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Der Pfarrer kam in die Mörderzelle hinein, wo der Gelegenheitsarbeiter Franz Barkus, mit einer langen stählernen Kette an die Wand geschlossen, neben dem Tisch auf dem Schemel saß. Der Mörder, der Beamte angegriffen und verletzt hatte, konnte die gefesselten Füße nur in ganz kleinen Schritten bewegen und seine Hände hingen in eisernen Spangen zu beiden Seiten einer armlangen Eisenstange, die ebenfalls von einer Kette an der Wand festgehalten wurde.
Pastor Ralph erschrak sehr bei diesem Anblick. Er wollte näher an den Gefesselten herantreten. Aber der Aufseher Voß, ein im Gefängnisdienst ergrauter Beamter, hob warnend die Hand.
»Geben Sie acht, Herr Pastor! Er stößt und beißt um sich wie'n wildes Tier!«
Ein schreckliches, irres Gelächter kam, als der Aufseher das sagte, aus dem Munde des Gefangenen, dessen Ketten klirrten und der mit dem, seine Fäuste voneinander trennenden Metall, eine Weile taktmäßig auf die Tischplatte schlug. Er tat das manchmal stundenlang, ohne auf einen Befehl oder ein Verbot zu achten, mit der vollen Absicht, die Nerven seiner Bändiger zu lähmen. Er war ja, und hatte es wohl begriffen, längst jenseits jener Zone, wo ein Wort aus Menschenmund, die Weisung eines Vorgesetzten, wo überhaupt der fremde Wille noch Geltung hat. Und das wollte er jetzt fühlen lassen.
Doch plötzlich hörte er zu klopfen auf und sagte:
»Der kann ruhig rankomm'! den tu ich nischt!«
Der Geistliche lächelte, nahm den Stuhl des Aufsehers, trug ihn selbst an den Tisch und setzte sich zu dem Gefangenen. Dann, da Franz Barkus unruhig zu dem Aufseher hinsah und so nicht reden wollte, gebot Pastor Ralph dem Beamten, die Zelle zu verlassen.
»Verzeihung, Herr Pastor, aber es ist strenger Befehl vom Herrn Direktor: ich darf nicht … der da … der …«
Pastor Ralph lächelte.
»Ich übernehme die Verantwortung! hören Sie? Was auch passiert, Sie trifft keine Schuld! Aber es passiert ja nichts!« Der Pastor lachte über sein rundes, junges Knabengesicht. »Sehen Sie, mein Lieber, wenn jemand einen so weiten Weg zu tun hat, wie unser Freund da,« er nickte zu dem Mörder hin, »dann will er sich vorher noch bereden, mit jemand … nicht wahr, Barkus, Sie wollen mich allein, ohne Zeugen wollen Sie mit mir sprechen?«
Der Mörder zuckte die Achseln; dann sagte er halblaut: »Ja!«
Nun ging der Aufseher mit den Worten:
»Herr Pastor erlauben aber, daß ich es gleich dem Herrn Direktor melde!«
Der Geistliche nickte kurz zu dem Beamten hin; seine Seele stand vor dem Verurteilten, bereit, den Unglücklichen zu umfangen und hinzugeleiten an die Quellen des Heiles, da ewiger Trost und unendliche Liebe sprudeln.
»Na?« sagte Franz Barkus und blickte den Pastor von der Seite an.
»Sagen Sie mir, was Sie bedrückt, mein Lieber!« meinte der einfach.
Der Verurteilte brummte. Aber er sprach nicht. Und der Diener seines Herrn ließ ihm geduldig Zeit. Aber das Schloß vor diesem Herzen ging so leicht nicht auf. Und als die Worte gar nicht kommen wollten aus dem blassen, verbissenen Munde, da beugte sich der Pastor zu dem Mörder, der sieben Morde eingestanden hatte, dem aber die Anklage mehr als die doppelte Anzahl vernichteter Menschenleben vorwarf, und legte seine weiße Hand auf den blauen Gefangenenkittel und sagte leise:
»Denken Sie einmal, nicht ich, sondern ein Freund von Ihnen wäre zu Ihnen in die Zelle gekommen!«
»Ick habe keenen! Ick habe keen' Freund!« sagte der Mörder.
»Aber vielleicht eine Frau … ein Mädchen, das Sie geliebt hat?«
Die Ketten klirrten leise.
»Die is dod.«
»Waren Sie mit ihr verheiratet?«
»Nee.«
»Woran ist sie denn gestorben?«
»Ick habe ihr …«
Mit einer unvollkommenen Bewegung der gefesselten Rechten zeigte Franz Barkus, daß er auch seiner Geliebten den Hals abgehauen habe – nach seiner schlimmen Gewohnheit, die ihn sein Opfer erst mit dumpfem Schlag betäuben und dann dessen Hals mit des Beiles Schärfe vom Rumpfe trennen ließ … Er sagte vor Gericht grinsend, daß er sich dabei die Justiz, die staatliche Gerechtigkeit zum Vorbild genommen habe.
Der Pastor kannte die Akten des Mörders, er wußte: unter den eingestandenen Mordtaten war diese nicht. Aber er hütete sich zu fragen. Barkus kam selber mit der Erklärung:
»Sie wollte jeheirat sind … un det jing nich!«
»Aber ich erinnere mich nicht, daß man das arme Mädchen gefunden hat,« sagte der Pfarrer, dem ein Schauder nach dem andern durchs Herz rann.
»In't Wasser,« sagte der Mörder gleichmütig, »mit'n Sticke Eisenbahnschiene an de Beene. Draußen …«
Er sah plötzlich auf und den Pastor voll an, der erschrak ob dieses Basiliskenauges.
»Ick kann ma' da janischt bei denken, Herr Pastor! Un ick weeß ooch janich, wat se da alle for'n Summs von machen! 't sind doch sowieso ville zu ville!«
Dem Pfarrer wurde eiskalt.
»Aber Sie liebten sie doch, das arme Mädchen, mein' ich?!«
Und wieder das harte Zucken der überbreiten, massiven Schultern des Schwerverbrechers, wobei das kantige, in seinen Hälften so unregelmäßig gebildete Gesicht ganz unbeweglich blieb.
»Wat heeßt lieben! Wenn se mir liebt, denn muß sie wollen, wie ick will! … sonst nich! …« Der Mörder schwieg einen Augenblick, ehe er sagte: »Un denn sollte se ooch wat Kleenes kriegen.«
»Also waren es zwei Menschenleben, die Sie auf Ihr Gewissen luden?«
Der Mörder zuckte die Achseln.
Da kam der Geistliche auf die Idee, ihn nach seiner Mutter zu fragen. Und auf einmal schien irgend etwas in dem Manne aufzugehn, sein Gesicht wurde heller; es war, als wollte er lächeln:
»Se hat immer Maschine jenäht … ick war noch janz kleen … Aber er hat ihr ja immer jeschlagen …! Wenn ick et Aas bloß mal zu fassen krichte! Jawoll, er lebt noch, sojar derbe … 'k weeß nich, wat er is … Aber ejal besoffen.«
»Und Ihre Mutter starb?«
»Ja, da war 'k noch janz kleen … Wissen Se, so mit'n Mietzettel hinten raus … an Schwindsucht …«
»Und Sie? … hat Ihr Vater wieder geheiratet?«
»Ach der! Die olle Soffbolette! In de Schareteh! Destillirjum! Is aber immer wieder jeworn … 'ne Zeitlang is er mal so mit'n Kasten jejang', voll Appelsin', un 'n Würfelbecher! Wer mit drei Würfel neinzehn hat, der jewinnt!«
Der Verbrecher lachte über seinen Scherz. Dann erzählte er ganz aus sich heraus weiter:
»Aber meine Mutter, die war jut! Hat uns immer Naute mitjebracht, wenn se abliefern jejang is! Uff Schirzen hat se jearbeit. Aber sowat, det wird ja zu scheene bezahlt … un denn soll unsereener vor Ehrfurcht krepieren vor sonne Leite! … Denken Se etwa, mir tut et leid, Herr Paster?« Er lachte roh, »Sie sind ja 'n juter Mann, det weeß ick, darum tu' ick Ihn ooch nischt! Denn ick brauchte Ihn doch bloß hier so mit de Eisenstange in de Fresse stoßen! Aber sonst, de Richter un so, ha! Ick kenn' se, die Brieder! Wenn ick man so jekonnt hätte! Nich eener wäre von wechjekommen!«
Eine schauerliche Verzerrtheit war in dem fahlen Gesicht des Mörders, der an dem Geistlichen vorbei auf das Heer seiner unsichtbaren Feinde stierte, von denen er – welch eine Wut! – keinen mehr mitnehmen konnte, auf den schattenhaften Weg, den er selber nun in der Frühe des nächsten Tages gehen mußte.
Dann sagte er plötzlich:
»Ick habe doch ooch 'ne Schwester jehabt.«
Und ahnungslos fragte der Pastor:
»Was ist mit der?«
Der Verbrecher sah den Geistlichen groß an mit einem Blick, den der bis zu seiner Sterbestunde nicht vergaß, und Barkus sagte:
»Die hat eener amord't … Fünfzehn Jahre wa se … 'n Sittlichkeetsvabrechen. Un den haben se ooch hinjericht. Ick wa soja bei, weil wir doch de Vawandten von se wa'n! Mein Oller ooch! Aber nich hier … wo wir damals jewohnt haben.«
Der Pfarrer schwieg. Die Last des Gräßlichen fiel über ihn und lähmte seine Sinne.
»Ja, ja,« meinte der Verbrecher voller Hohn, »dabei, da hab' ick et jesehn, wie et jemacht wird! Bloß det ick meine nich erscht noch 'n janzen Tach vorher mit jekwält habe! Im Jegenteil, hat keener wat jemerkt, wa'n immer jleich alle, wenn ick se so von hinten mit det stumpfe Ende von's Beil uff de Spitze jekloppt habe!« Er lachte heiser, »ja, unsaeener, der is ja janich so!«
Der Pfarrer hob die Hand, er ertrug es kaum noch: »Und haben Sie nicht wenigstens beim ersten Mal, bei Ihrer ersten Tat Entsetzen und Reue gefühlt?«
Der Verbrecher dachte nach.
»Warten Se mal, Herr Paster … Da war ick neinzehn! … Ja, beinah' zwanzig … un det wa der olle Kerl, der Schossearbeeta, un hatte nachher nich'n Poscher in de Tasche, also janz umsonst! … Aber wat man so sagt: schwer – nee, schwer is et mir ja nich jeworden!
Ick habe mit'n jesprochen un weeß noch, wie ick sage: »Mensch, kuck mal bloß den Vogel!« Da dreht er sich um un da lag er ooch schon! Nichmehr »pipp!« jesagt hat er. Jing ja ooch viel zu schnell. Un ooch sonst … ick empfinde det ebent nich so. Mir hat det ooch mit meine Schwester nich leid jetan! Denn heeren Se mal, Herr Paster! – nu wer ick Ihn mal wat erzählen! Nu passen Se ma' uff! Mit meine Schwester, det war ick!! … Ick wollt et ja eintlich nich! Aber weil se sich so varrickt anjestellt hat un so jeschrieen! Der andre, den se da nachher machulle jemacht haben for, der hat ihr nie nich zu Jesichte jekricht! Er hat et ja ooch immer wieder beteiert, bloß et nutzte ihn nischt! Denn uff mir, als uff den Bruder von die Ermordete, da konnte doch keener nich Verdacht druff haben! Un det ick wat hätte sagen sollen, na, das kenn' Se doch ooch nicht valangen! An Ende wer ick ma selber vamasseln! Ick habe ruhig zujekickt, wie er alle wurde! Un hat jeschrieen un jebettelt, noch bis er ranmußte an' Klotz: er wär et nich! So wahr ein Jott in Himmel lebte, er wäre unschuldig! … Haha! Jott!! …«
Der Pfarrer war weiß wie der Kalk an der Wand. Er stand auf, als wär' er ein Greis, und hatte doch erst achtundzwanzig Jahre gesehn. Er sprach:
»Ich gehe jetzt, Sie müssen das Geständnis, daß Sie selbst es waren, der Ihre Schwester ermordet hat, das müssen Sie vor dem Richter wiederholen, damit wenigstens das Andenken jenes Schuldlosen gereinigt wird … Ich hole den …«
»Wat?« Der Verbrecher sprang in die Höhe, – »dadrum vertraue ick Ihnen det an? Also so eener sind Sie?! Na warte, Jungeken!«
Er holte mit einer schwingenden Bewegung weit aus. Obwohl der Geistliche zurücksprang, erhielt er doch einen schmerzhaften Stoß in die Seite.
Aufseher kamen. Und Pastor Ralph, als sei er selbst zu Tode getroffen, verließ zitternd die Zelle.