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10. Das Lesekränzchen

Es war in den ersten Tagen des Februars. Emma saß in ihrem Stübchen, mit Schreiben beschäftigt. Jetzt war sie fertig. Sie stand auf und trat ans Fenster. »Soll ich den Brief fortschicken?« fragte sie unschlüssig. Sie sah nachdenklich und ernst in die Winterlandschaft da draußen. Dann bewegte sie leise die Lippen und sagte:

»Das weiß ich fürwahr und lasse
Mir's nicht aus dem Sinne gehn:
Christenkreuz hat seine Maße
Und muß endlich stille stehn.
Wenn der Winter ausgeschneiet,
Tritt der schöne Sommer ein.
Also wird auch nach der Pein,
Wer's erwarten kann, erfreuet.
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb in Ewigkeit.«

Dann schritt sie schnell auf den Tisch zu, als könnte es ihr wieder leid werden, faltete den Brief zusammen, steckte ihn in ein Kuvert, machte zu und adressierte. An wen, wird der Leser später erfahren. Kaum war sie fertig, so rief eine Stimme: »Fräulein Emma, kann ich meinen Kaffee bekommen?« Ein verspäteter Schüler mußte versorgt werden. Die Jungen waren natürlich längst wieder eingerückt, auch Konrad, der eine mehrwöchentliche Erholungszeit im Elternhause gehabt, war wieder da und der allgemeine Gesundheitszustand war ein vortrefflicher.

Als Emma das Wohnzimmer betrat, sah sie Mariechen im eifrigen Gespräch mit der Mama, die ab und zu lächelte und Emma zurief: »Unser Kind hat wieder viel erlebt auf ihrem heutigen Gang in die Stadt.«

»Nun,« sagte Emma gespannt, »was ist denn?«

»Nichts weiter,« sagte die Professorin, »als daß sie in die Pferdebahn gestiegen und das Geld zu Hause gelassen hat, und daß Herr Werner, der in demselben Wagen saß, ihr Retter in der Not geworden ist, indem er für sie bezahlte.«

Emma lachte. »Emma, wie kannst du lachen? Ich wollte, es wäre dir passiert! Es war wirklich ganz furchtbar! Und das Ärgerlichste ist, daß wenn ich je eine Dummheit mache, Herr Werner es merken muß. Ich glaube, er hält mich für sehr unachtsam. Es ist mir doch noch nie etwas bei Tische passiert, und neulich das erste Mal, wo er bei uns zu Mittag aß, mußte ich die Suppenschüssel hinwerfen. Nein, es ist zu arg und doppelt schwer, wenn man nicht einmal Mitleid findet! Wäre nur Wilhelm da. In sein treues Herz könnte ich alle meine Sorgen schütten.« So jammerte das reizende Mariechen und sah dabei so lieblich und hold in ihrem Kummer aus, daß man wenig Mitleid mit dem sechzehnjährigen Knösplein fühlte. Es dauerte auch keine Stunde, so war aller Gram vergessen und man hörte sie am Klavier singen: »Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus.«

»Wenn der Winter ausgeschneiet, tritt der schöne Sommer ein,« summte Emma leise.

»Für die Jugend,« sagte die Tante, auf Mariechen deutend, »ist noch immer Frühling und Sonnenschein. Und kommt ein kleiner Regenschauer, so strahlt die Sonne um so wärmer hervor. Gott erhalte dem Kinde seinen fröhlichen Sinn, sein warmes Herz! – Emma, hast du schon an die Bewirtung für heute abend gedacht?«

»Alles in Ordnung, liebe Tante. Es ist doch das Gewöhnliche: eine Tasse Tee und Gebäck dazu?« Die Tante nickte.

Die Rotheschen Damen sahen an einem Abend der Woche mehrere befreundete und verwandte Damen bei sich, während der Professor denselben mit andern Herren auswärts verlebte. Es wurde geplaudert und gelesen, und dieses Lesekränzchen erfreute sich einer allgemeinen Beliebtheit. Auch heute erschienen die Damen trotz der ungünstigen Witterung vollzählig. Der »Tasso« von Goethe sollte vorgetragen werden, und Käthe mit ihrem lebhaften Geist konnte kaum das Ende der gemütlichen Plaudereien abwarten, da sie nach geistreicher Lektüre verlangte. Emma sah sie heute so eigen an, als sie ihr den Tee reichte. »Emma, was hast du? Es liegt etwas in deinem Blick, was ich nicht verstehe!«

»Alles läßt sich nicht ergründen,« sagte Emma lächelnd.

»Ich wollte, wir läsen jetzt,« flüsterte Käthe.

»Die Damen sind noch lange nicht fertig mit Erzählen. Du mußt dich schon noch gedulden, Käthe!«

»Aber wir werden wieder nicht fertig! Und der Tasso ist so schön!«

»Wirst nicht immer im Leben Goethe lesen können, wenn du Lust hast,« sagte Emma neckend.

»Nun, wer weiß!« antwortete Käthe. »Ich und meine Bücher gehören nun einmal zusammen, und wenn meine Freunde mich verlassen, so bleiben wir meine Bücher!«

»Nimm dich in acht, Käthe,« sagte Emma in mutwilligem Ton. »Wer weiß, ob du dich nicht einmal mit Milchwirtschaft und Viehzucht beschäftigen mußt, anstatt dich in Goethes Tasso zu versenken.«

»Emma,« rief hier Mariechen empört dazwischen, »wie kannst du einer geprüften Lehrerin mit so etwas kommen!«

»Das Schicksal spielt dem Menschen oft wunderlich mit,« entgegnete Emma trocken.

Käthe lachte und meinte, Emma solle keinen Unsinn reden, sondern sich sammeln zu geistreicher Lektüre.

Inzwischen waren denn die älteren Damen auch bereit, mit dem Vorlesen zu beginnen. Im ganzen war es aber wieder einer jener Leseabende, wo wenig gelesen und viel geplaudert wurde. Nichtsdestoweniger fühlte sich jedes Mitglied beim Nachhausegehen höchst befriedigt, es sei denn, daß Käthe dachte, es hätte der Abend noch besser können verwertet werden.

Emma stand später, als alle zur Ruhe gegangen, sinnend in ihrem Stübchen. »Wieder ein vielbewegter Tag!« sagte sie leise vor sich hin. Was sie dachte, mußte sehr ernster Natur sein; ihre Gesichtszüge nahmen einen gewichtigen, fast sorgenvollen Ausdruck an. Dann plötzlich flog ein Lächeln über ihre Züge. »Der Brief ist fort, zurückholen kann ich ihn nicht! Wie Gott will! Ihm sei alles befohlen.«

Am andern Morgen, als Emma etwa um sieben Uhr, nachdem sie den Pensionären den Kaffee gereicht, am Fenster stand, wurde sie durch das Rollen einer Droschke veranlaßt, aus dem Fenster zu sehen. Der Wagen hielt gegenüber. »Wer mag denn dort so zeitig abreisen?« dachte sie. Und neugierig gemacht, blieb sie stehen, um die oder den Abreisenden zu beobachten. Sie brauchte nicht lange zu warten. Ein Koffer wurde gebracht und gleich darauf bestieg ein junges Mädchen, in der Emma sofort Hildegard erkannte, den Wagen, und rollte davon. Minchen, die unten stand, sah traurig und verweint aus und kehrte langsam in das Haus zurück. Warum wurde es Emma so bang und schwer ums Herz? Sie fühlte, die Abreise hatte etwas zu bedeuten. Der Koffer deutete auf längere Abwesenheit. Warum aber war Hildegard nicht gekommen und hatte Abschied genommen?

Seit jenem verhängnisvollen Sylvesterabend hatte sie selten und auch dann nur auf Augenblicke das Rothesche Haus betreten, immer in der Furcht, einen zu treffen, an den sie beständig dachte, der sie aber, wie es schien, vergessen hatte. Waldemar war auffallend wenig bei Professors. Kam er, war er zerstreut oder gab Gründe an, die sein baldiges Aufbrechen bedingten. Hildegard hatte Emma gebeten, ihrer Tante alles zu sagen; und Frau Professor nahm innigen, mütterlichen Anteil an der Sache, konnte sich aber allerdings nicht verhehlen, daß dieselbe ziemlich hoffnungslos sei.

Wir wollen einige Tage zurückgehen und sehen, wie die für Hildegard so wichtige Angelegenheit in Wiesendorf aufgefaßt wurde.

 


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