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9. Wiedererkennen

An demselben Tage, da Mariechen Examen hielt, wanderte Hildegard durch das raschelnde Laub des Parkes. Es war Ende Oktober, aber es schien, als wollte der Winter in diesem Jahr noch keine Einkehr halten. Warme, sonnige Tage erquickten und erfreuten das Herz; sonnige Tage schätzt man ja vor Wintersanfang doppelt, da man weiß, es sind die letzten. Bald brausen die Stürme und jagen das letzte Laub von den Bäumen; dann wird es öder und immer öder in der Natur und der Schnee deckt die Erde wie mit einem Leichentuch, bis sie im Frühling neu ersteht und Leben und Hoffnung auch im Menschenherzen weckt.

Hildegard war im ganzen wenig allein. Heute hatte aber die Gräfin, die ein Unwohlsein längere Zeit ans Bett gefesselt, gesagt:

»Liebste Hildegard, Sie sollen sich nicht mit mir in diesen Klostermauern vergraben; es ist so schönes Wetter, machen Sie einen tüchtigen Spaziergang und kommen Sie mit roten Wangen wieder heim!«

Hildegard ließ sich das nicht zweimal sagen. Liebte sie es doch gar sehr, einmal allein zu wandern und ihren Gedanken nachzuhängen. Sie hatte das Ende der großen Buchenallee und mit ihr das Ende des Parkes erreicht; ein Graben trennte ihn von der Landstraße. Kühn schwang sie sich hinüber, um ihren Lieblingsweg nach dem Horster See einzuschlagen. Was wir täglich von unserm Stübchen aus sehen, wird uns wie ein Stück Heimat; so übte auch dieser See eine Anziehungskraft auf Hildegard aus, daß sie oft im Sommer an seinen Ufern saß und der fernen Vergangenheit gedachte. Auch heute zog es sie dahin: ihr Lieblingsplatz, ein großer Stein, war so warm von der Sonne beschienen, daß sie es wohl wagen konnte, noch einmal ihren Sitz auf demselben einzunehmen. Doch warf sie zuerst einen scheuen Blick um sich, um nicht durch Kommende überrascht zu werden. Der neue Besitzer von Horst war ihr ja ganz fremd, doch mochte sie ihm nicht begegnen. Es lag allerdings wenig oder gar nichts daran, ob er sie sah oder nicht; sie als Untergebene der Gräfin Hoheneck kam ja kaum in Betracht. Morgen würde sie ohnedies seine Bekanntschaft machen, Hohenecks gaben ihm zu Ehren eine große Soiree, die erste nach langer Zeit.

»Ein lieber junger Mann,« hatte die Gräfin gesagt, als er seinen ersten Besuch bei den Herrschaften gemacht.

»Und ein weitgereister, weltgewandter, interessanter Mann,« fügte der Graf hinzu, »dabei ein tüchtiger Landwirt, wie mir scheint. Was meinst du, Mamachen, es ist wohl in der Ordnung, daß wir, als die nächsten Nachbarn, ihn zuerst feiern, und das möchten wir je eher je lieber tun, damit uns die andern nicht zuvorkommen!«

So stand also die erste große Gesellschaft in Sicht und Hildegard bangte ein wenig. Ihr war noch nichts darüber gesagt, daher hoffte sie, nachdem sie ihre Obliegenheiten erfüllt, sich auf ihr Zimmer zurückziehen zu dürfen. Einstweilen wollte sie nicht an diese Gesellschaft, die sie schon im voraus beklemmte, denken, sondern ihr Herz weit öffnen der Herrlichkeit der Natur, sich erfreuen an den herbstlichen Schönheiten der Gegend. Wie entzückend war der hinter dem See gelegene buntgefärbte Wald, wie schön der klare blaue Himmel mit einzelnen lichten Wölkchen und der See, in dem sich des Himmels Klarheit spiegelte. Die Abendsonne warf ihren goldigen Schein darüber, daß die Zinnen des aus dem Walde hervorragenden Schloßturmes erglänzten. Hildegards Züge verklärten sich, sie mochte schöne Gedanken haben.

Da erschreckten sie nahende Fußtritte, sie wandte den Kopf, starrte die Erscheinung an, sprang auf und stieß einen lauten Schrei aus. Dann wurde sie bleich und schwankte; sie wäre beinahe in den See gestürzt, wenn nicht ein Paar kräftige Arme sie gehalten hätten. Was war es, das Hildegard fast die Besinnung raubte? Eine hohe, kräftige Gestalt, gebräunten Antlitzes zwar von den Strapazen langjähriger Reisen, aber sonst unverkennbar – Waldemar von Buchwald stand vor ihr.

»Hildegard,« rief er endlich, »träume ich oder wache ich? Habe ich dich endlich gefunden, nachdem ich jahrelang in Sehnsucht deiner geharrt?«

Hildegard, die sich vom ersten Schreck erholt, machte sich aus seinen Händen los und rief:

»Herr von Buchwald, lassen Sie uns das grausame Spiel nicht noch einmal beginnen. Ich wähnte mich am äußersten Ende der Welt und so geborgen vor Ihnen; wie kommen Sie hierher?«

»Geborgen vor Ihnen!« wiederholte Waldemar traurig, »das klingt nicht, als ob Sie mir Liebe und Treue bewahrt hätten!«

Ein tiefer Blick aus Hildegards Augen belehrte ihn eines andern. Doch sie sprach mit Festigkeit:

»Eine Verbindung zwischen uns ist unmöglich, Sie wissen es so gut wie ich. Warum uns also quälen mit Dingen, die nicht sein können? Was führt Sie hierher?«

»Ich bin wohl berechtigt, auf meinem eigenen Grund und Boden spazieren zu gehen,« antwortete Waldemar lächelnd, »und dürfte eher die Frage an Sie richten: wie kommen Sie hierher an meinen See, junge Dame?«

Hildegard errötete tief und fragte klopfenden Herzens: »So sind Sie – – Sie – der Erbe von Horst?«

»Graf Horst von Buchwald, Universalerbe aller Güter derer von Horst – «

»Also doppelt veranlaßt, eine ebenbürtige Gräfin als Gemahlin heimzuführen.«

»Lassen wir das vorderhand und beantworten Sie mir die Frage: Wie kommen Sie hierher?«

»Ich bin Dienerin, oder wenn Sie wollen Gesellschafterin der Gräfin Hoheneck auf Klosterberg, und liebe es, bisweilen einen Spaziergang an den See zu machen. Herr Graf, ich werde Ihren Grund und Boden nicht wieder betreten!«

Eine Wolke zog über Waldemars Stirn. »Hildegard,« sagte er traurig, »immer noch der alte Stolz –«

»Herr Graf,« erwiderte Hildegard, und ein Zittern lag in ihrer Stimme, »gedenken Sie Ihrer Eltern. Ich mag mich nicht noch einmal von ihnen in meine Sphäre zurückweisen lassen!« Hundegebell schreckte sie plötzlich. Ein Jäger wurde sichtbar und ehe Waldemar sich's versah, war Hildegard eiligen Schrittes entflohen!

Wie sie in den Park gekommen, sie wußte es selbst nicht. Wie ein gehetztes Reh war sie vorwärts geeilt und erst als sie den Graben übersprungen und im gräflichen Park angekommen, sank sie erschöpft auf eine Bank, unfähig weiter zu gehen. Es schien alles in ihr zu stocken, sie rang nach Atem und keuchte laut.

»Um Gotteswillen, Fräulein, wo stecken Sie und was fehlt Ihnen?« rief die alte gutmütige Stimme der Müller. »Die Gräfin wurde besorgt, weil Sie so lange ausblieben, und schickte mich, Sie zu suchen. Wie können Sie auch so unvernünftig sein und zu dieser Jahreszeit so lange im Freien sitzen!« Hiermit nahm sie Hildegard unter den Arm und ging mit ihr dem Schloß zu.

»Nicht zur Gräfin!« stöhnte Hildegard leise.

»Nein, Kind, Sie kommen direkt ins Bett und bekommen eine Tasse Tee zum Schwitzen, das wird für Sie das Beste sein!«

Willenlos ließ Hildegard sich von der Alten entkleiden und zu Bett bringen. Ihr war es am liebsten, jetzt allein zu sein; ihre Erregung war zu mächtig, sie hätte ihrer nicht Herr werden können. Waren denn die jahrelangen Kämpfe gegen ihre Neigung nutzlos gewesen? Fühlte sie nicht denselben mächtigen Zug zu dem Geliebten, der ihr heute so unerwarteterweise nahegetreten? Und mußte sie nicht heute mehr denn je aus vollster Überzeugung ausrufen: »Ein wunderbares Zusammentreffen!« War es nicht als ob Gott selber sein Ja und Amen zu ihrer Verbindung spräche? Aber plötzlich trat die Mutter ihres Geliebten ihr vor Augen, die mit ihr verlebte Szene brannte noch wie Feuer in ihrer Seele. Sie verbarg ihr Gesicht in die Hände und schluchzte leise. »So lange die Eltern dieselben Gesinnungen im Herzen haben gegen mich, soll nichts mich bewegen, mich ihm zu nähern.« Es wurde ihr immer wieder aufs neue klar, daß ihre Liebe hoffnungslos sei. »Meines Bleibens wird nun nicht mehr lange hier sein,« dachte sie traurig, »ich muß seine Nähe fliehen und eine Stellung aufgeben, die mir lieb und teuer geworden!«

Während so die verschiedensten Gedanken und Gefühle auf sie einstürmten, drückte sie das müde, sorgenschwere Haupt tiefer in die Kissen und seufzte laut.

»Nun, Kind, was ist Ihnen passiert?« ließ sich die milde, mütterliche Stimme der Gräfin vernehmen. »Ei, das dürfen Sie mir nicht wieder machen. Wer setzt sich zu Winters Anfang ins Freie und stürmt gewaltsam auf seine Gesundheit ein?« Mit diesen Worten hatte die gute Gräfin sich an Hildegards Bett gesetzt, ihre Hand ergriffen und sah ihr forschend ins gerötete Gesicht. »Sie sind heiß, Sie werden ein tüchtiges Fieber bekommen,« sagte sie unruhig, »was wird morgen aus unserer Gesellschaft?«

»Frau Gräfin, es sollte mir leid tun, wenn ich meine Obliegenheiten nicht erfüllen könnte.«

»Davon ist nicht die Rede, Kind. Sie sind morgen derselben ganz überhoben. Ich habe Mariechen Rothe mit einladen lassen, und so gut, wie dieselbe unser Gast ist, sollen auch Sie daran teilnehmen.«

»Wenn Frau Gräfin mich davon dispensieren möchten,« sagte Hildegard mit flehendem Blick. »Ich passe nicht in die vornehme Gesellschaft!«

»Das Urteil darüber lassen Sie mir, liebe Hildegard. Es freut mich für Sie, daß Sie auch einmal ein kleines Vergnügen haben. Sie sind mir für Ihre jungen Jahre oft zu ernst, und haben doch nichts Schweres erlebt, was Ihnen den Frohsinn trüben könnte!«

»Doch auch manches,« versetzte Hildegard leise, als die Wirtschafterin klopfte, um etwas Notwendiges mit der Gräfin zu sprechen wegen des morgenden Tages. So lächelte die Gräfin nur und sagte: »Kleine Schwermütige, bleiben Sie nur heute abend liegen und schwitzen Sie, dann ist morgen hoffentlich alles wieder gut, und Sie sind wieder frisch und fröhlich!« – Mit diesen Worten ging sie und überließ Hildegard ihren eigenen Gedanken.

»Frisch und fröhlich! Ja, wenn ich das sein könnte. Dazu habe ich doch zu viel Bitteres erlebt. Und vergnügt wollte ich am morgenden Abend ja gern sein, wenn nur Graf Horst ein Fremder wäre, nur nicht gerade er – mein Waldemar – mein einzig Geliebter!«

Was würde Waldemar darum gegeben haben, hätte er dies aus Hildegards Munde vernommen, statt des stolzen abwehrenden: »Herr Graf, ich werde Ihren Grund und Boden nicht wieder betreten.«

Hildegard dachte weiter: Hatte sie ihn abermals gekränkt mit ihrem leidigen Stolz? Nun, dann würde er sie vielleicht gar nicht beachten und das würde ihre gerechte Strafe sein. Und doch er – der Held des Tages, um den sich alles drehte – wie nahe stand er ihr! Wenn das ihre alte gute Gräfin ahnte! Doch nein, sie sollte es nie erfahren, sie würde ja staunen, daß ihre Gesellschafterin sich so hoch vermessen, einen Grafen zu lieben. So sann und grübelte Hildegard, bis der Kopf sie schmerzte. Dann wieder bat sie Gott, ihr doch den bösen Hochmut aus dem Herzen zu reißen, sie demütig und klein zu machen, ihr die Neigung zu einem Manne, zu dem sie die Blicke nicht erheben dürfe, ganz zu nehmen, ihr Herz stille zu machen. Und im Gebet fand sie Frieden für ihre Seele. Wie ein müdes Kind legte sie den Kopf in die Kissen und endlich schlief sie sanft und fest. Sie merkte nicht, wie die alte Gräfin noch abends spät an ihrem Lager stand und sie liebevoll betrachtete.

»Ich glaube, wir können ruhig sein, Müllern,« wandte sie sich zu ihrer Begleiterin, »der Atem geht ruhig und regelmäßig, auch scheint sich etwas Schweiß einzustellen, die Stirn ist feucht. Aber bleiben Sie die Nacht in der Nähe, es ist mir lieber!«

»Das versteht sich,« erwiderte die alte Kastellanin leise. »Ich werde Fräulein Hildegard nicht hier oben allein lassen, dazu habe ich sie viel zu lieb. Gnädigste Gräfin, Sie können froh sein, daß Sie das Fräulein da haben. Sie hat etwas Apartes und paßt zu Ihnen.«

Die Gräfin seufzte und sagte: »Ja freilich. Aber Müllern, die Kinder! die Kinder! die fehlen mir, wo ich geh und steh!« Sie legte die Hand vor die Augen und verließ hastig das Zimmer. Die alte Kastellanin sah ihr wehmütig nach. »Glaub's schon,« sagte sie leise vor sich hin, »das nagt wie ein Wurm an ihrem Herzen, und um so mehr, je weniger sie sich ausspricht.«

Mit diesen Worten machte sie sich in Hildegards Stube ein bequemes Lager zurecht und strickte eifrig, von Zeit zu Zeit ihren Liebling beobachtend. Dann und wann schüttelte sie den Kopf und murmelte leise vor sich hin: »Jugend hat keine Tugend. Wie kann sich die Kleine zu dieser Jahreszeit, wo man froh ist, hinter dem Ofen ein warmes Plätzchen zu haben, draußen auf die kalte Bank setzen und träumen! Gott sei Dank, daß ich kam und sie fand. Sie hätte den Tod davon haben können. Na, wenn sie nur morgen wieder frisch ist, da will ich sie schön herausputzen, wie ein richtiges Herrschaftskind. Gesicht und Manieren hat sie dazu!« –

Das Fest war vorüber und wir treffen Hildegard am Morgen darauf in ihrem Zimmer. In ihre Augen war kein Schlaf gekommen, darum sah sie bleich und abgespannt aus, und ein bitterer Zug spielte um ihre Lippen. Sie ließ den gestrigen Tag noch einmal an sich vorüberziehen. Wie frisch war sie am vorigen Morgen nach dem erquickenden Schlaf aufgewacht. Der schwere Druck, der auf Herz und Gemüt lastete, war ihr abgenommen, alle Sorgen waren mit der Nacht entflohen und sie sah alles im rosigen Licht der Tageshelle. Die Gräfin hatte sie mit den Worten begrüßt: »Nun, meine liebe Hildegard, das Aussehen ist ja wieder gut, wie freue ich mich!« Und der alte Graf hatte lächelnd mit dem Finger gedroht und gerufen: »Warten Sie, Fräulein, ich werde alle Bänke im Park fortnehmen lassen, damit Sie mir nicht wieder solche Streiche machen.«

Dann war sie an ihr Tagewerk gegangen, überall tätig eingreifend, wo ihre Hilfe angebracht war. So hatte sie nicht viel Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Am Abend waren die Gesellschaftsräume nach langer Zeit wieder geöffnet und hell erleuchtet. Diener eilten geschäftig hin und her, dieser silberne Armleuchter tragend, jener die Blumen ordnend, einige mit Aufstellung von Büfetts beschäftigt, bis heranrollende Wagen das Nahen der Gäste verkündeten, was ihre Tätigkeit nach dieser Seite hin in Anspruch nahm. Hildegard ging auf Wunsch der Gräfin weiß, als einzigen Schmuck trug sie eine halberschlossene, rote Kamelie im schwarzen Haar. Auch diese hätte sie am liebsten weggelassen, wenn nicht die alte Müller energisch ihren Willen durchgesetzt hätte. Sie hatte mit sorgfältiger, geschickter Hand die Blume in Hildegards Haar befestigt, sich dann vor sie hingestellt, sie liebevoll angeblickt und gesagt: »Ganz wie unsere selige Komtesse.«

»Lassen Sie das!« hatte Hildegard geantwortet. Was half es auch, daß sie immer mit einer Komtesse verglichen wurde, während sie es doch nicht war.

Waldemar hatte sich ihr nicht genähert, das konnte ihr ja nur lieb sein. Sie war dadurch einer peinlichen Szene überhoben, vor der sie sich den ganzen Tag gefürchtet. O, wer so naiv und unbefangen sein könnte wie Mariechen! Kaum hatte Graf Horst den Saal betreten, die Dame des Hauses begrüßt und sich nach rechts und links verbeugt, so flog Mariechen auf ihn zu, streckte ihm beide Hände entgegen und jubelte: »Herr von Buchwald, Sie hier? Das ist ja wunderschön!« Alles schwieg betroffen; Mariechen hatte wohl einen groben Verstoß gegen die Etikette begangen, aber ihre gerade, frische Natur zeigte sich einmal wieder in ihrer ganzen Unbefangenheit. Waldemar lächelte auch fröhlich und erwiderte die unverhoffte, herzliche Begrüßung so warm und aufrichtig, daß Mariechen auf einmal in aller Ansehen stieg. Denn wer mit Graf Horst auf so vertraulichem Fuße stand, mußte doch etwas zu bedeuten haben. »Wer ist die reizende Blondine?« hörte man durch die Reihen flüstern, während sie unbeirrt eine Frage nach der andern an den lieben Herrn von Buchwald richtete. Erst als er lächelnd sagte: »Hier nennt man mich Graf Horst.« prallte sie einen Schritt zurück und sagte ganz erschrocken: »Sie sind der Erbe von – Horst, der heute hier gefeiert wird? Das wußte ich nicht; verzeihen Sie, daß ich so ungeniert auf Sie zukam.« Mit diesen Worten reichte sie ihm treuherzig die Hand und er schüttelte sie kräftig mit den Worten: »Es wird sich schon noch ein Plauderstündchen heute abend für uns finden.« Indem sie sich zurückzog, merkte sie, wie die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft auf sie gerichtet war. Sie errötete bis an die Haarwurzeln und sah nach Theodora, die sie mit einem unheilverkündenden Blick maß. Mariechen war aber durch die eben gehabte Überraschung so froh bewegt, daß sie sich gar nichts aus dem gnädigen Fräulein machte. Sie schritt sorglos an ihr vorüber zu Hildegard hin, die in einer Nische verborgen blaß und erregt dastand und versuchte, die Fragen eines jungen, neugierigen Mädchens, so gut sie es vermochte, zu beantworten. Wie gern wäre sie Hildegard um den Hals gefallen und hätte gesagt: »Liebste Hildegard, nun ist ja alles gut!« Da das nicht ging, sah sie sie mit einem verständnisvollen Blick an und drückte ihr leise die Hand. Erst als sie beide einen Augenblick unbeobachtet waren, flüsterte ihr Hildegard zu: »Liebstes Mariechen, verrate mich nicht, erwähne gegen niemand meine frühere Bekanntschaft mit Buchwalds.« Mariechen begriff wohl, warum Hildegard dies wünschte.

Hildegard dachte an den weiteren Verlauf des Abends. Die bunten Bilder, die sich in den Gesellschaftsräumen entfaltet hatten, zogen noch einmal an ihr vorüber. Für sie gab es wenig Erfreuliches. Sie saß am unteren Ende des Tisches, neben einem jungen Leutnant, der fast gar nicht sprach. Hildegard war es ganz recht, nicht zum Sprechen veranlaßt zu werden, umsomehr konnte sie Waldemar, der am obern Ende des Tisches saß, beobachten. Und das fröhliche Mariechen saß richtig ihm gegenüber. Ein junger Baron, der besonderes Wohlgefallen an ihr zu haben schien, hatte sie, auf ihre intime Bekanntschaft mit Graf Horst hin, zu seiner Nachbarin erwählt und hörte mit Interesse zu, wie im Laufe des Abends Jugenderinnerungen aufgefrischt wurden. Wie heiter und naiv wußte das junge Mädchen zu plaudern, sie mußte alles wissen, ob Röschen eine glückliche Braut sei, was ihr Freund Kurt mache usw. Schließlich bat sie den Grafen, doch von seinen Reisen zu erzählen, und nun wußte derselbe so geistreich und interessant vorzutragen, verstand so zu fesseln durch seine Schilderungen des gelobten Landes, Jerusalems und seiner Umgebungen usw., daß die Zeit im Fluge dahineilte. Hildegard saß unten in der Verborgenheit, niemand achtete auf sie, niemand zollte ihr Aufmerksamkeit. Vermißte denn Waldemar sie gar nicht? Hatte er nicht einen freundlichen Blick für sie? Da plötzlich leuchtete ihr Auge auf; bei einer Erinnerung des gestrigen Abends weilte sie gern. Das Souper war vorüber, die Gesellschaft hatte sich in den anstoßenden Räumen verteilt – die älteren Herren spielten Billard und rauchten, die jungen Damen musizierten. Hildegard ging im Speisesaal ab und zu, um die Diener beim Abräumen zu beaufsichtigen – da sah sie, wie Graf Horst mit einem ältern Herrn die verschiedenen Ahnenbilder betrachtete und plötzlich wie gefesselt vor dem Kinderbilde stehen blieb. Er prüfte es lange und eingehend, ebenso das daneben hängende Bild der Komtesse Adelheid. Dann sah er sich plötzlich forschend um, als suche er etwas. Sollte er auch, wie andere, eine entfernte Ähnlichkeit mit ihr gefunden haben? Sollten die Kornblumen Erinnerungen aus alten Zeiten erweckt haben? Der alte Herr schien etwas zu fragen, Waldemars Antwort konnte sie nicht ganz verstehen, sie hörte nur das Wort: »Erinnerung,« sah, wie er noch einmal die Bilder aufmerksam prüfte und dann den Saal verließ.

Wäre Hildegard nicht die stolze Hildegard gewesen, so wäre es ihr jetzt ein leichtes gewesen, sich in den Vordergrund zu stellen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, so entzog sie sich seinen Blicken – – und das war ja auch das Beste!

An dies alles dachte sie, die Gedanken stürmten und wogten in ihr wie die Wellen eines bewegten Meeres! Welch ein trotzig und verzagt Ding ist das Herz, wie schwer zur Ruhe zu bringen. Das kann nur der, dem Wind und Meer gehorsam sind. Möchte er auch zu ihr ein Wort sprechen, daß es heißen möge: »Und siehe, es ward ganz stille!«

Sie weinte leise und betete. Dann stand sie getröstet auf und sah der Sache klar und ruhig ins Angesicht.

»Ich bin ein armes Mädchen, von Waldemars Eltern verachtet, ich will seinem Glück nicht im Wege stehen. ›Er hat mich gestern abend vollständig ignoriert, das ist mir ein Zeichen, daß er die Bekanntschaft nicht erneuern will. Er ist auf dem Punkt, sich zu verloben,‹ schrieb Emma Rothe an Mariechen. Vielleicht vollzieht sich dieser Akt bald und ich kann ruhig in meinem lieben Klosterberg bleiben. Was wird das junge gräfliche Paar sich aus der armen Gesellschafterin bei Hohenecks machen! Und wie leicht ist es in unsern Stellungen, sich unsichtbar zu machen.«

Und nun Hildegard, frisch und fröhlich! Die alte Gräfin liebt kein schwermütiges Gesicht von ihrer Gesellschafterin. Die liebe, alte Gräfin! Wie prächtig sah sie gestern aus in ihrem schweren, grauseidenen Damastkleid und dem weißen, feinen Spitzenhäubchen. Wie edel und imponierend war ihre Erscheinung. Wie gütig und herzgewinnend freundlich hatte sie mit ihren Gästen verkehrt, während der alte Graf ritterlich und weltgewandt die Honneurs gemacht! Ja, sie wollte bei ihnen bleiben, solange sie sie haben mochten, sie wollte treu ihre Pflicht tun und alle dummen Träume über Bord werfen! Und jetzt hatte sie auch gar keine Zeit mehr zum Träumen! Sie warf noch einen Blick zum Fenster hinaus, doch dichter Nebel verhüllte die Aussicht!

»Schadet nicht,« rief sie fröhlich. »Für mich ist ein dichter Schleier gezogen vor Wald, See und Schloßturm; ist ganz recht, ich will nicht mehr davon sehen!«

Mit diesen Worten griff sie zum Schlüsselkörbchen und eilte elastischen Schrittes die Treppe hinunter, um mit kundiger Hand den Frühstückstisch zu ordnen.

 


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