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Große Schritte des Lahmen sind wie Liebesblicke des Einäugigen; sie kommen nicht schnell zum Ziele. Außerdem war Fauchelevent ganz perplex geworden, so daß er beinahe eine Viertelstunde brauchte, um in seine Hütte zurück zu kommen. Cosette war erwacht. Johann Valjean hatte sie an das Feuer gesetzt. In dem Augenblicke, als Fauchelevent eintrat, zeigte ihr Johann Valjean den Tragkorb, der an der Wand hing und sagte zu ihr:
»Gieb jetzt gut Achtung auf das, was ich Dir sagen werde, meine kleine Cosette. Wir müssen aus diesem Hause gehen, aber wir werden wieder zurück kommen und uns dann hier sehr wohl befinden. Der gute Mann hier wird Dich da drin auf seinem Rücken forttragen. Du wirst mich bei einer Frau erwarten, von der ich Dich abholen werde. Wenn Du nicht willst, daß Dich die Thenardier wieder holen soll, so sei folgsam und still.«
Cosette machte mit dem Kopf ein sehr ernstes Zeichen.
Bei dem Geräusch, welches Fauchelevent durch das Oeffnen der Thür machte, drehte sich Johann Valjean um.
»Nun?«
»Alles ist geordnet und nichts,« antwortete Fauchelevent, »Ich habe die Erlaubniß Sie hier herein zu lassen, aber ehe ich das kann, muß ich Sie hinausschaffen. Mit der Kleinen, da ist's leicht.«
»Sie tragen sie fort?«
»Wird sie still sein?«
»Ich stehe dafür.«
»Aber Sie, Vater Madeleine?«
Nach einer ziemlich ängstlichen Pause rief Fauchelevent:
»Gehen Sie doch auf dem Wege hinaus, auf dem Sie hereingekommen sind!«
Johann Valjean beschränkte sich, wie das erste Mal, darauf, daß er antwortete: »Unmöglich.«
Fauchelevent, der mehr mit sich selbst als zu Johann Valjean sprach, murmelte:
»Noch etwas Anderes quält mich. Ich habe gesagt, daß ich Erde hinein thun würde. Das wird nicht gehen; sie wird sich bewegen, sich verschieben. Die Leute werden's merken. Die Regierung wird es erfahren, das begreifen Sie, Vater Madeleine.«
Johann Valjean sah ihn mit halb zugekniffenen Augen an und glaubte, er rede irre.
Fauchelevent fuhr fort:
»Wie zum Teu...fel werden Sie hinauskommen? Und morgen muß Alles gemacht werden! Morgen soll ich Sie bringen. Die Priorin erwartet Sie.«
Hierauf theilte er Johann Valjean die ganze im vorigen Kapitel verzeichnete Unterhaltung zwischen ihm und der Priorin mit, so wie auch die beiden Verlegenheiten, in denen er sich befände: wie Johann Valjean hinausbringen, und wie den leeren Sarg füllen?
»Was ist das für ein leerer Sarg?« fragte Johann Valjean.
»Nun der Sarg der Verwaltung,« antwortete Fauchelevent.
»Welchen Sarg? Welche Verwaltung?
»Jetzt stirbt eine Nonne. Da kommt der Stadtarzt und sagt: eine Nonne ist gestorben. Die Regierung schickt einen Sarg. Den nächsten Tag schickt sie einen Leichenwagen und Leichenträger und die tragen ihn auf den Kirchhof. Nun werden die Leichenträger kommen, den Sarg aufheben und es wird Nichts darin sein.«
»Legen Sie etwas hinein.«
»Einen Todten? Ich habe keinen.«
»Nicht einen Todten.«
»Was denn?«
»Einen Lebendigen.«
»Welchen Lebendigen?«
Fauchelevent, der sich gesetzt hatte, sprang auf als wäre eine Bombe unter seinem Stuhle losgegangen.
»Sie?«
»Warum nicht?«
Johann Valjean hatte eines der seltenen Lächeln, die in seinem Gesicht erschienen wie ein Sonnenblick am Winterhimmel.
»Sie wissen, Fauchelevent, daß Sie gesagt haben: Mutter Crucifixion ist gestorben und daß ich hinzugefügt habe: Und Vater Madeleine wird begraben, Und so wird es sein.«
»Sie lachen! Sie reden nicht im Ernst.«
»Sehr im Ernst. Soll ich nicht hinaus?«
»Ohne Zweifel.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten auch für mich einen Tragekorb und eine Decke darüber finden.«
»Nun?«
»Der Tragkorb ist in dem Sarge, die Decke im Leichentuch gefunden.«
»Sie sind nicht ein Mann wie die andern, Vater Madeleine.«
Solche Einfälle zu sehen, die nichts anderes sind, aIs wilde und verwegene Erfindungen des Bagno, hier mitten in einem friedlichen Kloster, das versetzte Fauchelevent in ein ungeheures Staunen.
Johann Valjean fuhr fort:
»Es handelt sich darum, ungesehen von hier hinaus zukommen. Das ist ein Mittel. Zunächst aber erzählen Sie alles genau. Wo ist der Sarg?«
»Der leere?«
»Ja.«
»Unten im sogenannten Todtensaale. Auf zwei Böcken steht er unter dem Leichentuche.«
»Wie lang ist er?«
»Sechs Fuß.«
»Was ist das, der Todtensaal?«
»Eine Kammer im Erdgeschoß, mit einem vergitterten Fenster nach dem Garten zu, das von außen mit einem Laden geschlossen wird, und mit zwei Thüren. Die eine führt in das Kloster, die andere in die Kirche.
»In welche Kirche?«
»In die Straßenkirche, in die Kirche für alle Welt.«
»Haben Sie die Schlüssel zu den beiden Thüren?«
»Nein. Ich habe nur den Schlüssel zu der Thür, welche in's Kloster führt; den andern hat der Portier.«
»Wann macht der Portier diese Thür auf?«
»Nur um die Leichenträger einzulassen, welche den Sarg holen kommen. Ist der Sarg hinaus, wird die Thür wieder geschlossen.«
»Wer nagelt den Sarg zu?«
»Das bin ich.«
»Wer legt das Tuch darüber?«
»Sind Sie dabei allein?«
»Kein anderer Mann, außer dem Polizeiarzte, darf in die Todtenkammer hinein. Es steht sogar an der Wand geschrieben.«
»Könnten Sie mich in der Nacht, wenn alles im Kloster schläft, in diesem Saale verbergen?«
»Nein. Aber in einem kleinen dunklen Kämmerchen kann ich Sie verstecken, das in den Saal führt, wo ich meine Beerdigungsgeräthe aufbewahre und wozu ich den Schlüssel habe.«
»Zu welcher Zeit wird morgen der Leichenwagen kommen?«
»Gegen drei Uhr Nachmittags. Die Beerdigung findet kurz vor einbrechender Nacht statt. Der Kirchhof ist nicht ganz nahe.«
»Ich werde die Nacht und den Tag in dem Kämmerchen mit den Gerätschaften bleiben. Ich werde aber Hunger bekommen, was soll ich essen?«
»Ich werde ihnen etwas bringen.«
»Sie könnten mich um zwei Uhr in den Sarg einnageln.«
Fauchelevent fuhr zurück und knackte die Fingergelenke.
»Das ist nicht möglich!«
»Was? einen Hammer zu nehmen und Nägel in ein Brett zu schlagen?«
Das was Fauchelevent unerhört vorkam, war für Johann Valjean ganz einfach. Wer gefangen gewesen ist, versteht die Kunst, seinen Körper zusammen zu ziehen und klein zu machen, sich in eine Kiste einnageln und forttragen zu lassen, wie ein Waarenballen, lange in einem Kasten zu leben, Luft zu finden, wo keine ist, Stunden lang mit dem Athem sparsam umzugehen, zu ersticken ohne zu sterben.
Uebrigens ist dieses Auskunftsmittel, ein Sarg mit einem Lebenden darin, sowohl eines des Sträflings, wie des Kaisers.
Wenn man dem Mönch Justin Castillejo glauben darf, war es das Mittel, welches Karl V., als er nach seiner Abdankung ein letztes Mal die Plombes sehen wollte, anwendete, um sich in das Kloster St. Just und aus demselben bringen zu lassen.
Als Fauchelevent wieder ein Wenig zu sich gekommen, rief er:
»Wie wollten Sie denn athmen?«
»Ich werde athmen.«
»In diesem Kasten! Ich ersticke schon bei dem bloßen Gedanken daran.«
»Sie haben doch gewiß einen Bohrer und werden um den Mund herum da und dort einige Löcher machen können, auch den Sarg zumachen, ohne die Bretter zu fest darauf zu nageln.«
»Gut! Aber wenn Ihnen das Husten oder das Niesen ankommt?«
»Wer entflieht, hustet und nieset nicht. – Vater Fauchelevent,« setzte Johann Valjean hinzu, »wir müssen uns entschließen: entweder hier gefangen oder hinein in den Sarg, der uns aus aller Verlegenheit bringt.«
Jedermann hat gewiß schon die Vorliebe der Katzen bemerkt, zwischen den beiden Flügeln einer halboffenen Thür sich aufzuhalten oder herumzuschleichen. Es giebt auch Menschen, die in einem halb vor ihnen geöffneten Vorgange unentschlossen zwischen zwei Entschlüssen bleiben, auf die Gefahr hin, von dem sich plötzlich schließenden Geschick zerquetscht zu werden. Die allzu Vorsichtigen laufen bisweilen größere Gefahr als die Kühnen, Fauchelevent gehörte zu diesen zögernden Naturen. Indeß gewann die Kaltblütigkeit Johann Valjeans die Oberhand über ihn. Er murmelte:
»In der That, es giebt kein anderes Mittel.«
Johann Valjean fuhr fort:
»Das Einzige, was mich beunruhiget, ist das was auf dem Kirchhofe geschehen wird.«
»Gerade das beunruhigt mich gar nicht,« sagte Fauchelevent.
»Wenn Sie sicher sind, mit dem Sarge zurecht zu kommen, so bin ich meinerseits auch sicher, mit dem Grabe fertig zu werden. Der Todtengräber ist mein Freund und immer betrunken. Der Todtengräber legt die Todten in das Grab und ich stecke den Todtengräber in die Tasche. Ich will Ihnen sagen, wie es kommen wird. Kurz vor der Abenddämmerung, drei Viertelstunde ehe die Gitter geschlossen werden, wird man kommen. Der Leichenwagen fährt bis an das Grab. Ich folge; es ist mein Amt. Hammer und Zange habe ich in der Tasche. Der Leichenwagen hält, die Leichenträger legen ein Seil um Ihren Sarg und lassen Sie hinunter. Der Geistliche spricht das Gebet, macht das Zeichen des Kreuzes, sprengt Weihwasser und macht sich aus dem Staube. Ich bleibe mit dem Todtengräber allein zurück. Er ist mein Freund, wie ich Ihnen schon gesagt habe, Eins von beiden: entweder ist er schon betrunken oder er ist es noch nicht. Ist er es nicht, so sage ich: komm! wir wollen eins trinken. Ich führe ihn fort und mache ihn betrunken. Das dauert bei ihm nicht lange, denn den Anfang hat er immer schon gemacht. Liegt er unter dem Tische, so nehme ich ihm seine Karte ab, um auf den Kirchhof zurück gelangen zu können und komme ohne ihn wieder an. Sie haben es dann nur mit mir zu thun. Ist er schon betrunken, so sage ich: geh Du. Ich werde es schon für Dich mit besorgen. Er geht und ich ziehe Sie aus dem Loche heraus.«
Johann Valjean reichte ihm die Hand, auf die Fauchelevent sich mit bäuerlichem Enthusiasmus stürzte.
»Es ist abgemacht, Vater Fauchelevent. Es wird Alles gut gehen.«
»Wenn nichts dazwischen kommt,« dachte Fauchelevent.