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Vor dem Bezirksgericht gab es ein paar spärliche Anlagen mit Baumgruppen und Sitzbänken zu beiden Seiten des Weges. Auf eine dieser Bänke, die abseits zwischen Sträuchern stand, schritt Toni zu.
»Willst du mir jetzt erklären, was dein Benehmen eigentlich zu bedeuten hat?« fragte sie dann, den vor ihr stehenden Mann scharf musternd.
»Was soll dieser inquisitorische Ton?« lautete die ärgerliche Antwort. »Du tust ja gerade, als hätte ich dich wer weiß wie schwer beleidigt, wo ich doch nur aus Rücksicht auf dich ... ich weiß wirklich nicht, was du dir denkst, Toni! Ich glaube, mein Benehmen ist in Anbetracht der Lage, in der du dich befindest, gerade taktvoll! Du bist in tiefer Trauer, dein Bruder steht unter schwerem Verdacht –«
»Mir nicht! Niemand kann tiefer bedauern als ich, daß Berta sich im ersten Schreck zu unbedachten Worten hinreißen ließ!«
»Und darum verleugnest du auch mich!«
»Verleugnen! Wer sagt das? Ich habe nur die Empfindung, daß jetzt nicht der Zeitpunkt ist ...«
Er stockte, nahm den Hut ab und trocknete sich mit dem Taschentuch die Schweißperlen, die ihm auf der Stirn standen.
»Warum sprichst du nicht weiter?«
»Weil ich dachte, du würdest mich auch ohne Worte verstehen! Sieh, Toni ...«
»Ich sehe nur eines, daß du vergessen hast, wie wir vor dem Unglück zueinander standen! Damals nanntest du mich heimlich deine Braut und erklärtest mir, es nur darum nicht öffentlich tun zu können, weil wir, solange mein Vater lebe, nicht die Mittel besäßen, uns selbständig zu machen. Jetzt, wo dies in absehbarer Zeit möglich wäre, stehst du mir wie ein Fremder gegenüber! Schon beim Leichenbegängnis habe ich es gefühlt, und dann jeden Tag deutlicher bis heute. Du hast dich weder um meinen Schmerz gekümmert noch wo ich blieb, noch hast du mir heute, als uns der Zufall zusammenführte, ein freundliches Wort gesagt!«
»Ich vermied es der Leute wegen. Was sollten sie denken, wenn ...«
Er trocknete sich abermals den Schweiß von der Stirn. Dabei beirrte ihn ihr hohnvoller Blick, der sich förmlich in sein Gesicht bohrte.
»Warum siehst du mich so an, Toni?«
»Weil es mich interessiert, wie rasch aus einem Ehrenmann ein – Schuft werden kann!«
»Bah, laß das! Ich habe dich doch gleich richtig verstanden. Du willst von mir nichts mehr wissen, seit Andres und Justina eingesperrt wurden. Die Schwester des Mannes, der vielleicht bald verurteilt werden wird, ist keine passende Frau mehr für den hochangesehenen Herrn Geschäftsleiter der ›Sonne‹, nicht wahr? So meinst du doch?«
»Nein. Du tust mir unrecht«, stammelte er, ohne sie anzusehen. »Es gibt andere Gründe ... und überhaupt, wenn du mir nur Zeit lassen wolltest ... ich meinte ja nur, jetzt sei nicht der Zeitpunkt, über solche Dinge zu reden – aber später vielleicht – man muß ja doch erst abwarten ...«
Über Toni Maibachs Gesicht zuckte ein verächtliches Lächeln.
»Gib dir keine Mühe! Selbst wenn du noch wolltest – für mich gibt es nun nichts mehr abzuwarten! Aber wenn die ewige Gerechtigkeit kein leerer Wahn ist, dann wird sie dir diese Stunden heimzahlen!«
Ohne Gruß wandte sie ihm den Rücken und entfernte sich.
Wollte er sie zurückrufen?
Wieder fuhr er sich über die Stirn.
»Nein – nein«, murmelte er, »ich kann nicht anders – es ist unmöglich –«
Und doch hatte er sie einst leidenschaftlich geliebt – damals, als er in die Fremde ging und sie ein kaum der Schule entwachsenes Mädchen war. Ein gut Teil davon war wieder in ihm aufgeloht, als er, heimkehrend, sie als Witwe wiederfand.
Sie hatte recht: Es war nur der Geiz des Alten gewesen, der sein Geld nicht aus der Hand geben wollte, was sie gehindert hatte, längst ein Paar zu werden. Nun hätte es ja sein können. Aber wäre er nicht, von allem anderen abgesehen, ein Tor gewesen, mit Tonis mäßigem Erbteil irgendwo von klein auf anzufangen, wo er hier in der »Sonne« nun fast der Herr war? Die Stellung, zu der er sich jetzt durch die günstigen Ereignisse aufgeschwungen hatte, konnte sie ihm doch nie verschaffen.
Als Frau Berta herabkam, fand sie ihn bereits wieder ruhig.
Frau Toni wanderte inzwischen auf abgelegenen Feldwegen dahin. Sie fühlte sich noch erregt von all dem Grimm und der Verachtung, die in ihr tobten, und wollte sich erst ein wenig beruhigen, ehe sie den Brintnerhof aufsuchte, um ihre Habe zusammenzupacken. Denn soviel stand nun fest: In Kalkreut mochte sie nicht mehr bleiben. Sie wollte ganz zu der Patin in Oberndorf übersiedeln.
Plötzlich stutzte sie und blickte scharf nach einem Feldrain hinüber, wo sich zwischen Haselbüschen ein dunkles Etwas bewegte. Dort war ein Mensch! Und ein sonderbarer dazu, denn er fuchtelte mit seinen langen Armen so merkwürdig am Boden herum, daß sich Toni gar nicht erklären konnte, was er machte.
War er närrisch? Hatte er die Fallsucht? Oder bemühte er sich, irgend etwas zu fangen?
Vorsichtig schlich sie näher. Da sah sie nun bald: Der ungeschlachte Mensch mit den langen Armen und dem großen Kopf lag am Rand eines schmalen, tiefen Bächleins und fing mit den bloßen Händen Grundeln und junge Forellen heraus, wobei er eine affenartige Behendigkeit entwickelte.
Links von ihm standen ein paar alte, zerschlissene Röhrenstiefel, rechts lag zwischen Steinen ein Häuflein Glut, in die er die Fische, so wie er sie fing, warf, ohne sich erst die Mühe zu geben, sie auszunehmen.
Toni stand ganz still und sah ihm eine Weile zu. Er kam ihr bekannt vor, aber sie wußte nicht gleich, wer er war.
Nun wandte er sich vom Wasser ab der Glut zu und riß die halbgaren Fische aus der Asche. Samt Gräten und Eingeweiden begann er sie zu verschlingen. Dabei grinste er ordentlich vor Behagen. Zuletzt kam ein Stück Brot aus seiner Tasche zum Vorschein, das er genauso gierig verschlang wie vorhin seinen Fang.
Dabei liebäugelte er fortwährend mit den rostbraunen, steifen Röhrenstiefeln, grinste sie an, strich liebkosend über sie hin und nahm sie endlich, leise kichernd, in seine Arme, wie Wickelkinder.
»Was tut Ihr denn eigentlich da mit den Stiefeln?« fragte Toni plötzlich verwundert und trat näher.
Wenn sie ein Gespenst gewesen wäre, der Knotzen-Lipp hätte nicht furchtbarer erschrecken können.
Er überkugelte sich förmlich vor Schreck, schrie laut auf und fuhr dann, an allen Gliedern zitternd, mit den nackten Füßen in seine Stiefel, um im nächsten Augenblick schon, querfeldein Reißaus nehmend, als wäre der Satan hinter ihm, zu verschwinden.
Kopfschüttelnd blickte ihm Toni nach.
Der mußte wirklich nicht recht gescheit sein!
Der Knotzen-Lipp lief und lief, ohne sich umzusehen, bis in den Wald, wo er sich im dichten Jungholz verkroch. Erst als es dunkel wurde, wagte er sich wieder hervor und schlich nun kleinlaut seinem Heim zu.
Trotz der verspeisten Fische quälte ihn der Hunger. Wenn die Tagelöhnersleute, bei denen er wohnte, noch nicht zu Hause wären und er ein Brett vom Ziegenstall lockern könnte! Die Ziege mußte jetzt am Abend Milch haben, und wenn er ein paar Züge voll trank, würde es die Steinerin gar nicht merken.
Dieser Gedanke, der ihm soeben gekommen war, beschleunigte seine Schritte.
Als er aber in den Bachweg einbog, ließ er enttäuscht den Kopf hängen. Aus dem windschiefen Schornstein der Hütte quoll Rauch. Die Steinerschen waren also schon daheim.
Eintretend sah er den Mann auf seinem Bett liegen, das Weib am Herd stehen und in einem Topf rühren.
Ein Duft von Speck und gebratenen Zwiebeln erfüllte den kleinen, niedrigen Raum, der Schlafstube und Küche zugleich war.
Lipp war auf der Schwelle stehengeblieben und sog ihn gierig ein. Dabei verfolgten seine unstet funkelnden Augen jede Bewegung der Frau am Herd.
»Was kochst denn, Steinerin?« fragte er so geschmeidig wie möglich, in der Hoffnung, sie werde ihn vielleicht auffordern, mitzuessen.
»Bohnen mit Speck und Zwiebeln.«
»So was Gutes!«
»Ja, freilich! Und der Lipp könnte jetzt mitessen, wenn er tagsüber gearbeitet hätte und einen Sechser von seinem Lohn hergeben könnte dafür. Aber wenn einer halt nicht arbeiten will –«
»Ich brauch' nimmer zu arbeiten«, murrte der Bursche, in dem Zorn und Enttäuschung aufstiegen.
»So? Hast du vielleicht in der Lotterie gewonnen?«
»Nein. Aber ... ein Erspartes hab' ich, ja!«
»Du? Ist's die Möglichkeit? Wann hättest denn du dir was ersparen können?«
»Das geht niemand etwas an.«
»Aber geh!« spottete die Tagelöhnerin und schüttete die Bohnen in eine Schüssel. »Mußt mich nicht für gar so dumm halten! Seit vierzehn Tagen rührst keine Arbeit mehr an, und der Hunger schaut dir nur so zum Gesicht heraus.«
»Ich hab' keinen Hunger! Aber Geld hab' ich, ja!« Dabei warf er sich patzig in die Brust, knickte aber schon im nächsten Augenblick erschrocken zusammen unter dem erstaunt fragenden Blick Steiners, der sich vom Bett aufgerichtet hatte und ihn forschend ansah.
»Nicht wahr ist's!« rief Lipp eilig und verschwand in seinem Bretterverschlag, der nichts enthielt als ein Lager von Stroh, eine alte Kiste und einen wackligen Stuhl.
Das Ehepaar sah sich kopfschüttelnd an und setzte sich dann zum Essen an den Tisch.
Dabei sagte die Frau leise: »Ich kann mir halt nicht helfen, mit dem Burschen ist etwas nicht richtig! Ein richtiger Mensch wie andere war er ja nie, aber so verloren und verdreht wie jetzt doch auch nicht. Und immer redet er von Geld ...«
»Ach was«, meinte der Mann, »wenn er welches hätte, würde er doch zuerst ans Essen denken, denn das ist bei dem die Hauptsache.«
»Kann er's nicht gestohlen haben und sich jetzt nicht getrauen, es auszugeben? Ich lasse mir's nicht nehmen, mit dem Burschen ist etwas nicht in Ordnung!«
Nach einer Weile begann die Frau abermals flüsternd: »Und noch eins kommt mir verdächtig vor am Lipp. Hast nicht bemerkt, was er für ein Getue mit seinen Stiefeln hat? Früher ist er immer barfuß gegangen. Jetzt läßt er sie keinen Augenblick von sich. Wie wenn er auf einmal einen Schatz drin hätte!«
»Das ist wahr ... aber –«
»Ich gäbe was drum, wenn ich sie mir einmal heimlich anschauen könnte! Wer weiß, was man darin finden würde?«
Da öffnete sich die Tür von Lipps Verschlag und er huschte, nur mit Hemd und Hose bekleidet, heraus, dem Hüttenausgang zu.
»Wo willst du denn noch hin, Lipp?« fragte die Tagelöhnerin.
»Ich? Ah, nichts, ich komme gleich wieder«, damit war er schon vorüber ins Freie hinausgeschlüpft.
»Barfuß war er – jetzt hättest gleich eine Gelegenheit, ich achte auf die Tür inzwischen.«
Der Mann stand auf und trat unter die Hüttentür, während die Steinerin in den Verschlag huschte.
»Achtung! Er kommt schon!« tönte dann wenige Minuten später sein Warnruf von der Tür her. Die Steinerin erschien wieder in der Stube. Sie war totenblaß. Stumm ließen beide den Knotzen-Lipp an sich vorüber.
Als er in seinem Verschlag verschwunden war, drängte sich die Frau dicht an ihren Mann heran und flüsterte erregt: »Na, was habe ich gesagt? Einen ganzen Schüppel Geldscheine hat er drin, in Fetzen eingewickelt. Und jetzt weiß ich auch, woher er sie hat! Jakob – der hat den alten Brintner umgebracht!«
Der Mann prallte zurück.
»Aber Lisi – das wird doch nicht sein? Nein, nein – so was –«
»Er hat's getan, sag' ich dir! Und jetzt mach', daß du es anzeigst, sonst kommen wir auch noch hinein wegen Mitschuld und Hehlerei!«
Da eilte er zur Hütte hinaus und schritt hastig von dannen.
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