossen Unterschied zwischen den Zivilisationen des Altertums und der Neuzeit hervorhebt.

Schliesslich mag hier noch eines anderen italienischen Denkers Erwähnung geschehen, der, von hervorragender Ursprünglichkeit und sogar Seltsamkeit, nicht leicht in der Reihe seiner Zeitgenossen unterzubringen ist, obgleich einige festländische Schriftsteller unseres Jahrhunderts einen ähnlichen Gedankengang entwickelt haben. Es ist dies Giammaria Ortes (1713-1790). Den freisinnigen Bestrebungen seiner Zeit steht er feindlich gegenüber, indessen hängt er den Lehren des Merkantilsystems nicht an, da er die Theorie der Handelsbilanz verwirft und Verkehrsfreiheit verlangt. Sein gesellschaftliches und wirtschaftliches Vorbild findet er im Mittelalter. Er befürwortet die Erhaltung des kirchlichen Vermögens, zeigt sich als Gegner der stetig aufstrebenden Macht des Geldes und hegt die mittelalterliche Abneigung gegen den Darlehnszins. Er hat die sonderbare Ansicht, dass sich der Reichtum staatlicher Gemeinschaften immer und überall in einem feststehenden Verhältnis zu deren Bevölkerung befinde, wobei letztere durch ersteren bestimmt werde. Die Armut begleite daher notwendig den Reichtum, und die Begüterten gewännen dadurch, dass sie reich würden, nur das, was die Armen verlieren. Die Bemühungen derer, welche für eine Besserung in der Lage des Volkes eintreten, seien so lange vergeblich, als ihr Streben auf die Vermehrung der Summe des Nationalreichtums gerichtet sei. Eine Aenderung dieser letzteren liege ausser dem Bereiche menschlichen Könnens, während eine veränderte Verteilung dieses Reichtums möglich sei. Das wahre Heilmittel gegen die Armut bestehe in der Mässigung der bei Reichen und Geschäftsmenschen vorhandenen Gewinnsucht. In einem besonderen Werke befasste sich Ortes mit dem Studium der Bevölkerungsfrage. Die Zunahme der Volkszahl bezeichnete er als eine »geometrische«, aber er gelangt zu der Erkenntnis, dass, gleichwie der Vermehrung unter den niederen Tieren eine Grenze durch deren gegenseitige Vernichtung gesetzt sei, eine solche auch bei der menschlichen Gattung in der »Vernunft« bestehe – die »weise Beschränkung«, von welcher Malthus später so viel Wesen machte. Die Einrichtung des Zölibats hält er für ebenso notwendig und nützlich als diejenige der Ehe. Er spricht auch aus, was seitdem als das »Gesetz des abnehmenden Ertrags der landwirtschaftlichen Tätigkeit« bekannt geworden ist. Um die Verbreitung seiner Schriften kümmerte er sich wenig. Sie blieben daher fast gänzlich unbekannt, bis sie der Custodi'schen Sammlung italienischer Nationalökonomen einverleibt wurden und dort grosse Aufmerksamkeit erregten durch die vereinten Eigenschaften des Scharfsinns und der Wunderlichkeit, welche den geistigen Charakter ihres Verfassers auszeichneten.

 

Spanien.

Der Odem einer neuen Zeit, welcher im übrigen Europa die Luft erfüllte, machte sich auch in Spanien fühlbar.

In der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hatte Geronimo Ustariz seine »Theorie und Praxis des Handels und der Schiffahrt« (Teorica y practica del comercio y marina, 1724, erschienen 1740; engl. Uebersetzung von John Kippax, 1751, französisch von Forbonnais, 1753) geschrieben, in welcher er die merkantilistischen Grundsätze auf die Spitze treibt.

Der reformierende Geist der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war in diesem Lande am besten durch Pedro Rodriguez, Graf von Campomanes, vertreten (1723-1802). Mit grossem Eifer verfolgte er dieselben Studien und in gewissem Grade dieselbe Politik, wie sein berühmter Zeitgenosse Turgot, ohne jedoch den vorgerückten Standpunkt desselben zu erreichen. Er war Verfasser von »Fiskalische Erwägungen über die Abschaffung der Taxen und die Regelung des Getreidehandels« (Respuesta fiscal sobre abolir la tasa y establecer el comercio de granos, 1764), »Abhandlung über die Förderung des Gewerbefleisses« (Discurso sobre el fomento de industria popolar, 1774, deutsch von Göritz, 1778), »Abhandlung über die Heranbildung der Handwerker durch allgemeine Volkserziehung« (Discurso sobre la educacion de los artesanos y su fomento, 1775). Durch diese Schriften, die mit Recht von Robertson History of America, note 193. lobend erwähnt werden, sowie durch seine persönliche Wirksamkeit als Minister suchte er dem Getreidehandel Freiheit zu verschaffen, die mittelalterlichen Ueberbleibseln entstammenden Hindernisse der industriellen Entwickelung zu beseitigen, die gewerbliche Tätigkeit auf eine möglichst hohe Stufe zu bringen und die Landwirtschaft von den äusserst drückenden Lasten zu befreien, denen sie unterworfen war. Er erkannte, dass Spanien, ungeachtet der aufgeklärten Verwaltung Karls III., noch immer an den Uebeln krankte, welche das blinde Vertrauen seines Volkes auf die Goldminen Amerikas hervorgerufen hatte, und bemühte sich angelegentlich um die Verbreitung der Lehre, dass die wahren Quellen des Wohlstands und der Macht seines Landes nicht in Amerika, sondern in der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit zu suchen seien. Wie Comte treffend bemerkt Philosophie positive, vol. V, p. 579., richtete sich sowohl in Italien als in Spanien das Streben nach einer gesellschaftlichen Veränderung hauptsächlich auf wirtschaftliche Reformen, weil der dort von den Regierungen ausgeübte Druck ein so ausgedehntes Mass von Denkfreiheit auf den Gebieten der Philosophie und der allgemeinen Staatslehre nicht gestattete, wie es in Frankreich möglich war. In Italien gaben ausserdem, wie hinzugefügt werden möge, die Ueberlieferungen der grossen wirtschaftlichen Vergangenheit der nördlichen Städte dieses Landes Veranlassung, die Aufmerksamkeit ganz besonders der wirtschaftlichen Seite der staatlichen Politik und Gesetzgebung zuzuwenden.

 

Deutschland.

Wir haben gesehen, dass in Italien und England die Volkswirtschaftslehre ihren Anfang nahm mit der Untersuchung praktischer Fragen, welche sich hauptsächlich auf das Geld oder auf den auswärtigen Handel bezogen. In Deutschland entstand sie (wie Roscher gezeigt hat) aus den sogenannten kameralistischen Wissenschaften. Bald nach dem Schlusse des Mittelalters bestand in den meisten deutschen Ländern eine Behörde, die »Kammer« (camera), welcher die Verwaltung der staatlichen Domänen und die Aufsicht über die Hoheitsrechte (Regalien) oblag. Der Kaiser Maximilian wurde durch das Bestehen dieser Einrichtung in Burgund veranlasst, in Nachahmung derselben Hofkammern in Innsbruck und Wien – 1498 und 1501 – zu gründen. Diesen Behörden wurden nicht nur das Finanzwesen und die Steuern anvertraut, sondern auch Angelegenheiten der Wirtschaftspolizei. Für ihre Mitglieder machte sich eine besondere Vorbildung notwendig, und es wurden an den Universitäten Lehrstühle der Kameralistik gegründet, auf welchen der geeignete theoretische Stoff zum Vortrag gelangte. Die eine Seite des in dieser Weise erteilten Unterrichts entlehnte ihr Material den Wissenschaften der äusseren Natur, indem sie das Forstwesen, den Bergbau, die allgemeine Gewerbskunde und ähnliches behandelte; die andere befasste sich mit den Bedingungen des nationalen Wohlstandes in seiner Abhängigkeit von menschlichen Verhältnissen und Einrichtungen, und aus dieser letzteren entwickelte sich zuerst die deutsche Volkswirtschaftslehre.

In keinem Lande fanden die merkantilistischen Anschauungen einen stärkeren Rückhalt als in Deutschland, obgleich während des Zeitraums, den wir jetzt im Auge haben, nirgends das System der Handelsbilanz eine weniger ausgedehnte praktische Anwendung erfuhr als gerade dort. Alle bedeutenderen Nationalökonomen des siebzehnten Jahrhunderts – Bornitz, Besold, Klock, Horneck, Seckendorf und Schröder – standen auf dem gemeinsamen Boden der merkantilistischen Lehre. Ganz dasselbe kann auch von den Schriftstellern der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts im allgemeinen gesagt werden, und besonders von Justi (gest. 1771), welcher als Verfasser der ersten in deutscher Sprache geschriebenen systematischen Darstellung der Volkswirtschaftslehre bekannt ist, eines Werkes, das vermöge seiner Eigenschaft als Lehrbuch grosse Verbreitung fand und die öffentliche Meinung stark beeinflusste. Nur bei Zincke (1692-1769) begegnen wir gelegentlichen Anzeichen von dem Bestehen eines Gedankenkreises, der von dem herrschenden System abweicht und auf wirtschaftliche Freiheit hinzeigt. Diese Schriftsteller sind indessen, wenn man sie nicht vom nationalen Standpunkt aus betrachtet, von geringer Bedeutung, da sie auf die allgemeine Bewegung des europäischen Denkens keinerlei Einfluss ausgeübt haben.

Die Grundsätze des physiokratischen Systems begegneten in Deutschland einer ziemlich günstigen Aufnahme. Karl Friedrich, Markgraf von Baden, schrieb für seine Söhne in französischer Sprache einen »Abriss der volkswirtschaftlichen Grundsätze« (Abrégé des principes d'économie politique, 1772, deutsch von Sass, 1784), in welchem er sich mit den Lehren jenes Systems im Einklang befindet. Das Buch ist jedoch von geringer wissenschaftlicher Bedeutung. Schlettwein (1731-1802) und Mauvillon (1743-1794) hingen derselben Richtung an. Auch Theodor Schmalz (1764-1831), welcher gewöhnlich der »Letzte der Physiokraten« genannt wird, mag hier Erwähnung finden, obgleich einigermassen ausserhalb der geschichtlichen Ordnung. Er vergleicht den Colbertismus mit dem Ptolemäischen System und den Physiokratismus mit jenem des Copernicus. Adam Smith ist für ihn der Tycho Brahe der Volkswirtschaftslehre – ein Mann von ausgezeichneten Fähigkeiten, welcher der Macht der physiokratischen Wahrheit nicht zu widerstehen vermochte, jedoch sich einerseits von eingewurzelten Vorurteilen nicht losmachen konnte und anderseits nach dem Ruhm eines Entdeckers und eines Vermittlers von einander abweichender Systeme strebte. Obgleich Smith damals »in Mode« war, zweifelte doch Schmalz nicht im mindesten daran, dass Quesnay's Lehre die allein wahre sei und in kurzem überall den Sieg davontragen müsse Roscher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland, S. 498..

Unmittelbar vor dem Auftreten Smith's versuchte in Oesterreich Sonnenfels (1733-1817), der erste bedeutende Nationalökonom dieses Landes, das Merkantilsystem in einer veränderten und aufgeklärteren Form darzustellen, wie dies in England Steuart und in Italien Genovesi getan, und sein Werk »Grundsätze der Polizei, Handlung und Finanz« (1765; 8. Aufl. 1822) beeinflusste sogar während eines geraumen Teils des neunzehnten Jahrhunderts die Anschauungen und die staatliche Politik seines Vaterlandes.

Der grösste deutsche Nationalökonom des achtzehnten Jahrhunderts war jedoch, nach Roscher's Ansicht, Justus Moser (1720-1794), der Verfasser der »Patriotischen Phantasien« (1774-86), einer Reihe von Bruchstücken, die von Goethe nichtsdestoweniger als ein »wahrhaftes Ganzes« bezeichnet werden. Dieser Dichter wurde in seiner Jugend stark von Moser beeinflusst, und in »Dichtung und Wahrheit« (Buch 13) preist er Geist, Verstand und Charakter dieses Mannes und seine gründliche Einsicht in alles, was in der gesellschaftlichen Welt vorgeht. Während andere sich mit höheren und mehr hervortretenden öffentlichen Angelegenheiten und Verrichtungen beschäftigten, beobachtete und schilderte Moser das Alltagsleben seines Volkes und die tausend »Kleinigkeiten«, aus welchen das Gewebe des Volksdaseins zusammengesetzt ist. Das Anheimelnde, Schwungvolle und Frische in seinen Schriften hat Anlass gegeben, ihn mit Franklin zu vergleichen. Seine Anschauungen sind denen des Italieners Ortes verwandt. Er ist ein Gegner des gesamten Geistes der »Aufklärung« und der freien und rationalistischen Richtung, welcher Smith bald darauf in seinem Werke Ausdruck verlieh. Er ist nicht nur konservativ, sondern rückschrittlich, da er eine Vorliebe für mittelalterliche Einrichtungen, wie z. B. die Zünfte, hegt und, wie Carlyle in unserer Zeit, sogar die Leibeigenschaft jener Art Freiheit vorzieht, wie sie der moderne Lohnsklave geniesst. Dem Anwachsen der Geldmacht und des gewerblichen Grossbetriebs wie der hochentwickelten Arbeitsteilung steht er feindselig gegenüber. Er wendet sich gegen die Unbeschränktheit des privaten Grundeigentums und würde gern ein System der Gebundenheit wieder aufleben sehen, wie es zum Nutzen des Staates, der Gemeinde und der Familie dem mittelalterlichen Eigentumsrecht auferlegt war. In seiner wunderlichen und scharfen Schreibweise tadelt er oft wirksam die doktrinäre Beengtheit seiner Zeitgenossen, äussert er manchen überraschenden Gedanken und wirft insbesondere helle Schlaglichter auf die wirtschaftlichen Erscheinungen und allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse des Mittelalters.


Adam Smith, seine unmittelbaren Vorgänger und seine Nachfolger.

 

England.

Der Stillstand, welcher sich auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Forschens in England seit Beginn des achtzehnten Jahrhunderts bemerklich machte, wurde bis 1735 durch keine erwähnenswerte Kundgebung unterbrochen. In diesem Jahre entwickelte der Bischof Berkeley in seinem »Querist« mit vieler Kraft und Schärfe Anschauungen, welche die Lehren der merkantilistischen Schule über die Natur des Volksreichstums und über die Verrichtungen des Geldes bekämpften, obzwar es ihnen nicht an einer Beimischung schwerer Irrtümer fehlte. Bald darauf aber zeigte sich ein Fortschritt entschiedenerer Art. Unterdessen in Frankreich die Physiokraten in ihrer Weise an dem Aufbau eines endgültigen Systems der Volkswirtschaftslehre arbeiteten, war ein schottischer Denker ersten Ranges damit beschäftigt, in einer Reihe von kurzen, aber äusserst klar geschriebenen Aufsätzen einige der Grundbegriffe dieser Wissenschaft zu erläutern. Alles, was über diese Gegenstände vor ihm in englischer Sprache geschrieben worden, hatte sich fast durchgängig in den Grenzen des unmittelbar Praktischen gehalten. Bei Locke war allerdings das Gesamtsystem der neueren kritischen Philosophie mit dem wirtschaftlichen Forschen in Berührung getreten, aber diese Beziehungen waren nur teilweise und unklare. Hume (1711-1776) dagegen vertrat die fortgeschrittenste Gestalt jener Philosophie, und sein Erscheinen auf dem Felde der Volkswirtschaftstheorie ist ein deutlicher Beweis der engen Verwandtschaft dieses Forschungsgebietes mit dem umfassendsten und gründlichsten Wissen von der menschlichen Natur und der Geschichte des Menschengeschlechts. Die meisten der hier in Betracht kommenden Aufsätze erschienen zuerst im Jahre 1752 in einem »Politische Abhandlungen« (Political discourses, deutsch von Krauss, 1800, und von Niedermüller, 1876) betitelten Bande, welchem sich im folgenden Jahre die Sammlung von »Versuchen und Aufsätzen über verschiedene Gegenstände« (Essays and treatises on several subjects) anschloss. Als die wichtigsten dieser Abhandlungen sind zu nennen jene über den Handel, über das Geld, über den Zins und über die Handelsbilanz. Man wird jedoch diese von den übrigen nicht trennen dürfen, denn obwohl die kleinen Aufsätze auch des äusseren Zusammenhanges entbehren, ist doch allen eine tiefe Einheit des Gedankens gemeinsam, so dass sie tatsächlich in gewissem Sinne ein wirtschaftswissenschaftliches System bilden. Sie bekunden überall die ihrem Verfasser eigene bewundernswerte und ihn zuweilen sogar zu paradoxen Aufstellungen führende Schärfe und Feinheit des Denkens, die Weite seiner Anschauungen, seine Vorurteilslosigkeit sowie die sozialen Sympathien, welche einen seiner grössten Vorzüge bilden. Im übrigen zeichnen sie sich aus durch leichte und natürliche Schreibweise und liefern den Beweis einer seltenen Fähigkeit lichtvoller Darstellung.

In seinem Aufsatze über das Geld widerlegt er den merkantilistischen Irrtum, welcher zur Verwechselung desselben mit dem Reichtum führte. »Menschen und Güter«, sagt er, »sind die wirkliche Stärke einer Gemeinschaft«. »Alle wirkliche Macht und aller wirkliche Reichtum besteht im nationalen Arbeitsvermögen«. Das Geld sei nur das Oel, welches die Bewegungen des Verkehrsmechanismus glatter und leichter vor sich gehen lässt. Er zeigt, dass vom heimischen Gesichtspunkt aus, als verschieden von dem internationalen, die zu einem feststehenden Betrage angenommene Geldmenge innerhalb eines Landes von keiner Bedeutung sei, während andererseits ein Ueberschuss, d. h. mehr als der internationale Warenaustausch erfordere, schädlich werden könne, indem er die Preise erhöhe und die Ausländer von den heimischen Märkten vertreibe. An einer oder zwei Stellen äussert er sich sogar dahin, dass der Wert des Geldes vornehmlich auf Einbildung und Uebereinkunft beruhe, eine Behauptung, welche nicht aufrecht erhalten werden kann und ihm übrigens auch nicht allzuhoch angerechnet werden darf, da sie ihm nicht als Grundlage weiterer Ausführungen dient. Er macht einige sehr scharfsinnige Bemerkungen (die allerdings inzwischen von J. S. Mill bestritten worden) über die anspornende Wirkung, welche eine Vermehrung der Geldmenge auf die Industrie eines Landes solange ausübe, als sich dieser zusätzliche Betrag noch nicht genügend verbreitet habe, um eine Aenderung der gesamten Preisskala herbeizuführen. Ferner zeigt er, dass die Befürchtung, das Geld einer industriellen Gemeinschaft könne dieser verloren gehen, sobald es in fremde Länder ausgeführt werde, eine grundlose sei, und dass unter einem freiheitlichen System die den Erfordernissen des Handels sich anpassende Verteilung der Edelmetalle von selbst geschehe. »Kurzum, eine Regierung hat allen Grund, um die Erhaltung ihres Volkes und ihrer Manufakturen besorgt zu sein; ihr Geld kann sie ohne Furcht oder Eifersucht getrost dem Laufe menschlicher Dinge anvertrauen.«

Eine äusserst wichtige Leistung ist seine Behandlung des Zinsfusses. Die oft gehegte irrige Anschauung, dass er abhängig sei von der innerhalb eines Landes vorhandenen Geldmenge, wird von ihm als solche blossgestellt, und er beweist, dass ein niedriger Zinsfuss vielmehr sich im allgemeinen ergeben müsse »aus vermehrtem Fleiss und vermehrter Sparsamkeit, aus dem Gedeihen vom Gewerbe und Handel« und gewissermassen als Barometer diene, insofern er ein nahezu untrügliches Zeichen der blühenden Lage eines Volkes sei. Es mag nebenbei bemerkt werden, dass er in dem diesem Thema gewidmeten Aufsatze eine Grundeigenschaft der menschlichen Natur hervorhebt, welche von den Nationalökonomen zu häufig übersehen wird, – »das beständige und unersättliche Streben des Geistes, sich zu betätigen und zu beschäftigen«, und die sich hieraus ergebende Wirkung der Langeweile (ennui) als eines Antriebs zur Kraftäusserung.

Was den Handel anlangt, so deutet er hin auf dessen natürliche, seitdem als »Arbeitsteilung nach Ländern« bezeichnete Grundlage und beweist, dass der Wohlstand einer Nation den ihrer Nachbarn eher fördere als hindere. »Nicht nur als Mensch«, sagt er, »sondern als britischer Untertan bete ich für einen blühenden Handel Deutschlands, Spaniens, Italiens und selbst Frankreichs«. Er verurteilt die »zahllosen Schranken, Hindernisse und Abgaben, welche alle Nationen Europas, und keine im höheren Grade als England, dem Handel auferlegt haben«. In der Frage des Schutzes der nationalen Industrie nimmt er jedoch keinen entschieden freihändlerischen Standpunkt ein; so billigt er eine Steuer auf deutsche Leinwand als ein Mittel zur Ermunterung des heimischen Gewerbes sowie eine solche auf Branntwein, um hierdurch den Absatz von Rum zu steigern und somit die westindischen Kolonien Englands zu unterstützen. Nicht ohne Grund ist die Bemerkung gemacht worden, es fänden sich bei ihm verschiedene Spuren eines geläuterten Merkantilismus, und er vertrete einen Stand der Ansichten, in welchem der Uebergang von den alten zu den neuen Anschauungen noch nicht völlig beendigt sei.

Seine beiden Abhandlungen über Steuern und über öffentlichen Kredit können wir hier nur vorübergehend erwähnen. In der ersteren bekämpft er unter anderem die »einzige Steuer« der Physiokraten. In der letzteren kritisiert er »die neuerliche seltsame Behauptung, dass öffentliche Schulden, abgesehen von ihrer Entstehungsursache, an sich vorteilhaft wären«, und verwirft, vielleicht zu einseitig, den modernen Ausweg, die für nationale Unternehmungen erforderlichen Geldmittel auf dem Wege der Anleihe zu beschaffen und so die Bürde der Gegenwart der Nachwelt aufzulasten.

Von den charakteristischen Eigentümlichkeiten Hume's sind für die Geschichte wirtschaftlicher Forschung von grösster Bedeutung: Erstlich sein Verfahren, die wirtschaftlichen Tatsachen mit all' den gewichtigen Interessen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens in Verbindung zu bringen, und zweitens sein Bestreben, den geschichtlichen Geist in das Studium dieser Tatsachen einzuführen. Vortrefflich erläutert er die gegenseitigen Wirkungen der verschiedenen Zweige der wirtschaftlichen Tätigkeit sowie den Einfluss des Fortschritts in den Künsten der Produktion und im Handelsverkehr auf die allgemeine Zivilisation, schildert er ferner die schlagenden Gegensätze der Lebenssysteme des Altertums und der Neuzeit (vgl. insbesondere den Aufsatz über die Bevölkerung der Staaten des Altertums – On the populousness of ancient nations –) und würdigt er fast jede Erscheinung, die ihm irgendwie zu Erörterungen Anlass gibt, in ihren Beziehungen zur entsprechenden Stufe der gesellschaftlichen Entwickelung. Es steht ausser Zweifel, dass Hume gewaltigen Einfluss auf Adam Smith ausübte. In seinem »Völkerreichtum« nennt ihn dieser »den bei weitem berühmtesten Philosophen und Geschichtsschreiber des gegenwärtigen Jahrhunderts«, und schätzte seinen Charakter so hoch, dass er ihm nach einer vieljährigen, mit dem Tode Hume's endenden Freundschaft das Zeugnis ausstellte, »er sei dem Ideal eines vollkommen weisen und tugendhaften Mannes so nahe gekommen, als es vielleicht die menschliche Schwachheit je gestatte«.

Josiah Tucker, Dekan von Gloucester (gest. 1799), nimmt unter den unmittelbaren Vorgängern Adam Smith's eine hervorragende Stelle ein. Die meisten seiner zahlreichen Schriften betrafen fast ausschliesslich Fragen seiner Zeit und ermangeln daher des dauernden Interesses, obwohl sie sich durch Gelehrsamkeit und Scharfsinn auszeichnen. In einigen erörterte er die falsche Politik der dem Handel Irlands auferlegten Beschränkungen, befürwortete die Vereinigung dieses Landes mit England und empfahl die Anerkennung der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten Amerikas. Die wichtigsten seiner volkswirtschaftlichen Ansichten sind jene, welche sich auf den Weltverkehr beziehen. Er ist ein eifriger Verfechter der freihändlerischen Lehren, die er auf den Grundsatz stützt, dass unter den Nationen kein notwendiger Gegensatz, vielmehr eine Uebereinstimmung der Interessen bestehe, und dass sie durch die Verschiedenheit der örtlichen Vorzüge und der Fähigkeiten auf natürliche Weise zum Tauschverkehr veranlasst würden. Vom Merkantilismus hatte er sich jedoch nicht gänzlich freimachen können; er war für Ausfuhrprämien eingenommen und brachte als Mittel zur Vermehrung der Bevölkerungszahl eine Steuer auf die Ehelosigkeit in Vorschlag. Dupont und nach ihm Blanqui bezeichnen Tucker als einen Anhänger der Physiokraten, doch scheint für diese Annahme wenig Grund vorhanden, wenn man seine mit den ihrigen übereinstimmenden Ansichten im Punkte des Freihandels in Abzug bringt. Unter dem Titel »Wichtige Fragen des Handelsverkehrs« (Questions importantes sur le commerce, 1755) übersetzte Turgot eine Abhandlung Tucker's über die Bedürfnisfrage eines Gesetzes betreffend die Naturalisation ausländischer Protestanten (The expediency of a law for the naturalization of foreign protestants).

Im Jahre 1767 erschien Sir James Steuart's »Untersuchung über die Grundsätze der Staatswirtschaft« (Inquiry into the principles of political economy, in deutscher Uebersetzung, 1769-72). Es war dies eines der unglücklichsten Bücher. Dasselbe lieferte wohl die vollständigste und bestgeordnete Uebersicht der Wissenschaft vom gemässigt merkantilistischen Standpunkte aus, welche bis dahin in England veröffentlicht wurde. Auch war Steuart ein Mann von nicht gewöhnlichen Fähigkeiten und hatte sich für seine Aufgabe durch andauerndes, ernstes Forschen vorbereitet. Allein die Zeit der merkantilistischen Lehren war vorüber, und das System der natürlichen Freiheit hatte bereits ein geistiges Uebergewicht erlangt, welches auf seinen demnächstigen politischen Triumph hinwies. Neun Jahre später übergab Smith der Welt seinen »Völkerreichtum«, ein Buch, welches dem Steuart'schen sowohl durch fesselnde Schreibweise als durch wissenschaftliche Gründlichkeit überlegen ist. Letzteres war daher von Anfang an ein verfehltes Unternehmen und übte tatsächlich niemals irgend welchen nennenswerten Einfluss theoretischer oder praktischer Natur. Smith führt das Buch weder an, noch erwähnt er es sonstwie; da er mit Steuart bekannt war, dessen Unterhaltung ihm, wie er sagte, besser gefiel als sein Buch, so wünschte er vermutlich jeden Streit mit ihm zu vermeiden In einem Briefe an Pulteney (1772) sagt Smith: »Ich bin wegen des Buches von Sir James Steuart der gleichen Ansicht wie Sie. Wenn ich es auch nie erwähnen werde, schmeichle ich mir doch, dass irgend ein darin enthaltener irriger Grundsatz einer klaren und deutlichen Widerlegung in dem meinigen begegnen wird.«. Die deutschen Nationalökonomen haben Steuart's Werk einer sorgfältigeren Prüfung unterzogen, als dies im allgemeinen die englischen Schriftsteller getan, und erkennen die hohen Verdienste an, die er sich besonders um die Theorie des Wertes und der Bevölkerung erworben hat. Auch haben sie darauf hingewiesen, dass er im Geiste gediegenster moderner Forschung eingehend die besonderen Merkmale schildert, welche die, verschiedenen Nationen und verschiedenen gesellschaftlichen Entwickelungsstufen eigentümlichen Wirtschaftsformen von einander unterscheiden.

Kommen wir nunmehr zu dem grossen Namen Adam Smith's (1723-1790), so ist es von höchster Wichtigkeit, dass wir seine Stellung richtig erkennen und seine Verdienste gehörig würdigen Vgl. hierzu W. Hasbach, Untersuchungen über Adam Smith und die Entwickelung der politischen Oekonomie, 1891.. Es ist offenbar allen Tatsachen zuwider, ihn, wie es einige getan haben, als den Schöpfer der Volkswirtschaftslehre hinzustellen. Das Thema vom gesellschaftlichen Reichtum hatte stets in einem gewissen, und in neuerer Zeit in immer zunehmendem Grade, die Aufmerksamkeit philosophischer Köpfe beschäftigt. Das fragliche Studium hatte sogar unstreitig einen systematischen Charakter angenommen, und aus einer Sammlung bruchstückartiger Untersuchungen über besondere Fragen des nationalen Interesses war ein organisches Ganze von Lehren geworden, wie dies besonders in Turgot's »Réflexions« der Fall. In Wahrheit nahm Smith die Wissenschaft auf, als sie bereits erhebliche Fortschritte gemacht hatte, und gerade dieser Umstand befähigte ihn, durch die Schöpfung eines klassischen Werkes die meisten seiner Vorgänger ausser Geltung zu bringen. Aber wenn auch alle Leistungen auf wirtschaftswissenschaftlichem Gebiet während der voraufgehenden Jahrhunderte ihm den Weg bahnten, so konnten sie doch sein Werk nicht überflüssig machen. Sein Auftreten in einer früheren Zeit oder ohne jene vorgängigen Arbeiten würde unbegreiflich sein; auf der von andern geschaffenen Grundlage aber konnte er mit eigenem kostbaren und dauerhaften Material weiterbauen.

Selbst jene, welche nicht den Irrtum begehen, Smith zum Schöpfer unserer Wissenschaft zu stempeln, ziehen zwischen ihm einerseits und Quesnay und dessen Anhängern andrerseits eine zu breite Grenze. Nach ihnen besteht die Geschichte der modernen Volkswirtschaftslehre aus der Aufeinanderfolge von Entstehen und Herrschen dreier Theorien – der merkantilistischen, der physiokratischen und jener Adam Smith's. Die beiden letzteren unterscheiden sich nun allerdings in einigen und sogar wichtigen Punkten. Jedenfalls aber sind ihre Aehnlichkeiten mehr grundsätzlicher Natur als ihre Verschiedenheiten, wie dies Smith selbst fühlte; und betrachten wir beide als geschichtliche Kräfte, so müssen wir erkennen, dass beide die gleichen Ziele verfolgen. Beide drängten die Gesellschaft zur Abschaffung der bis dahin massgebenden Wirtschaftspolitik der europäischen Regierungen, und in ihrer Beweisführung gegen diese Politik stützten sich beide im wesentlichen auf dieselben Gründe. Da sich Smith's Kritik mehr forschend und umfassender betätigte, so war ihm auch eine richtigere Analyse einiger Klassen der wirtschaftlichen Erscheinungen möglich als den Physiokraten; insbesondere zerstörte er die Täuschungen, welchen sie sich in betreff der unproduktiven Natur von Handel und Gewerbe hingegeben hatten. Ihre Schule verschwand von dem Felde der Wissenschaft, nicht nur, weil sie einen politischen Misserfolg in der Person Turgot's erlitt, sondern weil, wie bereits erwähnt, der »Völkerreichtum« alles wertvolle in ihren Lehren in sich aufnahm und auf nachhaltigere Art den Anstoss weiterführte, den sie zum notwendigen Werke der Vernichtung gegeben hatten. Die Geschichte der volkswirtschaftlichen Ansichten in der Neuzeit bis zu dem dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts hinab ist in Wahrheit, streng genommen, zweiteilig. Die erste Stufe wird von dem Merkantilsystem ausgefüllt, das, wie wir gezeigt haben, mehr eine praktische Politik als eine spekulative Theorie darstellte und in's Leben trat als das spontane Werden gesellschaftlicher Verhältnisse, die im wissenschaftlichen Denken ungeübte Köpfe beeinflussten. Die zweite Stufe wird eingenommen von dem allmählichen Entstehen und der schliesslichen Herrschaft eines anderen Systems, welches sich gründet auf den Gedanken eines Rechtes des Einzelnen auf einen uneingeschränkten Spielraum zur Betätigung seines wirtschaftlichen Strebens. Mit letzterem System, welches am besten als das »System der natürlichen Freiheit« bezeichnet wird, sollten wir ebensowohl das Andenken der Physiokraten als dasjenige Smith's verbinden, ohne indessen zu behaupten, dass ihre Leistungen die seinigen erreicht hätten.

Auf den schottischen Universitäten war der Vortrag der Volkswirtschaftslehre mit dem der Moralphilosophie verbunden. Wie uns berichtet wird, teilte Smith den gesamten Stoff, welchen er in seinen öffentlichen Vorlesungen zu behandeln hatte, in vier Rubriken: die erste war die Naturtheologie, die zweite die Sittenlehre, die dritte die Rechtswissenschaft, und in der vierten »unterzog er diejenigen politischen Einrichtungen einer Prüfung, welche aus Zweckmässigkeitsgründen getroffen werden und dazu dienen sollen, den Reichtum, die Macht und die Wohlfahrt eines Staates zu fördern«. An der wohlbekannten Stelle der »Theorie der sittlichen Empfindungen« (Theory of moral sentiments, 1759) werden die beiden letztgenannten Forschungszweige als nur ein theoretisches Ganze ausmachend betrachtet; dort verspricht der Verfasser eine zweite Abhandlung zu liefern, welche enthalten soll eine »Rechenschaft von den allgemeinen Grundsätzen des Rechts und der staatlichen Leitung und von den verschiedenen Wandlungen, die sie in den verschiedenen Zeitaltern und gesellschaftlichen Entwickelungsperioden erfahren haben, nicht nur auf dem Gebiet der Rechtspflege, sondern auch auf jenem der Polizei, der Finanzen, des Kriegswesens und was sonst noch Gegenstand des Rechts sein könnte«. Es zeigt sich hier, wie wenig es – ausgenommen zu vorläufigen Zwecken – zu den Gepflogenheiten Smith's gehörte, in seinen Vorstellungen oder Untersuchungen die wirtschaftlichen Erscheinungen der Gesellschaft von allen übrigen zu trennen. Von den oben angeführten Worten ist, und in der Tat nicht mit Unrecht, gesagt worden, dass sie enthielten »eine für seine Zeit erstaunliche Vorwegnahme der allgemeinen, sowohl statischen als dynamischen Soziologie, eine Vorwegnahme, die noch merkwürdiger wird, wenn wir durch die Vollstrecker seines litterarischen Testaments erfahren, dass er den Plan einer zusammenhängenden Geschichte der freien Künste und der schönen Wissenschaften gefasst hatte, welche den bereits aufgeführten Zweigen der gesellschaftlichen Forschung eine Uebersicht des geistigen Fortschritts der Gesellschaft hinzugefügt haben würde«. Obgleich diese umfassenden Pläne nie zur völligen Verwirklichung gelangten, – was übrigens in jener Zeit auch nicht in entsprechender Weise möglich gewesen wäre, – so haben sie doch zur Folge gehabt, dass Smith, obwohl die wirtschaftlichen Erscheinungen das eigentliche Thema des »Völkerreichtums« bildeten, diesem Werke vieles einverleibte, was anderen Seiten des Gesellschaftslebens angehört. Er fordert hierdurch den Tadel einiger seiner Nachfolger heraus, welche mit schulmeisterlicher Beschränktheit auf der strengen Absonderung des volkswirtschaftlichen Gebiets bestehen.

Vielfache Erörterungen hat die Frage hervorgerufen, welche wissenschaftliche Methode Smith in seinem grossen Werke befolgt habe. Einige sind der Meinung, dass es die rein deduktive gewesen sei, eine Ansicht, welche vielleicht in Buckle ihren eifrigsten Vertreter gefunden hat. Dieser stellt die Behauptung auf, dass die induktive Methode in Schottland unbekannt gewesen sei, dass die induktive Philosophie auf die schottischen Denker keinerlei Einfluss geübt habe. Und obgleich Smith einige seiner bedeutsamsten Jugendjahre in England verbrachte, wo die induktive Methode unumschränkt herrschte, und obgleich er eine umfassende Kenntnis der allgemeinen philosophischen Literatur besass, glaubt Buckle doch, er habe die deduktive Methode deshalb angenommen, weil sie in Schottland in der Regel befolgt wurde, – trotzdem Buckle sie als die einzig geeignete oder sogar mögliche Methode der Volkswirtschaftslehre bezeichnet, was doch sicherlich ein genügender Grund für deren Wahl gewesen wäre. Dass das induktive Denken keinen Einfluss auf die schottischen Philosophen gehabt habe, ist jedenfalls unrichtig; wie sogleich gezeigt werden soll, wurde Montesquieu, der im wesentlichen die induktive Methode befolgt, in den Tagen Smith's von dessen Landsleuten mit besonderer Sorgfalt studiert und hoch verehrt. Was Smith selbst anlangt, so kann von ihm mit Sicherheit behauptet werden, dass ein Hang zum Deduktiven gewiss nicht das vorherrschende Merkmal seines Denkens bildete, und dass ebensowenig sein grosser Vorzug in der »dialektischen Gewandtheit« lag, die ihm Buckle zuschreibt. Was uns am meisten in seinem Buche überrascht, ist seine umfassende und scharfe Beobachtung gesellschaftlicher Tatsachen und seine überall hervortretende Neigung, bei diesen zu verweilen und ihre Bedeutung klar zu machen, anstatt Folgerungen aus abstrakten Grundsätzen vermittelst einer wohl ausgearbeiteten Kette von Schlüssen abzuleiten. Diese Gepflogenheit seines Denkens ist es, welche uns bei dem Lesen seines Buches ein so starkes und anhaltendes Bewusstsein verleiht, dass wir uns mit dem wirklichen Leben in stetiger Berührung finden.

Dass indessen Smith die deduktive Methode in umfassender Weise anwendet, ist gewiss, und diese Methode ist auch völlig berechtigt, wenn die Prämissen, von denen die Deduktion ausgeht, bekannte allgemeine Tatsachen der menschlichen Natur oder Eigenschaften von Gegenständen der Aussenwelt sind. Ob diese Verfahrungsweise uns erheblich vorwärts bringt, mag wohl zweifelhaft sein, doch ist ihre Berechtigung nicht zu bestreiten. Wir begegnen jedoch bei Smith einer anderen, fehlerhaften Abart der Deduktion, die, wie Cliffe Leslie gezeigt hat, seine Philosophie nachhaltig im üblen Sinne beeinflusste. Bei dieser sind die Prämissen nicht durch Beobachtung festgestellte Tatsachen, sondern dieselben, halb theologischen, halb metaphysischen, eine eingebildete harmonische und wohltätige natürliche Ordnung der Dinge betreffenden aprioristischen Annahmen, die wir bei den Physiokraten antrafen, und die, wie wir sahen, sich in dem Namen dieser Sekte verkörperten. Nach der Auffassung Smith's hat die Natur für die gesellschaftliche Wohlfahrt durch jenen Grundzug des menschlichen Wesens Sorge getragen, der jeden antreibt, seine Lage zu verbessern. Der Einzelne hat nur seinen eigenen Vorteil im Auge, aber hierbei wird er »durch eine unsichtbare Hand« derart gelenkt, dass er, ohne dies beabsichtigt zu haben, das allgemeine Beste fördert. Menschliche Einrichtungen werden ihren Zweck verfehlen, sobald sie der Wirksamkeit dieses Grundsatzes unter dem Vorgeben, das öffentliche Interesse zu wahren, entgegenarbeiten. Sobald indessen alle Systeme der Bevorzugung oder der Beschränkung beseitigt sind, »wird sich das einleuchtende und einfache System der natürlichen Freiheit von selbst befestigen«. Diese Theorie wird natürlich von Smith nicht als das eigentliche Fundament seiner volkswirtschaftlichen Lehren hingestellt; in Wirklichkeit ist sie indessen die verborgene Grundlage, auf welcher sie ruhen. Während aber solche im geheimen sich regenden Postulate ihn von einer richtigen Auffassung der Dinge ablenkten, konnten sie doch seine Methode nicht gänzlich bestimmen. Sein angeborner Hang, die Dinge so zu erforschen, wie sie sind, bewahrte ihn vor Verirrungen, welchen manche seiner Nachfolger anheim fielen. Uebrigens arbeitete der Einfluss Montesquieu's, wie Leslie hervorgehoben hat, den durch die naturrechtliche Lehre erzeugten theoretischen Voreingenommenheiten kräftig entgegen. Wenn auch dieser grosse Denker zu seiner Zeit die für die gesellschaftswissenschaftliche Forschung wahrhaft geeignete geschichtliche Methode nicht verstehen konnte, gründete er doch seine Schlüsse auf die Induktion. Zwar blieb, wie Comte bemerkt hat, sein Aufeinanderhäufen von Tatsachen, welche den verschiedensten Zuständen der Zivilisation entnommen und nicht durch philosophische Kritik geläutert waren, im ganzen notwendig unfruchtbar oder konnte wenigstens das Studium der Gesellschaft nicht wesentlich über den Punkt hinaus fördern, an welchem er es gefunden. Wie bereits erwähnt, lag sein Verdienst in der Erkenntnis, dass alle gesellschaftlichen Erscheinungen Naturgesetzen unterworfen seien, nicht in der Entdeckung dieser Gesetze. Diese Einschränkung wurde indessen von den Philosophen der Smith'schen Zeit übersehen. Sie fühlten sich ungemein angezogen durch das von ihm befolgte System, die gesellschaftlichen Tatsachen auf die besonderen physischen oder moralischen Verhältnisse der Gemeinschaften zurückzuführen, in welchen sie beobachtet wurden. So hat Leslie darauf hingewiesen, dass Lord Kaimes, Dalrymple und Millar – Zeitgenossen Smith's und der letztere sein Mündel – durch Montesquieu beeinflusst wurden, und er hätte noch den hervorragenden Namen Ferguson's hinzufügen können, dessen Hochachtung und Bewunderung für den grossen Franzosen in seiner »Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft« zu überraschendem Ausdruck gelangt »Wenn ich daran denke, was der Präsident Montesquieu geschrieben, so bin ich um Gründe für meine Behandlung menschlicher Angelegenheiten verlegen. Allein auch ich fühle mich durch mein Nachdenken und meine Neigungen angetrieben, und ich bin vielleicht mehr imstande, mich in meinen Aeusserungen der Fassungskraft von Alltagsmenschen anzupassen, weil ich mehr zu diesen gehöre  ... Ich kann den Leser auf dasjenige verweisen, was bereits über denselben Gegenstand von diesem gründlichen Staatsmann und liebenswürdigen Sittenlehrer geäussert worden ist.« (Teil I, Sekt. 10). – Hume spricht von Montesquieu als von einem «berühmten Schriftsteller«, der »ein System politischen Wissens aufgestellt hat, welches an geistreichen und glänzenden Gedanken überreich ist, und dem es nicht an Gründlichkeit fehlt« (Principles of morals, Sect. 3. und Anmerkung).. Es wird uns sogar berichtet, dass Smith selbst in seinen späteren Jahren damit beschäftigt war, einen Kommentar zu dem »Geist der Gesetze« vorzubereiten Der Moniteur universel vom 11. März 1790 enthielt die folgende Bemerkung: »Man behauptet, dass der berühmte M. Smith, so vorteilhaft bekannt durch sein Werk über die Ursachen des Völkerreichtums, eine kritische Beurteilung des »Geistes der Gesetze« vorbereitet und demnächst dem Drucke überliefern wird. Sie ist das Ergebnis vieljährigen Nachdenkens, und man weiss wohl zur Genüge, was man von einem Denker, wie es Smith ist, zu erwarten hat. Dieses Buch wird in der Geschichte der Politik und der Philosophie ein Ereignis bedeuten. So lautet wenigstens das Urteil von Gelehrten, die Bruchstücke desselben kennen und von diesen mit einer Begeisterung reden, welche zu den grössten Erwartungen Anlass gibt.«.

Er unterlag somit der Einwirkung zweier verschiedener, mit einander unvereinbarer Gedankensysteme. Das eine ging aus von einem zum Besten des Menschengeschlechts aufgestellten Naturkodex und führte zu einer optimistischen Auffassung der auf dem erleuchteten Eigennutz aufgebauten wirtschaftlichen Verfassung. Das andere hingegen befolgte ein induktives Verfahren; es suchte die verschiedenen Zustände, in welchen die menschlichen Gemeinschaften angetroffen werden, als die Ergebnisse von Verhältnissen oder Einrichtungen zu erklären, welche tatsächlich in Wirksamkeit gewesen sind. Daher begegnen wir in seinem grossen Werke einer Vereinigung dieser beiden Behandlungsarten – auf der einen Seite die induktive Forschung und auf der anderen die aprioristische Spekulation, welche sich auf die »Natur«-Hypothese gründet. Der letztere verkehrte Modus hat bei einigen seiner Nachfolger eine erhebliche Verschärfung erfahren, während der Geist des induktiven Forschens, welcher bei Smith eine ausgleichende Wirkung übte, mehr in den Hintergrund trat; ja, man ging zuweilen soweit, das Bedürfnis oder den Nutzen eines derartigen Forschens auf dem volkswirtschaftlichen Gebiet überhaupt zu leugnen.

Es haben sich manche über das Smith'sche Werk dahin geäussert, es sei von einem solchen losen Zusammenhang und einer solchen mangelhaften Anordnung, dass es billigerweise als eine Reihe von Monographien bezeichnet werden könne. Doch ist dies sicherlich eine Uebertreibung. Allerdings ist der Inhalt des Buches nicht in starre Formen gepresst, auch begegnen wir darin keinem äusserlichen Prunk von schulgerechten Abteilungen und Unterabteilungen, – was übrigens zweifellos dazu beitrug, ihm bei Welt- und Geschäftsmenschen Eingang zu verschaffen, für die es, wenigstens ursprünglich, bestimmt war. Als Gesamtdarstellung jedoch besitzt es die wahrhafte und durchgängige Einheit, wie sie nur möglich ist bei einer stets gleichartigen Denkweise, auch zeigt es im allgemeinen keine Widersprüche, die auf eine ungenügende Verdauung des Gegenstandes schliessen lassen.

Smith geht von dem Gedanken aus, dass die jährliche Arbeit einer Nation die Quelle sei, aus welcher sie ihren Bedarf an notwendigen Erfordernissen und Annehmlichkeiten des Lebens befriedige. Selbstverständlich betrachtet er die Arbeit nicht als den einzigen Produktionsfaktor; man nimmt indessen an, dass er durch den Nachdruck, welchen er im Eingang darauf legt, zugleich den Unterschied zwischen sich einerseits und den Merkantilisten und Physiokraten andrerseits betonen wollte. Die vermehrte Produktionsfähigkeit der Arbeit ist in hohem Grade abhängig von deren Teilung; daher erläutert er demnächst in seiner unvergleichlichen Art diesen Grundsatz, die Voraussetzungen, auf welchen er ruht, dass er mehr im Gewerbe als in der Landwirtschaft anwendbar sei, woraus folgt, dass letztere im Gange der wirtschaftlichen Entwickelung verhältnismässig zurückbleibt Von den »Uebeln«, welche eine hochentwickelte Arbeitsteilung mit sich bringen kann, erwähnt Smith an dieser Stelle nichts. Siehe jedoch 5. Buch, 1. Kapitel.. Den Ursprung der Arbeitsteilung findet er in dem Hange der menschlichen Natur, »ein Ding gegen das andere auszutauschen, umzusetzen und auszuwechseln«. Er zeigt, dass eine gewisse Kapitalanhäufung eine Vorbedingung dieser Teilung sei, und dass der Grad ihrer Ausbildung von der Ausdehnung des Marktes abhänge. Hat sich die Arbeitsteilung befestigt, so ist jedes Mitglied der Gesellschaft genötigt, zur Befriedigung seiner Bedürfnisse die Mitwirkung anderer in Anspruch zu nehmen: ein Tauschmittel wird notwendig, und das Geld kommt in Gebrauch. Der Austausch von Gütern gegeneinander oder gegen Geld lässt den Begriff des Wertes entstehen. Dieser Ausdruck hat die beiden Bedeutungen der Nützlichkeit und der Kaufkraft; die eine kann Gebrauchswert, die andere Tauschwert genannt werden. Nach einer blossen Erwähnung des ersteren geht Smith zur Untersuchung des letzteren über. Wodurch, fragt er, wird der Wert gemessen? was regelt den Betrag eines Dinges, welches für ein anderes gegeben wird? »Die Arbeit«, antwortet er, »ist das wirkliche Mass des Tauschwertes aller Waren«. »Gleiche Arbeitsmengen sind zu jeder Zeit und an jedem Orte für den Arbeiter von gleichem Werte« Dieser Ausspruch, welcher auf eingehende Prüfung hin keinen bestimmten, verständlichen Sinn ergibt, liefert ein treffendes Beispiel dafür, wie eine metaphysische Denkweise volkswirtschaftliche Begriffe verdunkelt. Was ist eine »Arbeitsmenge«, wenn die Gattung der Arbeit nicht bestimmt ist? Und was ist mit dem Ausdruck »von gleichem Werte« gemeint?. »So ist die Arbeit, weil sie sich nie in ihrem Werte verändert, allein der endgültige und wirkliche Massstab, nach dem der Wert aller Waren zu jeder Zeit und an jedem Orte geschätzt und verglichen werden kann. Sie ist der wahre Preis dieser Waren; das Geld ist nur ihr Nominalpreis«. Das Geld ist indessen im geschäftlichen Verkehr der Menschen sowohl das Mass des Wertes als auch das Hilfsmittel des Tausches. Für diesen Zweck eignen sich die Edelmetalle am besten, da sie innerhalb eines Zeitraumes von mässiger Dauer in ihrem Werte nur geringe Veränderungen erleiden; für eine längere Zeit ist Getreide ein besserer Massstab der Vergleichung. Um den Tauschwert bestimmen zu können, den ein Artikel im frühesten gesellschaftlichen Entwickelungsstadium besass, haben wir nur den Betrag der Arbeitsleistung in Anschlag zu bringen, welche zu seiner Herstellung notwendig war; in vorgerückteren Zeiten jedoch ist der Preis ein zusammengesetzter und besteht in den allermeisten Fällen aus drei Elementen – aus Lohn, Kapitalgewinn und Rente. Der Lohn ist die Vergütung der Arbeitsleistung. Der Kapitalgewinn entsteht, sobald ein in den Händen einer Person sich befindlicher Kapitalbetrag von dieser benützt wird, andere zu beschäftigen und sie mit Material und Unterhalt zu versehen, in der Absicht, aus dem Produkt ihrer Arbeit einen Gewinn zu erzielen. Die Rente entsteht, sobald Grund und Boden eines Landes Privateigentum geworden sind. »Die Grundherren wollen gleich allen übrigen Menschen dort ernten, wo sie nie gesäet haben, und verlangen sogar für das freiwillige Produkt des Bodens eine Rente.« In jeder fortgeschrittenen Gesellschaft bilden also diese drei Elemente in verschiedenartiger Zusammensetzung den Preis des bei weitem grössten Teils aller Waren. In jeder Gesellschaft oder in jeder Gegend gibt es einen gewöhnlichen oder durchschnittlichen Satz der Löhne und des Kapitalgewinns für jede einzelne der verschiedenen Beschäftigungsarten von Arbeit und Kapital, der sich nach weiterhin dargelegten Grundsätzen regelt, und ebenso einen gewöhnlichen oder durchschnittlichen Satz der Rente. Diese Sätze können für die Zeit und die Oertlichkeiten, in denen sie vorherrschen, als die »natürlichen« bezeichnet werden, und der natürliche Preis einer Ware ist dasjenige, was hinreicht, um die Grundrente Smith's Ausdrucksweise ist in diesem Punkte eine unklare, wie sich später bei der Prüfung der sogenannten Ricardo'schen Rententheorie zeigen wird., die Arbeitslöhne und den Gewinn aus dem Kapital zu bezahlen, welches erforderlich ist, um die Ware auf den Markt zu bringen. Der Marktpreis kann den auf diese Weise festgesetzten Betrag übersteigen oder unter ihn herabsinken, da er bestimmt wird durch das Verhältnis zwischen der auf den Markt gebrachten Quantität und der Nachfrage von seiten derer, welche gewillt sind, den natürlichen Preis zu zahlen. Nach dem natürlichen Preis als nach einem Schwerpunkt strebt der durch den Wettbewerb geregelte Marktpreis fortwährend hin. Einige Waren indessen sind einem Produktionsmonopol unterworfen, entweder auf Grund der Eigentümlichkeiten eines Ortes oder vermöge gesetzlicher Vorrechte; ihr Preis ist stets der höchste erreichbare, während der natürliche Preis der übrigen Waren den niedrigsten vorstellt, welcher für irgend eine längere Zeitdauer zu erlangen ist. Die drei Bestandteile oder Faktoren des Preises verändern sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Der Lohnsatz wird bestimmt durch einen »Widerstreit« oder Kampf entgegengesetzter Interessen zwischen Unternehmer und Arbeiter. Ein niedrigster Satz der Löhne ist durch die Bedingung festgesetzt, dass sie mindestens hinreichen, einen Mann und seine Frau zu ihrem eigenen Unterhalt und im allgemeinen zur Aufzucht ihrer Kinder zu befähigen. Die Abweichung von diesem Lohnsatz hat ihre Ursache in den Umständen des Landes und der sich aus diesen ergebenden Nachfrage nach Arbeitskräften, – daher sind die Löhne hoch, wenn der Volksreichtum in Zunahme begriffen ist, und niedrig, wenn es mit ihm abwärts geht. Dieselben Umstände bestimmen die Veränderung des Kapitalgewinns, jedoch in entgegengesetzter Richtung: Die Zunahme des Kapitals, welche die Löhne erhöht, verursacht durch den gegenseitigen Wettbewerb der Kapitalisten ein Sinken dieses Gewinns. »Die gesamten Vorteile und Nachteile der verschiedenen Anwendungsarten von Arbeit und Kapital müssen innerhalb desselben örtlichen Gebiets entweder vollkommen gleich sein oder beständig zur Gleichmässigkeit hinneigen«. Hätte jemand einen bedeutenden Vorteil vor den übrigen voraus, so würden sich die Leute auf den betreffenden Erwerbszweig werfen und das Gleichgewicht bald wieder herstellen. Der Geldbetrag des Lohns und des Kapitalgewinns ist indessen in den verschiedenen Beschäftigungsarten ein sehr verschiedener. Die Gründe hierfür liegen entweder in gewissen Umständen, welche diesen oder jenen Zweig der Tätigkeit in den Augen der Menschen grössere oder geringere Achtung verschaffen, oder in der nationalen Politik, »welche nirgends den Dingen vollkommene Freiheit lässt«. Hier folgt Smith's treffliche Darlegung der Ursachen, welche die eben berührten Ungleichheiten in Löhnen und Kapitalgewinnen erzeugen, – eine Stelle, die einen glänzenden Beweis liefert von seiner Gepflogenheit, die weniger hervortretenden Züge in der menschlichen Natur wie die Wirkung genau zu beobachten, welche sowohl diese als gesellschaftliche Einrichtungen auf Tatsachen der Volkswirtschaft ausüben. Sodann wird die Grundrente als der letzte der drei Bestandteile des Preises einer Betrachtung unterzogen. Die Rente ist ein Monopolpreis, welcher gleichkommt nicht dem, was der Grundherr allenfalls geneigt wäre, zu nehmen, sondern dem, was der Pächter zu geben im stande ist. »Nur diejenigen Teile des Bodenertrags können in der Regel auf den Markt gebracht werden, deren gewöhnlicher Preis zum Ersatz des Kapitals ausreicht, welches erforderlich ist, sie dorthin zu bringen, und überdies den üblichen Gewinn einträgt. Ueberschreitet der gewöhnliche Preis diesen Betrag, so wird der Ueberschuss der Grundrente anheim fallen. Ist dies nicht der Fall, trotzdem die Ware auf den Markt gebracht werden kann, so wird sich für den Grundherrn keine Rente ergeben. Der höhere oder niedrigere Preis ist von der Nachfrage abhängig«. »Die Rente bildet daher auf andere Art einen Bestandteil der Warenpreise als Löhne und Kapitalgewinne. Hohe oder niedrige Kapitalgewinne und Löhne sind die Ursachen hoher oder niedriger Preise; eine hohe oder niedrige Rente ist deren Wirkung.«

Da nun Rente, Lohn und Kapitalgewinn die Elemente des Preises bilden, so sind sie auch die Bestandteile des Einkommens. Die drei grossen Stände jeder zivilisierten Gesellschaft, aus deren Einkünften sich schliesslich jene aller übrigen Stände herleiten, sind die Grundherrn, die Arbeiter und die Kapitalisten. Die Interessen dieser drei Klassen stehen zu denen der gesamten Gesellschaft in verschiedenem Verhältnis. Das Interesse des Grundherrn fällt stets mit dem Gesamtinteresse zusammen: alles was dem einen förderlich oder hinderlich ist, wirkt auf das andere in derselben Weise. Ebenso ist es mit dem Interesse des Arbeiters: der Lohn ist ein hoher, wenn der Volksreichtum im Zunehmen begriffen ist, und ein niedriger, wenn dieser Reichtum einen Stillstand oder Rückschritt aufweist. »Das Interesse des dritten Standes steht mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Interesse nicht in demselben Zusammenhang wie jenes der beiden übrigen Stände;  ... es ist stets in gewisser Hinsicht vom öffentlichen Interesse verschieden und diesem entgegengesetzt«.

»Das Wesen, die Anhäufung und die Vermehrung des Kapitals« bildet den Gegenstand des zweiten Buches. Das gesamte Kapital, welches jemand besitzt, besteht aus zwei Teilen: der eine ist für seine unmittelbare Konsumtion bestimmt, der andere wird derart angelegt, dass er seinem Besitzer ein Einkommen liefert. Der letztere Teil, sein »Kapital« im engeren Sinne (als Produktionsmittel), lässt sich in die beiden Klassen des »stehenden« und »umlaufenden« Kapitals einteilen. Die erste dieser Klassen bringt einen Gewinn, ohne in andere Hände überzugehen. Die zweite besteht aus den durch Anbau und Aufzucht gewonnenen, verarbeiteten oder gekauften Gütern, welche mit Gewinn veräussert und durch andere Güter ersetzt werden; diese Art des Kapitals verlässt daher fortwährend ihren Besitzer, um wieder zu ihm zurückzukehren. Das gesamte Produktivkapital einer Gesellschaft fällt unter dieselben beiden Hauptteile. Ihr feststehendes Kapital besteht hauptsächlich 1) aus Maschinen, 2) aus Gebäuden, welche ein Einkommen abwerfen, 3) aus landwirtschaftlichen Anlagen und 4) aus den erworbenen und nützlichen Fähigkeiten aller Mitglieder der Gesellschaft (seitdem hie und da als »persönliches Kapital« bezeichnet). Ihr umlaufendes Kapital ist ebenfalls aus vier Teilen zusammengesetzt; diese sind: 1) Geld, 2) Lebensmittel im Besitz der Händler, 3) Rohstoffe und Werkzeuge und 4) fertige Waren im Besitz des Verfertigers oder des Kaufmanns. Hierauf gelangen wir zur Unterscheidung zwischen dem rohen und reinen Einkommen einer Nation. Ersteres ist das gesamte Produkt des Bodens und der Arbeit eines Landes, letzteres ist das, was übrig bleibt, wenn man von ersterem die Ausgaben für die Erhaltung des stehenden Kapitals sowie den durch das Geld gebildeten Teil des umlaufenden Kapitals in Abzug bringt. Das Geld, »das grosse Triebrad des wirtschaftlichen Kreislaufs«, ist durchaus verschieden von den Gütern, welche durch seine Vermittelung in Umlauf kommen. Es ist ein kostbares Werkzeug, das dem Einzelnen alles, was er zu empfangen hat, zukommen lässt. Die Ausgaben, welche zuerst für seine Beschaffung und später für seine Erhaltung notwendig werden, bilden einen Abzug von dem reinen Einkommen der Gesellschaft. Hiervon ausgehend weist Smith hin auf den grossen Nutzen, der einer Gemeinschaft aus dem Ersatz des Metallgeldes durch Papiergeld erwächst, und wir begegnen hier der merkwürdigen Erläuterung, in welcher der Gebrauch des Gold- und Silbergeldes einer Landstrasse, der des Papiergeldes hingegen einem Weg durch die Lüfte verglichen wird. Die hierauf folgende Besprechung der Kapitalsanhäufung führt ihn zur Unterscheidung produktiver und unproduktiver Arbeit: Die erstere ist in einem besonderen Gegenstand oder in einem verkäuflichen Artikel festgelegt oder verkörpert, die letztere verwirklicht sich nicht in dieser Gestalt. Als Beispiele werden angeführt für erstere die Arbeit des Handwerkers, für letztere die Dienstleistung des Gesindes. Eine breite Grenzlinie wird somit gezogen zwischen der Arbeit, welche die Erzeugung von Waren oder die Erhöhung des Wertes derselben bezweckt, und jener, welche nur Dienste verrichtet: Jene ist produktiv, diese unproduktiv. »Produktiv« ist keineswegs gleichbedeutend mit »nützlich«: Die Arbeiten des Beamten, des Soldaten, des Geistlichen, des Rechtsgelehrten und des Arztes sind insgesamt im Sinne Smith's unproduktiv. Nur produktive Arbeiter werden durch Kapital beschäftigt: sowohl unproduktive Arbeiter als Jene, welche überhaupt nicht arbeiten, werden sämtlich durch Einkünfte unterhalten. In fortschreitenden wirtschaftlichen Gemeinschaften befindet sich der als Produktivkapital zu verwendende Teil des Jahresprodukts in wachsendem Verhältnis zu demjenigen, welcher unmittelbar dazu bestimmt ist, ein Einkommen als Rente oder als Kapitalgewinn abzuwerfen. Das Sparen ist die Quelle der Kapitalzunahme. Indem es die dem Unterhalt der produktiven Hände gewidmeten Fonds vergrössert, setzt es eine zusätzliche Menge wirtschaftlicher Tätigkeit in Bewegung, die wiederum den Wert des jährlichen Produkts steigert. Die Konsumtion des jährlich ersparten Betrags geht in derselben regelmässigen Weise von statten als die des ausgegebenen, jedoch durch eine andere Klasse von Personen, durch produktive Arbeiter an Stelle von Müssiggängern und unproduktiven Arbeitern. Die Ersteren reproduzieren neben einem Gewinn den Wert ihrer eigenen Konsumtion. Der Verschwender, welcher sein Kapital angreift, vermindert, was ihn anbelangt, die Summe der produktiven Arbeit und somit den Reichtum des Landes; dieses Ergebnis erleidet keine Aenderung durch den Umstand, dass er mit seinem Geld im Inland verfertigte Waren als verschieden von den ausländischen kauft. Jeder Verschwender ist daher ein Feind des allgemeinen Besten, jeder Sparsame ein öffentlicher Wohltäter. Der einzige Weg, das jährliche Produkt des Bodens und der Arbeit zu vermehren, besteht in der Steigerung der Anzahl produktiver Arbeiter oder der produktiven Kräfte dieser Arbeiter. Beides wird im allgemeinen einen Zusatz von Kapital notwendig machen, ersteres, um die neu hinzukommenden Arbeiter zu unterhalten, letzteres, um verbesserte Maschinen anzuschaffen oder den Unternehmer zur Einführung einer vollkommeneren Arbeitsteilung zu befähigen. Bei den sogenannten Gelddarlehen ist es in Wahrheit nicht das Geld, sondern der Wert des Geldes, was der Entleiher braucht; tatsächlich überträgt ihm der Verleiher das Recht auf einen gewissen Anteil am jährlichen Produkt des Bodens und der Arbeit des Landes. Mit dem gesamten Kapital eines Landes vermehrt sich auch dessen besonderer Teil, aus welchem die Besitzer Einkünfte ziehen wollen, ohne sich den Beschwerlichkeiten zu unterwerfen, die eine unmittelbare persönliche Anwendung des Kapitals mit sich bringen würde. Da nun die hierdurch für Darlehenszwecke verfügbare Kapitalmenge zunimmt, so wird der Zins niedriger – »nicht nur aus den allgemeinen Ursachen, welche in der Regel den Marktpreis der Dinge herabsetzen, wenn ihre Menge anwächst«, sondern weil es mit zunehmendem Kapital »allmählich immer schwerer wird, innerhalb des Landes eine gewinnbringende Art der Anlage neuen Kapitals ausfindig zu machen«. Hieraus entsteht ein Wettbewerb unter verschiedenen Einzelkapitalien und ein Sinken der Kapitalgewinne, was den Preis, der für die Kapitalnutzung bezahlt werden kann, oder, mit anderen Worten, den Zinsfuss verringern muss. Man hat früher mit Unrecht angenommen, und selbst Locke und Montesquieu entgingen diesem Irrtum nicht, dass das Sinken im Werte der Edelmetalle, welches der Entdeckung der amerikanischen Minen folgte, die wahre Ursache des anhaltend niedrigen Zinsfusses in Europa gewesen sei. Allein das Irrtümliche dieser schon von Hume bekämpften Ansicht ist mit Leichtigkeit nachzuweisen. »In einigen Ländern ist der Geldzins gesetzlich verboten worden. Da aber überall mittelst des Geldes etwas zu erreichen ist, so dürfte auch überall für dessen Gebrauch etwas bezahlt werden« und wird jedenfalls auch bezahlt werden. Das Verbot verschlimmert nur das Uebel des Wuchers, indem es das Risiko des Verleihers erhöht. Der gesetzliche Zinsfuss sollte ein wenig mehr betragen als der niedrigste Satz des Marktes; als Entleiher werden dann ordentliche Leute Verschwendern und Projektemachern vorgezogen werden, die bei einem höheren gesetzlichen Zinsfuss jenen etwas voraus hätten, da allein sie geneigt wären, diesen höheren Satz zu bieten Vgl. das über Bentham Gesagte, auf S. 139 und 140..

Was die verschiedenen Arten der Kapitalanlage betrifft, so ist die durch einen gleichen Betrag in Bewegung gesetzte Menge produktiver Arbeit eine äusserst verschiedene, je nachdem dieser Betrag Anwendung findet 1) in landwirtschaftlichen Anlagen, in Bergwerken oder in der Fischerei, 2) im Gewerbe, 3) im Gross oder 4) im Klein-Handel. In der Landwirtschaft »arbeitet die Natur im Verein mit dem Menschen«, und nicht nur das Kapital des Pächters mit dessen Gewinn wird wiedererzeugt, sondern auch die Rente des Grundherrn. Es ist dies daher die für die Gesellschaft vorteilhafteste Anlage eines gegebenen Kapitals. Darauf folgt das Gewerbe, sodann der Grosshandel – erstens der Binnenhandel, dann der auswärtige Warenhandel und schliesslich das Transportgeschäft. Alle diese Kapitalanlagen sind nicht allein nutzbringend, sondern auch notwendig und werden sich in gehörigem Umfange einführen, wenn man sie der freien Wirksamkeit des Privatunternehmens überlässt.

Die besprochenen ersten beiden Bücher enthalten Smith's allgemeines wirtschaftswissenschaftliches System. Wir haben dieses so vollständig dargelegt, als es sich mit der notwendigen Kürze verträgt, da von dieser Formulierung der Theorie die englische klassische Schule ihren Ausgang nahm, und sie den wissenschaftlichen Erörterungen neuerer Zeit in verschiedenen Ländern als wichtiger Kernpunkt diente. Einige der Kritiken seiner Nachfolger und ihre Abänderungen seiner Lehren werden im Laufe dieser Darstellung zu unserer Kenntnis gelangen.

Die kritischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts lassen oft den geschichtlichen Sinn vermissen, welcher nicht zu dem für ihren hauptsächlichen gesellschaftlichen Beruf notwendigen Rüstzeug gehörte. Einige der hervorragendsten unter ihnen, besonders in Schottland, bekundeten indessen eine bemerkenswerte Fähigkeit und Vorliebe für geschichtliche Forschungen. Zu ihnen gehörte Smith. Knies und andere machen mit Recht auf die in seinem »Völkerreichtum« enthaltenen meisterhaften Skizzen dieser Art aufmerksam. Die längste und ausführlichste nimmt das dritte Buch ein; sie gibt Aufschluss über den Weg, den die Nationen des modernen Europa in der allmähligen Entwickelung der verschiedenen Formen wirtschaftlicher Tätigkeit eingeschlagen haben. Diese Darstellung liefert ein merkwürdiges Beispiel dafür, wie theoretische Voreingenommenheiten die Ergebnisse geschichtlichen Forschens verdunkeln können. Während Smith mustergültig die europäische wirtschaftliche Bewegung schildert und sie entstehen lässt aus entsprechenden gesellschaftlichen Ursachen, erklärt er sich doch, in Uebereinstimmung mit den absoluten Grundsätzen, an welchen seine Philosophie krankte, gegen sie, da sie eine gänzliche Umkehrung der »natürlichen Ordnung der Dinge« bedeute. Erst die Landwirtschaft, dann das Gewerbe, zuletzt der auswärtige Handel; eine andere Ordnung als diese betrachtet er als »unnatürlich und als Rückschritt«. Hume, von geläutertem positivem Denken, sieht nichts als die Tatsachen, erfasst sie und stellt sie unter ein allgemeines Gesetz. »Es ist ein gewaltsames Verfahren«, sagt er, »und in den meisten Fällen unpraktisch, wenn man den Arbeiter nötigt, sich abzuplagen, damit der Boden einen höheren Ertrag liefere, als für seinen und seiner Familie Unterhalt erforderlich ist. Gebt ihm Manufakturen und Waren, und er wird es aus freien Stücken tun«. »Fragen wir die Geschichte, so werden wir finden, dass bei den meisten Nationen der auswärtige Handel irgend welcher Verfeinerung der inländischen Manufakturen vorausgegangen ist und den heimischen Luxus hervorgerufen hat«.

Das vierte Buch ist in der Hauptsache einer ausführlichen und erschöpfenden Widerlegung des Merkantilsystems gewidmet, welche dieses endgültig von dem wissenschaftlichen Felde vertrieben und einen mächtigen Einfluss auf die volkswirtschaftliche Gesetzgebung ausgeübt hat. Wenn man heute den Schutzzoll befürwortet, so stützt man sich in der Regel auf andere Gründe als auf die vor Smith's Zeit landläufigen. Er glaubte, dass die Hoffnung auf eine Wiederherstellung der Freiheit des auswärtigen Handels in Grossbritannien »ebenso ungereimt wäre, als wenn man die Gründung einer Ozeana oder Utopia in diesem Lande erwartete«. Und trotzdem ist dieses Ziel, hauptsächlich infolge seiner Arbeit, vollkommen erreicht worden. Mit Recht hat man sich neuerdings dahin ausgesprochen, dass der Freihandel bei anderen Völkern eine allgemeinere Aufnahme gefunden hätte, wenn nicht das geduldige Forschen Smith's durch gelehrtes Theoretisieren ersetzt worden wäre. Er äussert sich allerdings über diesen Gegenstand nicht ohne jedwede Einschränkung, doch tritt er im grossen ganzen für Freiheit ein, wo es sich um Tauschgeschäfte aller Art handelt, bei denen rein wirtschaftliche Beweggründe den Ausschlag geben. Er berücksichtigt indessen staatliche Interessen ebenso gut als wirtschaftliche, und unter der Begründung, dass »die Verteidigungsfähigkeit von viel grösserer Wichtigkeit ist als die Wohlhabenheit«, bezeichnet er die Schiffahrtsakte als »vielleicht die weiseste aller den Handelsverkehr betreffenden Massregeln Englands«. Während er sich als Gegner des Verbots der Wollausfuhr zeigt, bringt er eine Steuer auf diese Ausfuhr in Vorschlag mit der Begründung, dass eine solche Steuer dem Interesse der Schafzüchter etwas weniger schädlich sei als das Verbot und zugleich dem einheimischen Fabrikanten »einen genügenden Vorsprung« vor dem auswärtigen gewähre. Dies ist vielleicht seine am schärfsten hervortretende Abweichung von der Strenge des Grundsatzes; zweifellos wollte er damit der Volksmeinung entgegenkommen in der Absicht, einen praktischen Fortschritt zu erreichen. Ob es weise gehandelt ist, eine Politik der Wiedervergeltung zu befolgen, um die Aufhebung der von auswärtigen Regierungen auferlegten hohen Zölle oder Verbote herbeizuführen, hängt, wie er sagt, von der Wahrscheinlichkeit ab, durch sie das angestrebte Ziel zu erreichen, indessen macht er kein Hehl aus seiner Verachtung gegenüber der Anwendung solcher Mittel. Hat ein Gewerbszweig mittelst hoher Zölle eine beträchtliche Ausdehnung gewonnen, so dürfte für ihn seiner Meinung nach der freie Wettbewerb aus Gründen der Menschlichkeit nur allmählich und mit Vorsicht wieder zugelassen werden, wenn er auch der Ansicht ist, dass man die aus einer plötzlichen Aufhebung der Zölle entstehenden Uebel in der Regel übertreibt. Smith kommt auch auf den Fall zu sprechen, in welchem J. S. Mill einen Schutzzoll dulden würde, nämlich dann, wenn ein Industriezweig, der für die Verhältnisse eines Landes wohl geeignet ist, durch die Ueberlegenheit auswärtiger Produzenten niedergehalten wird; doch will er diese Ausnahme nicht zulassen und zwar aus Gründen, welche nicht zu überzeugen vermögen Man muss indessen stets im Auge behalten, dass die Anwendung dieser Art des Schutzes durch den Staat in praktischer Hinsicht auf dreifache Art gefährlich werden kann. Erstens ist hierbei die Möglichkeit gegeben, dass durch staatliche Einflüsse Industriezweige gefördert werden, die niemals ein selbständiges gesundes Leben im Lande hätten entwickeln können. Zweitens kann sich eine derartige Förderung über den Zeitpunkt hinaus erstrecken, bis zu welchem sie Nutzen zu stiften vermag. Und drittens wird hierdurch in andern Gemeinschaften leicht ein Vergeltung übender Geist der Ausschliessung erregt.. Schwerlich aber ist es hiermit in Einklang zu bringen, wenn er die Ueberlassung von zeitweiligen Monopolen an Aktien-Gesellschaften gutheisst, welche sich für solche gewagte Unternehmungen bilden, »deren Vorteile später der Gesamtheit zu gute kommen werden«. Professor Bastable lenkt die Aufmerksamkeit des Verfassers auf die interessante Tatsache, dass sowohl der Vorschlag eines Ausfuhrzolles auf Wolle als die Rechtfertigung eines zeitweiligen Monopols für Aktiengesellschaften zum erstenmale in der Ausgabe von 1784 erscheinen.

Einen weniger absoluten Standpunkt gegenüber der regierungsseitigen Einmischung vertritt er, wenn er in seinem fünften Buche zur Betrachtung der »Ausgaben des Regenten oder des Staates« gelangt. Er erkennt an, dass es zu den Aufgaben des Staates gehöre, solche öffentlichen Anstalten und Arbeiten zu errichten und zu unterhalten, die, obgleich sie der Gesellschaft von Nutzen sind, Einzelnen oder kleinen Gruppen Einzelner die Kosten nicht ersetzen könnten, und deren Gründung und Unterhalt man daher diesen nicht auferlegen dürfe. In echt geschichtlichem Geiste bemerkt er, dass die Ausübung der bezüglichen Funktionen des Staates in den verschiedenen Entwickelungsperioden der Gesellschaft sehr verschiedene Grade der Ausgaben erfordere. Neben den Anstalten und Arbeiten für die Zwecke der staatlichen Verteidigung und der Rechtspflege sowie zur Erleichterung des Verkehrs der Gesellschaft unterzieht er jene einer Würdigung, welche zur Förderung der Volksbildung notwendig sind. Er ist der Meinung, dass die Gesamtheit mit Fug und Recht die Aneignung der wesentlichsten Elemente des Unterrichts in der Jugend nicht nur erleichtern und begünstigen, sondern fast dem ganzen Volke zur Pflicht machen könne. Zur Erzwingung dieser Pflicht macht er den Vorschlag, jeden einer Prüfung zu unterwerfen, »bevor er den Genuss der Freiheiten einer Zunft erlangen könne, oder bevor ihm gestattet werde, ein Gewerbe in einem Dorfe oder in einer Stadt zu betreiben«. Desgleichen ist er der Ansicht, dass selbst für die höheren und schwieriger anzueignenden Wissenszweige dieselbe Prüfung erzwungen werden könnte als eine Bedingung sowohl für die Ausübung irgend eines freien Berufs wie für die Bewerbung um ein höheres öffentliches Amt. Die Kosten der Anstalten für die Zwecke des Religionsunterrichts und der Volksbildung können seiner Meinung nach ohne Ungerechtigkeit aus dem gesamten Gesellschaftsvermögen bestritten werden, indessen zieht er anscheinend vor, dass deren Deckung durch freiwillige Beiträge von seiten derer erfolge, welche diese Bildung oder jenen Unterricht nötig zu haben glauben. Es ist mancher gesunde, anziehende und anregende Gedanke in diesem fünften Buche enthalten, in welchem er einen politischen Instinkt und eine Weite der Auffassung verrät, welche ihn im wohltätigen Gegensatz zur manchesterlichen Richtung erscheinen lassen. Aber – wenn wir uns so ausdrücken können, ohne die einem solchen Manne schuldige Achtung zu verletzen – es finden sich darin Spuren sogenannten Philistertums, einer niedrigen Auffassung der Ziele von Kunst und Dichtung, welche teilweise vielleicht in persönlicher Unvollkommenheit begründet ist, obwohl man ihr häufig genug sogar bei den grösseren Geistern seines Jahrhunderts begegnet. Ebenso trifft man dort auch Anzeichen eines gewissen gleichgültigen Verhaltens gegenüber den höheren Endzielen und der dauernden Bedeutung der Religion. Zweifellos ist dies den Einflüssen eines Zeitalters zuzuschreiben, in welchem der kritische Geist ein unumgänglich notwendiges Werk verrichtete, während dessen Ausführung Vergängliches leicht mit Unvergänglichem verwechselt werden konnte.

Smith's Beurteilung des physiokratischen Systems, welche einen Teil des vierten Buches ausmacht, ist von uns übergangen worden, um seine Ansicht über die Aufgaben der Regierung im ganzen zu würdigen. Er hatte während eines Aufenthalts in Frankreich im Jahre 1756 Quesnay, Turgot und andere Mitglieder ihrer Gruppe kennen gelernt und würde nach seinen, Dugald Stewart gegenüber gemachten Aeusserungen dem Patriarchen der Schule seinen »Völkerreichtum« gewidmet haben, falls dieser lange genug gelebt hätte. Das System Quesnay's mit allen seinen Unvollkommenheiten kommt nach ihm »von allem, was bis jetzt über den Gegenstand der Volkswirtschaftslehre veröffentlicht worden, der Wahrheit vielleicht am nächsten«. Indessen scheint er sich nicht ganz klar darüber zu sein, wieweit seine eigenen Theorien mit denen der Physiokraten übereinstimmen. Dupont de Nemours beklagte sich darüber, dass er Quesnay nicht, wie sich dies wohl gebühre, als seinen geistigen Vater anerkannt habe. Dem gegenüber wird angeführt, dass Smith bereits im Jahre 1753 als Professor ein wirtschaftstheoretisches Ganzes vorgetragen habe, dessen allgemeine Grundzüge dieselben gewesen seien, wie sie das System seines grossen Werkes aufweise. Es wird dies in der Tat von Stewart ausgesprochen, und ist vielleicht ganz richtig, obgleich er keine Beweise dafür bringt. Ist dies aber der Fall, so muss die Abstammung der Smith'schen Lehren eher von Hume als von der französischen Schule hergeleitet werden. Den Hauptirrtum dieser Schule, den nämlich, dass die landwirtschaftliche Arbeit als allein produktiv bezeichnet wird, widerlegt er im vierten Buche, obgleich in einer Weise, die nicht immer zu überzeugen vermag. Spuren des Einflusses ihrer verkehrten Anschauung treten in seinem Werke hie und da zu tage, wie z. B. in seiner Annahme, dass in der Landwirtschaft die Natur vereint mit dem Menschen arbeite, während in der gewerblichen Produktion die Natur nichts, der Mensch alles tue. Ebenso in seiner Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit, welche zweifellos durch ihre Anwendung dieser Bezeichnungen nahegelegt wurde und sich schwerlich mit seiner Anerkennung dessen verträgt, was heute »persönliches Kapital« genannt wird. Auf dieselbe Quelle führen M' Culloch und andere die von ihnen als offenbaren Irrtum hingestellte Smith'sche Ansicht zurück, »der Vorteil des Einzelnen liefere nicht immer ein untrügliches Zeugnis dafür, dass die verschiedenen Beschäftigungsarten auch der Gesamtheit von Nutzen seien«. Diese Ansicht ist jedoch in der Tat eine ganz berechtigte, wie Professor Nicholson überzeugend dargelegt hat. In der Einleitung zu seiner Ausgabe des »Wealth of nations.« Dass die Form, welche die Anwendung des Kapitals unter der Voraussetzung von Gewinnen annimmt, der arbeitenden Klasse als Ganzes nicht gleichgültig sein kann, wird sogar von Ricardo eingeräumt, und Cairnes gründete, wie wir sehen werden, auf diese Erwägung einige seiner weitreichendsten Schlüsse in seinen »Leitenden Grundsätzen«.

Auf die Smith'sche Theorie der Besteuerung in seinem fünften Buche brauchen wir nicht näher einzugehen. Die wohlbekannten Regeln, welche er als Vorschriften für den wesentlichen Inhalt eines guten Steuersystems aufstellt, haben im allgemeinen Anerkennung gefunden. In neuerer Zeit sind sie durch Professor Walker einer strengen, kritischen Beurteilung unterzogen worden, allein von den Ausstellungen dieses Schriftstellers ist wohl nur eine einzige stichhaltig. Smith scheint der Ansicht zuzuneigen, dass der Beitrag des Einzelnen zu den öffentlichen Ausgaben als Bezahlung für die ihm durch den Staat erwiesenen Dienste angesehen werden könne und dem Umfang dieser Dienste entsprechen müsse. Wenn er diese Meinung hegte, wie dies einige seiner Erklärungen vermuten lassen, so hatte er jedenfalls hier prinzipiell Unrecht.

Wir setzen uns wohl nicht dem Vorwurf einer ungehörigen Vorwegnahme aus, wenn wir hier einiges über die Art und Weise bemerken, in welcher die öffentliche Meinung, unwillig über die Verirrungen einiger Nachfolger Smith's, die Neigung verriet, sich von den Schülern ab zum Lehrer zu wenden. Unter starker Betonung des Umstandes, dass er sich von den verkehrten Tendenzen Ricardo's und seiner Nachfolger verhältnismässig freigehalten, hat man neuerlich dem Gedanken Ausdruck gegeben, dass wir auf Smith zurückkommen und von ihm ausgehend den Faden der wirtschaftstheoretischen Aufeinanderfolge nochmals aufnehmen müssten. Wir dürfen indessen, trotz seiner unstreitigen Ueberlegenheit und unter voller Anerkennung der grossen Leistungen, welche er durch sein unsterbliches Werk vollbracht hat, nicht vergessen, dass, wie bereits erwähnt, dieses Werk im allgemeinen ein, allerdings ganz besonders hervorragendes Produkt der verneinenden Philosophie des letzten Jahrhunderts war, die in ihrem letzten Grunde in hohem Masse auf metaphysischem Boden ruhte. Das Smith'sche Denken war in der Hauptsache von dem in seinen Tagen so dringenden Werk der Kritik in Anspruch genommen, und seine Hauptaufgabe bestand darin, das zu jener Zeit herrschende Wirtschaftssystem in Verruf zu bringen und zu stürzen sowie die gänzliche Unfähigkeit der bestehenden europäischen Regierungen zur Leitung der wirtschaftlichen Bewegung darzutun. Diese seine Aufgabe begegnete und schloss sich dem allgemeinen Werke der Vernichtung an, das von jenen Denkern zum Austrag gebracht wurde, die dem achtzehnten Jahrhundert sein charakteristisches Gepräge verliehen. Es spricht zu seinen Gunsten, dass er nicht nur durch diese zerstörende Wirksamkeit, sondern auch durch wertvolle Elemente ein neues Gedanken- und Lebens-System vorbereiten half. Auf seinem besonderen Gebiete hat er nicht nur viele Irrtümer und Vorurteile verscheucht und der Wahrheit den Boden geebnet, sondern er hat uns auch einen dauernden Besitzstand hinterlassen in der scharfsinnigen Analyse wirtschaftlicher Tatsachen und Begriffe, in den weisen praktischen Anregungen und in den lichtvollen Erörterungen aller Art, an denen sein Werk überreich ist. Da er der besten philosophischen Richtung seiner Zeit angehörte, nämlich jener, mit welcher die Namen Hume und Diderot verknüpft sind, so war sein Streben vorzüglich darauf gerichtet, den positiven Standpunkt zu gewinnen. Doch vermochte er dieses Ziel nicht zu erreichen; die endgültige und allen Anforderungen entsprechende Behandlung des wirtschaftlichen Lebens der Gemeinschaften muss sich vielmehr auf andere und dauerhaftere Grundlagen stützen, als es jene sind, welche seinem bewundernswerten Gebäude als Basis dienen.

Man hat mit Recht die Bemerkung gemacht, dass das Wort »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen« ganz besonders auf philosophische Theorien Anwendung finde. Und zweifellos müssen die Keime der fehlerhaften Methoden sowie der falschen oder übertreibenden Lehren der Nachfolger Smith's in seinem eigenen Werke gesucht werden, wenn auch sein gesunder Sinn und sein Hang zum Tatsächlichen ihn verhinderten, die eigenen Grundsätze in ihren äussersten Konsequenzen zu verfolgen. Die Einwendungen, welche Hildebrand und andere der gesamten historischen, von den Deutschen als »Smithianismus« bezeichneten theoretischen Entwickelung entgegenstellen, werden von diesen Kritikern nicht nur als auf seine Schule überhaupt, sondern, obwohl in geringerem Grade, als auf ihn selbst zutreffend betrachtet. Die wichtigsten dieser Einwände sind die folgenden. Man behauptet: Erstens ist Smith's Auffassung der Gesellschaftsökonomie eine wesentlich individualistische. In dieser Hinsicht trifft er mit dem allgemeinen Grundzug der verneinenden Philosophie seines Jahrhunderts zusammen. Diese Philosophie leugnete in ihren ausgeprägtesten Formen sogar das natürliche Vorhandensein der uneigennützigen Regungen des Gemüts und erklärte das Gefühl für die Interessen anderer als ein sekundäres Ergebnis der Eigenliebe. Gleich Hume verwarf indessen Smith diese übertriebenen Anschauungen, und man hat daher behauptet, dass er in dem »Völkerreichtum« absichtlich, wenn auch stillschweigend, von den wohlwollenden Grundsätzen in der menschlichen Natur abgesehen und als logischen Behelf einen »Wirtschaftsmenschen« angenommen habe, der von rein selbstischen Beweggründen angetrieben wird. Wie nun dem auch sei, – jedenfalls stellt er sich im grossen ganzen auf den Standpunkt des Einzelmenschen, welchen er als eine rein selbstsüchtige Kraft behandelt, die gleichmässig auf eigenen Gewinn hinarbeitet ohne Rücksicht auf das Wohl anderer oder auf das der Gesamtheit. Zweitens rechtfertigt er diese persönliche Stellung mit ihren Konsequenzen, indem er die optimistische Anschauung vertritt, dass das Wohl der Gemeinschaft am besten durch das freie Spiel der individuellen Begehrlichkeiten gefördert werde, vorausgesetzt nur, dass das Gesetz die Einmischung eines Gesellschaftsmitgliedes in die das eigene Interesse verfolgende Wirksamkeit eines andern verhindere. Mit der verneinenden Richtung überhaupt nimmt auch er an, – wenn auch einzelne Stellen in seinem Werke hiermit nicht übereinstimmen, – dass jedermann sein Interesse am besten kenne und zu wahren verstehe, und dass der wirtschaftliche Vorteil des Einzelnen mit jenem der Gesellschaft zusammenfalle. Zu dieser letzteren Folgerung wird er unwillkürlich verleitet, wie wir gesehen haben, durch aprioristische theologische Ideen sowie durch die metaphysischen Unterstellungen eines natürlichen Systems, eines natürlichen Rechtes und einer natürlichen Freiheit. Drittens wird er durch diese Herabminderung fast jeder einzelnen Frage auf eine solche des individuellen Gewinnes veranlasst zu einer allzu ausschliesslichen Berücksichtigung des Tauschwertes in dessen Verschiedenheit vom Reichtum im eigentlichen Sinne. Während dies eine mechanische Erleichterung im Gewinnen von Schlüssen ermöglicht, verleiht es der wirtschaftlichen Forschung einen oberflächlichen Charakter: Es trennt sie von den Wissenschaften der Biologie und Physik, es schliesst die Frage nach wirklicher gesellschaftlicher Nützlichkeit aus, es lässt keinen Raum für eine Kritik der Produktion und gibt Veranlassung, dass man, wie es J. S. Mill tut, jede, die Konsumtion – mit andern Worten, den Gebrauch des Reichtums – behandelnde wirtschaftliche Theorie leugnet. Viertens neigt er anlässlich der Verurteilung der bestehenden Wirtschaftspolitik zu sehr zur Verherrlichung eines regierungslosen Zustandes sowie zur Verwerfung jeglichen sozialen Einschreitens zur Regelung des wirtschaftlichen Lebens. Fünftens nimmt er weder Rücksicht auf die sittliche Bestimmung unseres Geschlechtes, noch betrachtet er den Reichtum als ein Mittel zur Erreichung der höheren Lebenszwecke und lädt hierdurch, nicht ganz mit Unrecht, den Vorwurf des Materialismus im weiteren Sinne dieses Wortes auf sich. Sechstens schliesslich trägt sein ganzes System einen zu absoluten Charakter.- Es würdigt die Tatsache nicht genügend, dass, mit Hildebrand zu reden, der Mensch als Glied der Gesellschaft ein Kind der Zivilisation und ein Produkt der Geschichte ist, und erkennt nicht gehörig, dass die verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwickelung insofern zu berücksichtigen sind, als sie veränderte wirtschaftliche Verhältnisse einschliessen und verändertes wirtschaftliches Handeln notwendig machen oder sogar eine Veränderung im Wesen des Handelnden nach sich ziehen. Vielleicht in sämtlichen hier aufgezählten Punkten, sicherlich in einigen und ganz besonders im letzten bietet Smith der Kritik ein beschränkteres Feld als die meisten der späteren englischen Nationalökonomen. Doch wird man unseres Erachtens einräumen müssen, dass sich das schliessliche Anwachsen der von diesen vertretenen verschiedenen fehlgehenden Richtungen auf die allgemeinen Prinzipien zurückführen lässt, die seiner Darstellung zu Grunde liegen.

An das Erscheinen des Smith'schen Buches hatten zuständige Beurteiler grosse Erwartungen geknüpft, wie die Aeusserungen Ferguson's in seiner »Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft« beweisen »Dem Publikum wird vermutlich bald eine Theorie der Nationalökonomie dargeboten werden, welche sich allem zur Seite stellen kann, was je über irgend einen Gegenstand des Wissens erschienen ist.« (Teil III. Sect. 4).. Dass die Verdienste des Werkes unverzügliche Anerkennung fanden, zeigt die Tatsache, dass innerhalb fünfzehn Jahren nach seinem Erscheinen sechs Auflagen notwendig wurden Fünf Auflagen des »Wealth of Nations« erschienen bei Lebzeiten des Verfassers: die zweite 1779, die dritte 1784, die vierte 1786 und die fünfte 1789. Nach der dritten Auflage änderte Smith im Texte nichts mehr. Von den Ausgaben, welche Zusätze anderer Nationalökonomen enthalten, sind die bedeutendsten jene von Playfair, mit Anmerkungen, 1805, von David Buchanan, mit Anmerkungen, 1814, von J. R. M'Culloch, mit Lebenslauf des Verfassers, Einleitung, Anmerkungen und ergänzenden Abhandlungen, 1828 (mit zahlreichen Zusätzen 1839 und seitdem öfters mit ferneren Zusätzen erschienen), vom Verfasser von »England and America« (Edward Gibbon Wakeneid) mit einem Kommentar, der indessen nicht über das zweite Buch hinaus fortgesetzt ist, 1835 – 39, von James E. Thorold Rogers, Professor der politischen Oekonomie zu Oxford, mit biographischer Einleitung und einer sorgfältigen Richtigstellung aller Smith'schen Anführungen und Verweisungen, 1869 (2. Auflage 1880) und von J. S. Nicholson, Professor in Edinburgh, mit Quellenangaben behufs weiterer Belehrung über die verschiedenen im Texte behandelten Gegenstände, 1884. Ausserdem erwähnen wir noch eines sorgfältig gearbeiteten Auszugs (abridgment) von W. P. Emerton (2. Aufl., 1881), der sich stützt auf die früher erschienene »Analysis« von Jeremiah Joyce (3. Aufl. 1821).. Seit dem Jahre 1783 wurde es im Parlament immer öfter erwähnt. Pitt zeigte sich sehr von seinem Inhalt eingenommen; Smith soll geäussert haben, dass der Minister das Buch ebensogut verstände als er selbst. Pulteney sagte im J. 1797, dass Smith die lebende Generation überzeugen und die kommende beherrschen würde. Parliamentary History, vol. 33, p. 778.

Die frühesten Kritiker Smith's waren Bentham und Lauderdale, welche, obgleich im allgemeinen mit ihm übereinstimmend, in besonderen Punkten von ihm abwichen. Jeremy Bentham (1748-1832) war Verfasser einer kurzen Darstellung, betitelt »Handbuch der Volkswirtschaftslehre« (A manual of political economy) sowie verschiedener wirtschaftlicher Einzelschriften, von denen die berühmteste seine »Verteidigung des Wuchers« (Defence of usury, 1787, deutsch hrsg. von J. A. Eberhard, 1788) ist. Diese enthielt (im 13. Brief) eine ausführliche kritische Beurteilung einer bereits angeführten Stelle des »Völkerreichtums«, in welcher Smith einen den niedrigsten Satz des Marktes nur sehr wenig überschreitenden gesetzlichen Maximal-Zinsfuss gebilligt hatte unter dem Vorgeben, hierdurch das Kapital des Landes ordentlichen Leuten anstatt Verschwendern und Projektenmachern zugänglich zu machen. Wie man berichtet, ist von Smith eingeräumt worden, dass Bentham seine Sache gewonnen habe. In seinen Ausführungen entwickelt letzterer jedenfalls bedeutende Fähigkeiten Man muss sich indessen erinnern, dass bereits 1769 Turgot in seinem »Mémoire sur les prêts d'argent« dieselbe Theorie mit nicht geringerer Fähigkeit verteidigt hatte.; und zweifellos ist es das Richtige, innerhalb einer entwickelten industriellen Gesellschaft die Festsetzung des Zinsfusses der vertragsmässigen Uebereinkunft zwischen Entleiher und Leiher zu überlassen, während das Gesetz nur im Falle des Betrugs einzuschreiten hätte.

Die Hauptbedeutung Bentham's liegt nicht auf wirtschaftswissenschaftlichem Gebiet. Indessen war einerseits dasjenige, was als Benthamismus bekannt ist, nach Comte Lettres d'A. Comte à J. S. Mill, p. 4. unzweifelhaft ein Ableger der Volkswirtschaftslehre und besonders des Systems der natürlichen Freiheit. Und andrerseits förderte es die zeitweilige Uebermacht dieses Systems, indem es den Grundsatz des Einzelinteresses und die Methode der von diesem Interesse ausgehenden Deduktion auf das Gesamtgebiet der Gesellschafts- und Sittenlehre ausdehnte. Diese Verwandtschaft der Volkswirtschaftslehre mit dem Bentham'schen Ideal offenbart sich in der Gruppe von Denkern, welche sich um ihn scharte. J. S. Mill kennzeichnet diese Denker gänzlich unzutreffend als »gründliche«, doch besassen sie jedenfalls ein hohes Mass von Scharfsinn und logischen Fähigkeiten und bekundeten ein, wenn auch unklares Streben nach einer positiven Gesellschaftswissenschaft, an deren Begründung sie allerdings verhindert wurden sowohl durch ihren Mangel an wahrer wissenschaftlicher Bildung als durch ihre absolute Denkweise.

Lord Lauderdale machte in seinem noch immer lesenswerten Buche »Untersuchung über Wesen und Entstehung des Volksreichtums« (Inquiry into the nature and origin of public wealth, 1804, deutsch 1809) aufmerksam auf gewisse tatsächlich vorhandene Schwächen in den Smith'schen Ausführungen über Wert und Wertmass sowie über die Produktivität der Arbeit. Auch lieferte er weitere Aufklärung über verschiedene Gegenstände, wie z. B. über die wahre Art der Schätzung des Volks-Einkommens und über die Rückwirkung, welche die Verteilung des Reichtums auf dessen Erzeugung ausübt.

Smith befand sich gerade in den Anfängen einer grossen wirtschaftlichen Revolution. Die Produktions- und Verkehrs-Welt, in welcher er lebte, war noch, wie sich Cliffe Leslie geäussert hat, »eine sehr junge« und eine verhältnismässig beschränkte; »er erwähnt nur eine einzige Dampfmaschine, die Newcomen'sche, und von der Baumwollindustrie spricht er nur einmal und nur beiläufig«. »In der Zeit von 1760 bis 1770«, sagt Mr. Marshall, »fing Roebuck an, Eisen durch Kohle zu schmelzen, verband Brindley die aufstrebenden Sitze der gewerblichen Tätigkeit mit der See durch Kanäle, entdeckte Wedgewood die Kunst der billigen und guten Herstellung von Töpferwaren, erfand Hargreaves die Jenny-Spinnmaschine, machte Arkwright Wyatt's und High's Erfindungen des Spinnens vermittelst der Streckwalzen nutzbar und verwendete zu deren Bewegung die Wasserkraft, und erfand Watt die Kondensations-Dampf-Maschine. Crompton's Mule-Spinnmaschine und Cartwrights Kraftwebestuhl folgten bald darauf.« Diese rasche Entwickelung hatte eine weite Ausdehnung der Industrie zur Folge, jedoch auch manche bedauerlichen Ergebnisse. Hätte Smith letztere voraussehen können, so würde er wohl nicht so rückhaltslos an die, durch die blosse Befreiung des Strebens zu schaffenden Wohltaten geglaubt und nicht so ungestüm auf das Schädliche der alten Einrichtungen hingewiesen haben, die zu ihrer Zeit der Arbeit teilweisen Schutz gewährt hatten. Gleichzeitig mit diesen Uebeln des neuen Wirtschaftssystems trat der Sozialismus auf als der ebenso unvermeidliche wie notwendige Ausdruck des Protestes der arbeitenden Klassen und des Trachtens nach einer besseren Ordnung der Dinge, und dasjenige, was heute die »soziale Frage« genannt wird, diese unabweisbare Aufgabe des modernen Lebens, erhob sich zu ihrem seither ständig behaupteten Range. Diese Frage wurde zuerst wirksam der öffentlichen Meinung Englands unterbreitet durch Thomas Robert Malthus (1766 bis 1834), jedoch nicht unter dem Antrieb revolutionärer Neigungen, sondern im Interesse einer konservativen Politik.

Die erste Ausgabe des Buches, welches dieses Ergebnis zur Folge hatte, erschien im Jahre 1798, ohne Angabe des Verfassers, unter dem Titel: »Ein Versuch über das Gesetz der Bevölkerung in seinen Beziehungen zur zukünftigen Gestaltung der Gesellschaft, nebst Bemerkungen über die Ansichten Godwin's, Condorcet's und anderer Schriftsteller« (An essay on the principle of population, as it affects the future improvement of society, with remarks on the speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet and other writers). Dieses Werk entstand aus gewissen privaten Streitigkeiten des Verfassers mit seinem Vater Daniel Malthus, der ein Freund Rousseau's gewesen und sich als begeisterter Anhänger der Lehre vom menschlichen Fortschritt zeigte, wie diese von Condorcet nebst anderen französischen Denkern und deren englischen Schülern verkündet wurde. Der hervorragendste unter den letztern war William Godwin, dessen »Untersuchung über politische Gerechtigkeit« (Enquiry concerning political justice) im Jahre 1793 veröffentlicht worden war. Die in diesem Werke niedergelegten Anschauungen hatte dessen Verfasser nochmals in seinem »Forscher« (Enquirer, 1797) dargelegt, und eine in diesem Bande enthaltene Abhandlung, betitelt »Geiz und Verschwendung«, rief die erwähnten Erörterungen zwischen Vater und Sohn hervor. »Die allgemeine Frage nach der zukünftigen Gestaltung der Gesellschaft« erhob sich somit zwischen beiden, wobei der ältere Malthus die Godwin'schen Lehren verteidigte, während der jüngere sie angriff. Der letztere »setzte sich hin, in der blossen Absicht, seine Gedanken auf dem Papier klarer zu entwickeln, als es ihm seiner Meinung nach in der Unterhaltung möglich war«, und der Essay über die Bevölkerung war das Ergebnis.

Godwin's Gesellschaftsideal stützte sich auf den Gedanken, dass die sozialen Missstände ihren Grund in der Mangelhaftigkeit menschlicher Einrichtungen haben. Es sei mehr als genug an für alle hinlänglichem Reichtum vorhanden, doch sei er nicht gleichmässig verteilt: Der eine hat zu viel, der andere zu wenig oder nichts. Möge man diesen Reichtum ebenso, wie die ihn erzeugende Arbeit geteilt ist, verteilen, und jedermann werde sich dann so viel erwerben können, als für eine einfache Lebensweise genüge. Es bliebe dann reichliche Musse übrig, die zur geistigen und sittlichen Selbstvervollkommnung benutzt werde. Die Vernunft werde die menschlichen Handlungen bestimmen. Eine Regierung und Zwang aller Art werde nicht vonnöten sein. Und unter der friedlichen Herrschaft der Wahrheit werde sich bald Vollkommenheit und Glückseligkeit auf Erden verbreiten. Diesen glühenden Zukunftsbildern stellt Malthus die Tatsachen des Nahrungsbedürfnisses gegenüber sowie das dem Menschengeschlecht innewohnende Bestreben, sich bis zu den Grenzen einer hinlänglichen Befriedigung desselben zu vermehren. Unter einem Zustand allgemeiner materieller Wohlfahrt würde sich dies Bestreben, das im wirklichen Leben durch die Schwierigkeit der Gewinnung eines Unterhalts gehemmt wird, unbeschränkt betätigen. Bald würde der Mangel der vermehrten Bevölkerungszahl folgen, bald die Musse nicht mehr übrig bleiben, der alte Kampf um's Dasein würde wiederum beginnen und die Ungleichheit wieder zur Herrschaft gelangen. Könnte daher Godwin's ideales System verwirklicht werden, so würde nach Malthus schon die Kraft des Bevölkerungsgesetzes genügen, dessen Zusammenbruch herbeizuführen.

Offenbar war der Essay in polemischer Absicht geschrieben. Er war eine gelegentliche, gegen die Utopistereien des Tages gerichtete Streitschrift und durchaus keine, von rein wissenschaftlichem Interesse eingegebene systematische Abhandlung. Als polemische hatte sie entschieden Erfolg; es konnte nicht schwer fallen, mit dem von Godwin aufgestellten Gleichheitsideal fertig zu werden. Bereits im Jahre 1761 hatte Dr. Robert Wallace ein, von Malthus bei der Abfassung seines Essay benutztes Werk veröffentlicht, welches den Titel führte »Verschiedene Betrachtungen über das Menschengeschlecht, die Natur und die Vorsehung« (Various prospects of mankind, nature and providence). Nachdem der Verfasser in diesem von einer Gemeinschaft der Güter als von einem Mittel gegen die gesellschaftlichen Uebel gesprochen hatte, gestand er, dass einer solchen Organisation der Gesellschaft ein verderbliches Hindernis entgegenstände, nämlich »die hierauf folgende Uebervölkerung«. Condorcet's Uebertreibungen zu widerlegen war für Malthus ebenfalls nicht schwer. Dieser hervorragende Mann hatte inmitten der Stürme der französischen Revolution, verborgen vor seinen Feinden, die »Grundzüge einer geschichtlichen Entwickelung des menschlichen Geistes« (Esquisse d'un tableau historique de l'esprit humain, 1795, 2. éd. 1823, deutsch von Posselt, 1796) verfasst. Der leitende Gedanke dieses Buches macht sein Erscheinen zu einem denkwürdigen Ereignis in der Entstehungsgeschichte der Gesellschaftswissenschaft. Sehen wir von einigen Einzelskizzen Turgot's In seinem in der Sorbonne 1750 gehaltenen Vortrag über das allmähliche Fortschreiten des menschlichen Geistes (Sur les progrès successifs de l'esprit humain). ab, so finden wir darin zum erstenmale die Idee einer sich auf die Geschichte stützenden Lehre der Gesellschaftsdynamik erörtert. Aus diesem Grunde wird der Verfasser von Comte als sein bedeutendster unmittelbarer Vorgänger anerkannt. In der Ausführung seines grossartig angelegten Plans schlug Condorcet jedoch fehl. Seine verneinende Metaphysik hindert ihn an einer richtigen Würdigung der Vergangenheit, und am Schlusse seines Werkes ergeht er sich in unklaren Aufstellungen über die Vervollkommnungs-Fähigkeit unseres Geschlechtes sowie in irrationellen Erwartungen hinsichtlich einer unbestimmten Ausdehnung der Dauer des menschlichen Lebens. Malthus ist anscheinend für das Edle in der Gesinnung Condorcet's ebensowenig empfänglich, als er die Grösse seines leitenden Gedankens würdigt. Indessen besitzt er die Fähigkeit, mit den trügerischen Hoffnungen dieses Schriftstellers kurzen Prozess zu machen; sein gesunder, wenn auch etwas beschränkter und prosaischer Verstand ist wenigstens geeignet, Utopien aufzudecken und als solche blosszustellen.

Der Plan einer förmlichen und eingehenden Abhandlung über das Bevölkerungsthema war ein späterer Gedanke Malthus'. Der Essay, in welchem er sich mit einer hypothetischen Zukunft befasst hatte, veranlasste ihn, die Wirkungen des von ihm aufgestellten Grundsatzes auf den vergangenen und gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft zu untersuchen; er unterzog diese Wirkungen einer geschichtlichen Prüfung und suchte für den tatsächlichen Stand der Dinge solche Folgerungen zu gewinnen, wie sie durch die Erfahrung gewährleistet erschienen. Hieraus ergab sich eine derartige Veränderung in dem Wesen und in der Zusammensetzung des Essay, dass nach seinen eigenen Worten »ein neues Werk« entstand. Das dergestalt veränderte Buch erschien 1803 unter dem Titel »Ein Versuch über das Bevölkerungsgesetz oder eine Uebersicht seiner früheren und gegenwärtigen Wirkungen auf die menschliche Glückseligkeit; nebst einer Untersuchung über unsere Aussichten in betreff der zukünftigen Vermeidung oder Linderung der hieraus entstehenden Uebel« (An essay on the principle of population, or a view of its past and present effects on human happiness; with an enquiry into our prospects respecting the future removal or mitigation of the evils which it occasions; deutsch von Hegewisch, 1807, und von Stöpel, 1879, 2. Aufl. 1900).

In der ursprünglichen Gestalt des Essay war keine Rede von anderen Hindernissen einer Bevölkerungszunahme als von den durch Laster oder Elend hervorgerufenen. Nunmehr führt er das neue Element des vorbeugenden Hemmnisses ein, welches in der sogenannten »sittlichen Enthaltung« besteht. Er wird hierdurch in die Lage versetzt, »einige der herbsten Folgerungen zu mildern«, zu welchen er früher gelangt war. Das Buch erschien bei Lebzeiten des Verfassers in fünf Auflagen Sie tragen die Jahreszahlen 1803, 1806, 1807, 1817, 1826., und in allen finden sich verschiedene Zusätze und Verbesserungen. Diejenige vom Jahre 1817 ist die letzte von ihm völlig durchgesehene und bietet den Text im wesentlichen so, wie er seitdem gedruckt wurde.

Ungeachtet der breiten Ausführlichkeit, mit welcher er sein Werk ausstattete, und trotzdem dies bisher fast beispiellos umfassende Auseinandersetzungen hervorrief, ist es doch nicht leicht, herauszufinden, was er an wirklich Gediegenem zu unserem Wissen beigetragen hat, und ebenso schwierig ist es, sich bestimmt darüber klar zu werden, welche nicht schon längst bekannten praktischen Vorschriften er eigentlich auf seine theoretischen Prinzipien gründete. Diese zweifache Unbestimmtheit tritt deutlich hervor in seinem berühmten Schriftwechsel mit Senior, aus dessen Verlauf sich mit Gewissheit zu ergeben scheint, dass seine Theorie weniger in ihrem Gehalt als in der sie umkleidenden Ausdrucksweise eine neue ist. Wie er uns selbst erzählt, beschäftigte er sich nach der Veröffentlichung des ursprünglichen Essay, dessen hauptsächlichen Inhalt er von Hume, Wallace, Smith und Price entlehnt hatte, eingehend mit dem Gegenstande und fand, dass »viel mehr darüber vorhanden sei, als er geglaubt habe«. Das Thema »war von einigen der französischen Oekonomisten, gelegentlich von Montesquieu, und von englischen Schriftstellern wie Dr. Franklin, Sir James Steuart, Mr. Arthur Young und Mr. Townsend in einer solchen Weise behandelt worden, dass man billig darüber erstaunen muss, dass es die öffentliche Aufmerksamkeit nicht mehr erregt hat.« »Es blieb indessen«, meinte er, »viel zu tun übrig. Die Gegenüberstellung von Bevölkerungszunahme und Nahrung war nicht mit hinreichendem Nachdruck und mit der erforderlichen Bestimmtheit bewirkt worden«, und »wenige Untersuchungen hatten sich mit den verschiedenen Arten des Ausgleichs zwischen Bevölkerungszahl und Unterhaltsmitteln befasst.« Dem ersteren dieser Mängel, nämlich dem einer genauen Feststellung der Beziehungen zwischen Bevölkerungszunahme und Nahrungsmitteln, glaubt Malthus zweifellos abgeholfen zu haben durch den berühmten Satz, dass »die Bevölkerung in einem geometrischen Verhältnis, die Nahrung dagegen in einem arithmetischen zunimmt.« Dieser Satz ist indessen bündig als ein irriger nachgewiesen worden, da kein derartiger Unterschied in den Gesetzen besteht, welche einerseits die Vermehrung des Menschen und anderseits jene der organischen Dinge regeln, welche seine Nahrung bilden. J. S. Mill ist ungehalten über die Kritiker der Malthus'schen Formel, welche er ohne Grund als eine blosse »gelegentliche Bemerkung« bezeichnet, da sie ja, obgleich eine irrtümliche, genügend erkennen lasse, was das richtige sei. Es ist indessen sicherlich dringend notwendig, Scheinwissenschaft als solche zu enthüllen und die Grundlagen irgend welcher Meinungen einer strengen Prüfung zu unterziehen. Wo die eben erwähnte Formel keine Anwendung findet, werden häufig andere, etwas unklare Ausdrücke gebraucht, so z. B. »die Bevölkerung hat die Tendenz, sich schneller zu vermehren als die Nahrung«, ein Ausspruch, in welchem beide behandelt werden, als ob sie aus sich selbst entständen, und der sich, wegen der Zweideutigkeit des Wortes »Tendenz«, anerkanntermassen mit der von Senior behaupteten Tatsache in Einklang bringen lässt, dass die Nahrung die Tendenz habe, sich schneller zu vermehren als die Bevölkerung. Es muss jederzeit ganz wohl bekannt gewesen sein, dass die Bevölkerung sich wahrscheinlich (obgleich nicht notwendig) mit jeder Zunahme in der Menge der Unterhaltsmittel vermehrt und zuweilen einen empfindlichen Druck auf die jener Menge gehörig entsprechende Zahl ausüben oder diese sogar für einige Zeit überschreiten kann. Auch ist man wohl nie im Zweifel darüber gewesen, dass Krieg, Krankheit, Armut – die beiden letzten oft die Folgen von Lastern – Ursachen sind, welche die Bevölkerungszahl niederhalten. In der Tat war die Art und Weise, in welcher Ueberfluss, vermehrte Bevölkerungszahl, Mangel, vermehrte Todesfälle in der natürlichen Volkswirtschaft aufeinander folgen, wenn die Vernunft nicht einschreitet, ausführlich erläutert worden durch Joseph Townsend in seiner Abhandlung über die Armengesetze (Dissertation on the poor laws, 1786), die auch Malthus bekannt war. Ausserdem leuchtet wohl hinlänglich ein, dass eine seitens der Einzelnen gehegte Besorgnis vor den Uebeln der Armut oder ein gegen ihre vermutlichen Nachkommen empfundenes Pflichtgefühl die Vermehrung der Bevölkerung aufhalten könne und diese Wirkung in einem gewissen Umfange in allen zivilisierten Gemeinschaften gehabt haben. Nur wenn solche offenbaren Wahrheiten in die technische Bezeichnung von »positiven« und »vorbeugenden Hemmnissen« gekleidet werden, machen sie den Eindruck des Neuen und Tieferdachten, und doch scheinen sie die ganze Botschaft zu enthalten, welche Malthus dem Menschengeschlecht gebracht hat. Der mit vielem Fleiss zusammengestellte Apparat geschichtlicher und statistischer, die verschiedenen Länder des Erdballs betreffenden Tatsachen, welcher der veränderten Gestalt des Essay hinzugefügt wird, bringt, obgleich er manches Interessante und Merkwürdige enthält, kein Ergebnis von allgemeiner Bedeutung, das nicht schon vorher wohlbekannt gewesen wäre. Er wird daher weder von James Mill, noch von anderen beachtet, welche die Theorie auf allgemein wahrnehmbare Tatsachen stützen. Tatsächlich war, wie bemerkt, die ganze geschichtliche Untersuchung ein späterer Gedanke von Malthus, welcher bereits sein grundlegendes Prinzip verkündet hatte, bevor er in sie eintrat.

Es erscheint hiernach dasjenige, was hochtrabend als Malthus'sche Bevölkerungslehre bezeichnet worden ist, nicht als eine grosse Entdeckung, als welche sie von einigen hingestellt worden, oder als eine verderbenschwangere Neuheit, wie sie andere genannt haben, sondern als der blosse förmliche Ausdruck offenbarer, wenn auch zuweilen unbeachtet gebliebener Tatsachen. Der anmassende Ton, in welchem sich Nationalökonomen öfters über sie äussern, fordert insofern unseren Widerspruch heraus, als er uns vergessen machen kann, dass der gesamte von ihr behandelte Stoff bis jetzt nur sehr unvollkommen erfasst worden ist, dass die Ursachen, welche die Kraft des Zeugungstriebes verändern, sowie jene, welche Verschiedenheiten in der Fruchtbarkeit herbeiführen, noch der eingehenden Untersuchung harren Ueber diese Frage vgl. die Erörterungen Herbert Spencer's in seinen »Prinzipien der Biologie«, 6. Teil, 12. u. 13. Kap. (deutsch v. Vetter)..

Es ist das Gesetz der abnehmenden Bodenerträge (von dem später ausführlich die Rede sein wird), welches dadurch, dass es, wenn auch nur hypothetisch, die Aussicht auf eine beständig zunehmende Schwierigkeit in der Erlangung des notwendigen Lebensunterhalts für sämtliche Glieder der Gesellschaft eröffnet, der Bevölkerung als einem volkswirtschaftlichen Faktor die grösste Wichtigkeit verleiht. Und in der Tat ist es der Zusammenfluss der Malthus'schen Ideen mit den Lehren Ricardo's, insbesondere mit den von letzterem – wie wir sehen werden – aus der Rententheorie abgeleiteten Folgesätzen, (obwohl sich Malthus dieselben nicht aneignete), was Veranlassung gegeben hat, dass die Bevölkerung nunmehr in den Erörterungen über so manche wirtschaftlichen Fragen der neueren Zeit eine wesentliche Rolle spielte.

Malthus hat ohne Zweifel das grosse Verdienst, die öffentliche Aufmerksamkeit in packender und eindringlicher Form auf einen Gegenstand gelenkt zu haben, der vordem weder theoretisch noch praktisch genügende Würdigung gefunden hatte. Jedoch er sowohl als seine Anhänger haben offenbar Grösse und Dringlichkeit der von ihnen hervorgehobenen Gefahr ganz bedeutend übertrieben Malthus sagte selbst: »Es ist wahrscheinlich, dass ich den Bogen, welchen ich nach einer Seite hin zu stark gespannt vorfand, zu sehr nach der andern hinbog, in der Absicht, ihn gerade zu machen«.. In ihren Augen nahm eine einzige gesellschaftliche Unvollkommenheit eine solche gewaltige Ausdehnung an, dass sie anscheinend den ganzen Himmel überwölkte und der Welt mit Vernichtung drohte. Es ist dies wohl hauptsächlich dem Umstande zuzuschreiben, dass Malthus anfänglich bei seiner Behandlung der Frage den bedeutsamen, eine Hemmung ausübenden Einfluss der sittlichen Zurückhaltung gänzlich ausser acht liess. Aus dem Vorhandensein einer Kraft, die, wenn sie sich ungehindert betätigen könnte, gewisse Resultate zu erzeugen imstande wäre, geht noch nicht hervor, dass diese Resultate auf dem Gebiete der Erfahrung bevorstehen oder überhaupt möglich sind. Ein aus der Hand geworfener Körper würde unter dem alleinigen Einfluss der Wurfkraft sich fortwährend in gerader Linie bewegen; es würde jedoch der Vernunft nicht entsprechen, wollte man zur Verhinderung dieses Resultats eine besondere Massregel ergreifen und nicht auf die Tatsache Bedacht nehmen, dass ihm hinlänglich durch die übrigen, gleichzeitig in's Spiel tretenden Kräfte entgegengewirkt wird. Und derartige andere Kräfte sind auch in dem von uns erörterten Falle vorhanden. Wenn die dem Bevölkerungsgesetz innewohnende, überall als dieselbe angenommene Energie durch das Verhältnis gemessen wird, in welchem die Bevölkerungszahl sich unter den günstigsten Umständen vermehrt, so findet doch sicherlich die sich aus den Beweggründen der Klugheit oder des Altruismus betätigende Kraft von minder günstigen Umständen ihr Mass in dem bedeutenden Unterschied zwischen diesem Maximalverhältnis und denjenigen Verhältnissen, welche der Beobachtung zufolge in den meisten europäischen Ländern vorherrschen. Unter einem vernunftgemässen System der gesellschaftlichen Einrichtungen wird die Anpassung der Bevölkerungszahl an die für ihren Unterhalt zureichenden Mittel bewirkt durch den fühlbaren oder vorempfundenen Druck der Umstände und durch die Furcht vor einer sozialen Erniedrigung, und zwar in einem dem wünschenswerten sich leidlich nähernden Grade. Soll indessen das Ergebnis dem richtigen Verhältnis näher kommen, so dürfte sich allerdings die Verbreitung eines höheren Masses von Volksaufklärung sowie von grösserem Ernste beseelter Gewohnheiten der sittlichen Ueberlegung empfehlen. Jedenfalls aber ist es die Pflicht des Einzelnen gegenüber seiner vorhandenen oder möglichen Nachkommenschaft und nicht irgend eine unklare Vorstellung von dem Drucke der nationalen Bevölkerung auf die Unterhaltsmittel, was in Wirklichkeit das menschliche Verhalten entsprechend zu beeinflussen vermag.

Die einzige Forderung, welche Malthus geltend macht, besteht darin, sich so lange der Ehe zu enthalten, als der für eine Familie notwendige Unterhalt noch nicht erworben ist oder aller Wahrscheinlichkeit nach nicht beschafft werden kann. Der Gedanke einer während der Ehe geübten Enthaltsamkeit, welcher seitdem durch J. S. Mill und andere zu Tage gefördert wurde, ist seiner Auffassung fremd. Er stellt sogar anheim, aus Staatsmitteln für jedes siebente und fernere Kind in einer Familie einen gewissen Betrag zu bewilligen, und begründet diesen Vorschlag damit, dass niemand bei seiner Verheiratung sagen könne, wieviel Kinder er bekommen wird, und dass eine durch derartige Gaben gewährte Befreiung aus unvorhergesehener Verlegenheit keine Zunahme der Eheschliessungen zur Folge haben würde. Die Pflicht der wirtschaftlichen Klugheit bei Eingehung einer Ehe ist eine offenbare, doch ist in betreff der arbeitenden Klassen auf den Gedanken eines gesicherten Unterhalts kein ungehöriges Gewicht zu legen, und man wird sich erinnern müssen, dass das zur Eheschliessung geeignete Alter innerhalb einer Klasse von der in dieser Klasse vorhandenen durchschnittlichen Lebensdauer abhängig ist. Verfrühte Heiraten sind allerdings gewiss nicht selten, und sie bringen noch andere als materielle Uebel mit sich, so dass zu ihrer Verhinderung in allen Ständen möglicherweise sogar gesetzliche Massregeln mit Erfolg Anwendung finden könnten, indem man das Alter der vollen bürgerlichen Handlungsfähigkeit etwas hinausschöbe. Anderseits sprechen die Malthusianer indessen zu leichthin von einer unfreiwilligen Ehelosigkeit und erkennen nicht genügend, dass diese eine bedauerliche Notwendigkeit ist. Sie bringen den Wert des häuslichen Lebens als einer Schule der bürgerlichen Tugenden nicht gehörig in Anschlag und würdigen ebensowenig die soziale Bedeutung (selbst abgesehen von persönlichem Wohlbefinden) der gegenseitigen Gemütsbildung, wie sie sich aus den Beziehungen der Geschlechter in einer wohlgestalteten ehelichen Vereinigung ergibt.

Malthus folgert des weiteren aus seinen Grundsätzen, dass ein Staat davon absehen müsse, seine Bevölkerung durch künstliche Mittel zur Vermehrung anzutreiben, und insbesondere, dass keine Armengesetze erlassen werden dürften, und solche, wo sie beständen, abzuschaffen seien. Der erste Teil dieses Satzes lässt sich unseres Erachtens nicht auf jede gesellschaftliche Phase anwenden. Denn es ist wohl ausser Zweifel, dass z. B. im alten Rom, wo die Tätigkeit des Volkes hauptsächlich durch fortgesetzte Eroberungen in Anspruch genommen wurde, oder zu anderen Zeiten, in denen langwierige Kriege die Unabhängigkeit oder Sicherheit der Völker bedrohten, der Staatsmann völlig gerechtfertigt war, wenn er zu der von Malthus abgeratenen Art des Handelns seine Zuflucht nahm. Im Betreff der neuzeitlichen Wirtschaftsgemeinschaften hat er im allgemeinen recht, obwohl die Beförderung der Einwanderung in neuen Staaten im Grunde einem Anreiz zur Volksvermehrung gleichkommt. Die Frage der Armengesetze bringt Erwägungen anderer Art mit sich. Das englische System seiner Tage war allerdings ein mangelhaftes, doch wirkte es in einem gewissen Grade als Ausgleichsmittel gegenüber anderen Missständen in unseren gesellschaftlichen Einrichtungen, und alle Bemühungen, welche seine Verbesserung bezweckten, dienten dem öffentlichen Wohl. Vor dem Antrag auf seine Abschaffung sind indessen die Staatsmänner zurückgeschreckt, und die öffentliche Meinung hat sich ihm niemals angeschlossen. Man darf wohl kaum annehmen, dass das gegenwärtige System von langer Dauer sein wird: es ist zu mechanisch und macht zu wenig Unterschiede; in mancher Hinsicht zu schlaff, zeigt es oft ungehörige Strenge gegen den würdigen Armen, welcher ein Opfer des Missgeschicks geworden ist, und in seinem den jugendlichen Armen gegenüber in der Regel beobachteten Verfahren gibt es der Kritik zu den ernstlichsten Ausstellungen Anlass. Aber es würde voreilig sein, dasselbe abzuschaffen; es ist eine jener Einrichtungen, welche besser so lange beibehalten werden, bis das Dasein der arbeitenden Klassen in seiner Gesamtheit gründlicher und in einer von grösserem Mitgefühl zeugenden Weise erforscht worden ist. Das kritische Urteil über die Stellung Malthus' gegenüber der Armenunterstützung lautet im allgemeinen dahin, dass er zuerst zu viel beweist und alsdann vor den Folgen seiner eigenen Logik erschrickt. Aus seiner Beweisführung ergibt sich – und wird auch ausdrücklich an einer berühmten Stelle seines ursprünglichen Essay gesagt –, dass, wer Kinder in die Welt gesetzt hat, ohne entsprechend für ihren Unterhalt zu sorgen, der Bestrafung durch die Natur überlassen werden sollte: »Es ist nur eine erbärmliche Anmassung, zu verlangen, dass ihrer Hand die Rute entwunden« und die Wirkung ihrer Gesetze aufgehoben werde, welche die Gesetze Gottes sind und sowohl »ihn als seine Familie zum Leiden verurteilt haben«. Obgleich ihn seine Theorie zu diesem Schlusse führt, konnte er doch als christlicher Geistlicher nicht die Lehre aufrecht erhalten, dass wir dem notleidenden Mitbruder unser Mitleid versagen sollen. Daher wird er in die gründliche Folgewidrigkeit verwickelt, das Berechtigte, wenn nicht gar die Pflicht eines Beistandes in der Not für solche Fälle zuzugestehen, in welchen er trotzdem eine derartige Handlung als etwas der Gesellschaft Schädliches betrachten muss. Buckle, welcher sich durch mehr als eine der von Nationalökonomen verübten Uebertreibungen beeinflussen liess, macht sich die logische Folgerung zu eigen, welcher Malthus aus dem Wege ging. Er führt aus, dass der einzige Grund, welcher unseren dem Notleidenden erwiesenen Beistand rechtfertigen könne, ein wesentlich selbstsüchtiger sei, da wir vermutlich unser feineres Empfindungsvermögen abstumpfen würden, falls wir uns den Bitten des Darbenden gegenüber taub verhielten.

Die günstige Aufnahme, welche die Malthus'schen Anschauungen in gewissen Kreisen fanden, verdanken sie wohl zweifellos zum Teil dem, den höheren Ständen der Gesellschaft sehr willkommenen Eindruck, dass sie dazu angetan seien, die Reichen und Mächtigen von der Verantwortlichkeit für die Lage der arbeitenden Klassen zu befreien, indem sie bewiesen, dass die letzteren hauptsächlich sich selbst zu tadeln hätten und nicht die Gleichgültigkeit ihrer Vorgesetzten oder die Einrichtungen des Landes. Zudem hatte die Anwendung, welche seine Lehren durch einige seiner Anhänger fanden, die Wirkung, alles tätige Streben nach einem gesellschaftlichen Fortschritte zu entmutigen. So geht Chalmers »alle Pläne, die zur Besserung der wirtschaftlichen Lage des Volkes gewöhnlich in Vorschlag gebracht werden, der Reihe nach durch und verwirft sie feierlich allesamt«, unter der Begründung, dass vermehrte Lebensannehmlichkeiten eine vermehrte Bevölkerungszahl herbeiführten und somit der letztere Stand der Dinge schlimmer sei als der vorhergehende.

Der Glanz, welchen in neuerer Zeit die weite Aufnahme der Darwin'schen Hypothese um diese verbreitete, ist in einem gewissen Grade auch auf Malthus zurückgefallen. Der Urheber dieser Hypothese selbst macht gelegentlich des Nachweises ihrer Abstammung aufmerksam auf den von Malthus unter Bezugnahme auf den gesellschaftlichen Wettbewerb gebrauchten Ausdruck »Kampf um's Dasein«. Darwin ist der Ansicht, dass der Mensch zu seiner gegenwärtigen hohen Stellung gelangt sei vermittelst eines solchen, durch seine schnelle Vermehrung hervorgerufenen Kampfes. Zwar glaubt er, dass die Wirkung dieser Ursache der Veredelung unsers Geschlechts in den vorgerückteren Stufen des Gesellschaftslebens in hohem Masse durch sittliche Einflüsse aufgehoben werde. Indessen misst er ihr selbst für diese Stufen eine solche Wichtigkeit hinsichtlich jenes Zweckes bei, dass er, ungeachtet der aus dem Kampf um's Dasein entstehenden Leiden Einzelner, irgendwelche bedeutende Minderung in dem natürlichen, von ihm anscheinend als gewöhnliches betrachteten Zunahmeverhältnis vermieden sehen möchte.

In einigen Richtungen hat sich neuerdings das Bestreben geltend gemacht, die Theorie von dem »überlebenden Tüchtigsten« auf die menschliche Gesellschaft dergestalt anzuwenden, dass man die grausameren Züge der Malthus'schen Darstellung stärker geltend machte. Man förderte den Gedanken, dass alles, was sich nicht halten könne, verschwinden müsse, und hieran nichts geändert werden dürfe. Das Abstossende dieser Anschauung wird indessen aufgehoben durch eine umfassendere Vorstellung von dem Einflusse der Menschheit als einer sowohl vitale als soziale Verhältnisse regelnden Macht. Wie sich die menschliche Ueberlegenheit auf dem allgemeinen Gebiet der Tierwelt als eine neue Kraft geltend macht, welche mit Vorbedacht die untergeordneten Arten im Zaume hält und ihr Schicksal endgültig bestimmt, so kann auch die menschliche Voraussicht im Bereich des Sozialen zu gunsten der Schwachen eintreten, indem sie durch wohlüberlegtes Handeln regelt, was sonst ein blosser Widerstreit sich einander messender, von selbstischen Trieben erfüllter Kräfte sein würde Der »Versuch über die Bevölkerung« und die »Untersuchung über Wesen und Entwickelung der Grundrente« (Inquiry into the Nature and Progress of Rent, 1815) – welche später Erwähnung findet – sind jedenfalls die wichtigsten Beiträge Malthus' zur Wirtschaftswissenschaft. Er schrieb ausserdem »Grundsätze der Volkswirtschaftslehre« (Principles of political economy, 1820), »Begriffsbestimmungen auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre« (Definitions in political economy, 1827) und andere kleinere Abhandlungen. Ueber diese weniger bedeutenden Schriften Malthus' sowie über seine Personalgeschichte siehe »Malthus and his work« (1855) von James Bonar, welcher auch (1888) die Briefe Ricardo's an Malthus herausgegeben hat. Von diesen kleineren Schriften erschienen in deutscher Uebersetzung »Drei Schriften über Getreidezölle« als Heft 6 der von Leser und Brentano veröffentlichten »Sammlung älterer und neuerer staatswissenschaftlicher Schriften«, 1896..

David Ricardo (1772-1823) gehört im wesentlichen zur Smith'schen Schule, deren Lehren er sich in der Hauptsache aneignet, während er gleichzeitig versucht, sie weiter auszubilden und in gewissen Einzelheiten richtig zu stellen. Seine Behandlungsweise ist jedoch von jener Smith's sehr verschieden. Der letztere ist stets bemüht, sich eng an die Wirklichkeiten des Lebens zu halten, wie er sie antrifft, die Verhältnisse und Beziehungen von Menschen und Dingen so darzustellen, wie sie sind. Wie Hume beim erstmaligen Lesen seines grossen Werkes bemerkte, sind seine Grundsätze überall durch Beispiele veranschaulicht und durch interessante Tatsachen erläutert. Ganz anders verfährt Ricardo. Er bewegt sich in einer Welt von Abstraktionen. Von mehr und weniger willkürlichen Voraussetzungen ausgehend, leitet er deduktiv von diesen seine Folgerungen ab und verkündet sie als wahre, ohne auf den Umstand Rücksicht zu nehmen, dass die angenommenen Verhältnisse teilweise nicht der Wirklichkeit entsprechen, oder ohne die gewonnenen Ergebnisse mit der Erfahrung zu vergleichen. Wenn er seine Theorien erläutern will, so geschieht dies von angenommenen Fällen aus; – sein Lieblings-Kunstgriff besteht darin, sich zwei vertragsschliessende Wilde vorzustellen und zuzusehen, wie sie vermutlich handeln würden. Auf eine Erörterung der geeigneten Methode der Volkswirtschaftslehre geht er nicht ein; wahrscheinlich hatte er sie nicht systematisch geprüft oder war vielleicht zu einer solchen Prüfung nicht befähigt: die theoretische Verteidigung seines Verfahrens blieb daher der Ausarbeitung durch J. S. Mill und Cairnes vorbehalten. Doch übte sein Beispiel insofern eine bedeutende Wirkung aus, als es für die Praxis seiner Nachfolger massgebend wurde. Es lag für den hochstrebenden Theoretiker etwas ungemein Anziehendes in der stolz einherschreitenden Logik, welche in Ricardo's Händen an Gewissheit und Umfassendheit mit dem mathematischen Beweise zu wetteifern schien, desgleichen in den einleuchtenden und scharfsinnigen Formeln, die so bequem der Beweisführung dienten und eine rasche, wenn öfters auch mehr scheinbare als wirkliche Lösung schwieriger Aufgaben boten. Was die grundlegenden Sätze Smith's immer an Falschem oder Einseitigem aufweisen mochten, war in bedeutendem Mass durch seinen praktischen Sinn und sein stark entwickeltes Gefühl für die Wirklichkeit korrigiert worden; in den abstrakten Lehrsätzen Ricardo's und seiner Anhänger jedoch wurde es in seinem ganzen Umfange blossgelegt und sogar noch übertrieben.

Die seiner Methode anhaftenden Gefahren wurden erhöht durch seine ungemein lockere Ausdrucksweise. Senior bezeichnet ihn als den »ungenauesten Schriftsteller, der je auf dem Gebiete der Philosophie eine Bedeutung erlangte«. Seine eifrigsten Bewunderer finden, dass er in dem Gebrauch von Worten schwankend und unbestimmt ist; gewöhnlich führen sie seine Irrtümer zurück auf eine Verwechselung der gebräuchlichen, mit irgend welcher besonderen von ihm selbst ersonnenen Anwendung eines Ausdrucks.

Die umfassendste Darlegung seines Systems findet sich in seinen »Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre und der Besteuerung« (Principles of political economy and taxation, 1817, deutsch von Baumstark, 2. Aufl. 1877). Dieses Werk ist keine vollständige Darstellung des Wissenszweiges, sondern vielmehr eine lose zusammenhängende Reihe von Abhandlungen über Wert und Preis, Grundrente, Löhne und Kapitalgewinn, Steuern, Handel, Geld- und Bankwesen. Obwohl der Zusammenhang der einzelnen Teile nur ein loser ist, kehren doch überall dieselben Grundgedanken wieder und bestimmen den Charakter des Ganzen.

Das hauptsächlichste Problem, dessen Lösung er sich in diesem Werke unterzieht, ist das der Verteilung, d. h. die verhältnismässigen Anteile des Grundbesitzers, des Kapitalisten und des Arbeiters an dem Gesamtprodukt des Landes. Es ist von Wichtigkeit, zu bemerken, dass er besonders die Veränderungen zu erforschen gedenkt, welche im Laufe des Fortschrittes der Gesellschaft in den erwähnten Einzelanteilen Platz greifen. Einer der am wenigsten historischen Schriftsteller verrät somit ein Bewusstsein von der Notwendigkeit einer Theorie der Wirtschaftsdynamik – eine Theorie, welche er von seinem Standpunkt aus unmöglich liefern konnte.

Der Grundsatz, welchen er allem voranstellt, und der in der Tat den Schlüssel zum Ganzen bildet, lautet, dass der Tauschwert irgend einer Ware, die in beliebiger Menge hergestellt werden kann, unter der Herrschaft des freien Wettbewerbes durch die für deren Produktion erforderliche Arbeitsleistung geregelt wird. Aehnlichen Sätzen begegnet man auch in dem »Völkerreichtum«, von früheren englischen Schriften zu geschweigen. Smith hatte gesagt, dass »in dem frühen und unentwickelten Gesellschaftszustand, welcher der Anhäufung von Kapital und der Aneignung des Bodens voraufgeht, das Verhältnis zwischen den zum Erwerbe verschiedener Gegenstände notwendigen Arbeitsmengen anscheinend der einzige Umstand ist, welcher irgend welche Regel für den gegenseitigen Austausch dieser Gegenstände zu geben vermag«. Aber er ist schwankend in seiner Auffassung und bezeichnet als Massstab des Wertes zuweilen die für die Produktion des Gegenstandes erforderliche Arbeitsmenge, zuweilen jedoch diejenige Arbeitsmenge, über welche vermittelst des Gegenstandes auf dem Markte verfügt werden könne, und welche nur für eine gegebene Zeit und für einen gegebenen Ort dieselbe sei. Dieser Lehrsatz bedarf für ein entwickeltes Gesellschaftssystem insofern der Richtigstellung, als man das Kapital in Anschlag zu bringen hat; er nimmt dann die Form an, in welcher er irgendwo aus Malthus von Ricardo zitiert wird, dass nämlich der wirkliche Preis einer Ware »von der grösseren oder geringeren Kapital- und Arbeitsmenge abhängig ist, welche zu deren Produktion verwendet werden muss«. (Der Ausdruck »Kapitalmenge« ist unbestimmt, da das zeitliche Element nicht berücksichtigt ist, doch leuchtet der Sinn ein.) Ricardo nimmt jedoch durchgehends keine Notiz vom Kapital, erwähnt vielmehr bei seiner Erörterung dieses Grundsatzes nur der Arbeit und sucht dieses Verfahren dadurch zu rechtfertigen, dass er das Kapital als »angehäufte Arbeit« behandelt. Allein diese künstliche Art und Weise, die Tatsachen zu betrachten, verdunkelt das Wesen der Mitwirkung des Kapitals in der Produktion und hat dadurch, dass sie die Notwendigkeit dieser Mitwirkung nicht in Betracht zieht, einige sozialistische Irrtümer gefördert. Ricardo unterscheidet nicht gehörig zwischen der Ursache oder der Determinante und dem Mass des Wertes; ebensowenig führt er den Satz, dass die Produktionskosten den Wert bestimmen, auf seine Grundlage zurück, die in der Wirkung dieser Kosten auf die Beschränkung des Angebots besteht. Der oben angeführte Lehrsatz stellt den »natürlichen« Preis einer Ware fest; der Marktpreis ist zufälligen und vorübergehenden Abweichungen von dieser Norm unterworfen, die wiederum von Veränderungen in Angebot und Nachfrage herrühren. Im grossen ganzen und auf die Dauer jedoch hängt der Preis von den Produktionskosten ab, wie diese oben definiert sind. Auf dieser Grundlage gelangt Ricardo zur Erklärung der Gesetze, nach welchen sich das Produkt des Bodens und der Arbeit des Landes unter die verschiedenen an der Produktion teilnehmenden Klassen verteilt.

Die Rententheorie, mit welcher er den Anfang macht, war, obwohl sie in der Regel mit seinem Namen in Verbindung gebracht wird, und obwohl sie jedenfalls den lebensfähigsten Teil seines gesamten wirtschaftswissenschaftlichen Systems bildet, in Wirklichkeit nicht sein Eigentum, und er beanspruchte sie auch nicht als solches. Er sagt ausdrücklich in der Vorrede zu seinen »Principles«, dass »im Jahre 1815 Mr. Malthus in seiner »Untersuchung über das Wesen und die Entwickelung der Rente« (Inquiry into the nature and progress of rent) sowie ein Mitglied des Universitäts-Kollegiums zu Oxford in seiner »Abhandlung über die Verwendung des Kapitals zu Zwecken des Bodenanbau's (Essay on the application of capital to land) fast zu gleicher Zeit mit der wahren Rententheorie an die Oeffentlichkeit traten«. Der hier erwähnte zweite Schriftsteller war Sir Edward West, später Richter am Obersten Gerichtshofe in Bombay. Wie indessen M'Culloch nachgewiesen, ist diese Lehre schon vor Malthus und West's Zeiten klar erfasst und vollständig dargelegt worden von Dr. James Anderson in seiner »Untersuchung über die Natur der den Getreidehandel betreffenden Gesetze« (Enquiry into the nature of corn-laws, Edinburgh 1777) Anderson's Abhandlungen über den Ursprung der Rente ist abgedruckt in der »Select collection of scarce and valuable economical tracts«, die auf Veranlassung und Kosten des Lord Overstone im Jahre 1859 von J. R. M'Culloch herausgegeben wurde. Eine deutsche Uebersetzung von J. Anderson's drei Schriften über Korngesetze und Grundrente erschien als Heft 4 der von Leser und Brentano veröffentlichten »Sammlung älterer und neuerer staatswissenschaftlicher Schriften«, 1893..

Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass diese Abhandlung sowohl Malthus als West unbekannt war, aber die fragliche Theorie ist in ihr sicherlich ebenso klar erörtert und ebenso überzeugend begründet als in ihren Schriften. Auch ähnelt die ganze Art ihrer Darlegung durch Anderson auffällig der Form, in welcher sie von Ricardo geboten wird.

Das Wesentliche der Theorie besagt, dass die Rente, nämlich der Preis, den der Bewirtschafter an den Eigentümer des Bodens für die Ausnützung der produktiven Kräfte desselben bezahlt, gleich dem Betrag ist, um welchen der Preis des Bodenprodukts die auf den betreffenden Boden verwendeten Produktionskosten übersteigt. Mit zunehmender Bevölkerung und dem hierdurch entstehenden vermehrten Verlangen nach Nahrungsmitteln wird minder guter Boden in Anbau genommen, und der Preis des gesamten, für die Gemeinschaft erforderlichen Vorrats an Unterhaltsmitteln wird alsdann durch die Produktionskosten des Teils dieses Vorrates geregelt, dessen Gewinnung den grössten Kostenaufwand erfordert. Für jenen Boden indessen, der nichts einbringt als die Kosten der Bewirtschaftung, wird keine Rente bezahlt. Daher ist die Rente von irgend welcher Bodenart gleich dem Unterschiede zwischen den auf diesen Boden verwendeten Produktionskosten und den Kosten des Produkts, welches mit dem grössten Aufwand erzielt wird.

Die Theorie wird vielleicht am besten begriffen durch die hier gemachte Unterstellung, dass innerhalb eines Landes gleichzeitig eine Reihe von Bodenarten mit verschiedenen Fruchtbarkeitsgraden vorhanden ist, welche allmählich mit der zunehmenden Bevölkerung in Anbau genommen werden. Man würde jedoch irren, wollte man glauben, dass die Existenz der Rente durch eine derartige Verschiedenheit notwendig bedingt sei, obschon Ricardo dies hie und da stillschweigend vorauszusetzen scheint. Wenn der gesamte Boden eines Landes gleiche Fruchtbarkeit besässe, wenn er indessen in Privateigentum übergegangen wäre, und wenn der Preis des Produktes mehr betragen würde, als der zu dessen Erzeugung verwendeten Summe von Arbeit und Kapital gleichkäme, so würde eine Rente bezahlt werden. Diese fingierte Annahme können wir indessen für die Zukunft unberücksichtigt lassen, nachdem wir sie zur Klärung unserer Begriffe benutzt haben.

Da der Preis des Bodenproduktes, wie gesagt, durch die Produktionskosten des Erzeugnisses geregelt wird, welches keine Rente bringt, so ist klar, dass »das Getreide nicht teuer ist, weil eine Rente bezahlt wird, sondern dass eine Rente bezahlt wird, weil das Getreide teuer ist«, und dass »in dem Preis des Getreides keine Minderung eintreten würde, wenn auch die Grundherrn auf ihre ganze Rente Verzicht leisteten«. Die Rente ist tatsächlich kein bestimmendes Element des Preises; sie wird allerdings aus dem Preise bezahlt, aber dieser würde derselbe bleiben, wenn auch keine Rente bezahlt würde, und der gesamte Preis verbliebe alsdann dem Bewirtschafter.

Es sind öfters Zweifel darüber entstanden, ob diese Renten- Theorie nicht auch diejenige Smith's gewesen sei. Zuweilen gebraucht er eine Sprache, welche eine Bejahung dieser Frage einzuschliessen scheint, und stellt Sätze auf, die in ihrer weiteren Ausbildung unfehlbar zu dieser Theorie hinleiten würden. So drückt er sich in einer bereits angeführten Stelle folgendermassen aus: »Nur jene Teile des Bodenproduktes können in der Regel auf den Markt gebracht werden, deren gewöhnlicher Preis ausreicht zur Deckung sowohl des Kapitals, welches erforderlich ist, um sie dahin zu bringen, als auch des üblichen Gewinns aus diesem Kapital. Ueberschreitet der gewöhnliche Preis diesen Betrag, so wird der Ueberschuss natürlich zur Grundrente. Uebersteigt der Preis diesen Betrag nicht, obwohl es möglich ist, die Ware auf den Markt zu bringen, so kann für den Grundherrn keine Rente abfallen. Ob der Preis diesen Betrag überschreitet oder nicht, hängt von der Nachfrage ab.« Ferner ist, wie uns Ricardo mitteilt, an der Stelle, wo Smith diese Erwägungen auf den Bergwerksbetrieb anwendet, »das ganze Rentenprinzip trefflich und anschaulich dargelegt«. Allein er war der Meinung, dass in Wirklichkeit kein Boden vorhanden sei, welcher dem Grundherrn keine Rente einbrächte. Und seltsamer Weise scheint er nicht erkannt zu haben, dass diese Erscheinung eintreten kann, wenn verschiedene Bodenparzellen, von denen einige eine Rente abzuwerfen vermögen, andere nicht, zu einem Wirtschaftsganzen vereinigt werden. Wenn es wirklich eine Tatsache wäre, dass der gesamte Boden eines Landes eine Rente abwirft, so könnte sie der Anderson'sehen Theorie nicht wirksam entgegengesetzt werden, denn es läuft im wesentlichen auf dasselbe hinaus, wenn auf bereits angebautem Boden Kapital verwendet wird, dessen Ertrag den üblichen Gewinn nicht überschreitet. Ein solches zuletzt angelegte Kapital kann bei dem bestehenden Gewinnsatz keine Rente abwerfen, falls der Preis des Produktes nicht steigt.

Die von einigen gehegte Meinung, dass Smith, ungeachtet gelegentlicher unklarer oder ungenauer Ausdrücke, wirklich ein Anhänger der Anderson'schen Theorie gewesen sei, kann schwerlich aufrecht erhalten werden, wenn wir uns folgender Tatsachen erinnern. Als Hume nach dem erstmaligen Durchlesen des »Völkerreichtums« an Smith schrieb und bei dieser Gelegenheit seine allgemeine Uebereinstimmung mit dessen Ansichten bekundete, äusserte er (offenbar mit Bezug auf das 7. Kapitel des ersten Buches): »Ich kann mir nicht denken, dass die Pachtrente einen Teil im Preise des Produktes ausmacht, und bin vielmehr der Meinung, dass der Preis durchaus von der Menge und der Nachfrage bestimmt wird.« Ferner ist erwähnenswert, dass sich eine Darstellung der Rententheorie in demselben, 1777 erschienenen Buche findet, welches die Anderson'sche Bekämpfung der Smith'sehen Einwendungen gegen eine Ausfuhrprämie auf Getreide enthält. Dieses Buch dürfte schwerlich der Aufmerksamkeit Smith's entgangen sein, doch veranlasste ihn weder dessen Inhalt, noch Hume's Brief zur Vornahme einer Abänderung desjenigen, was er in der ersten Auflage über das Rententhema gesagt hatte.

Man wird sich darüber klar sein müssen, dass nicht allein die ungleiche Fruchtbarkeit verschiedener Bodenarten die Rentenunterschiede bestimmt. Die mehr oder weniger günstige Lage eines Landgutes in Bezug auf Märkte und somit auf Landstrassen und Eisenbahnen übt eine ähnliche Wirkung aus. Verhältnismässig niedrige Beförderungskosten werden es ermöglichen, das Produkt mit geringeren Auslagen auf den Markt zu bringen und hierdurch den die Rente bildenden Ueberschuss zu vermehren. Ricardo hat auf diesen Umstand hingewiesen, doch legt er ihm kein besonderes Gewicht bei, sondern betont hauptsächlich die verhältnismässige Ergiebigkeit der Bodenarten.

Die Rente wird von Ricardo definiert als der Preis, welcher bezahlt wird für die Ausnützung der ursprünglichen und unzerstörbaren Kräfte des Bodens. Er legt somit der Rente eine andere Bedeutung bei, als sie dieser Ausdruck im gewöhnlichen Leben hat, und wenn sie in seinem Sinne aufgefasst werden soll, wird sie oft näher als »wahre« oder »wirtschaftliche« Rente bezeichnet. Ein Teil des an den Grundherrn bezahlten Betrages ist in Wirklichkeit häufig Kapitalgewinn von den Kosten, welche er aufgewendet hat, um das Landgut für die Bewirtschaftung durch den Pächter instandzusetzen. Es ist indessen wohl zu beachten, dass der Ertrag aus diesen Anlagen, wo nur immer diese »mit dem Boden verschmolzen« sind und »dauernd zur Vermehrung seiner produktiven Kräfte beitragen«, nicht den Gesetzen des Kapitalgewinns, sondern jenen der Rente folgt. Aus diesem Grunde wird es schwierig, wenn nicht unmöglich, in der Praxis mit einiger Genauigkeit den Betrag, welchen der Grundherr »für die Ausnützung der ursprünglichen Bodenkräfte« erhält, von jenem zu unterscheiden, welchen er als Vergütung für die von ihm selbst oder von seinen Vorgängern bewirkten Anlagen empfängt. Diese Vorgänger haben das Landgut als ein Mittel zur Erzeugung von Nahrung von einer Klasse der Produktivität zu einer höheren gefördert, und der Fall liegt hier gerade so, als ob die Natur von vornherein den fraglichen Boden in jene höhere Klasse gebracht hätte.

Smith hatte es als besonderes Vorrecht der Landwirtschaft, im Vergleich mit anderen Produktionsformen, angesehen, dass in ihr »die Natur vereint mit dem Menschen arbeite«, und dass daher, während die gewerblichen Arbeiter nur das sie beschäftigende Kapital nebst dem Gewinn dessen Eigentümers wiedererzeugten, der landwirtschaftliche Arbeiter nicht nur das Unternehmerkapital nebst dem Gewinn daraus reproduziere, sondern auch die Rente des Grundherrn. Diese letztere betrachtete er als die freiwillige Gabe der Natur, welche übrig bleibe, »nachdem alles in Abzug gebracht oder ersetzt worden ist, was als das Werk des Menschen angesehen werden könne«. Ricardo bemerkt dem gegenüber mit Recht, dass »kein einziges Gewerbe angeführt werden könne, in welchem die Natur dem Menschen nicht ihren Beistand leiht«. Darauf zitiert er die Bemerkung Buchanan's, dass »der Gedanke, die Landwirtschaft liefere deshalb ein Produkt und eine Rente, weil die Natur mit der wirtschaftlichen Tätigkeit in dem Vorgange des Bodenanbau's zusammenwirke, auf blosser Einbildung beruhe. Nicht von dem Produkt, sondern von dem Preise, zu welchem es verkauft wird, leitet sich die Rente her; und dieser Preis wird bezahlt, nicht weil die Natur in der Produktion mithilft, sondern weil es der Preis ist, welcher die Konsumtion dem Angebot anpasst« Senior hat indessen nachgewiesen, dass Smith teilweise Recht hat: Einerseits ist es richtig, dass eine Rente deswegen verlangt wird, weil die produktiven Kräfte der Natur beschränkt sind und eine vermehrte Bevölkerung einen weniger lohnenden Kostenaufwand erfordert, um den notwendigen Bedarf zu erlangen; andererseits ist es die dem grössten Teil des Bodens innewohnende Fähigkeit, Unterhaltsmittel für eine grössere Anzahl von Personen zu erzeugen, als zu dessen Bewirtschaftung erforderlich sind, welche den Fonds liefert, aus dem die Rente bezahlt werden kann.. Die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zieht aus dem Steigen der Rente keinen Gewinn; dies Steigen ist nur für die Grundherren von Vorteil, und ihre Interessen befinden sich somit in dauerndem Gegensatz zu jenen aller übrigen Klassen. Das Steigen der Rente kann verzögert oder aufgehalten oder sogar vorübergehend in ein Sinken verkehrt werden durch Verbesserungen im Betriebe der Landwirtschaft, wie z. B. durch die Einführung von neuen Dungmitteln, von Maschinen oder auch einer besseren Arbeitsorganisation (obwohl auf diesem Gebiete für letztere weniger Raum vorhanden ist als in anderen Produktionszweigen) oder durch die Eröffnung neuer Quellen des Angebots in anderen Ländern. Doch hält die Tendenz zum Steigen so lange an, als die Bevölkerung zunimmt.

Die hohe Bedeutung der Rententheorie für das System Ricardo's liegt in der Tatsache, dass er die allgemeine Wirtschaftslage der Gesellschaft durchaus von dem Standpunkt abhängig sein lässt, auf welchem sich der Betrieb der Landwirtschaft befindet. Man wird dies aus der folgenden Darlegung seiner Theorie der Löhne und der Kapitalgewinne ersehen. Das Produkt eines jeden Aufwands von Arbeit und Kapital verteilt sich unter den Arbeiter und den Kapitalisten dergestalt, dass, wenn der eine mehr, der andere notwendig weniger erhält. Unter der Annahme einer sich gleichbleibenden Produktivität der Arbeit kann der Kapitalgewinn nur durch steigende Löhne vermindert oder durch ihr Fallen vermehrt werden. Nun wird der Preis der Arbeit, welcher ihren Produktionskosten gleich ist, bestimmt durch den Preis der Waren, die für den Unterhalt des Arbeiters notwendig sind. Der Preis der von diesem benötigten gewerblichen Artikel zeigt eine beständige Neigung zum Fallen, welche hauptsächlich veranlasst wird durch die zunehmende Anwendung der Arbeitsteilung auf deren Produktion. Indessen hängen die Kosten seines Unterhalts im wesentlichen nicht ab von dem Preise jener Artikel, sondern von dem seiner Nahrung. Und da die Produktion der Nahrungsmittel in einer fortschreitenden Gesellschaft und bei einer zunehmenden Bevölkerung ein immer grösseres Opfer von Arbeit erfordert, so steigt ihr Preis. Infolgedessen steigt der Geldlohn, und mit dem Steigen des Lohnes fällt der Kapitalgewinn. Es ist also das notwendige allmähliche Hinabsteigen auf immer schlechtere Bodenarten oder auf einen weniger produktiven Kostenaufwand auf demselben Boden, was die im Laufe der Geschichte platzgreifende Abnahme im Satz des Kapitalgewinns verursacht. (Smith schrieb diese Abnahme dem Wettbewerb der Kapitalisten zu, obgleich sich bei ihm an einer Stelle, i. Buch, 9. Kapitel »Mit dem Aufblühen der Kolonie vermindern sich allmählich die Kapitalgewinne. Sind die fruchtbarsten und bestgelegenen Ländereien sämtlich in Privateigentum übergegangen, so ist aus der Bewirtschaftung dessen, was sowohl hinsichtlich des Bodens als hinsichtlich der Lage minderwertig ist, ein weniger hoher Gewinn zu erzielen, und es kann für das in ihm angelegte Kapital nur ein geringerer Zins bezahlt werden.« Die hier in Frage stehende Ansicht hatte schon West aufgestellt., ein flüchtiges Anzeichen der Ricardo'schen Ansicht findet). Diesem Gravitieren der Kapitalgewinne nach einem geringsten Masse wird zuweilen glücklicherweise Einhalt getan durch Verbesserung der bei der Produktion von Bedürfnismitteln verwendeten Maschinen und insbesondere durch ähnliche Neuerungen in der Landwirtschaft sowie durch andere Ursachen, welche die Kosten des dem Arbeiter vor allem Notwendigen vermindern; aber auch in diesen Fällen ist die Neigung eine beständige. Während der Kapitalist auf diese Art verliert, gewinnt der Arbeiter keineswegs; seine höheren Geldlöhne befähigen ihn nur zur Bezahlung der höheren Preise seiner Bedürfnismittel, welche er in keiner grösseren und wahrscheinlich in geringerer Menge erhalten wird als zuvor. In der Tat kann der Arbeiter nie auf längere Dauer mehr verdienen, als erforderlich ist, um seine Klasse in den Stand zu setzen, in dem, durch die Gewohnheit für sie schlechterdings notwendig gewordenen Grade von Behaglichkeit zu leben und ihr Geschlecht ohne Vermehrung oder Verminderung fortzupflanzen. Es ist dies der »natürliche« Preis der Arbeit. Wird dieser durch den Marktpreis zeitweilig überschritten, so reizt dies die Bevölkerung zur Vermehrung, und der Lohnsatz fällt wiederum. Während also die Rente eine fortwährende Neigung zum Steigen und die Kapitalgewinne eine solche zum Sinken bekunden, hängt das Steigen oder Fallen der Löhne von dem Verhältnis ab, in welchem sich die arbeitenden Klassen vermehren. Ricardo muss daher, in der Absicht, ihre Lage zu verbessern, auf das Malthus'sche Rezept zurückgreifen, von dessen Anwendung er sich allerdings keine besondere Wirkung zu versprechen scheint. Die von ihm hervorgehobenen Sicherungsmittel gegen eine übermässige Bevölkerung sind die allmähliche Abschaffung der Armengesetze – deren Verbesserung würde ihn nicht befriedigen – und die Förderung des Geschmacks für höhere Annehmlichkeiten und Genüsse unter den arbeitenden Klassen.

Wie man erkennen wird, haben die Sozialisten einigermassen übertrieben, wenn sie mit dem Wort vom »ehernen Lohngesetz« Ricardo's verkünden wollten, dass die Löhne absolut mit dem Betrage identisch seien, welcher notwendig ist, um das Dasein des Arbeiters zu ermöglichen und ihn zur Fortpflanzung seiner Gattung zu befähigen. Er erkennt den Einfluss einer »durchschnittlichen Lebensführung« an als ein Mittel, welches dazu diene, die Bevölkerungszahl innerhalb der arbeitenden Klassen zu beschränken und somit gleichzeitig deren Löhne über dem niedrigsten Punkt zu halten. Andrerseits ist er jedoch der Ansicht, dass in seit langer Zeit besiedelten Ländern bei dem gewöhnlichen Gange menschlicher Angelegenheiten und bei dem Mangel besonderer Vorkehrungen zur Beschränkung der Bevölkerungszahl die Lage des Arbeiters ebenso sicher und aus denselben Ursachen sich verschlechtern, als die des Grundherrn sich verbessern werde.

Auf die Frage, ob diese Rententheorie sowie die hieraus von Ricardo abgeleiteten Folgerungen richtig seien, müssen wir erwidern, dass sie hypothetisch richtig sind für die vorgerücktesten Wirtschaftsgemeinschaften und allein für diese (obwohl sie voreilig auf Indien und Irland angewandt wurden), dass sie aber selbst für diese Gemeinschaften weder sicheren Schlüssen noch richtigem Handeln als Grundlage dienen können. Wie wir später sehen werden, wird die Bedeutung der meisten Lehrsätze der klassischen Nationalökonomie erheblich verringert durch die üblichen Voraussetzungen, dass wir mit »Wirtschaftsmenschen« zu tun haben, die nur von einem einzigen Prinzip angetrieben werden, dass ferner die Gewohnheit dem Wettbewerb gegenüber nicht aufzukommen vermöge, dass etwas wie vereintes Wirken nicht vorhanden sei, dass bei dem Abschluss eines Vertrags auf beiden Seiten gleiche Freiheit des Handelns bestehe, und dass es einen bestimmten allgemeinen Satz der Kapitalgewinne und Löhne innerhalb einer Gemeinschaft gebe. Diese letzte Annahme schliesst wieder ein: Erstens, dass das in irgend einem Unternehmen festgelegte Kapital ohne weiteres auf ein anderes übergeht, in welchem gerade höhere Gewinne zu erzielen sind; Zweitens, dass ein Arbeiter, ungeachtet aller ihn an den Ort fesselnden Bande des Gefühls, der Familie, der Gewohnheit oder anderer Verpflichtungen, sich unverzüglich nach irgend einem Platze oder in irgend eine Beschäftigungsart begeben wird, wo gerade höhere Löhne zu erlangen sind, als er sie früher erhalten hatte Adam Smith sagt: »Es erhellt zur Genüge aus der Erfahrung, dass der Mensch von allen Arten Gepäck am schwierigsten zu befördern ist.« (Völkerreichtum, i. Buch, 8. Kap.); und Drittens, dass Kapitalisten wie Arbeiter genaue Kenntnis von der Lage und den Aussichten der wirtschaftlichen Tätigkeit im ganzen Lande besitzen, sowohl was die eigenen als was die übrigen Beschäftigungen anlangt. In den Betrachtungen Ricardo's über die Rente und deren Wirkungen tritt indessen eine noch grössere Einseitigkeit zu Tage. Der Einfluss der Auswanderung, die seitdem gewaltige Dimensionen angenommen hat, wird ausser Acht gelassen, auch wird vorausgesetzt, dass der ganze Boden, welcher einer Gemeinschaft zur Verfügung stehe, auf deren eigenes Gebiet beschränkt sei, während das heutige Europa tatsächlich zu einem grossen Teile von den Weststaaten Amerika's ernährt wird. Er würdigte nicht entsprechend den Grad, in welchem die vermehrte Produktivität der Arbeit – sei es durch zunehmendes Verständnis, verbesserte Organisation, Einführung von Maschinen, sei es durch schneller und billiger befördernde Verkehrsmittel – die Produktionskosten stetig niederhält. Zu diesen Einflüssen müssen jene hinzugefügt werden, die aus gesetzlichen Reformen im Besitzrecht und günstigeren Pachtbedingungen herrühren und in derselben Richtung wirken. Das Ergebnis aller- dieser Ursachen ist, dass sich das von Ricardo vorhergesehene Drängen auf die Unterhaltsmittel nicht fühlbar macht, und die Grundherrn über sinkende Renten klagen, anstatt sich die Konsumenten über steigende Preise beschweren. Sämtliche Verhältnisse haben sich in der Tat dergestalt verändert, dass Professor Nicholson, übrigens kein Gegner der »orthodoxen« Volkswirtschaftslehre, in einer neuerdings angestellten Untersuchung über den gegenwärtigen Stand der landwirtschaftlichen Frage »Des Pächters Gewinn nicht der Schaden des Grundherrn« (Tenant's gain not landlord's loss, 1883), S. 83. die sogenannte Ricardo'sche Rententheorie als »zu abstrakt« bezeichnet, »als dass sie von praktischem Nutzen sein könne«. Ein besonderes volkswirtschaftliches Thema, über welches Ricardo dankenswertes Licht verbreitet hat, ist das Wesen der aus dem auswärtigen Handel herrührenden Vorteile sowie der Bedingungen, unter denen dieser Zweig des Handelsverkehrs sich zu entwickeln vermag. Frühere Schriftsteller hatten diese Vorteile erblickt in der Schaffung eines Marktes für das überschüssige Produkt oder in der Möglichkeit einer gewinnbringenden Anlage für einen Teil des nationalen Kapitals. Nach Ricardo bestehen sie »einzig und allein darin, dass der auswärtige Handel jede Nation in den Stand setzt, sich mit einer gegebenen Summe von Arbeit und Kapital eine grössere Menge aller Waren zusammengenommen zu verschaffen«. Es ist dies ohne Zweifel der Gesichtspunkt, von welchem wir in der Regel ausgehen sollten, obwohl die von seinen Vorgängern mit Einschluss Adam Smith's angewandten Formen der Darstellung zuweilen insofern von Nutzen sind, als sie sachliche Erörterungen über die nationale Produktion bieten und infolge dessen nicht ohne weiteres zu verwerfen sind. Ricardo fährt alsdann mit dem Hinweise fort, die Veranlassung zum Ankauf einer fremdländischen Ware liege nicht in dem Umstande, dass diese Ware an dem Orte ihrer Herkunft mit einem geringeren Aufwand von Arbeit und Kapital erzeugt werden könne als im eigenen Lande. Falls wir in der Produktion irgend eines andern Artikels einen grösseren positiven Vorsprung haben als in jener der fraglichen Ware, so muss es selbst dann, wenn wir Vorteil aus der Herstellung der letzteren ziehen, in unserem Interesse liegen, dass wir uns der Produktion des Artikels widmen, in welcher wir den grössten Vorsprung haben, und den einführen, dessen Erzeugung uns einen geringeren, wenn auch tatsächlichen Nutzen bringt. Kurzum, es sind nicht die absoluten, sondern die verhältnismässigen Produktionskosten, welche den internationalen Warenaustausch bestimmen. Diese Bemerkung ist richtig und von Interesse, wenn ihr auch anscheinend eine unverdiente Wichtigkeit von J. S. Mill und Cairnes beigelegt wird. Der letztere sagt in hochtrabendem Tone von ihr, dass sie »die Tiefen« des Problems des internationalen Verkehrs »ergründe«, trotzdem er, wie wir später sehen werden, ihren Sinn verändert durch den Hinweis auf gewisse Rücksichten, welche sich auf die Bedingungen der heimischen Produktion beziehen.

Für die Nation in ihrer Gesamtheit ist nach Ricardo nicht das Rohprodukt des Bodens und der Arbeit von Wichtigkeit, wie Smith dies anzunehmen scheint, sondern das Reineinkommen, d. h. der Ueberschuss dieses Produkts über die Produktionskosten oder mit anderen Worten die Summe der Grundrenten und der Kapitalgewinne. Denn die Arbeitslöhne, welche im grossen ganzen den Unterhalt der Arbeiter nicht überschreiten, betrachtet er nur als einen Teil der »notwendigen Auslagen für die Produktion«. Es folgt daraus, wie er selbst an einer kennzeichnenden und oft angeführten Stelle sagt, dass es »unter der Voraussetzung eines sich gleichbleibenden Reineinkommens der Nation von keiner Bedeutung ist, ob letztere aus zehn oder zwölf Millionen Einwohnern besteht. Wenn fünf Millionen Menschen ebensoviel an Nahrung und Kleidung produzieren könnten, als für zehn Millionen notwendig ist, so würde die Nahrung und Kleidung für fünf Millionen das Reineinkommen bilden. Würde es dem Lande Vorteil bringen, wenn zur Produktion desselben Reineinkommens sieben Millionen Menschen erforderlich wären, d. h. wenn sieben Millionen damit beschäftigt wären, genügende Nahrung und Kleidung für zwölf Millionen zu schaffen? Die Nahrung und Kleidung für fünf Millionen würde auch in diesem Falle das Reineinkommen bilden. Die Beschäftigung einer grösseren Menschenzahl würde uns weder in die Lage bringen, unsere Armee oder Marine auch nur um einen Mann zu vermehren, noch uns befähigen, auch nur einen Guinea mehr Steuern zu bezahlen.« Die wirtschaftliche Tätigkeit wird hier, gerade wie bei den Merkantilisten, nur vom Standpunkt der militärischen und politischen Macht des Staates aus betrachtet; auf die Erhaltung und Vervollkommnung menschlicher Wesen, als ihrem letzten Endziel, wird keine Rücksicht genommen. Wie Held bemerkt, wird der Arbeiter nicht als Glied der Gesellschaft angesehen, sondern als Mittel für ihre Zwecke, zu dessen Unterhalt ein Teil des Roheinkommens verausgabt werden muss, ebenso wie ein anderer Teil zum Unterhalt von Pferden zu verwenden ist. Wir dürfen wohl fragen, wie es Sismondi in einer Unterredung mit Ricardo tat: »Was! ist denn der Reichtum alles? sind die Menschen gar nichts?«

Im grossen ganzen lautet unser Urteil über Ricardo dahin, dass er zwar hervorragende Fähigkeiten besass, dass sich diese jedoch nicht besonders zu soziologischen Forschungen eigneten. Die Natur hatte ihn mehr zum Mathematiker zweiten Ranges als zum Sozialphilosophen bestimmt. Auch fehlte es ihm an der gehörigen wissenschaftlichen Vorbereitung für soziale Studien, denn wir können uns dem Bagehot'schen Gedanken nicht anschliessen, dass er, »obschon kein gebildeter Mann im höheren Sinne«, durch seine praktische Wirksamkeit als ein mit vielem Erfolg tätiger Fondsmakler besonders geeignet gewesen sei, solche Forschungen anzustellen. Derselbe Schriftsteller hebt mit Recht die »peinliche Genauigkeit« hervor, mit welcher »sein Scharfsinn in die kleinsten Einzelheiten dringt«. Es fehlte ihm jedoch an einem weiten Ueberblick, an einer umfassenden Kenntnis der menschlichen Natur und des menschlichen Lebens sowie an dem starken sozialen Mitgefühl, das, wie die grössten Geister anerkannt haben, auf diesem Forschungsgebiet höchst schätzenswerten Beistand gewährt. Zur erfolgreichen Behandlung eines Gegenstandes, wie z. B. des Geldes, wobei nur einige Elementarsätze in Betracht kommen, die keine sittlichen Bestandteile aufweisen, eignete er sich jedenfalls ganz wohl, auf dem weiteren sozialen Gebiet aber geht er fehl. Er besass eine grosse Fertigkeit und Gewandtheit im Ableiten von Schlüssen (obzwar man, wie Sidgwick bemerkt, seine logische Genauigkeit stark übertrieben hat). Aber im Bereiche der menschlichen Angelegenheiten sind die Erscheinungen so verwickelter Natur, und ist beständig eine solche gegenseitige Beschränkung oder sogar Aufhebung der Prinzipien wahrzunehmen, dass Schnelligkeit und Kühnheit in der Deduktion höchst gefährlich werden können, wenn sie nicht von einer umfassenden und reiflich überlegten Würdigung der Tatsachen begleitet sind. Dialektische Gewandtheit ist ohne Zweifel eine schätzbare Eigenschaft, allein die erste Bedingung eines Erfolges auf dem Gebiete der sozialen Forschung besteht darin, die Dinge so zu betrachten, wie sie sind.

In volkswirtschaftlichen Kreisen gab es eine Zeit lang eine Art Ricardo-Mythus. Zweifellos hatte die übertriebene Schätzung seiner Verdienste ihren teilweisen Grund in dem Bewusstsein, dass sein System die Fabrikanten und andere Kapitalisten in ihrem wachsenden Gegensatz zur alten Aristokratie der Bodeneigentümer unterstütze. Die Gunst der Bentham'schen Gruppe und der sogenannten philosophischen Radikalen erwarb er sich sowohl durch das gleiche Bestreben als durch seine Verwandtschaft mit ihrer allzu einseitigen und ungeschichtlichen Denkweise und mit ihren eudämonistischen Lehren. Brougham sagte von ihm, dass er vom Himmel herabgekommen zu sein scheine – fürwahr, ein sonderbarer Gott! Die Verdienste, welche er sich tatsächlich in der Behandlung von Fragen des Bankwesens und der Umlaufsmittel erworben hat, schufen erklärlicherweise eine Voreingenommenheit zu gunsten seiner allgemeineren Anschauungen. Abgesehen jedoch von diesen besonderen Gegenständen, kann man sich nicht überzeugen, dass er, weder in der Form eines gediegenen theoretischen Vortrags noch in der einer wertvollen praktischen Anleitung wirklich Bedeutendes für die Welt getan hat, während er anerkanntermassen die öffentliche Meinung über verschiedene wichtige Fragen irre führte. Man hat nunmehr erkannt, dass es eine Ungereimtheit ist, wenn De Quincey ihn als einen grossen Entdecker der Wahrheit hinstellt. J. S. Mill und andere sprechen von seinen »höheren Einsichten« im Vergleich zu jenen Adam Smith's, doch wird sein Werk als Beitrag zu unserer Kenntnis der menschlichen Gesellschaft nicht einen Augenblick den Vergleich mit dem »Völkerreichtum« aushalten können.

Es verdient als von besonderem Interesse bemerkt zu werden, dass Malthus, obwohl seine Bevölkerungslehre zusammen mit den Ricardo'schen Grundsätzen eine Zeit lang das Glaubensbekenntnis aller »orthodoxen« Nationalökonomen bildete, der Ricardo'schen Darstellung seinen Beifall versagte. Er prophezeite, dass »der Hauptteil des Gebäudes nicht stehen bleiben werde.« »Die Theorie,« sagt er, »berücksichtigt den behandelten Gegenstand nur teilweise, ähnlich dem System der französischen Oekonomisten. Und nachdem sie, gleich diesem System, eine grosse Anzahl sehr gescheiter Leute mit sich fortgerissen, wird sie ebenso unfähig sein, sich dem Zeugnis offenbarer Tatsachen und dem Gewicht solcher Theorien gegenüber zu halten, die, obzwar weniger einfach und weniger berückend, richtiger sind, da sie in höherem Masse die Ursachen erfassen, welche in allen wirtschaftlichen Resultaten eine tatsächliche Wirkung üben«.

Wie wir gesehen haben, ruhte die Smith'sche Theorie auf einer unsicheren philosophischen Grundlage, und beeinflusste dies den ethischen Charakter seines Ideals nachteilig; indessen hatten wir gegen seine, in einer verständnisvollen Vereinigung der Induktion und Deduktion bestehenden Methode (soweit die statische Erforschung der wirtschaftlichen Gesetze in Betracht kommt) nicht viel einzuwenden. Hauptsächlich unter dem Einflusse Ricardo's wurde die wirtschaftliche Methode zu einer verkehrten. Die Wissenschaft geriet hierdurch auf falsche Fährte: sie wandte der Beobachtung den Rücken und suchte die Gesetze der Erscheinungen aus einigen voreiligen Verallgemeinerungen heraus durch ein Spiel der Logik zu entwickeln. Die Fehler, welche man in neuerer Zeit den Mitgliedern der »orthodoxen« Schule hauptsächlich vorgeworfen hat, wurden sämtlich durch sein Beispiel gefördert. Es sind dies: Erstens der fehlerhaft abstrakte Charakter der von ihnen angewandten Begriffe, zweitens das missbräuchliche Ueberwiegen der Deduktion in ihren Forschungsmethoden und drittens die zu absolute Formulierung ihrer Schlüsse.

Ricardo's Werke sind 1846, in einem Bande vereinigt, mit biographischen Notizen von J. R. M'Culloch herausgegeben worden Eine Skizze der Personalgeschichte Ricardo's sowie eine Rechenschaft von seinen Schriften über Fragen des Geldes, was beides hier nicht wohl eingefügt werden konnte, sind in der »Encyclopaedia Britannica« 9. ed., unter seinem Namen zu finden..

Nach Malthus und Ricardo, von denen der erstere die öffentliche Aufmerksamkeit unabweisbar auf gewisse Seiten der Gesellschaft gelenkt und der letztere der wirtschaftlichen Forschung neue, wenn auch bedenkliche Pfade gezeigt hatte, erschien eine Anzahl von Schriftstellern minderer Bedeutung, welche in der Hauptsache die beiden Genannten auslegten und erklärten, und die aus diesem Grunde von den Deutschen unter Anspielung auf die griechische Sagengeschichte als die »Epigonen« bezeichnet wurden. Sie brachten die Lehren Smith's und seiner unmittelbaren Nachfolger in eine systematischere Form, versahen sie mit Einschränkungen und Verwahrungen, um die Kritik möglichst abzuhalten, kleideten sie in eine bestimmtere Ausdrucksweise, änderten sie in untergeordneten Einzelheiten oder verwandten sie zur Lösung der praktischen Fragen ihrer Zeit.

James Mill's »Elements« (1821, deutsch von L. v. Jacob, 1824) verdienen besonderer Erwähnung, da dieses Buch das System Ricardo's mit einer durchgängigen Genauigkeit, einer Gedrängtheit der Darstellung und einer Gewandtheit in der Anordnung des Stoffes wiedergibt, dass es gewissermassen als Kunstwerk gelten kann. Die aprioristische Volkswirtschaftslehre wird hier auf ihren einfachsten Ausdruck zurückgeführt.

J. R. M'Culloch (1779-1864), Verfasser einer Anzahl fleissiger statistischer und anderer Zusammenstellungen, kritisierte in der Edinburgh Review die geltende volkswirtschaftliche Gesetzgebung vom Standpunkt der Ricardo'schen Lehre und nahm im wesentlichen dieselbe theoretische Stellung ein, welche etwas später die Manchesterschule inne hatte. Er ist aller Ursprünglichkeit bar und verrät niemals irgendwelche philosophische Erhabenheit oder Weite der Anschauungen. Sein zuversichtlicher Dogmatismus wirkt oft abstossend. In seinen späteren Jahren räumte er ein, dass er neu auftauchenden Meinungen zu sehr entgegengekommen sei und sie mit mehr Feuer und Hartnäckigkeit verteidigt habe, als sie es verdienten. Es ist kennzeichnend, dass sein Name, obgleich er seinerzeit sowohl von denen, welche mit seinen Ansichten übereinstimmten, als von jenen, die wie Sismondi, von diesen abwichen, oft erwähnt wurde als eine Leuchte der herrschenden Schule, – dass dieser Name jetzt in den Schriften der Mitglieder dieser Schule stillschweigend fallen gelassen wird. Abgesehen davon, dass er sich durch die Verteidigung der Politik des Freihandels teilweise nützlich gemacht haben mag, ist es zum mindesten klar, dass er für die Bedürfnisse unserer gesellschaftlichen Zukunft nichts zu bieten hat.

Nassau William Senior (1790-1864), Professor der Volkswirtschaftslehre an der Universität Oxford, veröffentlichte neben einer Anzahl von Einzelvorträgen eine Darstellung des Wissenszweiges, welche zuerst in der Form eines Artikels in der »Encyclopaedia Metropolitana« erschien. Als Schriftsteller hat er sich hochverdient gemacht. Er trug wesentlich bei zur Erläuterung wirtschaftlicher Grundsätze und strebte insbesondere nach Genauigkeit in der Benennung und strenger Sorgfalt in der Deduktion. Seine Erörterungen über die Produktionskosten und die Art und Weise, in welcher sie die Preise beeinflussen, über die Grundrente, über den Unterschied zwischen Lohnsatz und Preis der Arbeit, über das Verhältnis des Kapitalgewinnes zu den Löhnen (unter besonderer Bezugnahme auf den von Ricardo über diesen Gegenstand aufgestellten Lehrsatz, welchen er dadurch verbessert, dass er an Stelle des absoluten Betrages den verhältnismässigen setzt), sowie über die Verteilung der Edelmetalle unter verschiedene Länder sind besonders wertvoll. Der von ihm erfundene Ausdruck »Enthaltsamkeit« (abstinence), welcher das Verhalten bezeichnen soll, das der Zins lohnt, war nützlich, obgleich nicht ganz passend, da er eine negative Bedeutung hat. Im Punkte der Lohntheorie befriedigt Senior am wenigsten. Er drückt den durchschnittlichen Lohnsatz eines Landes (der, wie wir betonen müssen, keine reale Grösse darstellt, wenn auch der Satz innerhalb einer bestimmten Beschäftigungsart und innerhalb eines bestimmten Gebietes eine solche ist) durch den Bruch aus, dessen Zähler der Betrag des Lohnfonds (eine nicht bestimmbare und sogar, ausgenommen als wirklicher Gesamtbetrag der bezahlten Löhne, imaginäre Summe) und dessen Nenner die Zahl der arbeitenden Bevölkerung ist. Hieraus zieht er alsdann die wichtigsten und weitreichendsten Konsequenzen, obschon die Gleichung, auf welche er seine Folgerungen gründet, höchstens eine arithmetische Tatsache zum Ausdruck bringt, die auf jeden Fall einer Teilung unter Einzelnen anwendbar wäre und durchaus kein wirtschaftliches Element enthält. Die Bezeichnung »Lohnfonds« (wages fund) verdankt ihr Entstehen einigen Ausdrücken Adam Smith's So begegnen wir im »Völkerreichtum«, 1. Buch, 8. Kapitel, den folgenden Wendungen: »Die zur Zahlung der Löhne bestimmten Fonds«, »die zur Anwendung wirtschaftlicher Tätigkeit bestimmten Fonds«, »die zum Unterhalt des Gesindes bestimmten Fonds.«, die er nur zum Zwecke der Erläuterung anwandte, und die keinesfalls genau ausgelegt werden sollten. Uebrigens werden wir sehen, dass diese Lehre von verschiedenen Mitgliedern der sogenannten »orthodoxen« Richtung der Volkswirtschaftslehre verworfen wurde. Was die Methode anlangt, so macht Senior die Wissenschaft zu einer rein deduktiven, in welcher kein Raum für irgend welche anderen »Tatsachen« ist – als für die vier grundlegenden Sätze, von denen er alle volkswirtschaftliche Wahrheit abzuleiten gedenkt. Auch ist er der Meinung, dass es nicht hypothetische Schlüsse sind, zu welchen er gelangt; sowohl seine Voraussetzungen als seine Folgerungen sind in einer Weise formuliert, als ob sie Erscheinungen der Wirklichkeit entsprächen Siehe die letzte seiner »Vier einleitenden Vorlesungen über die Volkswirtschaftslehre« (Four introductory lectures on political economy, 1852)..

Ein fruchtbarer Schriftsteller war Oberst Robert Torrens (1780-1864). Er beschäftigt sich teilweise mit der Wirtschaftstheorie, hauptsächlich jedoch mit deren Anwendung auf die Finanz- und Handelspolitik. Fast das ganze Programm, welches Sir Robert Peel in der Gesetzgebung durchführte, war im wesentlichen in den Schriften Torrens' niedergelegt. Er vertritt in der Hauptsache dieselbe Theorie des auswärtigen Handels, die später von J. S. Mill in einem seiner »Versuche über offene Fragen« (Essays on unsettled questions) aufgestellt wurde Mill teilt uns indessen in seiner Vorrede zu diesen Essays mit, dass seine eigenen Ansichten über den Gegenstand schon vorhanden und dem Papier anvertraut gewesen, ehe Torrens mit ähnlichen Meinungen an die Oeffentlichkeit getreten sei.. Er war einer der ersten und eifrigsten Anwälte der Aufhebung der Gesetze über den Getreidehandel, zeigte sich indessen einem allgemeinen System des absoluten Freihandels nicht geneigt. Er vertrat vielmehr die Ansicht, dass es dienlich sei, Retorsionszölle aufzulegen, um hierdurch ähnliche, von auswärtigen Ländern eingeführte Zölle auszugleichen, dass ferner eine Ermässigung der Einfuhrzölle auf die Erzeugnisse solcher Länder, welche ihren feindseligen Tarif aufrechterhalten, den Abfluss der Edelmetalle und ein Fallen der Preise, Kapitalgewinne und Löhne verursachen würde. Von seinen Hauptschriften trugen einen allgemeinen Charakter: Der widerlegte Oekonomist d. h. Physiokrat (The Economist refuted, 1808); Versuch über die Produktion des Reichtums (Essay on the production of wealth, 1821); Versuch über den auswärtigen Getreidehandel (Essay on the external corn-trade, 3. ed. 1826, – lobend erwähnt von Ricardo); Das Budget, eine Reihe von Briefen über Finanz-, Handel- und Kolonialpolitik, (The budget, a series of letters on financial, commercial and colonial policy, 1841-43).

Harriet Martineau (1802-1876) bot die Lehren von Malthus und Ricardo in einer gemeinverständlichen Form in ihren »Erläuterungen zur Volkswirtschaftslehre« (Illustrations of political economy, 1832-34, deutsch 1834), einer Reihe von Erzählungen, in welcher manche vortreffliche Schilderung enthalten ist; allein die Wirkung des Erzählten wird oft aufgehoben durch die etwas schwerfälligen Erörterungen, welche hie und da in Form von Gesprächen eingestreut sind.

Andere Schriftsteller, deren Namen in keiner Geschichte der Volkswirtschaftslehre fehlen dürfen, sind: Charles Babbage »Ueber das Maschinen- und Fabrikwesen« (On the economy of machinery and manufactures, 1832, deutsch von Friedenburg, 1833), hauptsächlich beschreibend, teilweise auch theoretisch; William Thomas Thornton »Die Uebervölkerung und die Mittel zu ihrer Abhülfe« (Overpopulation and its remedy, 1846); »Ein Wort zu gunsten des bäuerlichen Besitzes« (A plea for peasant proprietors, 1848); »Die Arbeit« (On labour, 1869; 2. ed. 1870, deutsch von H. Schramm, 1870); Herman Merivale »Vorlesungen über Kolonisation und Kolonien« (Lectures on colonisation and colonies, 1841-42, neue Ausgabe 1861); T. C. Banfield »Die Organisation der wirtschaftlichen Tätigkeit« (The Organisation of industry explained, 1844, 2. ed. 1848); und Edward Gibbon Wakefield »Die Kunst der Kolonisation in übersichtlicher Darstellung« (A view of the art of colonisation, 1849). Thomas Chalmers, auf anderen Gebieten des Denkens wohlbekannt, war Verfasser von »Die christliche und bürgerliche Wirtschaft grosser Städte« (The Christian and civic economy of large towns, 1821-36) und »Ueber die Beziehungen der Volkswirtschaftslehre zum sittlichen Zustand und zur sittlichen Zukunft der Gesellschaft« (On political economy in connection with the moral state and moral prospects of society, 1832). Er war ein energischer Gegner jedweden Systems einer gesetzlichen Armenpflege und trieb, während er mit Recht die grundsätzliche Bedeutung der Sittlichkeit, des Fleisses und Sparsamkeit als Bedingungen des Volkswohlstandes hervorhob, die Malthus'schen Lehren auf die Spitze. Auch Irland nahm teil an der wirtschaftlichen Bewegung dieses Zeitraums Samuel Crumpe, Doktor der Medizin, hatte zu Dublin im Jahre 1793 einen »Versuch über die besten Mittel, dem Volke Arbeit zu verschaffen« (Essay on the best means of providing employment for the people) veröffentlicht, welcher den seitens der Royal Irish Academy für die beste Abhandlung über diesen Gegenstand ausgesetzten Preis erlangte. Es ist ein verdienstvolles Werk und enthält eine gute Darstellung einiger der leitenden Grundsätze Adam Smith's. John Hely Hutchinson's »Beschränkungen des irländischen Handels« (Commercial restraints of Ireland» 1779) ist fur die Wirtschaftsgeschichte Irlands von Bedeutung.. Whately, bekannt als zweiter Inhaber des Drummond'schen Lehrstuhls für Volkswirtschaft in Oxford (nach Senior) sowie durch seine in dieser Eigenschaft gehaltenen »Einleitenden Vorlesungen« (Introductory lectures, 1831), gründete im Jahre 1832, als er, zum Erzbischof von Dublin ernannt, nach Irland übersiedelte, eine gleiche Professur am Trinity College in Dublin. Als erster bekleidete diese Mountifort Longfield, später Richter am Gerichtshof für die Angelegenheiten des Grundbesitzes in Irland (gest. 1884). Er veröffentlichte Vorlesungen über die Volkswirtschaftslehre im allgemeinen (1834), über Armengesetze (1834) und über Handel und Absenteeismus (Commerce and absenteeism, 1835), welche sich durch Unabhängigkeit des Denkens und scharfsinnige Beobachtung auszeichneten. Er hielt sich löblicherweise frei von manchen Uebertreibungen seiner Zeitgenossen. Im Jahre 1835 äusserte er, »dass wir in der Volkswirtschaftslehre nicht zu sehr von der Wirklichkeit absehen dürften« und trat der gewöhnlichen Annahme entgegen, dass »die Menschen in ihrem Verhalten von einer klugen Rücksichtnahme auf ihre eigenen Interessen geleitet werden.« James A. Lawson (später Richter, gest. 1887) veröffentlichte gleichfalls einige, auf demselben Lehrstuhl gehaltene Vorlesungen (1844), welche immer noch lesenswert sind. Besonders gut ist seine Erörterung der Bevölkerungsfrage. Auch behauptete er Senior gegenüber, dass die Wissenschaft »nach Tatsachen dürste«, und dass sie Welt und Menschen nehmen müsse, wie sie in Wirklichkeit sind. Der konsequenteste und gründlichste der früheren Kritiker des Ricardo'schen Systems war Richard Jones (1790–1855), Professor zu Haileybury. Seine Nachfolger haben ihm nur spärlich Gerechtigkeit widerfahren lassen. Während J. S. Mill sein Werk benützt, hat er für seine Verdienste kaum ein Wort der Anerkennung. Selbst Roscher sagt, dass er Ricardo nicht ganz verstände, ohne für diese Behauptung irgend welche Beweise zu erbringen, während er der Tatsache gegenüber schweigt, dass vieles von dem, was durch die deutsche historische Schule verkündet worden, sich in Jones' Schriften klar dargelegt findet. Man hat zuweilen von ihm behauptet, dass er die Anderson'sche Rententheorie verworfen habe, was indessen der Wahrheit nicht entspricht. An einer Stelle, wo er Malthus als Urheber dieser Theorie bezeichnet, sagt er, »dass dieser Nationalökonom in befriedigender Weise nachgewiesen, dass, wenn der Boden von Kapitalisten bewirtschaftet wird, die von dem Gewinne ihres Kapitals leben und in der Lage sind, es nach Belieben auf andere Anlagearten zu übertragen, die Kosten der Bestellung der schlechtesten angebauten Bodenart den Durchschnittspreis des Rohprodukts bestimmen, während der Unterschied in den Eigenschaften der besseren Bodenarten den Massstab für die von diesen gelieferte Rente bilde«. Was er wirklich leugnete, war die Anwendung der Theorie auf alle Fälle, in welchen Rente bezahlt wird. In seiner »Abhandlung über die Verteilung des Reichtums und über die Steuerquellen« (Essay on the distribution of wealth and on the sources of taxation, 1831) machte er darauf aufmerksam, dass es ausser den »Pächterrenten«, welche sich unter den angenommenen Voraussetzungen dem oben erwähnten Gesetze anpassen, auch noch bäuerliche Renten gibt, welche sich nicht in dieser Weise regeln, die indessen überall während der ausgedehntesten geschichtlichen Zeiträume bezahlt worden sind und immer noch auf dem bei weitem grössten Teil der Erdoberfläche bezahlt werden. Die bäuerlichen Renten teilte er ein in die vier Hauptabteilungen der Rente des Leibeigenen, des Halbbauers (Métayer), des indischen Bauern (Ryot) und des Häuslers, eine Einteilung, welche sich später J. S. Mill im wesentlichen zu eigen machte. Auch zeigte er, dass die den Betrag dieser Renten festsetzenden Uebereinkünfte vielmehr durch die Gewohnheit als durch den Wettbewerb bestimmt werden. Zu dem theoretischen Gebäude übergehend, welches Ricardo auf der Grundlage der Rentenlehre errichtet hatte, bezeichnete Jones die meisten von diesem gewonnenen Schlüsse als falsche und insbesondere die folgenden: dass das Steigen der Pächterrenten stets begleitet sei von einer Abnahme in den produktiven Kräften der Landwirtschaft und Verluste und Not im Gefolge habe; dass die Interessen der Grundherrn stets und mit Naturnotwendigkeit denen des Staates und jeder anderen Gesellschaftsklasse entgegenständen; dass die Verminderung der Sätze des Kapitalgewinns ausschliesslich abhängig sei von dem Ertrage des zuletzt auf den Boden verwendeten Kapitals, und dass die Löhne nur auf Kosten der Kapitalgewinne steigen können.

Die von Jones befolgte Methode ist die induktive; seine Folgerungen sind gegründet auf eine umfassende, durch geschichtliches Forschen unterstützte Beobachtung zeitgenössischer Tatsachen. »Wollen wir,« sagt er, »die Wirtschaft und die Einrichtungen kennen lernen, durch welche die verschiedenen Nationen der Erde ihre Einkünfte produzieren und verteilen, so wüsste ich in der Tat nur einen Weg, um unser Ziel zu erreichen, und dieser besteht darin, dass wir sehen und beobachten. Wir müssen uns einen weiten Ueberblick über Tatsachen verschaffen, damit wir zu Grundsätzen gelangen, die wahrhaft umfassend sind. Wenden wir eine andere Methode an, haschen wir nach allgemeinen Grundsätzen, und begnügen wir uns mit beschränkten Beobachtungen, so werden wir auf zweierlei Abwege geraten. Erstlich wird sich öfters ergeben, dass die von uns als »allgemeine« bezeichneten Grundsätze keine Allgemeinheit besitzen – wir werden damit beginnen, Sätze als allgemein gültige hinzustellen, die, wie wir mit jedem weiteren Fortschreiten genötigt sein werden, zuzugeben, sich häufig als irrige erweisen. Zweitens werden wir einer grossen Menge nützlicher Kenntnisse entbehren, denen jene, welche vermittelst einer umfassenden Prüfung der Tatsachen zu Grundsätzen gelangen, notwendigerweise auf ihrem Wege begegnen.« Die Welt, welche er erkunden wollte, war keine eingebildete, von abstrakten »Wirtschaftsmenschen« bewohnte, sondern die wirkliche mit den verschiedenen Formen, welche das Eigentum und die Bewirtschaftung des Bodens sowie die Bedingungen der Produktion und Verteilung überhaupt zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten annehmen. Seine Erkenntnis solcher verschiedenen, verschiedene Stufen im Fortschritt der Zivilisation einnehmenden Systeme des Lebens in Gemeinschaften veranlasste ihn zu seinem Vorschlag einer »politischen Oekonomie der Nationen«. Es war dies ein Protest gegen den herkömmlichen Brauch, welcher den eine Ausnahme bildenden Stand der Tatsachen, der in einer kleinen Ecke unseres Planeten vorhanden und überdies nur teilweise verwirklicht ist, als die ebenmässige Grundform menschlicher Gesellschaften auffasst und die Wirkungen nicht in Anschlag bringt, welche die frühere Geschichte und die besondere Entwickelung jeder Gemeinschaft auf die wirtschaftlichen Erscheinungen innerhalb derselben ausüben.

Man begegnet zuweilen dem Versuch, der Notwendigkeit eines weiteren Spielraums des Forschens durch den Hinweis aus dem Wege zu gehen, dass in der sozialen Welt sich überall das Bestreben geltend mache, diese jetzige Ausnahmegestalt als ihre normale und endgültige Verfassung anzunehmen. Selbst wenn dies Bestreben wirklich vorhanden wäre (was nur teilweise richtig ist, denn die bei uns bestehende Ordnung kann nicht als eine völlig abschliessende betrachtet werden), so könnte man doch nicht zugeben, dass sich die in unserer Zivilisation beobachteten Tatsachen und jene, welche sich in weniger vorgeschrittenen Gemeinschaften zeigen, einander derart nähern, um durch dieselben Formeln dargestellt werden zu können. Wie Whewell gelegentlich der Herausgabe des Jones'schen Nachlasses, 1859, treffend bemerkte, »bekunden zwar innerhalb der physischen Welt alle Dinge die Neigung, eine durch die Schwerkraft bestimmte Form anzunehmen. Die Hügel sind bestrebt, sich in Ebenen zu verwandeln, die Wasserfälle, ihr Bett auszuwaschen und zu verschwinden, die Flüsse, in den Tälern Seen zu bilden, die Gletscher, sich in Katarakten hernieder zu ergiessen.« Aber sollen wir diese Ergebnisse schon als vollendete annehmen, weil Kräfte tätig sind, welche sie schliesslich zustandebringen können? Alle menschlichen Fragen sind in hohem Masse Fragen der Zeit, und die wirtschaftlichen Erscheinungen, welche den verschiedenen Stadien der menschheitlichen Bewegung in Wirklichkeit angehören, müssen nach ihrer jeweiligen Beschaffenheit erforscht werden, falls wir uns nicht in unserer theoretischen Behandlung derselben sowie in der Lösung der von ihnen dargebotenen praktischen Aufgaben bedenklichen Irrtümern aussetzen wollen.

Ein besonderer Vorzug Jones' besteht darin, dass er sich von Uebertreibungen und einseitigen Aufstellungen freihält. So lehnt er es z. B. ab, während er Malthus eine vielleicht zu hohe Achtung bezeugt, sich den Satz anzueignen, dass eine Vermehrung der Unterhaltsmittel notwendig eine vermehrte Bevölkerungszahl hervorrufen müsse. Er behauptet vielmehr – und dies ist zweifellos richtig –, dass mit dem Anwachsen der Bevölkerung in allen gutregierten und aufstrebenden Staaten die Verfügungsmacht über Nahrungsmittel sich vermehre, anstatt sich zu vermindern.

Vieles von dem, was er uns hinterlassen hat (ein grosser Teil besteht bedauerlicher Weise nur aus Bruchstücken), ist den einer späteren Zeit angehörenden Arbeiten Cliffe Leslie's verwandt. Letzterer hatte indessen den Vorteil, mit der Comteschen Gesellschaftslehre bekannt zu sein, was ihm sowohl einen festeren methodischen Halt als einen weiteren Ueberblick über die allgemeine Bewegung der Gesellschaft verlieh. Und während Jones nur wenig Gehör fand inmitten des allgemeinen, von der damaligen nationalökonomischen Welt einem Ricardo gespendeten Beifalls, schrieb Leslie zu einer Zeit, als die Enttäuschung schon eingetreten war, und in England eine Strömung gegen die aprioristische Volkswirtschaftslehre sich in ihren ersten Anfängen bemerklich machte.

Comte spricht gelegentlich von einer »vorübergehenden Vorliebe« für die politische Oekonomie, welche sich allgemein im westlichen Europa gezeigt habe. Diese Gefühlswandlung machte sich besonders in England vom dritten bis zum fünften Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts bemerkbar. »Bis zum Jahre 1818«, äusserte ein Schriftsteller in der Westminster Review, »war dieses Wissensgebiet über einen kleinen Kreis von Philosophen hinaus kaum bekannt oder erörtert worden, und die Gesetzgebung, weit davon entfernt, mit dessen Grundsätzen übereinzustimmen, wich vielmehr immer mehr vor ihnen zurück.« Mill schildert uns, welche Veränderung innerhalb weniger Jahre Platz griff. »Die Volkswirtschaftslehre«, sagt er, »hatte sich mit grossem Nachdruck in öffentlichen Dingen geltend gemacht durch die Freihandelspetition der Londoner Kaufleute, welche im Jahre 1820 von Tooke verfasst und von Alexander Baring Späterem Lord Ashburton. Wegen dieser Petition Vgl. M'Culloch's »Literature of political economy«, p. 57, oder Senior's »Lectures on the transmission of the precious metals« etc. 2. ed., p. 78. überreicht worden war, sowie ferner durch die edlen Bemühungen Ricardo's in den wenigen Jahren seines parlamentarischen Lebens. Seine Schriften, welche der durch die Barrengold-Streitfrage gegebenen Anregung folgten, und die wiederum die Darlegungen und Erläuterungen meines Vaters und M'Culloch's (dessen, während dieser Jahre in der Edinburgh Review veröffentlichten Aufsätze von grösster Bedeutung waren) nach sich zogen, hatten die allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet gelenkt und verursachten sogar im Ministerkabinet wenigstens teilweise Bekehrungen. Huskisson hatte, von Canning unterstützt, jene allmähliche Zerstörung des Schutzsystems begonnen, welche einer ihrer Kollegen im Jahre 1846 in der Hauptsache vollendete, wenn auch die letzten Spuren dieses Systems erst im Jahre 1860 durch Gladstone vertilgt wurden.« Unterdessen die Volkswirtschaftslehre solchergestalt die Aufmerksamkeit reger Geister auf sich lenkte und fesselte, wurde das Unfertige ihres Zustandes rückhaltlos anerkannt. Ueber die unter ihren Vertretern herrschenden Meinungsverschiedenheiten wurde häufig Klage geführt. Man hoffte indessen zuversichtlich, dass diese Streitigkeiten bald verschwinden würden. Oberst Torrens verkündete im voraus, dass in zwanzig Jahren schwerlich »ein Zweifel über eines der mehr grundlegenden Prinzipien dieser Wissenschaft bestehen würde.« »Der Wohlstand,« sagt Sidgwick, »welcher der Abschaffung der Gesetze über den Getreidehandel folgte, lieferte praktischen Menschen einen äusserst eindringlichen und überzeugenden Beweis von der Gediegenheit des abstrakten Nachdenkens, mittelst dessen man auf die Dienlichkeit des Freihandels geschlossen hatte.« Und als im Jahre 1848 »ein Meister der Gedankendarstellung eine geschickt abgefasste Uebersicht der hauptsächlichsten Ergebnisse der in der vorhergehenden Generation geführten Streitigkeiten« mit den entsprechenden »Erläuterungen und Einschränkungen« der herrschenden Meinungen veröffentlicht hatte, war man einige Jahre allgemein der Ueberzeugung, dass die Volkswirtschaftslehre »dem Zustande polemischer Erörterungen entronnen« sei, wenigstens insofern ihre leitenden Theorieen in Betracht kämen, und dass endlich ein haltbarer Bau auf dauernden Grundlagen errichtet worden.

Dieser Meister war John Stuart Mill (1806-1873). Ohne Zweifel betätigte er auf dem Gebiete der englischen Volkswirtschaftstheorie einen grösseren Einfluss als irgend ein anderer Schriftsteller nach Ricardo. Seine systematische Darstellung war entweder unmittelbar oder mittelbar durch Handbücher, welche sich auf sie stützten, – besonders durch das Fawcett'sche – die Quelle, aus welcher die meisten unserer englischen Zeitgenossen ihre Kenntnis des Wissenszweiges schöpften. Es sind jedoch, wie wir sehen werden, noch andere und tiefere Gründe vorhanden, welche ihn sowohl auf diesem wie auf anderen Gebieten des Wissens zu einer besonders interessanten und bedeutsamen Figur stempeln.

Im Jahre 1844 veröffentlichte er fünf »Abhandlungen über einige ungelöste Fragen der Volkswirtschaftslehre« (Essays on some unsettled questions of political economy), welche schon im Jahre 1829 und 1830 verfasst worden, aber, mit Ausnahme der fünften, ungedruckt geblieben waren. Diese Abhandlungen enthalten alles, was man als eine von ihm ausgehende dogmatische Bereicherung der Wissenschaft betrachten kann. Die erste hat die Gesetze des internationalen Warenaustausches zum Gegenstand. Er setzt auseinander, dass, wenn zwei Länder miteinander in zwei Waren Handel treiben, die Preise der auf beiden Seiten ausgetauschten Waren (welche, wie Ricardo dargetan, nicht durch die Produktionskosten bestimmt werden) sich durch das Spiel der gegenseitigen Nachfrage auf eine solche Weise in Uebereinstimmung bringen, dass die Mengen, welche jedes Land von dem aus dem Nachbarlande eingeführten Artikel braucht, genau hinreichen, um sich gegenseitig zu bezahlen. Es ist dies das Gesetz, welches mit einigen weiteren Ausführungen in seiner systematischen Darstellung unter dem Namen der »Gleichung der internationalen Nachfrage« erscheint. Hierauf erörtert er die Teilung der Gewinne. Die wichtigste praktische (indessen keineswegs unbestrittene) Folgerung, zu welcher er in dieser Abhandlung gelangt, ist des Inhalts, dass die gänzliche oder teilweise Aufhebung derjenigen Zölle auf fremdländische Waren, welche nicht als schützende Massregeln wirken, sondern lediglich Finanzzwecken dienen, davon abhängig gemacht werden solle, dass die Nation, von welcher die Waren eingeführt werden, England gegenüber einen einigermassen entsprechenden Grad des freien Handels beobachte. In der zweiten Abhandlung »über den Einfluss der Konsumtion auf die Produktion« bestehen die interessantesten, von ihm gewonnenen Ergebnisse in folgenden Sätzen: Erstens sei der Absenteeismus ein örtliches, kein nationales Uebel. Zweitens wäre allerdings ein dauerndes Uebermass der Produktion nicht möglich, doch könne zeitweilig der Fall eintreten, dass nicht nur von irgend einem Artikel, sondern an Waren überhaupt zu viel vorhanden sei; letzteres hätte indessen seinen Grund nicht in einer Ueberproduktion, sondern in einem Mangel an Vertrauen im Handelsverkehr. Die dritte Abhandlung bezieht sich auf den Gebrauch der Worte »produktiv« und »unproduktiv« in deren Anwendung auf die Arbeit, die Konsumtion und den Kostenaufwand. Die vierte behandelt Kapitalgewinn und Zins und erklärt insbesondere – und rechtfertigt somit – den Ricardo'schen Lehrsatz, dass »die Kapitalgewinne von den Löhnen abhängen, daher steigen, wenn die Löhne sinken, und sinken, wenn die Löhne steigen«. Ricardo wollte damit sagen, dass die Kapitalgewinne von den in Arbeit abgeschätzten Kosten der Löhne abhängen. Es können daher Verbesserungen in der Produktion solcher Artikel, welche von den Arbeitern gewöhnlich konsumiert werden, die Kapitalgewinne erhöhen, ohne die wirkliche Vergütung des Arbeiters zu vermindern. Die letzte Abhandlung befasst sich mit der Begriffsbestimmung und der Methode der Volkswirtschaftslehre, ein Gegenstand, welcher später und eingehender in dem »System der Logik« des Verfassers behandelt wurde.

Im Jahre 1848 veröffentlichte Mill seine »Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, mit einigen ihrer Anwendungen auf die Sozialphilosophie« (Principles of political economy, with some of their applications to social philosophy, 7. ed. 1871; deutsch von A. Soetbeer, 1852, 4. und 3. Aufl. 1885–96). Obgleich, wie wir sehen werden, dieser Titel die Kritik herausfordert, liess er doch vermuten, dass der Verfasser eine weniger enge und förmliche Auffassung von dem Gebiete der Wissenschaft hegte, als sie bei seinen Vorgängern üblich gewesen. Er war in der Tat bestrebt, ein Werk zu schaffen, welches für den alltäglichen Gebrauch den »Völkerreichtum« ersetzen sollte, der seiner Meinung nach »in manchen Teilen veraltet und in allen unvollkommen« war.

Adam Smith hatte unablässig die allgemeinen Grundsätze des behandelten Gegenstandes mit deren praktischen Anwendung verknüpft und gelegentlich der Erörterung dieser Anwendung fortwährend auf andere und oft viel weitergehende Rücksichten Bezug genommen, als sie die reine Volkswirtschaftslehre gestattet. In demselben Geiste wollte Mill, indem er die gesamten von Smith's Nachfolgern auf dem besonderen Wissensgebiet erlangten Ergebnisse zu vereinigen gedachte, rein wirtschaftliche Erscheinungen unter Berücksichtigung der fortgeschrittensten Anschauungen seiner Zeit über die allgemeine Philosophie der Gesellschaft darstellen, ebenso wie dies Smith hinsichtlich der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts getan hatte In einem, übrigens gut gearbeiteten Auszuge des Mill'schen Werkes, welcher 1886 in den Vereinigten Staaten von J. Laurence Laughlin als Lehrbuch für höhere Schulen veröffentlicht wurde, ist seltsamerweise alles weggelassen, »was eigentlich unter die Rubrik der Soziologie gehörte«; es ist also Mill's eigene Auffassung beiseite geschoben und sein Buch mit denen gewöhnlichen Schlags in Uebereinstimmung gebracht..

Diese Absicht verwirklichte er indessen sicherlich nicht. Sein Buch ist weit davon entfernt, ein »moderner Adam Smith« zu sein. Es ist eine bewundernswert klare und sogar formvollendete Darstellung der Ricardo'schen Wirtschaftslehre, der selbstverständlich auch die Malthus'sche Theorie einverleibt wurde, doch ist es, trotzdem er manches Neue von minderer Bedeutung hinzufügte, seinem wissenschaftlichen Inhalte nach wenig oder überhaupt nicht mehr als eine solche. Wenn Cliffe Leslie sagt, dass Mill die Lehren Ricardo's derart eingeschränkt und verbessert habe, dass der letztere sie schwerlich wiedererkennen würde, so geht er sicherlich viel zu weit; jedenfalls leistete Senior in dieser Richtung mehr. Mill ist in der Regel bemüht, seinen Meister da zu verteidigen, wo andere ihn getadelt haben, und dessen anerkannt lockere Ausdrucksweise zu bemänteln. Seine hohe Meinung von den Diensten, welche Ricardo der Wirtschaftstheorie erwiesen, hatte sich bereits in den Essays kundgegeben, wo er, mit einiger Ungerechtigkeit gegen Smith, von ihm sagt: »Er konnte, da er einen Wissenszweig zu schaffen hatte, sich mit nichts anderem beschäftigen als mit den leitenden Grundsätzen,« und fügt hinzu, dass »jemand, der in seine Entdeckungen gründlich eingedrungen ist,« nicht die geringsten Schwierigkeiten haben würde, »selbst die kleinsten Einzelheiten der Wissenschaft« zu erfassen. Auch James Mill ist im grossen ganzen ein Erklärer Ricardo's gewesen, und der Sohn, welcher dem Vater durch seine anziehende Darstellungsweise bei weitem überlegen ist, befindet sich, was seine Wirtschaftstheorie anbelangt, in der Hauptsache auf demselben Standpunkt. Dagegen nehmen der ältere und der jüngere Mill in ihren allgemeinen philosophischen Auffassungen und in ihren Ansichten über gesellschaftliche Ziele und Ideale gänzlich verschiedene Stellungen in der Reihe des Fortschritts ein. Der letztere hätte z. B. in seinen reiferen Jahren, unter dem Vorgeben, eine Theorie der staatlichen Leitung zu liefern, nicht die seichten Sophistereien vorbringen können, wie sie sich in den Schriften des ersteren finden, und zu deren Blossstellung der klare, gesunde Menschenverstand eines Macaulay ausreichte. Auch besass er einen Adel der Gesinnung, welcher ihn hinsichtlich der höheren sozialen Fragen weit über das gewöhnliche, grobe Nützlichkeitsprinzip der Anhänger Bentham's erhob.

Die freiere und mehr philosophische Denkweise, welche Mill in seiner Behandlung sozialer Dinge bekundete, verdankte er unzweifelhaft in hohem Masse dem Einfluss Comte's, dem gegenüber er, wie Bain mit Recht bemerkt, grössere Verpflichtungen hatte, als er selbst einzuräumen geneigt war. Wir können uns bisweilen des Gedankens nicht erwehren, dass er, falls dieser Einfluss stärker auf ihn eingewirkt hätte, vielleicht imstande gewesen wäre, die noch immer zu bewerkstelligende Reform auf dem Gebiete der Nationalökonomie durch Befreiung der Wissenschaft von dem aprioristischen System und durch Begründung einer auf die Beobachtung im weitesten Sinne sich stützenden wahrhaften Theorie des Wirtschaftslebens zu vollbringen. Wahrscheinlich war indessen die Zeit für ein solches Werk noch nicht gekommen, und möglicherweise wäre Mill durch seine angeborenen Verstandesmängel zur Erfüllung einer solchen Aufgabe unfähig gewesen, denn, wie Roscher sagt, »ein historischer Kopf war er nicht.« Wie dem nun auch sei, – die Wirkungen seines früheren Bildungsganges, in welchem positive Bestandteile stark mit metaphysischen untermischt waren, genügten in der Tat, ihn an der Erreichung einer völlig normalen Geisteshaltung zu verhindern. Es ist ihm nie gänzlich gelungen, sich der fehlerhaften Richtung zu entziehen, in welche er durch den väterlichen Unterricht und den Einfluss der Bentham'schen Gruppe, unter welcher er aufgewachsen, geraten war. Daher kam es, dass, nach dem treffenden Ausdruck Roscher's, seine gesamte Lebensanschauung »zu wenig aus Einem Gusse« war. Das ungereimte Gemisch der engen Dogmen seiner Jugendzeit mit den freieren Gedanken einer späteren Periode verlieh seiner ganzen Philosophie einen schwankenden und unbestimmten Charakter. Er ist nach jeder Seite hin auffallend »unabgeschlossen«. Er vertritt Bestrebungen, welche neuen Meinungsformen zuneigen und eröffnet neue Aussichten nach verschiedenen Richtungen; allein er wirkt kaum irgendwie grundlegend und bleibt, was seine eigene Stellung anbelangt, nicht nur unfertig, sondern auch ohne inneren Zusammenhang Mr. John Morley (»Mill on religion« in den Critical Miscellanies, 2d. ser., 1877) verrät etwas einer Bestürzung Aehnliches, wenn er in Mill's nachgelassenen Schriften Ansichten begegnet, welche sich offenbar nicht mit den philosophischen Lehren vereinigen lassen, die er während seines ganzen Lebens energisch vertreten hatte.. Es ist indessen gerade diese zweideutige Stellung, welche unseres Erachtens seiner Laufbahn ein besonderes Interesse verleiht, da sie ihn in besonderem Grade geeignet machte, Uebergänge anzubahnen und zu erleichtern.

Was er selbst für das »Hauptverdienst seines Werkes« hielt, war die scharf hervortretende Unterscheidung zwischen der Theorie der Produktion und jener der Verteilung. Während nach ihm die Gesetze der ersteren in unabänderlichen natürlichen Tatsachen begründet sind, ändert sich der Gang der Verteilung von Zeit zu Zeit mit den wechselnden Schicksalen der Gesellschaft. Es sei uns die Bemerkung gestattet, dass diese Unterscheidung nicht in zu absoluter Weise gemacht werden darf, denn die Organisation der Produktion ändert sich mit dem gesellschaftlichen Wachstum, und, wie Lauderdale längst zeigte, wirkt die Natur der Verteilung innerhalb einer Gemeinschaft auf die Produktion zurück. In der fraglichen Unterscheidung liegt indessen eine bedeutsame Wahrheit, deren Erkenntnis uns veranlasst, die ganze Aufmerksamkeit der Frage zuzuwenden, wie es möglich sei, die gegenwärtige Art der Verteilung des Reichtums zu vervollkommnen. Die Erforschung dieser Aufgabe trieb Mill in seinen späteren Jahren mehr und mehr dem Sozialismus entgegen, und während sein Buch, trotz einiger sonstigen Veränderungen, gegen sein Lebensende fortfuhr, die Ricardo'schen Lehren von dem Grundsatz der erleuchteten Selbstsucht abzuleiten, erwartete er eine Ordnung der Dinge, in welcher sich das gemeinschaftliche Wirken auf das Gefühl der Zusammengehörigkeit gründen sollte.

Die allmähliche Veränderung seiner Ansichten über die ökonomische Verfassung der Gesellschaft tritt in seiner »Selbstbiographie« (deutsch von L. Kolb, 1874) zu Tage. In seinen jüngeren Jahren hatte er, wie er uns mitteilt, »nicht viel mehr als die alte Schule (man beachte diesen bezeichnenden Ausdruck) der Volkswirtschaftslehre die Möglichkeit einer gründlichen Verbesserung der gesellschaftlichen Einrichtungen eingesehen. Das Privateigentum in seiner gegenwärtigen Bedeutung sowie das Erbrecht schienen das Endziel (dernier mot) der Gesetzgebung zu sein«. Der Gedanke eines Vorgehens in der Richtung auf eine gründliche Abhilfe der Ungerechtigkeit, »welche in der Tatsache liegt, dass einige für den Reichtum und die grosse Mehrzahl für die Armut geboren sind«, war ihm zu jener Zeit als ein Hirngespinst erschienen. Allein nunmehr waren seine Ansichten derartige, dass »sie ihm entschieden allgemein die Bezeichnung eines Sozialisten eintragen würden«. Er war jetzt zu dem Glauben gelangt, dass das ganze zeitgenössische Gefüge des Wirtschaftslebens ein bloss vorübergehendes und einstweiliges sei, und dass eine Zeit kommen würde, in welcher »die Teilung des Arbeitsertrages, anstatt, wie es jetzt der Fall, in so hohem Masse von dem Zufall der Geburt abzuhängen, auf dem Wege der Uebereinkunft nach einem anerkannten Grundsatz der Gerechtigkeit geschehen werde«. »Die soziale Aufgabe der Zukunft« bestand nach ihm darin, »die grösste individuelle Freiheit des Handelns«, welche in sozialistischen Plänen oft preisgegeben werde, »zu vereinigen mit einem gemeinschaftlichen Eigentumsrecht an den Rohstoffen des Erdballs und mit einer gleichmässigen Anteilnahme an den gesamten Wohltaten der vereinigten Arbeit«. Diese Gedanken, sagt er, waren in der ersten Ausgabe der »Grundsätze« kaum, etwas klarer und vollständiger in der zweiten und ganz unzweideutig in der dritten ausgeführt, nachdem die französische Revolution des Jahres 1848 das Publikum neuen Anschauungen zugänglicher gemacht hatte.

Während er somit nach einer neuen Wirtschaftsordnung ausblickt, ist er indessen der Ansicht, dass eine solche noch in sehr weiter Ferne stehe und glaubt, dass in der Zwischenzeit die Beweggründe des Privatinteresses nicht zu entbehren seien Siehe auch seine »Chapters on socialism«, in der Fortnightly Review, 1879.. In geistiger Hinsicht bewahrt er eine ähnliche abwartende Haltung. Er nimmt an, dass der Gottesglaube endgiltig verschwinden und ihn eine reine Menschenreligion ersetzen werde, glaubt jedoch, dass die bestehende Lehre noch lange als Mittel der Besserung und der Zucht notwendig sei. Auf diese Weise untergräbt er bestehende Grundlagen, ohne etwas zu liefern, was an deren Stelle treten soll, und betont andererseits die Notwendigkeit, für unbestimmte Zeiten zu bewahren, was er gründlich in Verruf gebracht hat. Ja, er begünstigt sogar, während er die Saat einer, nach der sozialistischen Organisation der Gesellschaft hinführenden Veränderung säet, vorhandene oder bevorstehende Einrichtungen, welche die wirtschaftliche Welt nach ganz anderen Ausgängen hindrängen würden. Das System des bäuerlichen Grundbesitzes ist seinem ganzen Wesen nach ein ausgeprägt individualistisches, doch rühmt er es überschwenglich in dem ersten Teile seines Buches und hört erst mit diesen Lobeserhebungen auf, wenn er zu dem Kapitel über die Zukunft der arbeitenden Klassen gelangt. Ebenso verhält es sich mit dem System der genossenschaftlichen Produktion, welches er in den späteren Auflagen seines Buches so warm empfahl, und welches einige seiner Anhänger auf seine Veranlassung hin als das einzig Notwendige verkündeten. Dasselbe würde unvermeidlich den Grundsatz des persönlichen Eigentums stärken und, während es angeblich höchstens den Wettbewerb der Einzelnen durch den Wettbewerb der Genossenschaften ersetzen will, den ersteren keineswegs ausschliessen.

Die Hebung der arbeitenden Klassen brachte er in allzu ausschliesslichen Zusammenhang mit der Malthus'schen Ethik, auf welche er ein übermässiges Gewicht legte, obgleich es, wie Bain bemerkt, nicht leicht fällt, sowohl seine als seines Vaters Ansichten in Betreff dieses Gegenstandes genau zu ermitteln. Wir haben keinen Grund zur Annahme, dass er jemals seine Meinung über die Notwendigkeit einer Beschränkung der Bevölkerungszahl änderte, und doch ist dieser Gedanke offenbar den sozialistischen Ideen fremd, auf welche er sich mehr und mehr einliess. Es ist zum mindesten schwierig, sich darüber klar zu werden, wie, abgesehen von der Verantwortlichkeit des Einzelnen für den Unterhalt einer Familie, das, was Malthus sittliche Zurückhaltung nennt, angemessen erzwungen werden könnte. Jedenfalls ist diese Schwierigkeit der verhängnisvolle Riss, welcher nach Malthus' eigenem Dafürhalten das Godwin'sche Ideal zerfetzte.

Mill's Empfänglichkeit für neue Gedanken und sein Enthusiasmus für jeden Fortschritt können nicht genug bewundert werden. Allein mit diesen feinen Zügen seiner Geistesverfassung scheint ein gewisser Mangel an praktischem Sinn verbunden gewesen zu sein, eine Unfähigkeit, die notwendigen Bedingungen des menschlichen Lebens zu erkennen und mit ihnen zu rechnen, sowie ein Verlangen nach »besserem Brote als aus Weizen gebacken werden kann«. Er hegte seltsam übertriebene oder besser verkehrte Begriffe von der »Unterwerfung«, den Fähigkeiten und den Rechten der Frauen. Er ermuntert die Arbeiter, sich gegen die Tatsache zu empören, dass sie als Klasse dauernd zu dem Schicksal verurteilt seien, ihr Leben durch Lohnarbeit zu fristen. Dabei unterlässt er es, sowohl einen überzeugenden Beweis dafür zu erbringen, dass dieser Zustand einer Veränderung fähig sei als darzutun, dass ein solches Schicksal, gehörig durch Gesetz und Sitte geregelt, sich mit ihrem wahren Glück nicht vertrage. Ferner betont er die »Unabhängigkeit« der arbeitenden Klasse, welche sich nach ihm selbst helfen wird (»farà da sè«), in einer Weise, welche geeignet ist, die Wahrheiten zu verdunkeln, wenn nicht zu verdrehen, dass höherer Stand und grösserer Reichtum von der Natur mit sozialer Macht ausgestattet sind und die Pflicht mit sich bringen, diese zum besten der Gemeinschaft überhaupt und ihrer weniger begünstigten Mitglieder insbesondere auszuüben. Auch legt er mechanischen und tatsächlich illusorischen Mitteln eine ganz ungehörige Wichtigkeit bei, so z. B. der Beschränkung des testamentarischen Verfügungsrechts wie der staatlichen Beschlagnahme des »nicht verdienten Rentenzuwachses«.

Ebenso änderte er seine Stellung in betreff der wirtschaftswissenschaftlichen Methode, doch befand er sich schliesslich auf unsicherem Boden. In dem fünften seiner ersten Essays behauptete er, dass die Methode a priori die einzige Art und Weise des Forschens auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaften sei, und dass die Methode a posteriori »in diesen Wissenschaften sich als Mittel zur Erlangung einer erheblichen Summe schätzbarer Wahrheiten als gänzlich fruchtlos erweist«. Als er seine »Logik« schrieb, hatte er durch Comte erfahren, dass die Methode a posteriori – in der Form, welche er die »umgekehrte Deduktion« zu nennen beliebte – die einzige Verfahrungsart sei, mit deren Hilfe man im Bereich der allgemeinen Soziologie zur Wahrheit gelangen könne, und dies Zugeständnis macht den Essay mit einem Schlage wertlos. Da er indessen nicht geneigt ist, die von ihm in seinen Jugendjahren befolgte Methode a priori aufzugeben, so macht er den Versuch einer Unterscheidung zweier Arten des wirtschaftlichen Forschens, deren eine durch diese Methode geleitet werden könnte, die andere hingegen nicht. Mitunter spricht er von der Volkswirtschaftslehre als von einem Gebiet, das »von dem Gesamtkörper der Gesellschaftswissenschaft abgeteilt ist«, während andererseits der Titel seines systematischen Werkes geeignet ist, Zweifel darüber entstehen zu lassen, ob die Volkswirtschaftslehre überhaupt einen Teil der »Gesellschaftsphilosophie« und nicht vielmehr ein Vorbereitungs- und Hilfs-Studium für sie bilde. Somit verharrt er sowohl in logischer als dogmatischer Hinsicht unsicher inmitten zweier Meinungen. Trotz aller seiner Zweifel und sogar Verläugnungen blieb er jedoch, was Methode anbelangt, ein Anhänger der alten Schule und schloss sich nie der neuen oder »Historischen« Schule an, welcher die Zukunft gehört.

Mit der Frage der wirtschaftswissenschaftlichen Methode beschäftigte sich auch der begabteste seiner Schüler, John Elliot Cairnes (1824-75), welcher dem Gegenstand ein Buch widmete (Logical method of political economy, 1857, 2. ed. 1875). Professor Walker hat sich über die von Cairnes befürwortete Methode dahin geäussert, dass sie sich von der Mill'schen unterscheide, und sogar von ihr behauptet, dass sie jener von der deutschen historischen Schule befolgten ähnlich, wenn nicht mit ihr identisch sei. Doch ist dies sicherlich ein Irrtum. Trotzdem Cairnes in seinen Ansichten offenbar einigermassen schwankend ist und gewisse, mehr formelle als sachliche Zugeständnisse macht, hält er doch die deduktive Methode in ihrer äussersten Strenge aufrecht. Unumwunden erklärt er, dass auf dem Gebiete der Volkswirtschaftslehre durchaus kein Raum für die Induktion vorhanden sei: »Der Nationalökonom fängt ohne weiteres mit der Kenntnis der Endursachen an« und befindet sich also »gleich zu Beginn seines Unternehmens in derselben Stellung, welche der Naturforscher erst nach Menschenaltern mühevollen Forschens erreicht«. Er scheint in der Tat über den Standpunkt Senior's nicht hinausgekommen zu sein, der alle volkswirtschaftliche Wahrheit von vier Elementarsätzen abzuleiten gedachte. Während Mill in seiner »Logik« die Bestätigung durch Tatsachen als einen wesentlichen Teil des Vorgangs der Demonstration volkswirtschaftlicher Gesetze bezeichnet, ist Cairnes der Ansicht, dass letztere, da sie »über den Charakter und die Aufeinanderfolge der Erscheinungen nichts aussagen«, (was könnte sonst ein wissenschaftliches Gesetz aussagen?) »durch statistische oder urkundliche Beweise weder begründet noch widerlegt werden können«. Ein Satz, der nichts über irgend welche Erscheinungen aussagt, kann allerdings dadurch, dass man ihn mit diesen Erscheinungen vergleicht, nicht auf seine Richtigkeit geprüft werden. Trotz der unstreitigen Begabung, welche sein Buch verrät, bedeutet es doch offenbar in mancher Hinsicht einen Rückschritt auf dem Gebiete der Methodologie und kann für die Zukunft nur von geschichtlichem Interesse sein.

In diesem Lichte betrachtet, hatten die Arbeiten Mill's und Cairnes' über die Methode der Wissenschaft – waren sie auch innerlich ungesund – eine bedeutsame negative Wirkung. Sie brachten die alte Volkswirtschaftslehre herunter von ihrer überlieferten Stellung und verminderten ihre übertriebenen Anmassungen durch eine zwiefache Modifikation allgemein anerkannter Anschauungen. Während Ricardo nie darüber im Zweifel war, dass er in allen seinen Schlüssen mit menschlichen Wesen zu tun hatte, wie sie in Wirklichkeit existieren, bewiesen sie, dass die Wissenschaft als eine rein hypothetische betrachtet werden müsse. Ihre Deduktionen gründeten sich auf fingierte oder mindestens einseitige Annahmen, deren wichtigste das Dasein des sogenannten »Wirtschaftsmenschen« sei, eines Wesens, das nur von zwei Beweggründen beeinflusst werde, von dem Streben nach Reichtum und der Scheu vor jeglicher Anstrengung. Und nur insoweit, als die auf dieser Anschauung aufgebauten Prämissen den Tatsachen entsprechen, könne man sich in der Praxis auf die Schlussfolgerungen verlassen. Vergeblich protestierte Senior gegen eine solche Auffassung der Wissenschaft, die seines Erachtens ihre soziale Wirksamkeit in Frage stellte, indessen Torrens, welcher früher die Lehren Ricardo's bekämpft hatte, Mill's neuerliche Darstellung der Volkswirtschaftslehre mit Freuden begrüsste, da sie ihm, während sie in einer Hinsicht jene Lehren verwarf, andererseits die Möglichkeit bot, sie nunmehr anzuerkennen. Sodann hatte man öfters der Meinung Ausdruck gegeben, dass der Wirtschafts-Wissenschaft eine Wirtschafts-»Kunst« zur Seite stehe: Erstere stelle Wahrheiten fest, welche die Gesetze der wirtschaftlichen Erscheinungen betreffen, letztere erteile Vorschriften über die rechte Art des wirtschaftlichen Handelns. Und viele hatten daher angenommen, dass, sobald erstere gegeben sei, sich auch letztere in unserem Besitz befinde, – dass wir also weiter nichts zu tun hätten, als Lehrsätze in Vorschriften zu verwandeln, um zum Ziele zu gelangen. Mill und Cairnes machten indessen klar, dass einer solchen Auffassung nicht beigetreten werden könne, dass ebensowenig in der Wirtschaftswelt als auf anderen Gebieten des Lebens das Handeln durch Rücksichten geleitet werden dürfe, die nur einem Bereich der Dinge entnommen seien, dass die Wirtschaftstheorie zwar Gedanken an die Hand geben könne, welche im Auge zu behalten seien, dass sie aber allein das Verhalten nicht regeln dürfe; eine solche Aufgabe erfordere einen weiteren Ueberblick über menschliche Angelegenheiten. Diesen Punkt klären wir am besten auf durch Zuhilfenahme der Comte'schen Klassifikation oder vielmehr hierarchischen Ordnung der Wissenschaften. Mit der am wenigsten zusammengesetzten, der Mathematik, beginnend, steigen wir allmählich empor zur Astronomie, Physik, Chemie, von hier zur Biologie und von dieser wiederum zur Soziologie. Im Verlaufe dieses Emporsteigens begegnen wir all' den grossen Gesetzen, welche die Erscheinungen der unbelebten Welt, der belebten Wesen und der Gesellschaft regeln. Es bleibt indessen noch eine weitere Stufe zu erklimmen, die der Sittenlehre, und an diesem Punkt bekunden die Gebiete der Theorie und der Praxis die Neigung, sich zu vereinigen, da jedes Element des Verhaltens in seinen Beziehungen zum allgemeinen Besten zu würdigen ist. In der Schlusssynthese sind alsdann sämtliche vorgängigen Analysen zu benutzen, um mit deren Hilfe darüber zu bestimmen, wie jede wirkliche Eigenschaft von Dingen oder Menschen der Wohlfahrt der Menschheit dienstbar gemacht werden kann.

Cairnes' wichtigste Veröffentlichung auf volkswirtschaftlichem Gebiet war seine letzte: »Neue Erörterungen über einige leitende Grundsätze der Volkswirtschaftslehre« (Some leading principles of political economy newly expounded, 1874). In diesem Buche, welches keine vollständige Behandlung des Wissenszweiges bringen will, beurteilt und verbessert er die Darstellungen, welche frühere Schriftsteller von einigen seiner Hauptlehren gegeben hatten, und erörtert ausführlich die Einschränkungen, unter denen sie aufzufassen sind, sowie die ihnen entgegenstehenden Ausnahmen, welche durch besondere Umstände hervorgerufen werden können. Während das Werk bedeutende Fähigkeiten verrät, liefert es einen Beweis von Cairnes', mit Recht als eine Schwäche seiner geistigen Verfassung bezeichneten »Mangel an Verstandessympathie« und dem sich hieraus ergebenden häufigen Unvermögen, mehr als eine Seite einer Wahrheit zu erkennen.

Von den drei Abteilungen des Buches bezieht sich die erste auf den Wert, die zweite auf die Arbeit und das Kapital und die dritte auf den internationalen Handel. In der ersten erläutert er zunächst die Bedeutung des Ausdrucks »Wert« und bekämpft in dem fraglichen Kapitel die Ansicht Jevons', dass der Tauschwert eines Gegenstandes gänzlich von dessen Nützlichkeit abhänge, ohne vielleicht deutlich zu begreifen, was Jevons mit diesem Satze ausdrücken wollte. In betreff des Angebots und der Nachfrage setzt er auseinander, wie es schon Say getan hatte, dass diese, als Aggregate betrachtet, nicht unabhängige, sondern eng verbundene und von einander abhängige Erscheinungen seien – zwar von gleicher Bedeutung unter einem Tauschsystem, unter einem Geldsystem indessen als von einander verschieden aufzufassen. Angebot und Nachfrage mit Rücksicht auf einzelne Waren soll soviel heissen wie Angebot und Nachfrage zu einem gegebenen Preise, und hierdurch werden wir bekannt mit den Begriffen des Marktpreises und des Normalpreises (wie Cairnes nach dem Vorgange Cherbuliez' bezeichnet, was Smith minder glücklich den natürlichen Preis genannt hatte). Der Normalpreis führt wiederum zur Würdigung der Produktionskosten, und hier leugnet er, im Gegensatz zu Mill und anderen, dass Kapitalgewinn und Löhne Bestandteile der Produktionskosten seien, mit andern Worten, er behauptet, was Senior (welchen er nicht erwähnt) vor ihm ausgesprochen hatte, – obschon dieser die Nomenklatur nicht folgerecht durchführt – dass nämlich die Produktionskosten die zur Produktion erforderliche Summe von Arbeitsleistung und Enthaltsamkeit darstellen, und dass die Löhne und Kapitalgewinne die Belohnung für das gebrachte Opfer und nicht dessen Bestandteile seien. Aber, darf man wohl mit Recht fragen, wie kann eine Summe von Arbeitsleistung einer Summe von Enthaltsamkeit hinzugefügt werden? Sind nicht Löhne und Kapitalgewinne als »Kosten-Masse« (measures of cost) aufzufassen? Ferner legt Cairnes gelegentlich seiner Zustimmung zu dem Begriffe des »Opfers« die Hohlheit der Behauptung bloss, dass »der Ausdehnung des britischen Handels die teure Arbeit als Haupthindernis entgegenstehe« – in welchem Ausspruch die Worte »britischer Handel« Kapitalistengewinne bedeuten. An dieser Stelle werden wir in eine Theorie eingeführt, die hier zum erstenmale eingehend behandelt ist. Anzeichen finden sich indessen schon bei Mill, und sie ist in der Tat eine Erweiterung seiner Lehre von den internationalen Werten. Im auswärtigen Handel regeln die Produktionskosten – in Cairnes' Sinne – die Werte nicht, weil sie diese Aufgabe nur unter einem Regime wirksamen Wettbewerbs erfüllen können, und zwischen verschiedenen Ländern kann von einem wirksamen Wettbewerb nicht die Rede sein. Aber, fragt Cairnes, in welchem Umfange ist ein solcher innerhalb der heimischen Industrien möglich? Soweit das Kapital in Frage kommt, hält er die notwendigen Voraussetzungen auf dem gesamten fraglichen Gebiet für hinlänglich erfüllt – nebenbei bemerkt, eine Annahme, die sich unseres Erachtens nicht aufrechthalten lässt, wenn man die tatsächliche Unbeweglichkeit des meisten fest angelegten Kapitals, als verschieden vom verfügbaren, in Erwägung zieht. Was indessen die Arbeit anbelangt, so greift der erforderliche Wettbewerb nur Platz innerhalb gewisser sozialer oder vielmehr wirtschaftlicher Schichten. Die Wirtschaftswelt kann in eine Reihe übereinandergestellter Gruppen eingeteilt werden, und diese Gruppen wetteifern erfahrungsgemäss nicht miteinander, da die überschüssige Arbeit in einer von ihnen selten in der Lage sein wird, sich in einer höheren ein Feld zu suchen Die Nationalökonomen vergleichen mit Vorliebe den Satz der Kapitalgewinne oder der Löhne innerhalb einer Nation (dies Wort in wirtschaftlichem Sinne verstanden) mit einem einzigen Wasserspiegel, dessen Fläche beständig durch vorübergehende Einflüsse beunruhigt wird und beständig bestrebt ist, sich wieder zu glätten. Wir hingegen müssen diese Sätze, wie sie innerhalb verschiedener Nationen bestehen, mit Behältern vergleichen, welche nicht miteinander in Verbindung stehen und stets von einander abweichende, obwohl veränderliche Wasserstände aufweisen. Der letzte Vergleich lässt sich auch auf die Sätze (wenigstens der Löhne) innerhalb verschiedener volkswirtschaftlicher »Gruppen« oder Schichten derselben Gemeinschaft anwenden.. Es lässt sich also das Gesetz, dass die Produktionskosten den Preis bestimmen, schlechterdings für den heimischen Austausch ebensowenig als für den internationalen aufstellen; trifft es hinsichtlich des letzteren durchgehends nicht zu, so hat es auch keine Geltung für den ersteren als unter nicht miteinander wetteifernden Gruppen. Das Gesetz, welches unter diesen gilt, gleicht jenem, welches die internationalen Werte beherrscht und als die Gleichung der wechselseitigen Nachfrage bezeichnet werden kann. Für die Produkte dieser Gruppen wird sich ein solcher Stand von verhältnismässigen Preisen befestigen, welcher den zum Ankauf der Produkte aller andern Gruppen verwendeten Teil der Produkte einer jeden einzelnen Gruppe befähigen wird, die Verbindlichkeiten aufzuheben, welche letztere gegen jene andern Gruppen hat. Die gegenseitige Nachfrage der Gruppen bestimmt die »durchschnittliche verhältnismässige Höhe« der Preise innerhalb jeder Gruppe, während die Produktionskosten die Verteilung der Preise auf die Einzelprodukte jeder Gruppe regeln. Dieser Lehrsatz ist vielleicht von keinem grossen praktischen Wert. Die ganze Untersuchung läuft indessen darauf hinaus, die Bedeutung der Produktionskosten als Regulatoren des Normalpreises abzuschwächen und somit zu erweisen, dass eine weitere der allgemein anerkannten Lehren unseres Wissensgebiets in einer zu starren und absoluten Form dargeboten worden sei. In betreff des Marktpreises zeigt Cairnes, dass die Formel, durch welche dieser von Mill als der, Angebot und Nachfrage gleichende Preis definiert worden, ein identischer Satz sei, und erklärt ihn als den Preis, welcher angesichts der Zufuhr frischen Angebots aus den Produktionsquellen das vorhandene Angebot mit der vorhandenen Nachfrage auf vorteilhafteste Weise in Uebereinstimmung bringt.

Der zweite Teil seines Buches ist vor allem merkwürdig durch seine Verteidigung der sogenannten Lohnfonds-Theorie, auf die wir bereits anlässlich der Besprechung Senior's aufmerksam wurden. Mill hatte diese Theorie aufgegeben, da ihm durch Thornton die Ueberzeugung beigebracht worden war, dass sie auf Irrtum beruhe. Cairnes weigerte sich indessen, seinem Leiter zu folgen, welcher sich seiner Meinung nach nicht hätte überzeugen lassen dürfen In der Vorrede zu seiner »Theory of political economy«, 2. ed., sagt Jevons seltsamerweise, dass die Lohnfonds-Theorie »von den meisten englischen Nationalökonomen aufgegeben sei infolge der Angriffe«, welche sie u. a. »von Cairnes« erfahren. Cairnes war in Wirklichkeit ein Anhänger dieser Theorie.. Nach einer, sicherlich irrtümlichen Abweisung der Longe'schen Kritik des Ausdruckes »durchschnittlicher Lohnsatz« nimmt er die fragliche Theorie in Schutz, indem er ausführt, dass der zu irgend welcher Zeit der Bezahlung der Löhne gewidmete Betrag aus dem Vermögen einer Nation – vorausgesetzt, dass der Charakter der nationalen Industrien und die angewandten Produktionsmethoden dieselben bleiben – in einem bestimmten Verhältnis zu der Summe ihres gesamten Kapitals stehe; sei die letztere gegeben, so kenne man auch den ersteren. Zur Erläuterung seiner Ansicht über den Gegenstand betont er besonders den (in der Hauptsache richtigen, aber von Mill zu absolut gefassten) Grundsatz, dass »die Waren-Nachfrage keine Arbeits-Nachfrage ist«. Es erübrigt, an diesem Orte seiner Untersuchung zu folgen, da seine Ausführungen seine Nachfolger, Fawcett ausgenommen, nicht befriedigt haben, und die Lohnfrage jetzt allgemein ohne Bezugnahme auf einen vorausgesetzten bestimmten Lohnfonds behandelt wird. Cairnes beschäftigt sich sodann mit der Erforschung des Einflusses der Gewerkvereine auf die Löhne und gelangt in der Hauptsache zu dem Schlusse, dass jene auf den Satz der letzteren allein durch Beschleunigung eines Fortschrittes einwirken könnten, der schliesslich auch ohne ihr Zutun hätte eintreten müssen. Auch nimmt er Veranlassung, das, von Mr. (jetzt Lord) Brassey aufgestellte vermeintliche Gesetz von der Gleichmässigkeit der Kosten der Arbeit in jedem Weltteil zu widerlegen. Zur Würdigung der materiellen Aussichten der arbeitenden Klassen übergehend, prüft er die Frage nach den möglicherweise zu erwartenden Veränderungen in dem Betrage und der Teilung des Fonds, aus welchem die Enthaltsamkeit und die Arbeit ihre Belohnung erhalten. Er spricht hier den Grundsatz aus (welchen indessen Ricardo und Senior schon vor ihm aufgestellt hatten), dass die vermehrte Produktivität der wirtschaftlichen Tätigkeit weder die Kapitalgewinne noch die Löhne berühre, falls sie die von dem Arbeiter konsumierten Waren nicht verbillige. Da letztere meistens solche Artikel seien, deren einzigen oder hauptsächlichen Bestandteil Rohstoffe bilden, so nähmen deren Produktionskosten, trotz aller Vervollkommnungen in Wissen und Können, immer mehr zu, wenn die Bevölkerungszahl innerhalb der arbeitenden Klassen nicht beständig im Zaume gehalten werde. Somit sei die Möglichkeit einer Hebung der Lage des Arbeiters auf einen sehr engen Raum beschränkt, wenn er fortfahre, nichts als Arbeiter zu bleiben. Jede wesentliche und dauernde Verbesserung seines Schicksals sei dadurch bedingt, dass er aufhöre, blosser Arbeiter zu sein, dass die Kapitalgewinne veranlasst würden, den Lohnfonds zu verstärken, welcher im Verlaufe des wirtschaftlichen Fortschritts die Neigung bekunde, im Verhältnis zu dem Gesamtkapital eines Landes immer kleiner zu werden. An diesem Punkte gibt Cairnes die rein theoretische Haltung auf, welche er anderwärts als die für den Nationalökonomen einzig geeignete bezeichnet, und empfiehlt das sogenannte Genossenschaftssystem (d. h. in Wirklichkeit die Abschaffung des Grosskapitalismus), welches den arbeitenden Klassen »das einzige Mittel« biete, »einem herben und hoffnungslosen Schicksal zu entrinnen«, und übergeht etwas verächtlich den Widerspruch, welchen die Positivisten dieser – übrigens auch von anderen als den Positivisten, wie z. B. von Leslie und F. A. Walker als trügerisch angesehenen – Lösung entgegensetzen.

Der dritte Teil ist in der Hauptsache einer Erklärung der Ricardo'schen Lehre von den Bedingungen des internationalen Handels und der Mill'schen Theorie der internationalen Werte gewidmet. Erstere modifiziert Cairnes insofern, als er seine Idee von dem teilweisen Einflusse der gegenseitigen Nachfrage, als verschieden von den Produktionskosten, auf die Regelung der heimischen Preise zur Geltung bringt, und gründet auf diese Richtigstellung eine interessante Darlegung der Beziehungen zwischen den innerhalb eines Landes vorherrschenden Löhnen und den Charakter und Gang seines Aussenhandels. Ferner verbessert er die Mill'sche Aufstellung, nach welcher sich die Produkte eines Landes gegen jene anderer Länder zu solchen Werten austauschen, »als sie erforderlich sind, damit die Gesamtausfuhr dieses Landes genau seine Gesamteinfuhr bezahle«, indem er diese letztere Wendung durch die Bedingung ersetzt, dass jedes Land vermittelst seiner Ausfuhr seine gesamten auswärtigen Verbindlichkeiten lösen sollte, – mit anderen Worten, durch die Einführung des Gedankens der Schuldenbilanz. Diese Idee war nicht neu; schon im Jahre 1804 war sie von John Leslie Foster angedeutet worden In seinem »Versuch über den Grundsatz der Tauschgeschäfte im Handelsverkehr« (Essay on the principle of commercial exchanges)., und Mill selbst hatte sie berührt, indessen wird sie von Cairnes trefflich erläutert, und sie ist insofern von Wichtigkeit, als sie geeignet erscheint, mit landläufigen Missverständnissen aufzuräumen und zuweilen grundlose Besorgnisse zu zerstreuen Ueber den gesamten Gegenstand siehe Professor C. F. Bastable's »Theorie des internationalen Handels« (Theory of international trade, 1887).. Zur Frage des Freihandels übergehend, fertigt er einige oft wiederholte schutzzöllnerische Beweisgründe ab; insbesondere widerlegt er die in Amerika übliche Behauptung, dass die gut bezahlte Arbeit dieses Landes unfähig sei, mit der »Armen-Arbeit« Europa's zu wetteifern. Weniger glücklich begegnet er dem »politischen Argument«, welches sich auf die anerkannte zivilisatorische Bedeutung der Entfaltung verschiedenartiger nationaler Industrien gründet, und nur mit einem höchst bedenklichen Gemeinplatz der doktrinären Nationalökonomen tritt er dem Mill'schen Satz entgegen, dass der Schutzzoll im Werden begriffene und für die Verhältnisse eines Landes wirklich geeignete Industrien so lange pflegen könne, bis sie Wurzel gefasst haben und den Druck des auswärtigen Wettbewerbs auszuhalten vermögen.

Wir haben dieses Werk Cairnes' mit einiger Ausführlichkeit besprochen, nicht nur, weil es die spätesten Formen verschiedener in Aufnahme gekommenen Wirtschaftstheorien bietet, sondern auch, weil es das letzte bedeutende Erzeugnis der alten Englischen Schule ist und, wie wir glauben, auch bleiben wird. Im Eingange drückt der Verfasser die Hoffnung aus, dass es dem wissenschaftlichen Gebäude, »welches aufgeführt worden ist durch die Arbeiten von Adam Smith, Malthus, Ricardo und Mill«, Stärkung und grössere Festigkeit verleihen möge. Wenn wir auch mit ihm die grossen Verdienste Smith's sowie die tatsächlichen Fähigkeiten und Leistungen seiner drei oben genannten Nachfolger anerkennen, so können wir uns doch nicht der Meinung anschliessen, welche Cairnes in betreff der Dauer des von ihnen errichteten Baues hegt. Wir sind vielmehr der Ansicht, dass ein neues Gebäude erforderlich ist, welches allerdings vieles von dem Material des alten einschliessen, indessen auf Grund anderer Ideen und in mancher Hinsicht mit dem Ausblick auf andere Ziele zu entwerfen sein wird, – welches vor allem aber auf einem anderen philosophischen Fundament ruhen und in seiner ganzen Anlage mit dem umfassenderen Bau in Verbindung stehen soll, von dem es nur eine Abteilung bilden wird, nämlich mit der allgemeinen Wissenschaft der Gesellschaft. Wir werden später Gelegenheit finden, auf Cairnes' »Essays in political economy«, 1873, zurückzukommen. Seine »Politische Macht der Sklavenbesitzer« (Slave power, 1862) war das beste Werk, welches über den grossen amerikanischen Konflikt erschien.

 

Frankreich.

Alle neueren europäischen Schulen setzen das Werk der englischen Nationalökonomen von Smith Die erste französische Uebersetzung des »Völkerreichtums«, von Blavet, erschien im Journal de l'agriculture, du commerce, des finances et des arts, 1779-80; neue Ausgaben dieser Uebersetzung wurden veröffentlicht in den Jahren 1781, 1788 und 1800, auch gibt es einen Amsterdamer Nachdruck vom J. 1784. Smith selbst empfahl sie in der dritten Auflage des Originals als vorzüglich. Im Jahre 1790 erschien die Roucher'sche Uebersetzung, der Condorcet Anmerkungen beizufügen die Absicht hatte, und im Jahre 1802 die des Grafen Germain Garnier, welche dieser während seines Exils in England verfasst hatte, und die jetzt als massgebend angesehen wird. Sie erschien zuletzt, mit Noten von Say, Sismondi, Blanqui u. s. w., als 5. und 6. Band der »Collection des principaux économistes« (1843). bis auf Ricardo und die Epigonen voraus – teils eignen sie sich dasselbe an, teils machen sie es zum Gegenstand ihrer Kritik. Die deutsche Schule bekundete in höherem Masse als irgend eine andere eine selbständige Bewegung; sie befolgte, wenigstens in ihrer neueren Periode, eine eigene Methode und gelangte zu besonderen und charakteristischen Schlüssen. Die französische Schule andrerseits gab – wenn wir die Sozialisten hinweglassen, welche hier keine Berücksichtigung finden – im grossen ganzen die Lehren der führenden englischen Denker wieder, wobei sie indessen im allgemeinen vor den Uebertreibungen eines Ricardo und seiner Schüler Halt machte. Auf dem Gebiet der Darstellung unerreicht, haben die Franzosen auch innerhalb der Volkswirtschaftslehre eine Reihe mehr oder weniger bemerkenswerter systematischer Abhandlungen, Lehrbücher und Kompendien geschaffen, an deren Spitze das berühmte Werk J. B. Say's steht. Die Anzahl der in der französischen Volkswirtschafts-Litteratur hervorgetretenen schöpferischen Geister – d. h. solcher Schriftsteller, welche bedeutsame Wahrheiten zu Tage gefördert, verbesserte Methoden eingeführt oder die Erscheinungen in neuem Lichte dargestellt haben – war indessen keine grosse. Sismondi, Dunoyer und Bastiat verdienen unsere Aufmerksamkeit insofern, als sie aus der Reihe derer, welche eine – auf die Dauer haltbare oder unhaltbare – selbständige Stellung einnehmen, die bedeutendsten sind, wenn wir für jetzt die grosse philosophische Erneuerung August Comte's übergehen, die tatsächlich oder vermöge ihrer Anlage alle Zweige der soziologischen Forschung umfasste. Ehe wir zur Würdigung der Arbeiten Bastiat's übergehen, halten wir für ratsam, eine Prüfung der Anschauungen Carey's, des berühmtesten amerikanischen Nationalökonomen, zu unternehmen, welche sich bis zu einem gewissen Grade mit dem, was der geistreiche und beredte Franzose zuletzt lehrte, in einer merkwürdigen Uebereinstimmung befinden. Auch Cournot hat Anspruch auf einen Platz unter den französischen Schriftstellern dieses Zeitraums als der Hauptvertreter des Gedankens einer mathematischen Methode in der Volkswirtschaftslehre.

Ueber Jean Baptiste Say (1767-1832) sagt Ricardo: »Er war der erste oder einer der ersten der festländischen Schriftsteller, welche die Smith'schen Grundsätze richtig würdigten und zur Anwendung brachten, und hat mehr getan als alle übrigen festländischen Schriftsteller zusammen, um dieses erleuchtete und wohltätige System den Nationen Europa's anzuempfehlen.« Der »Völkerreichtum« in seiner Ursprache gelangte in Say's Hände durch Clavière, späteren Minister und damaligen Leiter der Versicherungsgesellschaft, in welcher Say als Commis angestellt war. Das Buch machte auf diesen einen gewaltigen Eindruck. Als sich lange nachher Dupont de Nemours über seine den Physiokraten bewiesene Ungerechtigkeit beklagte und auf ihn als den geistigen Enkel Quesnay's und Neffen Turgot's – durch Smith – Anspruch erhob, erwiderte er, dass er durch die Schriften der merkantilistischen Schule gelernt habe, wie man lesen müsse, dass er durch jene Quesnay's und seiner Anhänger gelernt habe, wie man denken müsse, dass er indessen bei Smith gelernt habe, wie man die Ursachen und Wirkungen der gesellschaftlichen Erscheinungen in der Natur der Dinge suchen müsse und hierbei vermittelst einer gewissenhaften Analyse zum Ziel komme. Seine »Darstellung der Volkswirtschaftslehre« (Traité d'économie politique, 1803; deutsch von L. v. Jakob, 1807, und von K. v. Morstadt, 3. Aufl., 1830-1832) stützte sich im wesentlichen auf das Werk Smith's, jedoch war er bestrebt, den Stoff logischer und instruktiver zu ordnen In grober Weise übertrieb er die Mängel Smith's in betreff der F der vorigen Seite: Methode. So sagt er: »Das Werk Smith's ist nichts als ein verworrenes Gemisch der gesundesten volkswirtschaftlichen Grundsätze  ... sein Buch ist ein weites Chaos von richtigen Gedanken«. (Discours préliminaire).. Er besitzt die französische Kunst gefälliger und lichtvoller Darstellung, wenn auch seine Gewandtheit zuweilen in Oberflächlichkeit ausartet. Daher wurde sein Buch allgemein beliebt, fand sowohl unmittelbar als durch Uebersetzungen einen weiten Absatz und verbreitete mit Schnelligkeit die Lehren seines Meisters über die zivilisierte Welt. »An Kenntnissen des gemeinen Lebens«, sagt Roscher, »steht Say wohl Smith gleich, umsomehr aber fehlt es ihm an lebendiger Einsicht in grössere politische Verhältnisse, und geschichtliche sowie philosophische Erörterungen meidet er geflissentlich.« Er ist mitunter ungewöhnlich seicht, so z. B. wenn er sagt, dass »die beste Steuer jene ist, welche am wenigsten beträgt«. Offenbar hat er keinen besonderen Anspruch auf die Stellung eines ursprünglichen Denkers im Bereiche der Volkswirtschaftslehre. Allerdings sagt Ricardo von ihm, dass er »die Wissenschaft durch verschiedene selbständige, sorgfältige und gründliche Untersuchungen bereichert habe«. Bei diesem Ausspruch hatte er besonders im Auge, was vielleicht etwas anmassend Say's Theorie der Absatzwege genannt wird, sowie dessen hiermit zusammenhängende Widerlegung der Möglichkeit einer überall herrschenden Absatzstauung. Diese Theorie läuft einfach darauf hinaus, dass der Käufer zugleich auch Verkäufer ist, und dass wir durch die Produktion in den Stand gesetzt werden, die Produkte anderer zu kaufen. Einige hervorragende Nationalökonomen, insbesondere Malthus und Sismondi, vertraten, hauptsächlich infolge einer irrtümlichen Auslegung der bei Handelskrisen auftretenden Erscheinungen, die Meinung, dass ein allgemeines Ueber-Angebot, oder ein die Nachfrage übersteigender Mehrvorrat aller Warenartikel möglich sei. Dies verneinte Say mit Recht. Es müsse allerdings zugegeben werden, dass die Produktion in einem ihrer einzelnen Zweige die vorhandene Fassungskraft des Marktes übersteigen könne. Wenn wir uns jedoch erinnerten, dass Angebot auch zugleich Nachfrage ist, dass Waren soviel wie Kaufkraft bedeuten, so könnten wir die Lehre von der Möglichkeit einer überall herrschenden Absatzstauung nicht anerkennen, ohne gleichzeitig anzunehmen, dass wir unter Umständen von allem zu viel haben, – dass »alle Menschen gerade mit den von ihnen gewünschten Artikeln so reichlich versehen sein können, dass jeder einzelne für den Ueberfluss der anderen keine Verwendung mehr hat.« Was Say auch immer durch selbständige Gedanken über diese und jene Themata geleistet haben mag – sein Hauptverdienst besteht jedenfalls darin, dass er die Lehren der Volkswirtschaft in gemeinverständlicher Weise darstellte und hierdurch für deren Verbreitung wirkte.

Von seiten der kaiserlichen Polizei wurden dem Erscheinen einer zweiten Auflage seines Werkes insofern Hindernisse bereitet, als man deren Ausgabe nicht ohne gewisse Aenderungen gestatten wollte, deren Vornahme er indessen mit edlem Freimute ablehnte; daher erschien diese Auflage nicht eher als im Jahre 1814. Drei weitere Auflagen wurden zu Lebzeiten des Verfassers veröffentlicht, 1817, 1819 und 1826. Im Jahre 1828 gab Say eine zweite systematische Darstellung heraus, betitelt »Vollständiger Lehrgang der praktischen Volkswirtschaftslehre« (Cours complet d'économie politique pratique, deutsch von Rüder und Sporschil, 1829-31, von J. v. Theobald, 1829-30, und von M. Stirner, 1845-46). Diese umfasste den wesentlichen Inhalt seiner am Konservatorium der mechanischen Künste und am Collège de France gehaltenen Vorlesungen. Während er sich in seinem früheren Werke innerhalb des engen Rahmens der eigentlichen Volkswirtschaftstheorie bewegt hatte, erweiterte er in dem späteren den Kreis seiner Erörterungen insbesondere durch mancherlei Betrachtungen über den wirtschaftlichen Einfluss sozialer Institutionen.

Jean Charles L. Simonde de Sismondi (1773-1842), Verfasser der »Geschichte der italienischen Republiken des Mittelalters « (Histoire des républiques italiennes du moyen-âge), vertritt auf volkswirtschaftlichem Gebiet einen, hauptsächlich auf humanitäre Gesinnung sich stützenden Protest gegen die herrschenden Lehren. Seine erste Arbeit war eine systematische Darstellung »Ueber den Handels-Reichtum« (De la richesse commerciale, 1803), in welcher er sich streng an die Grundsätze Adam Smith's hielt. Später gelangte er indessen zu der Ansicht, dass diese Grundsätze unzulänglich und der Abänderung bedürftig seien. In einem von ihm gelieferten Beitrag zur »Edinburgh Encyclopaedia« über die Volkswirtschaftslehre waren seine neuen Anschauungen teilweise angedeutet. Ausführlich entwickelte er sie in seinem nationalökonomischen Hauptwerke »Neue Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, oder von dem Reichtum in seinen Beziehungen zur Bevölkerung« (Nouveaux principes d'économie politique, ou de la richesse dans ses rapports avec la population, 1819, 2. éd., 1827, deutsch von Prager, 2 Bde., 1901-2). Dieses Buch wurde, wie er uns mitteilt, von den Nationalökonomen nicht günstig aufgenommen, welche Tatsache er durch den Hinweis erläutert, dass er »eine Orthodoxie angegriffen« habe, »ein Unternehmen, das in der Philosophie ebenso gefährlich ist als in der Religion.« Seiner Ansicht nach war die von ihm behandelte Wissenschaft, wie sie in der Regel aufgefasst wurde, eine zu chrematistische: sie befasse sich zu ausschliesslich mit den Mitteln zur Vermehrung des Reichtums und nicht genügend mit dessen Verwendung zum Wohle der Gesamtheit. Das auf ihr begründete praktische System ziele nach seiner Meinung darauf hin, nicht nur die Reichen noch reicher, sondern auch die Armen noch ärmer und noch abhängiger zu machen. Er suchte daher die Aufmerksamkeit auf die Frage der Verteilung zu lenken als auf die, insbesondere für die gesellschaftlichen Verhältnisse der neueren Zeit bei weitem wichtigste.

Der zufällige Umstand, dass sich in der Person Sismondi's drei Nationalitäten, die italienische, die französische und die schweizerische, vereinigten, sowie seine umfassenden Geschichtsforschungen verliehen ihm eine besondere Weite der Anschauungen. Ausserdem erfüllte ihn ein edles Mitgefühl für die leidenden Glieder der Gesellschaft. Er steht dem Sozialismus näher als irgend ein anderer französischer Nationalökonom im eigentlichen Sinne dieses Wortes, jedoch nur im Fühlen, nicht im Denken; irgend einen sozialistischen Plan bringt er nicht in Vorschlag. Im Gegenteil erklärt er an einer denkwürdigen Stelle, dass er allerdings sehe, wo die Gerechtigkeit liege, dass er sich jedoch nicht für fähig halte, die Mittel für ihre praktische Verwirklichung an die Hand zu geben. Die Verteilung der Früchte der wirtschaftlichen Tätigkeit unter jene, welche sich zu deren Produktion vereinigen, erscheint ihm als eine fehlerhafte, doch liegt es seines Erachtens ausser dem Bereiche menschlichen Könnens, irgend ein System des Eigentums auszudenken, welches von dem uns durch die Erfahrung bekannten durchaus verschieden sei. Er geht nur soweit, angesichts der Missstände, welche er rings um sich erblickte, Verwahrung gegen die Theorie des »laisser faire« einzulegen, und, etwas unbestimmt, die Regierungen aufzufordern, durch ihr Eingreifen »die fortschreitende Entwickelung des Reichtums zu regeln« und die schwächeren Glieder der Gemeinschaft zu schützen.

Das offene Geständnis des eigenen Unvermögens war jedenfalls weit klüger und rühmlicher als das Anraten überhasteter oder gefährlicher Heilmittel oder der Rückkehr zu abgelebten mittelalterlichen Einrichtungen und hat den Ruf seines Werkes nicht beeinträchtigt. Allerdings machte sich diesem gegenüber schon frühzeitig eine Voreingenommenheit geltend und zwar sowohl deshalb, weil es im Tone, nicht, wie wir gesehen haben, in der Politik teilweise mit dem Sozialismus übereinstimmte, der in jenen Tagen seine Stärke zu zeigen begann, als auch wegen der rücksichtslosen Art, in welcher seine Schilderungen des modernen Wirtschaftssystems, besonders des in England bestehenden, den selbstgefälligen Optimismus einiger Glieder der sogenannten orthodoxen Schule störten. Diese behandelten das Buch mit übelverhohlener Missachtung, und Bastiat sagte von ihm, dass es eine verkehrte Nationalökonomie (économie politique à rebours) predige. Es hat sich indessen in der Literatur der Volkswirtschaftslehre seinen Platz gewahrt und ist jetzt von grösserem Interesse als bei seinem erstmaligen Erscheinen, weil in unseren Tagen eine allgemeiner verbreitete Neigung vorhanden ist, die ernsten Missstände der industriellen Gesellschaft in's Auge zu fassen und zu entfernen oder wenigstens zu mildern, anstatt sie zu leugnen oder zu beschönigen. Die Doktrin des »laisser faire« ist zudem in der Theorie in Verruf geraten und in der Praxis aufgegeben. Wir sind daher bereit, der Ansicht Sismondi's beizutreten, welche in dem Staate eine Macht erblickt, die nicht nur mit der Aufrechterhaltung des Friedens betraut ist, sondern den Beruf hat, die Wohltaten der sozialen Vereinigung und des modernen Fortschritts so weit als möglich auf alle Klassen der Gemeinschaft auszudehnen. Der Eindruck indessen, welchen sein Buch hinterlässt, ist ein entmutigender, und zwar aus dem Grunde, weil er viele Dinge, welche als notwendige Ergebnisse der wirtschaftlichen Entwickelung erscheinen, als wesentliche Uebel betrachtet. Das Anwachsen einer reichen Kapitalistenklasse und der gewerblichen Produktion in grossem Massstabe, das Entstehen grosser Arbeitermassen, welche nur von ihrer Arbeit leben, die ausgedehnte Anwendung von Maschinen, grosse Grundbesitzungen, welche mit Hilfe der neuesten Fortschritte der Technik und Wissenschaft bewirtschaftet werden – alles dies gefällt ihm nicht und möchte er vermieden sehen. Und doch ist es offenbar unvermeidlich. Es handelt sich nur darum, wie das hierdurch geschaffene System zu regeln und zu sittlichen ist; jedenfalls aber müssen wir es im Prinzip anerkennen, sofern wir nicht auf eine gründliche soziale Umwälzung hinarbeiten. Sismondi kann als Vorläufer der, unter der unzutreffenden Bezeichnung »Kathedersozialisten« bekannten deutschen Nationalökonomen betrachtet werden, doch flössen deren Schriften weit mehr Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft ein als die seinigen.

Dem Bevölkerungsthema widmet er besondere Sorgfalt, da es ihm als von grosser Bedeutung für die Wohlfahrt der arbeitenden Klassen erscheint. Soweit die ackerbautreibende Bevölkerung in Frage kommt, hält er das System der von ihm als »patriarchalische« bezeichneten Wirtschaft, unter welchem der Bebauer auch gleichzeitig Besitzer ist und von seiner Familie im Bestellen des Bodens unterstützt wird, für das einzige, welches einer ungehörigen Vermehrung der Bevölkerung am wirksamsten vorbeugen könne, wobei augenscheinlich ein Recht der gleichen Teilung unter die natürlichen Erben vorausgesetzt ist. In einem solchen Falle sei der Vater imstande, eine genaue Schätzung der seinen Kindern zu Gebote stehenden Mittel vorzunehmen sowie den Grad der ferneren Teilung zu bestimmen, welcher die Familie zwingen könnte, aus der von ihr bis dahin eingenommenen materiellen und gesellschaftlichen Stellung herabzusteigen. Würden mehr Kinder geboren, als diese Grenze zulässt, so heirateten sie nicht oder wählten einen aus ihrer Zahl behufs Fortpflanzung ihres Stammes. Dies ist die Ansicht, welcher auch J. S. Mill beigetreten ist, und die sich so vorteilhaft ausnimmt in der von diesem Schriftsteller gelieferten allzu günstigen Schilderung des bäuerlichen Besitzsystems.

Bei keinem französischen Volkswirtschafts-Schriftsteller findet man grössere Kraft oder umfassendere Gründlichkeit des Denkens als bei Charles Dunoyer (1786-1862), dem Verfasser der »Freiheit der Arbeit« (La liberté du travail, 3 volumes, 1845; der wesentliche Inhalt des ersten Bandes war unter anderem Titel bereits im Jahre 1825 erschienen), rühmlichst bekannt durch seine unter der Herrschaft der Restauration bewahrte Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Was ihm für die Geschichte unserer Wissenschaft besondere Bedeutung verleiht, ist seine Ansicht über deren philosophische Verfassung und Methode. Was die letztere betrifft, so schlägt er gleich im Eingange den Grundton an durch die Worte »auf den Weg der Erfahrung forschen« (rechercher expérimentalement) sowie durch den Vorsatz, sich »auf die durch Beobachtung und Erfahrung gegebenen Daten« (les données de l'observation et de l'expérience) zu stützen. Er bekundet ein ausgeprägtes Streben, die Wirtschaftstheorie zu einer allgemeinen Gesellschaftswissenschaft zu erweitern, und sagt von jener ausdrücklich, dass ihr Wirkungskreis die gesamte Ordnung der Dinge einschliesse, welche sich aus der Betätigung und Entwickelung der sozialen Kräfte ergebe. Dieses umfassendere Studium wird allerdings besser Soziologie oder Gesellschaftslehre genannt, und die volkswirtschaftlichen Forschungen sind vielmehr nur als eine ihrer Abteilungen zu betrachten. Doch ist es ein wesentlicher Umstand, dass Dunoyer in der Behandlung des gewaltigen Stoffes die weitgehendsten geistigen, sittlichen und politischen Rücksichten unzertrennlich mit rein volkswirtschaftlichen Ideen zu einem Ganzen verbindet. Man darf unter dem Worte »Freiheit«, welches der Titel seines Werkes enthält, nicht blosses Befreitsein von gesetzlichen Beschränkungen oder administrativer Einmischung verstehen; er gebraucht es vielmehr zur Bezeichnung alles dessen, was dazu beiträgt, der Arbeit vermehrte Schaffenskraft zu verleihen. Hierdurch wird er veranlasst, die gesamten Ursachen des menschlichen Fortschrittes einer Erörterung zu unterziehen und sie in ihrem geschichtlichen Wirken darzustellen.

Im ersten Teile behandelt er zunächst den Einfluss äusserer Umstände, der Rasse und des Bildungszustandes auf die Freiheit in diesem weiteren Sinne. Hierauf teilt er alle produktive Leistung in zwei Hauptklassen, je nachdem sich das Handeln an Dingen oder Menschen betätigt, und tadelt die Nationalökonomen, weil sie ihre Aufmerksamkeit auf die erste dieser Klassen beschränkt hätten. Im zweiten und dritten Teile untersucht er die Bedingungen der Wirksamkeit dieser beiden Formen menschlicher Kraftäusserung. Bei der Behandlung des Wirtschaftslebens im eigentlichen Sinne teilt er die den Stoff behandelnde Tätigkeit in die vier Abteilungen der »extraktiven« Industrie, der Transport-Industrie, der Gewerbe und der Landwirtschaft. Diese, auch teilweise von Mill angewandte Einteilung ist zwar für die physische Volkswirtschaftstheorie brauchbar, doch wird sie stets, wenn der umfassendere soziale Gesichtspunkt in Betracht kommt, hinter der mehr die Regel bildenden zurückstehen, welche Landwirtschaft, Gewerbe und Handel unterscheidet, und bei welcher das Bankwesen als gemeinsamer Leiter und Regulator angesehen wird. Dunoyer, welcher nur die unmittelbar mit stofflichen Dingen sich befassende Tätigkeit im Auge hat, verweist sowohl das Bankwesen als den Handel im eigentlichen Sinne unter die besondere Rubrik des Austausches, welch' letzteren er, zusammen mit dem Vereinswesen und der unentgeltlichen Zuwendung (unter Lebenden oder von Todes wegen), unter eine besondere Klasse stellt, weil diese zwar keine »Industrien« im gleichen Sinne wie die oben genannten Beschäftigungen seien, indessen für die Sozialökonomie wesentliche Verrichtungen darstellten. Für die Einteilung der »Industrien«, welche den Menschen zum Gegenstande haben, erscheint ihm als massgebend, ob sie sich befassen: Erstens mit der Verbesserung unserer physischen Natur, zweitens mit der Veredelung unserer Einbildungskraft und unserer Gefühle, drittens mit der Bildung unseres Verstandes und viertens mit der Vervollkommnung unserer sittlichen Gewohnheiten, und beschäftigt sich dementsprechend mit den gesellschaftlichen Aufgaben des Arztes, des Künstlers, des Erziehers und des Priesters. Wir begegnen bei Dunoyer den später von Bastiat nachdrücklich betonten Gedanken, dass die Gegenstände des menschlichen Tausch-Verkehrs in Wirklichkeit »Dienste« seien, dass aller Wert von der menschlichen Tätigkeit herrühre, dass die Naturkräfte der menschlichen Arbeit stets unentgeltlichen Beistand leisten, und dass die Grundrente tatsächlich eine Form des Zinses aus fest angelegtem Kapital sei. Obwohl er auf den Beruf eines praktischen Ratgebers durch den oft angeführten Ausspruch »Ich gebe keine Vorschriften, ich schlage nicht einmal etwas vor, ich erkläre nur« verzichtet hatte, so kann er doch, gleich allen Nationalökonomen, nicht umhin, seine Ratschläge zum besten zu geben. Und zwar widersetzt sich die von ihm vertretene Politik jedwedem staatlichen Eingreifen in die wirtschaftliche Tätigkeit. Er predigt sogar die Theorie des »laisser faire« in ihrer äussersten Strenge und verficht sie hauptsächlich unter der Begründung, dass die freiwilligen Anstrengungen des Einzelnen zur Verbesserung seiner Lage die gesellschaftliche Kultur am wirksamsten förderten, indem durch sie die Eigenschaften der Voraussicht, Tatkraft und Ausdauer entfaltet würden. Er geht indessen zu weit, wenn er die Tätigkeit der Regierungen als eine in der Regel unterdrückende und niemals leitende darstellt. Ohne Zweifel wurde er zu dieser Uebertreibung veranlasst durch seinen Widerspruch gegen die von so manchen seiner Zeitgenossen in Vorschlag gebrachten künstlichen Organisationen der Arbeit, denen gegenüber er den Grundsatz des freien Wettbewerbs zu verteidigen hatte. Doch nahm seine Kritik dieser Pläne, wie Comte bemerkt, einen zu absoluten Charakter an, da sich in ihr das Bestreben offenbarte, eine wahrhaft systematische Gestaltung der wirtschaftlichen Tätigkeit für alle Zeiten auszuschliessen Fortsetzung der französischen Nationalökonomen siehe auf S. 224..

 

Amerika.

Es dürfte nunmehr an der Zeit sein, sich abseits zu wenden und die Lehren des amerikanischen Nationalökonomen Carey in's Auge zu fassen. Vor ihm war von Bürgern der Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre nicht viel geleistet worden. Benjamin Franklin, der sich anderwärts einen Weltruf erworben, war Verfasser einer Anzahl von Abhandlungen, in welchen er zumeist nur praktische Lehren des Fleisses und der Sparsamkeit einschärft, doch finden sich in einigen auch gelegentlich hingeworfene theoretische Gedanken, welche unser Interesse erregen. So wies er, fünfzig Jahre vor Smith, darauf hin (wie es allerdings schon Petty getan), dass die menschliche Arbeit der wahre Massstab des Wertes sei (in seinen »Unmassgeblichen Untersuchungen über das Wesen und das Bedürfnis eines Papier-Umlaufsmittels« – Modest inquiry into the nature and necessity of a paper currency, 1721), und in seinen »Betrachtungen über die Vermehrung des Menschengeschlechts« (Observations concerning the increase of mankind, 1751) äussert er Ansichten, welche den Malthus'schen verwandt sind. Alexander Hamilton, Staatssekretär des Schatzamtes, überreichte 1791 in amtlicher Eigenschaft dem Hause der Abgeordneten der Vereinigten Staaten einen Bericht über Massnahmen zur Förderung der heimischen Gewerbe Hamilton's works, edited by H. C. Lodge, vol. III, p. 294.. In diesem Schriftstück liefert er eine kritische Rechenschaft von der theoretischen Seite des Gegenstandes, bezeichnet Smith's System des freien Handels als nur dann in der Praxis möglich, wenn es von allen Nationen gleichzeitig angenommen werde, misst dem Gewerbe eine grössere Produktivität bei als der Landwirtschaft und sucht die Einwände zu widerlegen, welche man der Entwickelung des ersteren in Amerika entgegensetzte, und die sich auf den Kapitalmangel, die hohen Löhne und die niedrigen Bodenpreise stützten. Er gelangt zu dem Schlusse, dass zur Begründung eines amerikanischen Gewerbes ein System gemässigter Schutzzölle notwendig sei, und fährt alsdann fort, die einzelnen Züge eines derartigen Systems zu schildern. Man darf wohl mit einiger Sicherheit annehmen, dass der deutsche Nationalökonom List, von welchem später die Rede sein wird, durch Hamilton's Arbeit beeinflusst wurde, als er, aus seinem Vaterlande verbannt, in den Vereinigten Staaten lebte.

Henry Charles Carey (1793-1879), der Sohn eines aus Irland eingewanderten amerikanischen Bürgers, vertritt eine Reaktion gegen den entmutigenden Charakter, welchen die Smithschen Lehren in den Händen Malthus' und Ricardo's angenommen hatten. Während er der individualistischen Wirtschaftslehre anhing, ging sein Streben dahin, diese auf eine höhere und festere Grundlage zu stellen und gegen die Angriffe des Sozialismus zu wappnen, denen sie durch einige der Ricardo'schen Sätze preisgegeben war. Die umfassendste und gleichzeitig gereifteste Darlegung seiner Anschauungen ist enthalten in seinen »Grundsätzen der Sozialwissenschaft« (Principles of social science, 1859; deutsch von K. Adler, 1863-64). Durchdrungen von dem optimistischen Gefühl, wie es einer jungen und aufstrebenden Nation eigen ist, die sich im Besitze überreichlicher unentwickelter Hilfsquellen befindet und in eine grenzenlose Zukunft blickt, sucht er nachzuweisen, dass, unabhängig vom menschlichen Wollen ein natürliches System wirtschaftlicher Gesetze bestehe, das seinem ganzen Wesen nach ein wohltätiges sei, und dessen spontanes Ergebnis sich in dem steigenden Wohlstand der ganzen Gemeinschaft und insbesondere der arbeitenden Klasse zeige, – ein System, das nur verunstaltet werden könne durch die Unwissenheit oder Verkehrtheit des Menschen, welcher sich dessen Wirksamkeit entgegenstelle oder sie hindere. Er verwirft die Malthus'sche Bevölkerungstheorie und stellt die Behauptung auf, dass sich die Bevölkerungszahl innerhalb jeder gut regierten Gesellschaft selbst hinlänglich regele, und dass deren Druck auf die Unterhaltsmittel die niedrigeren, nicht die vorgerückteren Stufen der Zivilisation kennzeichne. Mit Recht leugnet er, dass das Gesetz der abnehmenden Bodenerträge für alle Stufen des Anbau's allgemeine Geltung habe. Sein theoretischer Hauptgrundsatz bezieht sich auf die Gegenüberstellung von Reichtum und Wert.

Der Reichtum war von den meisten Nationalökonomen mit der Summe der Tauschwerte verwechselt worden; selbst Smith, obwohl er beide anfänglich unterschieden, verfiel später dem gleichen Irrtum. Ricardo hatte allerdings auf den Unterschied hingewiesen, doch erst zu Ende seines Werkes, in welchem durchgehends der Wert allein berücksichtigt wird. Die späteren englischen Nationalökonomen hatten der Auffassung zugeneigt, dass sich ihre Studien nur auf den Austausch bezögen, und dies war soweit gegangen, dass Whately vorgeschlagen hatte, dem Wissenszweige den Namen »Katallaktik« zu geben. Wenn wir, lehrt Carey, den Reichtum als das betrachten, was er wirklich ist, nämlich als die Summe nützlicher Produkte, so erkennen wir, dass er seinen Ursprung in der äusseren Natur hat, insofern diese Stoffe und physische Kräfte liefert, sowie in der menschlichen Arbeit, welche diese natürlichen Stoffe und Kräfte sich aneignet und verwendet. Die Natur gewährt ihren Beistand unentgeltlich; die Arbeit allein begründet den Wert. Je weniger natürliche Kräfte wir bei irgend einer Produktion uns aneignen und anwenden können, desto höher ist der Wert des Produktes, desto geringer aber der Betrag dessen, was unserem Reichtum im Verhältnis zur aufgewendeten Arbeit hinzugefügt wird. Der Reichtum in seiner wahren Bedeutung als die Summe aller nützlichen Dinge ist das Mass der von uns über die Natur erlangten Herrschaft, indessen der Wert eines Gegenstandes den Natur-Widerstand ausdrückt, welchen die Arbeit zum Zwecke der Produktion des Gegenstandes zu überwinden hat. Der Reichtum nimmt im Verlaufe des gesellschaftlichen Fortschritts beständig zu; der Tauschwert der Dinge andrerseits nimmt ab. Der menschliche Verstand und die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Vereinigung sichern die zunehmende Herrschaft über die natürlichen Kräfte und verwenden sie in immer höherem Masse zu Produktionszwecken, während eine immer geringere Arbeitsleistung zur Erlangung jedes einzelnen Resultats erforderlich ist, und der Wert des Produkts somit fällt. Der Wert eines Artikels wird nicht durch die in der Vergangenheit zu dessen Produktion notwendigen Kosten bestimmt; was ihn in Wirklichkeit bestimmt, sind die Kosten, welche die Reproduktion des Artikels unter dem gegenwärtigen Zustand des Wissens und Könnens erfordert. Die dergestalt erklärte Abhängigkeit des Wertes von den Kosten ist nach Carey von universeller Gültigkeit, während Ricardo sie nur für solche Gegenstände gelten liess, welche in unbeschränkter Anzahl vervielfältigt werden können, und insbesondere war sie seiner Meinung nach nicht auf den Boden anwendbar. Ricardo erblickte in den produktiven Kräften des Bodens eine freiwillige Gabe der Natur, welche in das ausschliessliche Eigentum einer gewissen Anzahl von Personen übergegangen sei und mit der zunehmenden Nachfrage nach Nahrung einen immer grösseren Wert in den Händen ihrer Besitzer darstelle. Da nun dieser Wert nicht das Ergebnis der Arbeit sei, so könne man behaupten, dass der Eigentümer keinen rechtmässigen Anspruch auf ihn habe; billigerweise dürfe er keine Zahlung für das verlangen, was durch die »ursprünglichen und unzerstörbaren Kräfte des Bodens« geleistet werde. Carey vertrat indessen die Ansicht, dass der Boden, soweit er für unser wirtschaftliches Leben in Betracht komme, in Wirklichkeit ein durch Menschenhände gebildetes Werkzeug der Produktion sei, und dass sein Wert aus der auf ihn in der Vergangenheit verwendeten Arbeit herrühre, – obschon dieser Wert, nicht durch die Summe dieser Arbeit, sondern vielmehr durch die Arbeit gemessen werde, die notwendig sei, um unter den bestehenden Verhältnissen neuem Boden denselben Ergiebigkeitsgrad zu verleihen. Er stellt Untersuchungen an über die Inbesitznahme und Urbarmachung des Bodens und geniesst dabei den eigentümlichen Vorzug des Amerikaners, für welchen die Ueberlieferungen der ersten Ansiedelung frisch und lebendig sind, und unter dessen Augen dieser Prozess noch immer vor sich geht. Nur der Bewohner eines längst besiedelten Landes wird die Schwierigkeiten gering schätzen, welche sich dem Bemühen entgegenstellen, jungfräulichen Boden in eine solche Verfassung zu bringen, damit er organische Produkte für den Gebrauch des Menschen liefere. Nach Carey's Ansicht ist es die Ueberwindung dieser Schwierigkeiten durch mühsame und fortgesetzte Anstrengungen, was dem ersten Besitznehmer des Bodens das Eigentumsrecht an demselben verleiht. Der gegenwärtige Wert des Bodens bildet nur einen verhältnismässig sehr kleinen Teil der auf ihn verwendeten Kosten, da er nur vorstellt, was unter Zuhilfenahme des Wissens und der Technik unserer Zeit erforderlich sein würde, um den Boden aus seinem ursprünglichen Zustand in den jetzigen zu bringen. Das Grundeigentum ist daher nur eine Form festangelegten Kapitals – eine Menge von Arbeit oder von Früchten der Arbeit, welche dem Boden dauernd einverleibt sind, und für welche der Eigentümer, gleich jedem anderen Kapitalisten, eine Vergütung durch einen Anteil am Produkt erhält. Für das, was die Naturkräfte leisten, wird er nicht belohnt, und durch die blosse Tatsache seines Besitzes erleidet die Gesellschaft keinerlei Nachteil. Die sogenannte Ricardo'sche Rententheorie ist ein theoretisches Hirngespinst, welchem alle Erfahrung widerspricht. Es ist tatsächlich unrichtig, dass, wie diese Theorie annimmt, der Bodenanbau mit den besten Arten beginnt und zu den schlechteren übergeht, je nach dem Grade ihrer geringeren Fruchtbarkeit Die Annahme übrigens, dass die Voraussetzung dieser geschichtlichen Ordnung des allmählichen Herabsteigens für die fragliche Theorie wesentlich sei, ist eine irrtümliche.. Der leichte und trockene, höher gelegene Boden wird zuerst angebaut, und erst dann, wenn die Bevölkerung dichter geworden ist und sich Kapital angesammelt hat, werden die niedriger gelegenen Ländereien mit ihrer grösseren Fruchtbarkeit, aber auch mit ihren Morästen, Ueberschwemmungen und schädlichen Ausdünstungen in Angriff genommen und angeeignet. Die Rente, als verhältnismässiger Anteil am Produkt betrachtet, sinkt, gleich allem Kapitalzins, im Laufe der Zeit, als absoluter Betrag nimmt sie jedoch zu. Der Anteil des Arbeiters wird sowohl verhältnismässig als an und für sich ein immer grösserer. Die Interessen der verschiedenen Gesellschaftsklassen stimmen also mit einander überein.

Behufs Verwirklichung dieses harmonischen Fortschreitens, fährt Carey fort, muss indessen, was dem Boden genommen wird, ihm zurückerstattet werden. Alle von dem Boden geernteten Artikel sind in Wirklichkeit dessen getrennte Teile, für welche bei Strafe seiner Erschöpfung Ersatz zu leisten ist. Daher ist es notwendig, dass Produzent und Konsument neben einander wohnen; die Bodenprodukte dürfen nicht nach einem fremden Lande in Umtausch gegen dessen Gewerbsprodukte ausgeführt werden und auf diese Weise einen fremden Boden als Dünger bereichern. An unmittelbarem Tauschwert mag ein Grundeigentümer bei dieser Ausfuhr gewinnen, doch werden die produktiven Kräfte des Bodens darunter leiden. So gelangt Carey, welcher als eifriger Verteidiger des Freihandels begonnen hatte, zur Schutzzolltheorie: die »koordinierende Gewalt« in der Gesellschaft muss eingreifen, um zu verhindern, dass der Privatvorteil öffentliches Unheil anrichtet Dieses Argument wird von Professor F. A. Walker, in seiner »Political Economy«, p. 50-52, wohl kaum widerlegt. Vielleicht ist er jedoch im Recht, wenn er glaubt, dass Carey die ihm zugrunde liegenden Erwägungen übertreibt. Mill und Leslie bemerken, dass die Beförderung landwirtschaftlicher Produkte von den westlichen nach den atlantischen Staaten ebenso wirke als deren Ausfuhr nach Europa, soweit die sogenannte »Landschlächterei« in Frage komme; übrigens sei Dünger vom Auslande zu beziehen.. Wie er uns mitteilt, hat ihn seine Beobachtung der Wirkungen, welche liberale und schützende Tarife hintereinander auf den amerikanischen Wohlstand ausgeübt haben, zur Bekehrung in dieser Frage veranlasst. Diese Beobachtung, sagt er, liess ihn auf die Theorie zurückgreifen und führte ihn zur Erkenntnis, dass das erwähnte Einschreiten notwendig werden könnte, »um die Hindernisse zu entfernen« (wie er sich ausdrückt), welche dem Fortschritt jüngerer, durch die Tätigkeit älterer und reicherer Nationen geschaffener Gemeinschaften entgegenstehen. Es ist indessen nicht unwahrscheinlich, dass der Einfiuss der Schriften List's, zu welchem sich die eigene tiefwurzelnde und ererbte Eifersucht und Abneigung gegen Englands Uebermacht gesellte, mit seiner veränderten Haltung in einem gewissen Zusammenhang stand.

Obwohl die praktische Folgerung, zu welcher er auf diesem Wege gelangt, sich durchaus nicht im Widerspruch mit der Theorie von dem Bestehen wirtschaftlicher Naturgesetze befindet, stimmt sie doch nur schlecht mit seinem optimistischen Ideal überein. Daher unterzog sich ein anderer, seine grundlegenden Ideen anerkennender Nationalökonom der Aufgabe, das fremdartige Anhängsel, wie er sie nannte, zu beseitigen und die Lehre von den aus sich selbst entstehenden sozialen Harmonien im Zusammenhang mit dem Freihandel als ihrem rechtmässigen Sprössling zu verkünden Als weitere Schriften Carey's sind ausser seiner »Social Science« noch zu nennen: Abhandlung über den Lohnsatz (Essay on the rate of wages, 1835); Grundsätze der Volkswirtschaftslehre (Principles of political economy, 1838-40); Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Past, present and future, 1848); Die Einheit des Gesetzes (Unity of law, 1872, deutsch von Stöpel, 1878)..

 

Frankreich.
(Fortsetzung).

Obzwar kein tiefer Denker, besass Frédéric Bastiat (1801-1850) die Gabe, volkswirtschaftliche Fragen schriftstellerisch in bestechender und gemeinverständlicher Form zu behandeln. Wenn er auch stets eine gewisse Vorliebe für einschlägige Studien bekundet hatte, so wurde er doch zur wirksamen Verbreitung seiner Ansichten erst veranlasst durch seine eifrige Sympathie mit der englischen Bewegung wider die Gesetze über den Getreidehandel. Von der Natur mit einem lebhaften Temperament ausgestattet, stürzte er sich mit Feuereifer in den Freihandelsstreit, durch welchen er die französische Wirtschaftspolitik zu beeinflussen hoffte, und veröffentlichte im Jahre 1845 eine Geschichte dieses Kampfes unter dem Titel »Cobden et la Ligue«. In den Jahren 1845-48 erschienen seine »Volkswirtschaftlichen Trugschlüsse« (Sophismes économiques), in denen seine besten Geisteseigenschaften zur Geltung kamen. Obschon Cairnes zu weit geht, wenn er dieses Werk mit den »Lettres provinciales« (Pascals Briefe gegen die Jesuiten) vergleicht, zeichnet es sich jedenfalls durch Lebhaftigkeit, Schärfe und Kraft des Denkens in hohem Masse aus. Es war indessen keine schwierige Aufgabe, die Ungereimtheiten des landläufigen Schutzzollsystems blosszustellen, denn nur in der Gestalt, wie sie diese Politik in dem List'schen Ideengang annahm, nämlich als eine rein fürsorgliche und vorbereitende, verdient und verlangt sie Berücksichtigung. Nach der Revolution des Jahres 1848, welche der Freihandelsbewegung in Frankreich für einige Zeit Einhalt gebot, richteten sich die Bemühungen Bastiat's gegen die Sozialisten. Neben verschiedenen kleineren Schriften, welche an Gehalt den »Sophismes« gleichstehen, verfasste er im Hinblick auf diesen Streit sein anspruchsvollstes und ihn am besten kennzeichnendes Werk, die »Volkswirtschaftlichen Harmonien« (Harmonies économiques; deutsch 1850). Nur der erste Band gelangte zur Ausgabe; er erschien 1850, und im gleichen Jahre starb der Verfasser. Seitdem sind die Notizen und Entwürfe, welche für den zweiten Band als Material dienen sollten, in der Gesamtausgabe seiner Schriften (von Paillotet, mit Biographie von Fontenay, 7 Bände, 1855, nouvelle édition, 1865) der Oeffentlichkeit übergeben worden, und wir können uns somit zusammenstellen, was Geist und Inhalt der späteren Teile des Buches gebildet haben würde.

In geschichtlicher Hinsicht wird dieses als die letzte Verkörperung eines durchgängigen wirtschaftlichen Optimismus dauerndes Interesse erregen. Auf seinen ersten Ursprung zurückgeführt, geht dieser Optimismus von theologischen Erwägungen aus, und Bastiat wird von seinem englischen Uebersetzer Stirling mit dem Bemerken empfohlen, dass er die Volkswirtschaftslehre »im Zusammenhang mit Endursachen behandelt«. Der Geist des Werkes gibt sich kund in dem Vorsatze, dartun zu wollen, dass »alle Grundursachen, alle Beweggründe, alle Triebfedern des Handelns, alle Interessen vereint auf ein hohes Endziel hinarbeiten, welches die Menschheit nie erreichen wird, nach welchem sie indes in stets zunehmendem Masse hinstrebt – nach der unbegrenzten Annäherung aller Klassen an ein sich stetig hebendes Niveau, mit anderen Worten, nach der Gleichstellung der Einzelnen in der allgemeinen Vervollkommnung«.

Was in seiner Darstellung Anspruch auf Neuheit und Eigentümlichkeit erhob, war vor allem seine Werttheorie. An dem Gedanken festhaltend, dass der Wert nichts den Gegenständen Anhaftendes bezeichne, welchen er beigelegt werde, bemühte er sich, den Nachweis zu liefern, dass er nie etwas anderes bedeute als das gegenseitige Verhältnis zweier »Dienste«. Diese Ansicht wird von ihm mit Hilfe von äusserst mannigfaltigen und glücklich gewählten Erläuterungen entwickelt. Nur die gegenseitigen Dienste menschlicher Wesen besitzen nach ihm Wert und können auf Belohnung Anspruch erheben; der seitens der Natur bei dem Werke der Produktion geleistete Beistand ist stets unentgeltlich und bildet niemals einen Bestandteil der Preise. Der wirtschaftliche Fortschritt, wie z. B. die Vervollkommnung und umfassendere Anwendung von Maschinen, neigt beständig dazu, die Elemente der Nützlichkeit dem Bereich des Eigentums und daher des Wertes mehr und mehr zu entrücken und auf das der Gemeinsamkeit oder des allgemeinen und nicht erkauften Genusses zu übertragen. Man wird bemerken, dass diese Theorie im wesentlichen jene Carey's ist, welche früher an die Oeffentlichkeit getreten war; auch behauptet der letztere Schriftsteller ohne Umschweife, dass sie ihm ohne Quellenangabe entnommen worden sei. Vielleicht hat man indessen nicht genügend beachtet, dass ganz ähnliche Ideen bei Dunoyer anzutreffen sind, von dessen Werk Bastiat sagte, dass es mächtig zur »Neugestaltung der Wissenschaft« beigetragen, und den er, wie uns Fontenay, der Biograph Bastiat's, mitteilt, – neben Charles Comte Charles Comte (1782-1837) war Schwiegersohn J. B. Say's. Er stand durch seine politischen Schriften mit Dunoyer in Verbindung undzeichnete sich gleich diesem durch rühmliche Unabhängigkeit aus. Er war Verfasser des »Traité de législation«, ein verdienstvolles und nützliches, jedoch der Gründlichkeit entbehrendes Werk. – als einen seiner beiden Meister anerkennt.

Soweit die eben dargelegte Auffassung wirtschaftlichen Handelns und wirtschaftlichen Fortschritts sich auf die Wirklichkeit anwenden lässt, ist sie ebenso interessant als lehrreich, doch wurde sie ungehörig verallgemeinert. Cairnes hat treffend hervorgehoben, dass Bastiat's theoretische Gründlichkeit nachteilig beeinflusst wurde durch seine Gepflogenheit, volkswirtschaftliche Lehren im unmittelbaren Hinblick auf zeitgenössische soziale und politische Streitigkeiten zu studieren. Hierdurch war er im voraus geneigt, solchen Ansichten Raum zu geben, welche rechtmässigen und schätzbaren Einrichtungen Stärkung zu verleihen schienen, und jene zu verwerfen, welche seiner Meinung nach in ihren Folgerungen sich als gefährlich erweisen mussten. Nach seinem eigenen Ausdruck betrachtete er es fortwährend als seine Aufgabe, »die Waffen« antisozialer Klügler »in ihren Händen zu zerschmettern«, und diese Voreingenommenheit tritt in Widerspruch mit dem aufrichtigen Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit. Die Schöpfung oder Aneignung seiner Werttheorie war durch das Bestreben eingegeben, der sozialistischen Kritik des Grundeigentums zu begegnen; die Erfordernisse dieser Streitfrage liessen den Wunsch erstehen, nachweisen zu können, dass mit Ausnahme persönlicher Anstrengung nichts bezahlt wird. Seine Auffassung der Rente war deshalb sozusagen vorbestimmt, obwohl sie, wie der Herausgeber seiner nachgelassenen Bruchstücke in der Tat einräumt, möglicherweise durch die Schriften Carey's nahe gelegt wurde. Mit dem amerikanischen Schriftsteller behauptete er, dass die Rente nichts anderes darstelle als eine Belohnung der Mühe und der Kosten, welche seitens des Grundherrn oder seiner Vorgänger behufs Umwandlung des natürlichen Bodens in eine »Farm« durch Roden, Entwässern, Einzäunen und die übrigen Arten dauernder Anlagen aufgewendet wurden Leroy-Beaulieu ist der Meinung (Essai sur la répartition des richesses, 2. éd., 1882), dass dies, wenn auch nicht vollkommen, so doch annähernd richtig sei, – dass die wirtschaftliche Rente nur einen sehr kleinen Teil der wirklich bezahlten bilde.. Er verwirft also die sogenannte Ricardo'sche Theorie, welche die Sozialisten aufgenommen und dazu benutzt hatten, die Institution des Grundeigentums anzugreifen oder doch wenigstens den Anspruch auf eine Vergütung zu begründen, welche der Gesellschaft für die Aneignung des Bodens durch Einräumung des »Rechts auf Arbeit« zu leisten sei. Wie Cairnes sagt Essays in political economy, p. 334., »verfuhr Bastiat folgendermassen: Nachdem es ihm unendliche Mühe verursacht hat, die freiwilligen Gaben der Natur von den möglichen Bestandteilen des Wertes auszuschliessen, und nachdem er ausdrücklichst diese Erscheinung mit ›menschlicher Anstrengung‹ als ihrer alleinigen Quelle identifiziert (besser verknüpft) hat, bezeichnet er die menschliche Anstrengung mit dem Worte ›Dienst‹ und gebraucht alsdann diesen Ausdruck, um als Quellen des Wertes ganz dieselben unentgeltlichen Naturgaben zuzugestehen, deren Ausschliessung in dieser Eigenschaft das Wesen seiner Theorie bildete«. Die Berechtigung dieser Kritik wird jedem einleuchten, der die Art und Weise beobachtet, in welcher Bastiat das Thema von dem Werte eines Diamanten behandelt. Dass, was in den meisten Fällen menschlichen Tauschverkehrs bezahlt wird, »Anstrengung« ist, kann niemand bestreiten. Aber es heisst sicherlich seine Werttheorie, als eine allgemein anwendbare Lehre betrachtet, ad absurdum führen, wenn man den Preis eines zufällig gefundenen Diamanten als Vergütung für die Anstrengung bezeichnet, welche dessen Aneignung und Ueberlassung dem Finder verursacht haben. Und wenn auch, was den Boden anlangt, ein grosser Teil der Rente, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, als Kapitalzins erklärt werden muss, ist doch offenbar, dass die natürlichen Kräfte des Bodens der Aneignung unterliegen, und dass für deren Ausnützung ein Preis gefordert werden kann und bezahlt wird.

In philosophischer Hinsicht ist es mit Bastiat schwach bestellt. Er ist von den Ideen der theologischen Zweckmässigkeitslehre erfüllt und wird durch diese Ideen verleitet, sich aprioristische Ansichten darüber zu bilden, was bestehende Tatsachen und Gesetze notwendig sein müssen. Daher ist das Naturrecht, welches, gleich metaphysischen Begriffen überhaupt, in der Theologie wurzelt, für ihn ebensosehr eine selbstverständliche Voraussetzung als für die Physiokraten. In seiner Abhandlung über den Freihandel sagt er: »Der Austausch ist gleich dem Eigentum ein natürliches Recht. Jedem Bürger, welcher ein Produkt geschaffen oder erworben hat, sollte die Wahl freistehen, es unmittelbar zum eigenen Gebrauche zu verwenden oder es an irgend jemand auf der Erdoberfläche abzutreten, der willens ist, ihm dafür den Gegenstand seiner Wünsche in Tausch zu geben.« Aehnlich hatte sich Turgot geäussert, und zu seiner Zeit war eine solche Betrachtung der Dinge entschuldbar, ja einstweilen sogar nützlich. Allein in der Mitte des 19. Jahrhunderts durfte man füglich erwarten, dass sie als irrtümliche erkannt und aufgegeben werde.

Bastiat hegte wahrhafte Begeisterung für eine Wissenschaft, welche seiner Meinung nach bestimmt war, der Menschheit grosse Dienste zu leisten, und war anscheinend fest von der Richtigkeit der Theorien überzeugt, welche seiner Darstellung eine eigentümliche Färbung verliehen. Wenn seine optimistischen Uebertreibungen die besitzenden Klassen begünstigten, so waren sie doch keineswegs von Eigennutz und Wohldienerei eingegeben. Uebertreibungen bleiben sie indessen trotzdem, und seine beständige Annahme gesellschaftlicher Harmonien inmitten des modernen Widerstreits von Kapital und Arbeit ist der Ruf »Friede, Friede« dort, wo kein Friede ist. Die von ihm als Universalmittel betrachtete Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit hat ohne Zweifel grosse Wohltaten im Gefolge gehabt, doch sind wir durch genügende Erfahrung darüber belehrt worden, dass sie zur Lösung der sozialen Frage nicht ausreicht. Wie kann man die Wortführer einer wirtschaftlichen Revolution widerlegen, wenn man ihnen versichert, dass sich alles in der natürlichen Volkswirtschaft im Einklang befinde, – dass in Wirklichkeit alles, was sie zu erreichen suchen, bereits vorhanden sei! Allerdings existiert ein gewisser Grad von selbst entstandener Harmonie, denn die Gesellschaft könnte ohne sie nicht fortbestehen. Indessen ist sie eine unvollkommene und unsichere, und es handelt sich vielmehr darum, wie wir ihr ein möglichst hohes Mass von Vollendung und Beständigkeit verleihen können.

Augustin Cournot (1801-1877) scheint der erste Hermann Heinrich Gossen's Werk »Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs«, welchem Jevons (Theory of pol. econ., 2. ed., in der Vorrede) so hohes Lob zu teil werden lässt, wurde im Jahre 1854 veröffentlicht. gewesen zu sein, welcher mit hinlänglicher Kenntnis beider Gebiete bemüht war, die Mathematik in der Behandlung volkswirtschaftlicher Fragen anzuwenden. Seine »Untersuchungen über die mathematischen Grundsätze der Lehre vom Reichtum« (Recherches sur les principes mathématiques de la théorie des richesses) erschienen im Jahre 1838. In ihnen erwähnt er nur ein einziges früheres Unternehmen derselben Art – deren es übrigens mehrere gab – nämlich dasjenige Nicolas François Canard's, dessen im Jahre 1802 erschienenes Buch (Principes d'économie politique) von dem Institut de la France preisgekrönt wurde, »obgleich die darin entwickelten Grundsätze sowohl von Grund aus falsch als irrtümlich angewandt waren«. Trotz des wohlbegründeten Rufes, den Cournot als mathematischer Schriftsteller genoss, machten die »Recherches« wenig Eindruck. Es scheint dies daran gelegen zu haben, dass die von ihm gewonnenen Ergebnisse in manchen Fällen von geringer Bedeutung, in andern von fraglicher Richtigkeit sind, und dass in den Abstraktionen, zu welchen er behufs Erleichterung der Berechnungen seine Zuflucht nimmt, ein wesentlicher Teil der tatsächlichen Voraussetzungen des Problems zuweilen unberücksichtigt bleibt. Die Spalten des Werkes sind überreich an mathematischen Zeichen, welche unbekannte Funktionen darstellen; die Form der Funktion bleibt der Bestimmung durch Beobachtung von Tatsachen überlassen, welche er nicht als Teil seiner Aufgabe betrachtet, oder es werden nur einige bekannte Eigenschaften der unbestimmten Funktionen als Grundlagen der Deduktion benutzt. Jevons führt in seiner Liste von Werken, in denen eine mathematische Behandlung der Volkswirtschaftstheorie Anwendung findet, eine zweite Schrift auf, welche Cournot im Jahre 1863 unter dem Titel »Principes de la théorie des richesses« veröffentlichte. Tatsächlich ist jedoch in diesem Buche, das von grosser Fähigkeit zeugt und im Gegensatze zu den Uebertreibungen der Nationalökonomen gewöhnlichen Schlags manche überzeugenden Ausführungen enthält, die mathematische Methode aufgegeben, und man begegnet in ihm keiner einzigen algebraischen Formel. Der Verfasser räumt ein, dass das Publikum jederzeit einen Widerwillen gegen die Anwendung mathematischer Zeichen in volkswirtschaftlichen Erörterungen bekundet habe, und obwohl sie seiner Meinung nach insofern dienlich sein können, als sie die Darstellung erleichtern, die Begriffe feststellen und fernere Entwickelungen andeuten, erkennt er doch an, dass ihr Gebrauch von einer ernsten Gefahr begleitet sei. Diese Gefahr besteht seiner Meinung nach in der Wahrscheinlichkeit, dass den abstrakten Hypothesen, von welchen der Forscher ausgeht, und die ihn zur Konstruktion seiner Formeln befähigen, ungehöriges Gewicht beigelegt wird. Er gelangt daher zu der praktischen Folgerung, dass das mathematische Verfahren nur mit grosser Vorsicht oder überhaupt nicht angewandt werden dürfe, wenn das Urteil der Oeffentlichkeit zu seinen Ungunsten ausfalle, denn »dieses Urteil«, sagte er, »hat seine geheimen Gründe, welche fast immer verlässlicher sind als jene, welche die Meinungen Einzelner bestimmen.« Es leuchtet ein, dass die Annahme irriger oder einseitiger abstrakter Grundsätze als Voraussetzungen von Schlüssen nicht von dem Gebrauch mathematischer Formen abhängt, obwohl nicht ausgeschlossen ist, dass die Anwendung der letzteren durch Ideenverknüpfung eine Täuschung zu gunsten der Gewissheit jener Voraussetzungen hervorruft. Der Haupteinwurf gegen den Gebrauch der Mathematik im volkswirtschaftlichen Denken gründet sich jedoch auf ihre notwendige Unfruchtbarkeit. Prüfen wir die bisher gemachten Versuche ihrer Anwendung, so werden wir finden, dass den Grundbegriffen, auf welche sich die Deduktionen stützen sollen, ein unbestimmter, ja metaphysischer Charakter anhaftet. Einheiten animalischer oder moralischer Genugtuung, der Nützlichkeit und dergleichen sind der positiven Wissenschaft ebenso fremd, als es die Einheit einer einschläfernden Kraft sein würde, und eine Werteinheit ist ein ebenso unbestimmter Begriff, wenn wir unter dem Werte nicht die Menge einer Ware verstehen, welche unter gegebenen Bedingungen gegen eine andere ausgetauscht werden kann. Die Mathematik kann allerdings Austauschverhältnisse formulieren, wenn sie einmal beobachtet worden sind, allein sie kann vermittelst eines ihr eigentümlichen Verfahrens diese Verhältnisse nicht bestimmen, denn quantitative Schlüsse setzen quantitative Prämissen voraus, und diese sind nicht vorhanden. Daher hat diese Forschungsweise keine Zukunft, und es heisst nur geistige Kraft verschwenden, wenn man sie verfolgt. Indessen wird die Bedeutung der Mathematik als einer erzieherischen Einführung in alle höheren Gebiete des Forschens durch diese Folgerung keineswegs berührt. Das Studium des physischen Mediums oder der physischen Umgebung, innerhalb welcher volkswirtschaftliche Erscheinungen platzgreifen, und durch welche sie beeinflusst werden, erheischt die Mathematik als Werkzeug, und nichts vermag die didaktische Wirksamkeit dieser Wissenschaft entbehrlich zu machen, insofern sie den Urtypus rationeller Forschung liefert, das lebhafte Gefühl des entscheidenden Beweises verschafft und das Denken davon abhält, sich in täuschende Vorstellungen und spitzfindige Kombinationen einzulassen. Ausserdem ist eine Kenntnis wenigstens der Hauptgrundsätze der Mathematik dem Nationalökonomen vonnöten, damit er durch sie in seinen theoretischen Feststellungen auf dem richtigen Pfade erhalten und an der Verkündung von Sätzen verhindert werde, welche keine bestimmte Bedeutung haben. Selbst hervorragende Schriftsteller verraten bisweilen in dieser Hinsicht einen ernstlichen Mangel. So behaupten sie, dass eine Grösse »sich in umgekehrtem Verhältnis verändert wie« eine andere, wenn ausgedrückt werden soll, dass die Summe (nicht das Produkt) beider konstant ist; ferner behandeln sie die Summe einer Häufung von Elementen, welche, in der Art von einander abweichend, nicht auf ein allen gemeinsames Mass zurückgeführt werden können, in einer Weise, als ob sie eine zahlenmässige Schätzung zuliesse. Als ein Beispiel dieses letzteren Irrtums mag erwähnt werden, dass die »Arbeitsmenge«, von welcher Ricardo so oft spricht, und welche tatsächlich die Grundlage seines Systems bildet, derartig verschiedene Gattungen von Kraftäusserungen einschliesst, dass ihre Vergleichung oder Summierung nicht angängig ist.

 

Italien.

Die erste italienische Uebersetzung des »Völkerreichtums« erschien im Jahre 1780. Jedoch gehörte der hervorragendste italienische Nationalökonom des hier behandelten Zeitraums, Melchiorre Gioja, nicht zu den Anhängern Smith's. Ausser statistischen und anderen Schriften verfasste er ein umfangreiches Werk »Neue Uebersicht der Wirtschafts-Wissenschaften« (Nuovo prospetto delle scienze economiche, 6 vol., 1815-17; das Werk blieb unvollendet), welches den Zweck verfolgte, in enzyklopädischer Form alles zu bringen, was bis dahin auf dem Felde der öffentlichen und privaten Wirtschaft durch Theoretiker gelehrt, durch Regierungen angeordnet und durch Völker bewirkt worden. Es ist eine gelehrte und fleissige Arbeit, jedoch derart mit Zitaten und Tabellen überladen, dass es den Leser eher abstösst als anzieht. Gioja bewunderte das praktische Wirtschaftssystem Englands und verbreitet sich über die Vorzüge des grossen Grundeigentums sowie der im grossen betriebenen gewerblichen und Handels-Unternehmungen. Er befürwortet eine Verbotspolitik und betont die Notwendigkeit der Aktion des Staates als einer leitenden, beaufsichtigenden und regelnden Macht auf dem Gebiete der Wirtschaftswelt. Indessen stimmt er völlig mit jenem Gefühle überein, welches sich in seiner Zeit gegen die Kirchenherrschaft und andere mittelalterlichen Ueberbleibsel geltend machte.

Die nachstehenden Schriftsteller können wir nur sehr flüchtig erwähnen. Es sind dies: Romagnosi (gest. 1835), welcher durch seine Beiträge zur Zeitschriftenliteratur sowie durch seinen persönlichen Unterricht den Gang des volkswirtschaftlichen Gedankens in Italien in hohem Masse beeinflusste; Antonio Scialoja (Principii d'economia sociale, 1840, und »Das Elend und die Regierung« – Carestia e governo, 1853), ein gewandter Verteidiger des Freihandels (gest. 1877); Luigi Cibrario, wohlbekannt durch sein Werk »Die Volkswirtschaft des Mittelalters« (Economia politica del medio evo, 1839, 5. Aufl. 1861, französisch von Barneaud, 1859), welches tatsächlich ein Bild des gesamten Gesellschaftssystems jener Periode gibt; Girolamo Boccardo (geb. 1829; Trattato teorico-pratico di economia politica, 1853); der glänzende Polemiker Francesco Ferrara, Professor zu Turin von 1849 bis 1858 (durch welchen die meisten der gegenwärtigen italienischen Lehrer der Wissenschaft unmittelbar oder mittelbar ihre Schulung erhielten), ein Anhänger der Doktrin des »laisser faire« in ihrer strengsten Form und ein Verteidiger der eigentümlichen Ansichten, welche Carey und Bastiat in betreff der Grundrente hegten; und endlich der Neapolitanische Minister Ludovico Bianchini, Verfasser der »Grundsätze der Wissenschaft vom gesellschaftlichen Wohlstande« (Principii della scienza del bene vivere sociale, 1845 und 1855), welcher insofern besondere Erwähnung verdient, als er in einem gewissen Grade eine historische Richtung verfolgte und den Grundsatz der Relativität vertrat; auch betonte er die Beziehungen der Volkswirtschaftstheorie zur Sittenlehre, durch deren gehörige Berücksichtigung die italienischen Nationalökonomen im allgemeinen sich übrigens rühmlichst ausgezeichnet haben.

 

Spanien.

Eine spanische Uebersetzung des »Völkerreichtum« lieferte Ortiz im Jahre 1794. Vielleicht hat dieses Werk auch Gaspar de Jovellanos beeinflusst, welcher 1795 dem Rat von Castilien seine, in demselben Jahr gedruckten berühmten »Gutachten der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft zu Madrid über die ihr vorgelegten Entwürfe zu einer agrarischen Gesetzgebung« (Informe de la Sociedad Económica de Madrid en expediente de ley agraria, deutsch mit Anmerkungen von H. von Beguelin, 1816) überreichte, in denen er nachdrücklich für Reformen eintrat; insbesondere bezeichnete er das Steuerwesen und die landwirtschaftliche Gesetzgebung mit Einschluss des Rechtes der unveräusserlichen Besitztümer und der Toten Hand als der Verbesserung bedürftig.

 

Deutschland.

Wie Roscher bemerkt, hat Smith in Deutschland anfänglich keinen besonderen Eindruck gemacht Die erste deutsche Uebersetzung des »Völkerreichtums« war jene Johann Friedrich Schiller's und erschien in den Jahren 1776-1778; die zweite, zugleich die erste gute, verfasste Christian Garve (1794, wiederholt 1799 und 1810 aufgelegt). Spätere Uebersetzungen existieren von Stirner (1846-47), Asher (1861), Stöpel (1878) und Löwenthal (1879).. Allem Anscheine nach war er Friedrich dem Grossen nicht bekannt, jedenfalls hat er keinen Einfluss auf ihn geübt. Auch Joseph II. schenkte seinem Werke keine Beachtung. Von den kleineren deutschen Fürsten war der in nationalökonomischer Beziehung hervorragendste, Karl Friedrich von Baden, als Physiokrat seinen Lehren nicht zugänglich. Anders verhielt es sich in der Generation, deren Haupttätigkeit dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts angehört. Die preussischen Staatsmänner, welche Stein zur Seite standen, hatten ihre volkswirtschaftliche Bildung durch Smith erhalten, ebenso Gentz, in geistiger Hinsicht der bedeutendste Mann des Metternich'schen Regiments in Oesterreich.

Die ersten deutschen Darsteller Smith's, welche sich nicht auf eine blosse Wiedergabe seiner Ansichten beschränkten, waren Christian Jacob Kraus (1753-1807), Georg Sartorius (1766-1828) und August Ferdinand Lüder (1760-1819). Sie bereicherten jene durch selbständige Meinungen von verschiedenen Gesichtspunkten aus – der erste hatte besonders die Wirkung der Smith'schen Lehre auf die praktische Leitung der staatlichen Angelegenheiten im Auge, der zweite das Verhältnis dieser Lehre zur Geschichte, der dritte ihre Beziehungen zur Statistik. Etwas später traten auf: Gottlieb Hufeland (1760-1817), Johann Friedrich Eusebius Lotz (1771-1838) und Ludwig Heinrich von Jakob (1759-1827); sie gehören alle im wesentlichen der Smith'schen Schule an und beschäftigen sich damit, die Grundbegriffe der Wissenschaft einer Prüfung zu unterziehen. Etwas dem weiten Einflusse eines Say Aehnliches haben diese Schriftsteller nicht ausgeübt, teils wegen der minder anziehenden Form ihrer Schriften, hauptsächlich aber wohl deshalb, weil Deutschland zu jener Zeit nicht, wie Frankreich, das Gehör Europa's besass. Julius von Soden (1754-1831) stützt sich in hohem Masse auf Smith, welchen er indessen mit unverdienter Strenge beurteilt, besonders hinsichtlich der von ihm beobachteten Form und Anordnung. Den »Völkerreichtum« bezeichnet er als eine Reihe kostbarer Bruchstücke und macht Smith den Vorwurf, dass es ihm an einem umfassenden Ueberblick über das gesamte von ihm behandelte Gebiet fehle; auch tadelt er ihn wegen seiner einseitig englischen Neigungen.

Die vornehmste Gestalt der Smith'schen Theorie in Deutschland ist durch vier hervorragende Namen vertreten: Karl Heinrich Rau (1792-1870), Friedrich Nebenius (1784-1857), Friedrich Benedikt Wilhelm Hermann (1795-1868) und Johann Heinrich von Thünen (1783-1850).

Rau's kennzeichnendes Merkmal ist die »gelehrte Gründlichkeit.« Sein »Lehrbuch der politischen Oekonomie« (1826 bis 32, die letzte von ihm selbst herausgegebene – Band I in 8., II u. III in 5. – Auflage erschien 1862-68) ist eine Enzyklopädie alles dessen, was bis zu seiner Zeit in Deutschland unter den verschiedenen Rubriken der Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft erschienen war. Es enthält eine Fülle statistischer Beobachtungen und gibt insbesondere lehrreiche Aufklärungen über die volkswirtschaftlichen Wirkungen abweichender geographischer Bedingungen. Auch ist es vortrefflich zum Gebrauch für Staatsdiener geeignet, welche durch ihre Obliegenheiten mit der Wirtschaftstheorie in Berührung kommen, und in der Tat war es die Quelle, aus welcher die deutsche Beamtenwelt bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts ihre nationalökonomischen Kenntnisse schöpfte. In seiner früheren Periode hatte Rau die Notwendigkeit einer Reform der Volkswirtschaftslehre betont (Ansichten der Volkswirtschaft, 1821) und nach der Relativität und der geschichtlichen Methode hingeneigt; später hegte er jedoch die irrtümliche Auffassung, dass nach dieser Methode »die Wissenschaft nur in die Vergangenheit blicken dürfte, ohne sich mit den Mitteln zu einer Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes zu beschäftigen«, und wurde rein praktisch im engern Sinne dieses Wortes. Besonders verdient hat er sich dadurch gemacht, dass er den »Unternehmergewinn« oder »die Belohnung für die Beschwerden, Mühen und Gefahren der Unternehmung« getrennt behandelte.

Der badische Minister Nebenius (1784-1857), in hervorragender Weise an der Gründung des Zollvereins beteiligt, war Verfasser einer sehr geschätzten Monographie über den öffentlichen Kredit (1820, 2. Aufl. 1829).

Hermann's »Staatswirtschaftliche Untersuchungen« (1832, 2. Ausg. 1870) bilden kein regelrechtes System, sondern betreffen eine Reihe wichtiger Einzel-Gegenstände. Bei der Behandlung einiger volkswirtschaftlichen Fragen gereichten ihm die technologischen Kenntnisse, welche er in seltenem Masse besass, zum grossen Vorteil. Mit einem hohen Aufwand von Gründlichkeit und Scharfsinn untersucht er die hauptsächlichen Grundbegriffe der Wissenschaft. »Seine Stärke«, sagt Roscher, »liegt in der musterhaft klaren, scharfen, meist erschöpfenden Sonderung der verschiedenen Teile eines zusammengesetzten Begriffes und der verschiedenen Akte einer zusammengesetzten Handlung«. Wegen der ihm eigenen Fähigkeit scharfsinniger Analyse vergleichen ihn seine deutschen Kollegen mit Ricardo. Indessen vermeidet er verschiedene einseitige Anschauungen des englischen Nationalökonomen. So stellt er das öffentliche Wohl der Selbstsucht als wirtschaftlichen Beweggrund zur Seite, betrachtet den Preis nicht als allein durch die Arbeit gemessen, sondern als ein Produkt verschiedener Faktoren, und ganz geläufig ist ihm die Auffassung, dass die Konsumtion des Arbeiters nicht einen Teil der dem Kapitalisten erwachsenden Produktionskosten, sondern das vornehmste praktische Ziel der Volkswirtschaftstheorie bilde.

J. von Thünen ist hauptsächlich bekannt durch sein bedeutendes Werk »Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie« (1826; 2. Aufl. 1842-63; 3. Aufl. v. Schumacher-Zarchlin herausgeg., 1875). In diesem Buche, welches auf dem Gebiete der National-Oekonomik der Landwirtschaft als klassisches gilt, vereinigt sich in seltenem Grade sorgfältiges Beobachten mit schöpferischem Denken. In der Absicht, die natürliche Entwickelung der Landwirtschaft darzustellen, denkt er sich einen Staat, welcher von dem Verkehr mit der übrigen Welt abgeschnitten ist; dieser hat die Form des Kreises und besitzt überall gleiche Fruchtbarkeit; schiffbare Flüsse und Kanäle fehlen ihm; im Mittelpunkt befindet sich eine einzige grosse Stadt, welche ihn mit gewerblichen Produkten versorgt und im Austausch hierfür Nährprodukte empfängt. Thünen untersucht die Wirkung, welche die Entfernung von diesem Zentralmarkt auf die Acker-Wirtschaft der verschiedenen konzentrischen Ringe übt, aus welchen das Staatsgebiet besteht. Wie man sieht, ist diese Methode zwar eine äusserst abstrakte, indessen, wenn auch vielleicht keine fruchtbare, so doch eine ganz berechtigte. Der Autor gibt sich keiner Täuschung hin, welche ihn die mangelnde Wirklichkeit des angenommenen Zustandes übersehen liesse. Die Unterstellung des letzteren ist seiner Ansicht nach erforderlich, weil hierdurch die Möglichkeit gegeben sei, eine wesentliche Bedingung auszusondern und für sich zu betrachten, – nämlich jene der Lage hinsichtlich des Marktes. Er hegte die Absicht (die indessen nur unvollkommen durchgeführt wurde), später verschiedene abweichende Hypothesen in bezug auf seinen isolierten Staat aufzustellen, um in ähnlicher Weise andere Bedingungen zu untersuchen, die uns das wirkliche Leben als mit anderen verbundene oder als einander widerstreitende zeigt. Es lässt sich gegen diese Methode einwenden, dass es schwierig ist, von der abstrakten Forschung zu den wirklichen Tatsachen zurückzukehren, und diese Schwierigkeit dürfte für die meisten ihrer Anwendungsfälle eine unüberwindliche sein. Hinsichtlich der Bedingungen der Aufeinanderfolge verschiedener Systeme der Bodenwirtschaft führt die Untersuchung indessen zu verlässlichen Schlüssen. Das Buch ist überreich an Berechnungen über Kostenaufwand und Einkommen in der Landwirtschaft, welche das Interesse des allgemeine Zwecke verfolgenden Lesers an ihm vermindern, obschon sie als wertvolles Material für den Spezialforscher gelten. Sie bieten die Ergebnisse der praktischen Erfahrung, welche sich der Verfasser auf seinem Gute Tellow in Mecklenburg-Schwerin erworben. Stark von dem Gedanken der drohenden Gefahr eines heftigen Konflikts zwischen Mittelstand und Proletariat beeinflusst, beschäftigte sich Thünen eifrig mit der Frage der Löhne, welche er als einer der ersten nicht nur als den Preis der Ware »Arbeit«, sondern als die Lebensunterlage der grossen Masse der Gemeinschaft auffasste. Vermittelst etwas verwickelter mathematischer Schlüsse gelangte er zu einer Formel, welche den Betrag des »naturgemässen Lohn's« als = √ a p ausdrückt; a ist der notwendige Kostenaufwand des Arbeiters für seinen Unterhalt und p das Produkt seiner Arbeit. Dieser Formel mass er eine solche Wichtigkeit bei, dass er sie auf seinen Grabstein setzen liess. Sie schliesst den Gedanken ein, dass die Löhne mit dem Betrage des Produktes steigen müssten, und diese Folgerung gab ihm Veranlassung, auf seinem Gute ein System der Beteiligung der Arbeiter an dem Gewinne des landwirtschaftlichen Betriebs einzuführen, worüber Mr. Sedley Taylor in seinem »Profitsharing between capital and labour« (1884) einiges mitteilt. Thünen verdient grössere Aufmerksamkeit, als sie ihm bis jetzt in England zuteil geworden. Sowohl als Mensch wie als Schriftsteller ist er im höchsten Grade anziehend und ursprünglich, und manches Gehaltvolle und Anregende ist im »Isolierten Staat« und in seinen übrigen Schriften enthalten.

Roscher unterscheidet eine »deutsch-russische« Schule der Volkswirtschaftslehre, welche hauptsächlich durch Heinrich Storch (1766-1825) vertreten wird. Zur Zeit Peter's des Grossen waren durch einen heimischen Nationalökonomen, Iwan Possoschkoff, in Russland merkantilistische Grundsätze verkündet worden Ueber Possoschkoff vgl. A. Brückner, J. Possoschkoff. Ideen und Zustände in Russland zur Zeit Peters des Gr., 1878.. Die neuen Ideen des Smith'schen Systems wurden von Christian von Schlözer (1774-1831) durch die von ihm als Professor gehaltenen Vorlesungen sowie durch seine »Anfangsgründe der Staatswirtschaft oder die Lehre vom Nationalreichtume« (1805-1807) eingeführt. Storch unterrichtete den zukünftigen Kaiser Nikolaus und dessen Bruder, den Grossfürsten Michael, in der Wirtschafts-Wissenschaft und veröffentlichte den wesentlichen Inhalt der ihnen erteilten Lektionen in seinem »Cours d'économie politique« (1815). Die Uebertragung dieses Werkes in's Russische wurde durch die Zensur verhindert; eine deutsche Uebersetzung gab Rau im Jahre 1819 mit Anmerkungen heraus. Das Buch ist ein äusserst verdienstvolles. Dem Anscheine nach lässt sich die Bezeichnung »deutsch-russisch« auf Storch nur in geringem Grade anwenden; wie Roscher selbst bemerkt, folgt er in der Hauptsache englischen und französischen Schriftstellern – Say, Sismondi, Turgot, Bentham, Steuart und Hume, vor allen aber Adam Smith. Seine persönliche Stellung bot ihm (und dies gilt auch von Schlözer) Veranlassung, volkswirtschaftliche Theorien im Zusammenhang mit einer Kulturstufe zu würdigen, die von jener der westlichen Völker, unter welchen diese Lehren entstanden waren, abwich. Diese Veränderung des Standpunktes verschaffte der Relativität Eingang und half die geschichtliche Methode vorbereiten. Als besonders wertvoll gilt Storch's Untersuchung über die wirtschaftlichen und sittlichen Wirkungen der Leibeigenschaft. Sein Name ist insbesondere mit folgenden Gegenständen allgemeiner Natur verknüpft: Erstens mit der Theorie von den immateriellen Gütern (oder Elementen des nationalen Wohlstandes) wie: Gesundheit, natürliche und erworbene Fähigkeiten, Sittlichkeit und dergleichen; zweitens mit der Frage des »produktiven und unproduktiven« Charakters der Arbeit und der Konsumtion, in welcher er von Smith abwich und für Dunoyer bestimmend gewesen sein mag; und drittens mit dem Unterschiede zwischen dem National-Einkommen und dem Einzel-Einkommen, in welchem Punkte er sich als Anhänger Lauderdale's und Gegner Say's zeigt. Der letztere Nationalökonom hatte 1823 in Paris eine neue Ausgabe von Storch's »Cours« mit kritischen, zum Teil verletzenden Bemerkungen erscheinen lassen. Hierauf veröffentlichte Storch in Form einer Entgegnung auf einige Anzüglichkeiten Say's die anfänglich in französischer Sprache (1824) verfasste und darauf von ihm selbst (1825) in's Deutsche übertragene Schrift »Betrachtungen über die Natur des Nationaleinkommens«, welche für seine reifste und wissenschaftlich bedeutendste Arbeit gehalten wird.

Ein entschiedener Ton des Widerspruchs gegen die Smith'sche Wirtschaftstheorie wurde in Deutschland von zwei Schriftstellern angeschlagen, welche, von ziemlich verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend, von verschiedenen Gefühlen beseelt und verschiedene praktische Systeme befürwortend, doch, soweit ihre Kritik in Betracht kommt, zu gleichen Resultaten gelangen: Wir meinen Adam Müller und Friedrich List.

Adam Müller (1779-1829) war unzweifelhaft ein Mann von wirklicher Begabung. In seinem Hauptwerk »Elemente der Staatskunst« (1809) und seinen übrigen Schriften vertritt er eine, der sogenannten romantischen Literatur jener Zeit verwandte Bewegung des wirtschaftlichen Gedankens. Die Reaktion gegen den Smithianismus, deren Haupt er war, stützte sich auf eine Hinneigung zu den Grundsätzen und dem gesellschaftlichen System des Mittelalters. Es ist nicht unmöglich, dass die ihn erfüllenden politischen und geschichtlichen Ideen, seine Abneigung gegen den zeitgenössischen Liberalismus und seine Vorstellungen von einer regelmässigen organischen Entwickelung, besonders was England anbelangt, ihm in einem gewissen Grade von Edmund Burke überkommen waren, dessen »Betrachtungen über die französische Revolution« Friedrich Gentz, der Freund und Lehrer Müller's, in's Deutsche übersetzt hatte. Die Verknüpfung seiner Kritik mit mittelalterlichen Voreingenommenheiten darf uns indessen nicht an der Erkenntnis der in ihr enthaltenen berechtigten Elemente verhindern.

Seinen Protest gegen die Smith'sche Theorie und gegen die neuere Volkswirtschaftslehre überhaupt begründet er damit, dass diese eine mechanische, atomistische und rein materielle Auffassung der Gesellschaft vertrete, dass sie alle sittlichen Kräfte zur Bedeutungslosigkeit herabmindere und nichts von der Notwendigkeit einer moralischen Ordnung wisse, dass sie im Grunde nichts sei als eine Theorie des privaten Eigentums und der privaten Interessen und keine Rücksicht nehme auf das Volksleben als ein Ganzes in seiner nationalen Zusammengehörigkeit und geschichtlichen Fortdauer. Man beschäftige sich ausschliesslich, klagt er, mit der unmittelbaren Produktion von Gegenständen, welche einen Tauschwert besitzen, und mit dem vorübergehenden Dasein der Einzelnen, während andrerseits die Erhaltung der gemeinschaftlichen Produktion für die künftigen Geschlechter, die geistigen Produkte, Fähigkeiten, Besitztümer und Genüsse sowie die höheren Aufgaben und Ziele des Staates kaum Beachtung finden. In Wahrheit seien die Nationen Einzel-Organismen mit besonderen Lebensprinzipien; es haften ihnen bestimmte Eigentümlichkeiten an, die über den Gang ihrer geschichtlichen Entwickelung entscheiden. Die einzelne Nation sei jederzeit ein Ganzes und sollte, da die Gegenwart das Erbe der Vergangenheit ist, beständig das dauernde künftige Wohl der Gemeinschaft im Auge haben. Das wirtschaftliche Dasein eines Volkes sei nur eine Seite oder ein Gebiet seiner gesamten Tätigkeit, welches mit den höheren Zielen der Gesellschaft in Einklang zu bringen ist; das geeignete Organ zur Verwirklichung dieser Uebereinstimmung sei der Staat, welcher keinen blossen Apparat zur Handhabung der Justiz, sondern vielmehr die Gesamtheit des nationalen Lebens darstelle. Die Teilung der Arbeit, behauptet Müller, wird von Smith in unzulänglicher Weise erklärt. Er lässt sie aus einem angeborenen Hang zum Tauschen und Umsetzen entstehen und betont weder gehörig ihre Abhängigkeit vom Kapital – den Arbeiten und dem angesammelten Vermögen vergangener Geschlechter –, noch macht er das erforderliche Gegengewicht und die notwendige Ergänzung der Arbeitsteilung durch den Grundsatz des nationalen Zusammenwirkens der Arbeit entsprechend ersichtlich. Smith kenne nur stoffliches, kein geistiges Kapital, und doch bilde das letztere, welches in jedem Volke durch die Sprache, ebenso wie das erstere durch das Geld, vertreten ist, einen wahrhaften Nationalschatz an Erfahrung, Weisheit, gesundem Menschenverstand und sittlichem Gefühl, welcher in immer zunehmendem Umfange von einer jeden Generation der nächstfolgenden überliefert werde und jedes Geschlecht befähige, unendlich mehr zu produzieren, als es ihm mit seinen eigenen Fähigkeiten ohne diesen Beistand möglich sein würde. Ferner sei das System Smith's ein einseitig englisches. Wenn es auf dem Boden Englands unschädlich wäre, sei der Grund hierfür darin zu suchen, dass in dem Gesellschaftsleben dieses Landes die alten Grundlagen, auf welchen das geistige und materielle Leben des Volkes sicher ruhen kann, in dem überlebenden Geist des Feudalismus und dem inneren Zusammenhang des gesamten sozialen Systems bewahrt würden, in dem nationalen Kapital der Gesetze, der Gebräuche, des Ruhms und des Kredit's, welches vermöge der Insellage des Landes von einem Geschlecht dem andern unversehrt überliefert werden konnte. Das europäische Festland erfordere ein ganz anderes System – ein System, in welchem nicht die Summe des privaten Reichtums der Einzelnen als das Hauptziel betrachtet wird, sondern der wirkliche Nationalreichtum und die Produktion nationaler Kraft voranstehen, und welches zugleich mit der Teilung der Arbeit deren nationale Vereinigung und Konzentrierung – mit dem physischen auch das geistige und sittliche Kapital umfasst. In diesen leitenden Zügen des Müller'schen Gedankenganges weist vieles hin auf die neueren Formen des deutschen wirtschaftlichen und soziologischen Denkens und insbesondere auf jene, welche die »Historische Schule« kennzeichnen.

Ein weiteres Element des Gegensatzes vertrat Friedrich List (1798-1846), ein Mann von hoher geistiger Stärke und praktischer Tatkraft und insofern besonders bekannt, als er durch seine Schriften mächtig zur Bildung des deutschen Zollvereins beigetragen hat. Sein Hauptwerk führt den Titel »Das nationale System der politischen Oekonomie« (1841; 7. Aufl. 1883 mit Einleitung von Eheberg). Obzwar sich seine praktischen Folgerungen von denen Müller's unterschieden, wurde er doch sowohl durch die allgemeine Denkweise dieses Schriftstellers als durch dessen tadelnde Beurteilung der Smith'schen Lehre in hohem Masse beeinflusst. Insbesondere protestierte er gegen den kosmopolitischen Grundsatz im modernen Wirtschaftssystem sowie gegen die absolute Freihandelstheorie, welche sich mit diesem Grundsatz im Einklange befand. Er stellte den nationalen Gedanken in den Vordergrund und vertrat nachdrücklich die Ansicht, dass jede Nation ihren Verhältnissen und vor allem dem Grade ihrer Entwickelung entsprechend besondere Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke anwenden müsse.

Dem Smith'schen System versagt er den Namen »Industriesystem« und hält ihn eher für das merkantilistische geeignet, während er ersteres als das »Tauschwertsystem« bezeichnet. Er leugnet die von Smith behauptete Aehnlichkeit zwischen dem wirtschaftlichen Verhalten des Einzelnen und dem einer Nation und vertritt die Meinung, dass das unmittelbare Privatinteresse der einzelnen Glieder der Gemeinschaft nicht zum höchsten Wohle der Gesamtheit führe. Die Nation sei ein zwischen dem Einzelnen und der Menschheit stehendes Wesen, welches durch seine Sprache, seine Sitten, seine geschichtliche Entwickelung, seine Bildung und seine Verfassung zu einer Einheit geformt sei. Diese Einheit sei die erste Bedingung der Sicherheit, des Wohlstandes, des Fortschritts und der Zivilisation des Einzelnen, und privatwirtschaftliche Interessen seien gleich allen übrigen der Erhaltung, Vervollkommnung und Stärkung der Nationalität unterzuordnen. Da die Nation ununterbrochen fortlebt, bestehe ihr wahrer Reichtum – und dies ist List's grundlegende Theorie – nicht in den in ihrem Besitze sich befindlichen Tauschwerten, sondern in der völligen und vielseitigen Entwickelung ihrer produktiven Kräfte. Ihre wirtschaftliche Erziehung, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, sei von grösserer Bedeutung als die unmittelbare Produktion von Werten, und man könne mit Recht an das lebende Geschlecht die Forderung stellen, seinen Gewinn und seine Genüsse zu opfern, um Stärke und Geschicklichkeit des zukünftigen zu sichern. Unter dem gesunden und normalen Zustand einer zur wirtschaftlichen Reife gelangten Nation sollten die drei produktiven Kräfte der Landwirtschaft, der Gewerbe und des Handels gleichmässig entwickelt sein. Die beiden letztgenannten Faktoren seien indessen von grösserer Wichtigkeit, da sie einen wirksameren und befruchtenderen Einfluss sowohl auf die gesamte Kultur der Nation als auf deren Unabhängigkeit üben. Insbesondere verbinden sich Schiffahrt, Eisenbahnen, alle höheren technischen Künste mit diesen Faktoren, während in einem rein ackerbautreibenden Staate alles zum Stillstand neigt, jeglicher Unternehmungsgeist mangelt, und veraltete Vorurteile aufrecht erhalten werden. Für die Entwickelung der höheren Wirtschaftsformen seien indessen nicht alle Länder geeignet – nur jene der gemässigten Zonen, während die heissen Gegenden ein natürliches Monopol in der Produktion gewisser Rohstoffe besitzen, so dass also unter diesen beiden Ländergruppen eine Arbeitsteilung und Konföderation der Kräfte von selbst platzgreife. Hierauf erläutert List seine Theorie der wirtschaftlichen Entwickelungsstufen, welche die mit allen erforderlichen Bedingungen ausgestatteten Nationen der gemässigten Zone auf dem Wege nach ihrem normalen wirtschaftlichen Zustand naturgemäss beschreiten. Diese Stufen sind: 1) das Jäger- und Hirtenleben, 2) die Landwirtschaft, 3) die Landwirtschaft in Verbindung mit dem Gewerbe, während 4) die Endstufe Landwirtschaft, Gewerbe und Handel vereinigt. Die wirtschaftliche Aufgabe des Staates bestehe darin, vermittelst gesetzgeberischer und administrativer Tätigkeit die Bedingungen zu schaffen, welche das Fortschreiten der Nation auf diesen Stufen ermöglichen. Aus dieser Anschauung entsteht List's Ideal einer Wirtschaftspolitik. Jede Nation sollte nach ihm mit dem Freihandel beginnen, ihre Landwirtschaft durch den Verkehr mit reicheren und kultivierteren Nationen anspornen und vervollkommnen, gewerbliche Erzeugnisse fremder Länder einführen und Rohprodukte ausführen. Ist sie alsdann wirtschaftlich so weit fortgeschritten, dass sie eine selbständige gewerbliche Tätigkeit zu entfalten vermag, so müsste ein Schutzsystem Anwendung finden, um den heimischen Industrien völlige Ausbildung zu gestatten und sie davor zu bewahren, dass sie während ihres ersten Aufstrebens durch den Wettbewerb höher entwickelter ausländischer Industrien auf dem heimischen Markte überwältigt werden. Sind die nationalen Industrien stark genug, um diesen Wettbewerb nicht länger fürchten zu müssen, so sei die höchste Stufe des Fortschritts erreicht. Alsdann sollte der Freihandel wieder die Regel bilden und die Nation auf diese Weise der weltwirtschaftlichen Vereinigung völlig einverleibt werden. Zu List's Zeiten waren seiner Ansicht zufolge Spanien, Portugal und Neapel rein ackerbautreibende Länder; Deutschland und die Vereinigten Staaten von Nordamerika hatten die zweite Stufe erreicht, da sich ihre Manufakturen im Stadium der Entwickelung befanden; Frankreich stand nahe an der Grenze der dritten und höchsten Stufe, auf welcher England allein angelangt war. Für England sowohl als für die erstgenannten ackerbautreibenden Länder war daher der Freihandel die geeignete Wirtschafts-Politik, nicht jedoch für Deutschland oder Amerika. Was eine Nation vorübergehend während der Schutzzoll-Periode an Tauschwerten verliere, komme ihr auf die Dauer in viel höherem Masse an produktiven Kräften zugute; – der zeitweilige Aufwand entspräche, fassen wir das Leben der Nation in's Auge, genau den Kosten der wirtschaftlichen Erziehung des Einzelnen. Die praktische Folgerung, welche List hieraus für sein eigenes Vaterland zog, gipfelte darin, dass dieses für seine wirtschaftliche Entwickelung eines ausgedehnten und gehörig abgegrenzten, sowohl im Süden als im Norden an die Meeresküste stossenden Gebietes sowie einer kräftigen Entfaltung von Handel und Gewerbe bedürfe, und dass letztere durch eine weise Schutzzoll-Gesetzgebung in Verbindung mit einem alle deutschen Länder umfassenden Zollverein und durch eine deutsche Marine mit einer Schiffahrtsakte zu erreichen sei. Der deutsche Volksgeist, welcher vermittelst der Einheit nach Unabhängigkeit und Macht strebte, und nicht minder die nationale Industrie, welche aus ihrer Erstarrung erwachte und sich eifrig bemühte, Versäumtes nachzuholen, waren dem Erfolge des List'schen Buches günstig, und es erregte gewaltiges Aufsehen. Die Bestrebungen und Anforderungen, welche sich zu seiner Zeit in seinem Vaterlande geltend machten, gelangten durch ihn zum treffenden Ausdruck. Sein Werk hatte zur Folge, dass sich nicht nur die gelehrten und Beamten-Klassen, sondern praktisch tätige Männer überhaupt mit Fragen der Volkswirtschaftslehre beschäftigten, und ohne Zweifel übte er einen bedeutenden Einfluss auf die deutsche Wirtschaftspolitik. In wissenschaftlicher Hinsicht hatten sowohl der Nachdruck, mit welchem er die Wichtigkeit des relativen geschichtlichen Studiums der verschiedenen Zivilisationsstufen für wirtschaftswissenschaftliche Fragen betonte als auch sein Protest gegen absolute Formeln einen gewissen Wert. Ebenso war er grundsätzlich im Recht, wenn er die nationale Entwickelung über den unmittelbaren Vorteil des Einzelnen stellte. Indessen war seine Lehre sowohl in öffentlicher als privater Beziehung zu sehr auf dem blossen Streben nach Reichtum aufgebaut und zielte in der Tat eher auf eine neue Form des Merkantilismus ab als auf eine Unterstützung des zeitgenössischen Bemühens um eine soziale Reform.

Die meisten der bis jetzt erwähnten einheimischen und auswärtigen Schriftsteller pflanzten die Ueberlieferungen der Smithschen Schule fort, wobei sie sich darauf beschränkten, die Theorie ihres Gründers nach besonderen Richtungen hin – bisweilen nicht ohne Einseitigkeiten und Uebertreibungen – fortzubilden oder unbedeutende Irrtümer zu verbessern, in welche er geraten war, oder seine Grundsätze geordneter und übersichtlicher darzustellen. Manche wandten sich gegen den seitens der Nachfolger Smith's mit der Abstraktion getriebenen Missbrauch, hielten den Schlüssen Ricardo's und seiner Anhänger den Einwand entgegen, dass sie mit den wirklichen Tatsachen des Menschenlebens nicht übereinstimmten, oder protestierten gegen die antisozialen Folgerungen, welche sich ihnen aus der Anwendung der sogenannten orthodoxen Formeln zu ergeben schienen. Andere wieder verwarfen die Grundgedanken Smith's und betonten die Notwendigkeit einer Aenderung der allgemeinphilosophischen Grundlage, auf welcher seine Wirtschaftstheorie in letzter Instanz ruht. Allein ungeachtet verschiedener warnender Anzeichen geschah auf dem von uns bis jetzt übersehenen Gebiete nichts Wesentliches oder doch zum mindesten nichts Wirksames zur Begründung eines wahrhaft neuen Gedankensystems oder eines neuen Verfahrens in diesem Zweige des Forschens. Nunmehr aber haben wir eine starke und wachsende Bewegung zu schildern, welche den Gesamtcharakter des Studiums in den Auffassungen vieler bereits erheblich geändert hat, und einen noch mächtigeren Einfluss in der Zukunft auszuüben verspricht. Es ist das Erstehen der Historischen Schule, die wir als das Kennzeichen der dritten Epoche in der neuzeitlichen Entwickelung der Wirtschaftswissenschaft betrachten.


 << zurück weiter >>