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Der Spitzel

Die Turmuhren kündeten die erste Stunde nach Mitternacht, und obwohl er nun schon seit drei Stunden hier in der engen, uralten Gasse harrte, die nach dem Wasser hinabführte, wurde Friedrich Mertens nicht ungeduldig. Es fror ihn in seinem dünnen Paletot, der längst durch einen andern hätte ersetzt werden sollen; er hatte seit Mittag nichts gegessen und besaß nur noch wenige Groschen; und die Beine taten ihm weh vom langen Herumstehen auf dem Straßenpflaster, aber er dachte nicht einen Augenblick daran, sein Unternehmen aufzugeben.

Seit einem Monat hatte er den großen Schlag vorbereitet, den er heute ausführen wollte … den er machen mußte, um nicht vor die Tür gesetzt zu werden von der Behörde. Denn die gibt ihren Leuten nichts umsonst! Man wird eingestellt, probeweise, bekommt täglich drei Mark und die sogenannten Spesen, und macht einer nichts, hat er keine Erfolge, dann wird ihm gekündigt, und er muß gehen.

Und Friedrich Mertens wollte nicht gehn. Er wußte, was das heißt: auf der Straße liegen und nichts zu essen haben! … Im Anfang war's ihm greulich, dies Spionieren hinter Menschen, die ihn garnichts angingen, die möglicherweise nicht das geringste Böse getan hatten … Er sah noch den Tag vor sich, wo der Polizeirat Staffel, ein feiner alter Herr, ihn hatte hinaussehen lassen auf den großen Korridor des Polizeipräsidiums und ihm eine Gruppe von Männern gezeigt hatte mit den Worten: »Sehn Sie, das sind dann Ihre Kollegen! … haben Sie nun noch Lust zu dem Beruf? …« Und Friedrich Mertens hatte, mit einem inneren Schauder damals, diese Frage bejaht und war als Probist eingestellt worden, mit der Aussicht auf baldige Anstellung für den Fall, daß er Erfolg hätte. Aber er hatte keinen, absolut nicht … Fehlte ihm das Talent dazu oder war es seine Herkunft, sein ganzes gebildetes und feineres Wesen, das ihn in diesem Boden nicht Wurzel schlagen ließ? … Er hatte studiert, Nationalökonomie, auch etwas Philologie, aber es reichte überall nicht, sein Wissen! Auf der Universität war er einer von den flottesten gewesen, deshalb war auch sein kleines Vermögen so schnell alle geworden. Nun gab ihm keiner mehr was! Seine Freunde hatte er aus dem Gesicht verloren; seiner Familie durfte er nicht unter die Augen treten – und er mußte doch leben! Wenn's nicht anders ging, als Agent der politischen Polizei. Ihm war alles gleich!

Er schritt die Gasse ganz hinunter, bis ans Wasser. Das lag dunkel und windbewegt. Neben ihm das düstre Gemäuer hatte früher die Sünder des alten Berlin umschlossen  … aber das waren doch Verbrecher, Leute, die andre schwer geschädigt hatten … Die zu bekämpfen war immerhin verdienstlich … aber seine Tätigkeit, die richtete sich gegen Leute, die niemandem etwas zuleide taten, deren politische Meinung nur anders war, als die seiner Auftraggeber und Vorgesetzten … Er selber? – ach, er hatte gar keine Meinung! Ihm war jede Fasson, selig zu werden, recht, wenn man nur satt dabei zu essen hatte! Darum war er ja gerade zur politischen Polizei gegangen, weil man dort noch am ersten auf bessern Verdienst rechnen konnte. Da gab's doch, soviel er wußte, große, geheime Fonds, warum sollte er nicht seinen Teil davon abbeißen!

Zurückschleichend in den tiefen Schatten der wenig mehr als einen Meter breiten Gasse, blieb er plötzlich wie gebannt stehen. Ein leises Pfeifen war an sein Ohr gedrungen. Und gleich darauf ergriff eine fette Hand die seine, zog ihn hinein in die tiefe Nische des unbeleuchteten Torbogens und hielt ihn fest.

»Biste da, mei Gold?« hörte er eine bekannte Stimme sagen, und fühlte sich umschlungen von zwei dicken Armen und wie toll aufs Gesicht, auf die Augen, auf den Mund geküßt.

Den Mann überlief's. Seit der ganzen Zeit, daß er die Sache eingeleitet hatte, hing ihm diese widerliche Frauensperson am Halse. Mit ihrer Hilfe hatte er alles eingefädelt; sie, die aus Rußland stammte und die hier heimlich Prostitution trieb, hatte er eines Abends in der Finsternis einer Quergasse angesprochen und begleitet. Seitdem hängte sich das Weib an ihn wie eine Klette.

»Was denn?« fragte er, sie von sich drängend, »wer ist denn alles da?«

Sie griff wieder nach ihm und flüsterte, dicht an seinem Ohre:

»Nu, mei' Mann und der Firmeling un der Hausdiener von Nathan un die beiden Eisenbahner un … un der Bogumil Isac Stepanowitsch auch!«

»Der Russe auch?«

»Nu, wenn ich d'r sage!«

»Und wie lange bleiben sie bei euch?«

»Nu, wie lange wern se bleiben! … Solang' ich se wer halten! Ich geh eben un hol Schnaps!«

»Und der Russe ist wirklich einer von den gefährlichen? … ist es wirklich der berüchtigte Stepanowitsch?«

Sie umhalste ihn abermals, suchte seine Lippen und sagte:

»Nu, was redste for'n Stuß, mein Täubchen! Isac Stepanowitsch sitzt oben in meine Stube!«

»Und wir können ihn verhaften?«

Die Jüdin murmelte zärtliche Koseworte in ihn hinein  … Der krankhafte Trieb ihrer Sinne ging achtlos hinweg über das Unheil, das sie anrichtete. Und Friedrich Mertens wußte das. Er war zu klug, um nicht längst gemerkt zu haben, daß diese Frau eine Hysterische war, die ihrer verrückten Leidenschaft alles opferte, selbst den eigenen Mann, einen fleißigen Schneider, der in der Verstiegenheit seiner politischen Ideen auf das ekle Treiben seines Weibes nicht achtete. Friedrich Mertens war sich über alles das vollkommen klar. Jener Mensch, den die Frau mit »Der Firmeling« bezeichnet hatte, war Provokateur, ein früherer Sozialdemokrat, den seine Partei ausgestoßen hatte, weil man ihn eines Tages als gemeingefährlich erkannte; der reizte die armseligen Köpfe da oben in der schmierigen Wohnung zu Mord und Gewalttat auf … Das wußte Friedrich Mertens, der sich dieses kranken Weibes bedient hatte, um den Anarchisten Stepanowitsch, den Vetter ihres Mannes, aus irgendeinem geheimnisvollen Versteck hierher zu locken, damit man ihn fassen und an den russischen Galgen liefern konnte.

Die Frau latschte die Gasse hinauf, dahin, wo die helle Straße hereinblickte. Der Spitzel schlich zum Wasser, stieg leise in den an der alten Waschbank festgemachten Kahn und trieb mit lautlosen Rudern auf die Flut, die jetzt, wo der Wind sich legte, träge unter dem sich entwölkenden Nachthimmel lag.

Es war alles bis ins kleinste vorausgesehen! Selbst die Kneipe hatte der Spitzel vorher ausgewählt, wo er das Präsidium antelephonierte … Voll Unmut dachte er an den Kommissar, unter dem er arbeitete, der ihn immer wieder zur Vorsicht ermahnte, der ihn auf die Gefahren hinwies, denen er sich durch Provokationen aussetzte … Ja, die hatten leicht warnen, die da oben! Die deckten sich auf jeden Fall! Und wenn irgendwas schief ging und es kam in die Zeitungen, dann war es der Vigilant oder der Agent gewesen! … Aber Erfolge sehn wollten sie! Noch vor drei Tagen hatte ihm der Kommissar gesagt: »Sie geben sich keine Mühe! Sie bringen nichts! Leute, die nichts bringen, die können wir nicht gebrauchen!«

Na, diesmal brachte er 'was!

Der Agent stand voller Unrast im Kahn am Ufer bei der Steintreppe, die quer zu der steinernen Böschung hinaufführte. Plötzlich tauchten aus dem Dunkel fünf starke, einfach gekleidete Männer auf, die unauffällig in den Kahn hinab stiegen. Friedrich Mertens, ein geschickter Ruderer, fuhr sie hinüber.

In dem dunkeln Flur des alten Hauses wartete wieder das Weib … Aber obwohl ihr der Spitzel gesagt hatte, daß er sie noch heute mit sich nehmen und immer bei sich behalten werde, erwachten in diesem trüben Geiste auf einmal doch Bedenken wider ihr eigenes Vorhaben. Sie jammerte:

»Au! was tuste mit de Pallopeten! Nee, ich geh nich mit! Ich will nich!«

Friedrich Mertens packte sie brutal am Arm:

»Vorwärts, du altes Mensch! … los! … ich wer' dir!«

Da taumelte sie in dumpfer Angst vorauf, schloß, oben angekommen, die Wohnungstür auf und blieb hinter den Beamten, die ins Zimmer stürmten, zurück.

Die zwei Deutschen waren wie gelähmt. Aber der Russe stand schon im Rahmen des offenen Fensters, bereit, in die Dunkelheit hinabzuspringen, als Friedrich Mertens ihn packte.

Stepanowitsch schoß, die Kugel pfiff dem Spitzel am Ohr vorbei. Im selben Augenblick sprangen seine Gefährten herzu und rissen den Russen herab, der noch zweimal schoß, ehe sie ihn überwältigten.

Da schrie jemand …

In dem Gewühl sah man nicht gleich, wer. Erst als die Kriminalbeamten ihre Beute festhatten, bemerkten sie, daß die Frau am Boden lag, wimmernd und leise Angstschreie ausstoßend. Sie mußte in die Lunge getroffen sein, denn bei jedem Schrei trat ihr Blut auf die Lippen. Und immerfort spielten ihre dunkeln Augen, ihre zuckenden Hände nach Friedrich Mertens hin, der reden wollte und, von krankhaftem Schlucken unterbrochen, nur die Worte hervorbrachte:

»Ich war's … ich war's … ja nicht … ich habe nicht geschossen …«


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