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8. Einzug in Nienhagen

Ein schwerfälliger Postwagen rumpelte eben durch das Tor einer kleinen norddeutschen Landstadt. Der Postillon setzte sein Horn an den Mund und blies lustig hinein, worauf die Pferde kräftiger anzogen und mit sicherem Instinkt, daß das Ende der Reise gekommen, so lustig trabten, daß die alte Postkutsche bedenklich hin- und herschwankte und die Insassen wider ihren Willen in die Höhe schnellten, wie die Gummibälle. Doch jetzt rasselte die Post auf den Marktplatz und hielt in wenigen Sekunden vor dem Postgebäude. Der Postillon stieg gemächlich vom Bock, öffnete die Wagentür und sagte: »Na nu sind wir da!«

»Gott sei Dank,« rief eine kleine rundliche, ältere Dame. »Lange hätte ich das auch nicht mehr ausgehalten.«

Ein junger Mann, vielleicht hoher Zwanziger, von kräftigem, gedrungenem Bau, mit stillem, ernstem Gesicht, war vor ihr hinausgesprungen und reichte ihr die Hand zum Aussteigen. »Nur sachte, mein Mütterchen, daß du nicht fällst. So – du wärest nun in Sicherheit, nun will ich deine vielen Schachteln, Tücher und Pakete noch herausholen. Wir können von Glück sagen, daß wir die einzigen Passagiere waren, sonst hätte ich nicht gewußt, wo die Sachen unterbringen.«

Er verschwand wieder in den Postwagen und kam so schwer beladen heraus, daß er einigen Jungen, die, die Hände in den Hosentaschen, neugierig um die Post herumstanden, zurief: »Jungs, faßt einmal an und legt die Sachen dort auf die Bank.«

Sie griffen begierig zu, während die alte Dame rief: »Nur nicht meinen Haubenkorb, den trage ich selbst, die Hauben dürfen nicht geschüttelt werden.«

»Aber, Mütterchen, was hast du auch alles mit! Hier dein Plaid, dein Regenmantel, etliche wollene Tücher, hier zwei Taschen, ein Deckelkorb und hier eine Kiste, die ist ja grausam schwer. –«

»Ja, Hermann, wir müssen, wenn wir aufs Land gehen, Vorräte mitnehmen. Du kennst das Leben dort noch nicht. Ist nun alles heraus?«

»Ich glaube ja. O, die ganze Bank ist voll. Der Postmeister, der dort zum Fenster hinaussieht, will sich krank lachen.«

»Was ist dabei,« sagte das Mütterchen, »laß ihn lachen. Doch ich sehe ja keinen Wagen. Wie soll das werden!«

»Da kommt er, mein Mütterchen.«

Ein hübscher Stuhlwagen, mit zwei Braunen bespannt, rasselte über das holprige Pflaster. Der Kutscher, ein schlanker junger Bursche stieg ab, sobald der Wagen hielt, und kam auf die beiden zu. Er zog höflich den Hut und sagte in plattdeutschem Dialekt: »Guten Tag, Herr Pastor, na, ich wollt' Sie holen, ich kann wohl die Sachen gleich aufladen?«

»Guten Tag, Jochen,« sagte der junge Pastor herzlich, ihm die Hand reichend. »Dies ist mein Knecht, Mamachen, und dies ist mein Fuhrwerk – ein Paar schöne Pferde, nicht wahr? Na, Jochen, lade nur die Kisten und Kasten auf, die Koffer müssen wir mit dem Rüstwagen holen lassen. Wir kommen gleich.« Damit zog er seine Mutter in den nahen Gasthof, um mit ihr eine Tasse warmen Kaffee zu trinken, denn war das Wetter für die Jahreszeit auch verhältnismäßig mild, so war es Ende November doch derart, daß eine Erwärmung nach langer Fahrt wohl tat. Der Wirt lief eilfertig hin und her, während sich die Wirtin neugierig dem Tisch näherte und zu der alten, ihr Vertrauen erweckenden Dame sagte: »Gewiß der neue Herr Pastor von Nienhagen.« »Ja, mein Sohn; ich bin auch eine verwitwete Pastorin, habe viele Kinder allein aufgezogen, der Vater ist schon früh gestorben –« »Sieh, so,« sagte die Wirtin, »na, da werden Sie sich freuen, einen nun versorgt zu haben.« »Dies ist der jüngste, die andern sind alle schon angestellt.« Und nun folgte ein treuherziger Bericht von allem, was sie durchgemacht, von ihren eigenen, sowie der Kinder Erlebnissen, so daß die gute Wirtin bei sich dachte: »Das ist 'mal eine nette Frau, solche trifft man nicht alle Tage, die einem alles so ohne Fragen erzählt.« Sie war so gerührt, daß sie ihr freiwillig noch eine Tasse Kaffee holte und sie später knixend und dienernd bis in den Wagen geleitete.

Jetzt saßen sie oben, die Sachen waren alle glücklich untergebracht. Jochen ließ die Peitsche knallen und in raschem Trabe ging es zur entgegengesetzten Seite der Stadt hinaus. Noch eine halbe Stunde Chaussee, dann bogen sie links in einen Landweg ein, auf dem es allerdings langsam vorwärts ging. Weiches, regnerisches Wetter hatte die lehmigen Wege dermaßen eingeweicht, daß sie schwer zu passieren waren. Doch heute regnete es nicht, die Sonne schien freundlich, als wollte sie den jungen Pfarrer begrüßen zum Einzug in die neue Heimat. Er saß still und in sich versunken da, während das gute Mütterchen ihn immer wieder durch diesen oder jenen Ausruf aus seinen Träumen riß. »Dort ein Kirchturm,« rief sie plötzlich, »das ist wohl Nienhagen, Jochen?« – »Ja, dat 's uns' Dörp!«

Die Mutter ergriff des Sohnes Hand und drückte sie innig. »Möge Gott dir einen gesegneten Beruf und viele glückliche Jahre in dieser Gemeinde verleihen!«

»Sein Wille geschehe,« versetzte der junge Pfarrer ernst.

Jetzt ging es in schneller Fahrt dem Pfarrhaus« zu. Das letzte Stück des Weges war besser, nun war das Dorf erreicht. Hie und da guckte verstohlen ein Kopf zu den kleinen Fenstern der Tagelöhnerhäuser heraus; Kinder sah man nicht auf der Straße, aber als der Wagen sich dem Pfarrhof näherte, konnte man die ganze Jugend des Kirchspiels in Festkleidern versammelt finden. Sie stoben schnell auseinander und stellten sich vor dem Pfarrhause auf; der Küster gab das Signal und sobald der Wagen hielt, begann ein feierlicher Gesang. Nach demselben hieß der Küster den Pastor im Namen der Gemeinde willkommen, und der Pastor dankte mit herzlichen Worten. Der guten Mutter waren beim Gesang die Tränen gekommen; sie gedachte der alten Zeiten, der vorigen Jahre, wo ihr seliger Mann mit ihr Einzug in die Pfarre gehalten. Nun zog sie mit dem Sohn ein! Wie viele Jahre des Kummers und der Sorge lagen dazwischen!

Doch immer praktisch, trocknete sie über dem ihr zunächst Obliegenden die Tränen, reichte den Kindern freundlich die Hand und verhieß ihnen, wenn sie eingerichtet, einen guten Kaffee mit Kuchen.

Als sie das Haus betraten, wurden sie von einer sauber gekleideten Frau freundlich und herzlich bewillkommt. Es war die Inspektorin des Gutes, die den Pastor und seine Mutter unter vielem Knixen und Komplimentieren in die wohldurchwärmte Wohnstube führte, wo ein gedeckter Tisch mit allem versehen war, was die müden Reisenden erquicken konnte. Am liebsten wäre die Pastorin mit ihrem Sohn allein gewesen, die gute Inspektorin redete so unaufhörlich von Personen und Sachen, die sie nicht kannten. Doch mußten sie derselben auch wiederum dankbar sein, daß sie sich ihrer in der noch fremden Heimat annahm. Die gute Frau hatte die vorausgeschickten Möbel des Pastors in Empfang genommen und sie nach dessen Angabe aufstellen lassen. So machten seine Stube und die gegenüberliegende Wohnstube schon einen ganz behaglichen Eindruck, obgleich die Mutter meinte: »Bevor Gardinen aufgesteckt seien, gefiele es ihr nicht, das müßte zum Sonnabend alles fertig werden, sie lägen schon sauber geplättet im Koffer.«

Gegen Abend, als die Inspektorin sie verlassen, durchwanderten die beiden das Haus. »Ein schönes, großes Haus, es ist jammerschade, daß du so allein drin wohnst, mein Hermann!«

»Zieh doch zu mir, Mütterchen, da ist mir gleich geholfen!«

»Das geht nicht, dann würdest du nie ans Heiraten denken. Und eine Frau mußt du haben. Ein Pastor auf dem Lande ohne Frau ist nur ein halbes Ding, das mußt du einsehen!«

»Ja, du hast schon recht. Aber mich mag ja keine,« versetzte Hermann trübe.

»Was nützt das Reden darüber!« eiferte das Mütterchen, »komm, wir wollen uns das Haus weiter ansehen. Hier dein Studierzimmer! Es ist lustig und groß. Und daneben deine Schlafstube. Die ist nur klein.« Und indem das Gesicht immer bedenklicher wurde, sagte sie plötzlich: »Ja, die ist für Frau und Kinder entschieden zu klein!«

»Aber, Mütterchen, die sind ja bis jetzt noch gar nicht vorhanden; sorge dich doch nicht immer um unnötige Dinge, du Hast Sorgen genug gehabt im Leben. Es ist ja recht gut, daß ich noch allein bin, ich habe Platz genug. Vorhin sorgtest du, das Haus sei zu groß, nun wieder zu klein – ich denke, es wird gerade so recht sein.«

Das Mütterchen seufzte. Sie kannte ja das Leben nicht ohne Sorgen. Als Kind freilich war sie fröhlich aufgewachsen, in üppigem Wohlstand. Aber in den Ehejahren war's immer knapp hergegangen, und als ihr seliger Mann die Augen zugetan, da mußte sie von früh bis spät in die Nacht hinein schaffen und arbeiten, und wenn sie sich auch immer das Gotteswort: »Sorget nicht« vorhielt, so kamen die Sorgen doch ungeheißen, so daß sie sich jetzt gar nicht in ein Leben ohne Sorgen hineindenken konnte.

Es gab bis zum Sonntag viel zu tun. Als aber Samstag abend alles sauber und geordnet war und der letzte Vorhang aufgesteckt, da legte sie feiernd die Hände in den Schoß und lauschte andächtig den Glocken, die den ersten Advent einläuteten. Der junge Pastor saß am Pult in seiner Studierstube, die Predigt memorierend. Auch er faltete jetzt die Hände und bewegte leise die Lippen: »Herr, lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen, dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn! Herr hilf, daß ich als ein treuer Knecht in deinem Dienst erfunden werde!«

Und am andern Morgen ertönte es freudig von seinen Lippen vor versammelter Gemeinde: »Hosianna in der Höh'! Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn!« Er zeugte von dem Heil, das gekommen. Das wollte er seiner Gemeinde jetzt und immerdar verkünden. Dieselbe war sichtlich ergriffen.

Während das Mütterchen sich nun in den kommenden Wochen des Hauswesens annahm, war der junge Mann viel außer Hause. Er besuchte jedes Gemeindeglied, nicht nur im Kirchdorf, sondern auch in den eingepfarrten Orten. Den Kranken sprach er Trost und Frieden ins Herz, die Alten wies er hin auf das Ende ihrer Pilgrimschaft, die Gesunden ermahnte er, bei ihrer täglichen Berufsarbeit auch des himmlischen, ewigen Berufes nicht zu vergessen, gegen die Kinder war er freundlich und liebreich, so daß er sich bald aller Herzen gewann.

So rückte Weihnachten heran und Mutter und Sohn freuten sich auf die Ankunft Klaras, die, mit Stundengeben in der Stadt beschäftigt, nur in den Ferien abkommen konnte.

»Das sage ich dir aber, Hermann,« sagte die Mutter, »nach Weihnachten kehre ich mit Klara in die Stadt zurück, ich kann doch das Kind nicht immer allein lassen. Und dann, offen gestanden, die Landwirtschaft, die mit der Pfarre verbunden ist, wird mir auch etwas sauer. Ich alte Frau tauge nicht mehr dazu, die Knechte und Mägde zu inspizieren, mit dem Milchwesen weiß ich auch nicht mehr Bescheid, hier muß eine tüchtige Wirtschafterin her oder eine Frau, die die Wirtschaft versteht.«

Hermann seufzte. Er fühlte es ja selbst, daß es auf die Dauer nicht so würde gehen können, doch graute ihm vor einer Wirtschafterin und vor dem Heiraten erst recht. Er sagte also kurz: »Mutter, wenn du dich bemühen willst um eine ältere Dame, die der Wirtschaft vorstehen kann, werde ich dir dankbar sein. Und nun wollen wir uns die schönen Festtage nicht mit Wirtschaftssorgen verbittern, sondern uns auf Weihnachten und auf Klärchen freuen.«

Als letztere nun am folgenden Tage in den Pfarrhof einfuhr und Mutter und Bruder sie fröhlich an der Haustür begrüßten, da war die Freude groß und des Erzählens gab es kein Ende. »Ich habe von allen Geschwistern Briefe,« berichtete Klärchen, »auch verschiedene Kisten sind eingetroffen. Die gute Emma schickt die größte, sie hat wieder für alle gearbeitet, aber der Brief ist kurz und flüchtig. Einer der Pensionäre ist am Scharlach erkrankt, und da gibt es natürlich viel zu tun.«

»Die armen Verwandten,« sagte Hermann. »Die Ferienzeit ist immer Ruhe und Erholungszeit für sie, und nun haben sie statt dessen Krankenpflege!«

»Ob denn Mariechen schon Scharlach gehabt,« meinte die Mutter, »und Wilhelm, sonst könnte letzterer ja gar nicht zum Besuch kommen! Nun, Emma wird wohl bald darüber berichten, sie ist ja immer eine treue Korrespondentin!«

»Gleich nach dem Fest, schreibt sie, will sie uns ausführlichere Nachricht zukommen lassen, sie ist jetzt natürlich durch so vielerlei in Anspruch genommen. Aber nun zeigt mir Haus und Garten und alles, was dazu gehört, ich bin schon durch Jochens Erzählungen neugierig geworden.« –

Das schöne Weihnachtsfest war vorüber. Unsere drei Pfarrersleute hatten es still und friedevoll gefeiert. Hermann und Klara hatten den Christbaum geschmückt und den Tisch für die Kinder gedeckt, während Mütterchen einen Tisch für arme Leute ordnete. Und nun, als es kaum dunkelte, kamen die kleinen Füßchen getrippelt und warteten leise und mit Spannung, bis die Tür sich ihnen auftat. Als dieser Augenblick kam und heller Lichterglanz ihnen entgegenstrahlte – da waren sie erst ganz geblendet, aber bald ertönte das: »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit« so hell und freudig von ihren Lippen, daß auch unsere Pfarrersleute einstimmten und sogar Jochen, der sich besann, daß er das Lied als Junge auch gesungen, leise mitbrummte. Darauf hatte der Pastor das Weihnachtsevangelium gelesen und noch einige herzliche Worte an die Kinder gesprochen, worauf dieselben, von Mutter und Tochter an ihre Plätze geführt, strahlenden Angesichts ihre Gaben in Empfang genommen hatten.

Die Schule, die beim Empfang des Pastors gesungen, war an einem der folgenden Tage mit Kaffee und Kuchen bewirtet worden; eben war die kleine Schar abgewandert und Mutter und Tochter waren noch fröhlich belebt von dem vergnüglichen Nachmittag, als Hermann hereintrat mit den Worten:

»Ratet, was ich habe! Einen dicken Brief von Emma, natürlich doppelt! Ohne das tut sie's nicht!«

»O wie schön,« rief die Mutter erfreut. »Nun hören wir doch endlich Genaues aus D. Klärchen, lies doch vor!«

Klara entfaltete den langen Brief und las, wie acht Tage vor Weihnachten beim Pensionär Konrad Scharlach ausgebrochen war, welche Aufregung durch die dadurch beschleunigte Abreise der übrigen Pensionäre entstanden, wie Emma und die Verwandten dann aber doch, abgesperrt von der Außenwelt, ein stilles und gesegnetes Fest gefeiert mit dem Kranken, dessen Bett am heiligen Abend in die Weihnachtsstube getragen worden usw.

»Es ist nur gut,« sagte Klärchen, den Brief zusammenfaltend, »daß Emma trotz aller Widerwärtigkeiten den Kopf immer oben behält –«

»Und« – fiel Hermann ein – »immer schreibselig ist. Denn sonst würden wir von den Dresdner Verwandten wenig oder gar nichts hören.«

»Es ist zu schade, daß der einzige Bruder eures seligen Vaters so entfernt von uns wohnt. Wir würden uns ganz fremd werden, wenn nicht Emma als Bindeglied dazwischen wäre. Ich kann sagen, ich möchte wohl das sechzehnjährige Mariechen einmal sehen. Sie muß nach Emmas Beschreibung reizend sein!« sagte das Mütterchen.

»Und ich,« rief Hermann, »möchte Wilhelm einmal wiedersehen. Damals, als ich als Student viel in Onkels Hause verkehrte, war Wilhelm noch ein kleiner Bube, aber Schach spielen konnte er wie ein Alter, wir haben manches Partiechen zusammen gemacht. Ich werde ihn einladen, mich hier zu besuchen, damit es mir nicht zu einsam wird, wenn ihr mich verlassen habt.« So plauderten die Nienhäger von den Verwandten in der Residenz, und während wir sie gemütlich zusammensitzend verlassen, wollen wir sehen, was sich unterdes im Rotheschen Hause ereignet.

 


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