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Dritter Akt

Korridor im Hotel zur schönen Aussicht.

Im Hintergrunde sieben schmale Türen. Von links nach rechts: Zimmer Nummer neun, zehn, elf, zwölf, zwölf a, vierzehn, fünfzehn.
Nacht.
Lampenlicht.

Strasser tritt rasch aus dem Zimmer zwölf und eilt zu fünfzehn; zögert einen Augenblick; klopft an die Türe.

Müller  in Hemdsärmeln und ohne Kragen, die Hosenträger hängen ihm hinten herab, reißt die Tür auf: Herein! Er erblickt Strasser. Schon wieder! Na was denn, was denn?

Strasser  scharf, erregt: Herr Müller! Ich fordere, aufgeklärt zu werden!

Müller Fragen Sie Papa und Mama!

Strasser Keine Witzelei! Die Sache ist zu ernst!

Müller Wollen Sie mich auf die Toilette bitten?

Strasser Sollten Sie mich zwingen –

Müller unterbricht ihn: Ich gehe nie auf die Toilette, ich bleibe bei meiner Behauptung! Ich wiederhole: ich habe die Dame im Tabarin gesehen, gehört, gefühlt, gekannt, sie ist mir auf diesem Schoß gesessen, sie hat mir dieses Kinn gekrault, sie hat und so weiter. Ich habe nämlich keine Angst vor Ihrer Toilette, verstanden? Na gute Nacht!

Strasser Halt! – Als Ehrenmann sind Sie zum Beweis verpflichtet.

Müller Abwarten!

Strasser Ich warte nicht!

Müller Ich auch nicht! Bezahlen Sie den Sekt! Schluß! Er schlägt die Tür zu; ab.

Strasser  allein; gequält: Das nennt sich Gottes Ebenbild –

Max in Segelmütze und kurzem hellen Mantel über den Track, in der Hand eine abgeschabte Reisetasche, kommt aus Zimmer neun; tritt, ohne Strasser zu beachten, zu zwölf a und klopft leise an.

Strasser mit dem Rücken zu Max; hört es; lauscht.

Max  unterdrückt erregt durch die Türe: Christine – Christine, Christine – Christine!

Strasser  hat sich ihm zugewandt: Was klopfst du dort?

Max  setzt sich zerknirscht auf seinen Koffer: Ich klopfe, ich klopfe, ich klopfe. Und sie hört nicht, sie hört nicht, sie hört nicht. Er vergräbt das Haupt in den Händen; seufzt. Ich habe geklopft. Ich habe schon oft geklopft.

Strasser Du wirst bald ausgeklopft haben.

Max Sie wird mich erhören.

Strasser Du bist wohl noch besoffen?

Max Apropos besoffen: ich habe das Gefühl, als hätte ich meine Schuhe verloren – kennst du das Gefühl?

Strasser grimmig: Apropos Gefühl: weißt du, was ich jetzt am liebsten tun würde?

Max Das habe ich heute schon einmal gehört.

Strasser Auch gefühlt?

Max Still! – Es geht nämlich um in mir. Wenn man nur in sich hineinsehen könnte. Apropos hineinsehen: da drinnen ist es still. Er deutet auf zwölf a; leise. Apropos still: Stille kann unheimlich werden. Damals hat sich auch nichts gerührt, allerdings drei Tage lang – Damals: jener mit den Krücken.

Strasser Kusch!

Stille.

Max Apropos Krücken: man sollte doch eigentlich nachsehen, es ist nämlich eigentümlich –

Strasser  unterbricht ihn: Apropos eigentümlich: was soll der Koffer?

Max Apropos Koffer: ich nehme meinen Abschied.

Strasser perplex: Was?

Max  erhebt sich; nervös: Apropos Abschied: ich muß nämlich fort. Dringende Familienangelegenheiten. Fünf Uhr sieben.

Strasser Fünf Uhr sieben?

Max Sollten der Direktion durch meine überstürzte Abreise Unkosten erwachsen, bin ich selbstverständlich bereit, für selbe aufzukommen.

Strasser Mit was denn?

Max Hoho! Unberufen! Unberufen!

Karl  tritt aus zehn in goldbestickter Paradeuniform mit Handschuhen; zu Max: Ruhe!

Max  zu Strasser: Hörst du?

Karl  zu Max: Halt das Maul! – Hast wieder gewinselt ›Christine, Christine‹? Hast wieder an der Tür gescharrt, wie ein Hund, den man ins Sauwetter prügelte? ›Christine, Christine!‹

Max  zu Strasser: Wer ist dieser Herr?

Karl Du kennst mich noch nicht, Leisetreter. Schleimer. Hund.

Max  zu Strasser: Bitte, stelle mir diesen Herrn vor.

Karl  zu Max; deutet auf Strasser: Dieser Herr und ich, wir kennen uns nicht!

Max Seit wann?

Strasser Seit zwo Stunden.

Max Das ist aber lustig!

Karl Hahaha!

Strasser Dieser Herr besitzt die Schamlosigkeit, zu behaupten, vor einem Jahre mit der Dame von Nummer zwölf a in intime Beziehungen geraten zu sein.

Max Zwölf a!

Karl Dieser Herr besitzt die Schamlosigkeit, an meinem Ehrenworte zu zweifeln.

Max Hm. – Vielleicht sagt er die Wahrheit.

Karl Wer?

Max Apropos Ehrenwort: irren ist menschlich. Ich, zum Beispiel, hätte die Dame von Nummer zwölf a kaum wiedererkannt, und es ist doch erst ein Jahr dahinverflossen –

Emanuel  tritt aus vierzehn; mit einem nassen Handtuch auf der Stirne: Pardon! – Würden die Herren so freundlich sein und mir verraten, wie spät, respektive früh – meine Uhr ist plötzlich kaputt, scheinbar.

Karl Wir haben keine Uhr!

Max Uns fehlt jetzt jeder Sinn für Zeit.

Emanuel Ich verreise nämlich fünf Uhr sieben.

Max Mit der Dame von zwölf a?

Stille.

Strasser Es ist Mitternacht, Baron.

Karl Und Vollmond!

Emanuel Ich verbitte mir diesen ewigen Mond!

Strasser Es ist Mittag, und die Sonne scheint.

Max In Amerika dürfte es regnen.

Ada schleppt sich verstört herein; hält; fixiert die vier.

Stille.

Ada Was gibts? – Was gibts?

Stille.

Warum habt ihr mich sitzen lassen? Allein. Unten.

Strasser Du hast so süß geschlafen. Dich wecken wäre herzlos gewesen. Gewiß!

Ada Herzlos? Sie grinst. Ja, das hat schon so mancher bemerkt, daß es charmant aussieht, wenn ich schlafe. Ich liege nämlich wie ein Kind, rolle mich zusammen und falte die Händchen – nicht?

Stille.

Lauscht. Hat einer was gesagt? – Hat keiner was gesagt? Warum sagt denn keiner was?!

Strasser Gute Nacht!

Ada Guten Morgen! Ich sage: guten Morgen!

Strasser Plärr nicht! Es ist Nacht!

Ada Strasser! Ich hasse diese Witze! Das sind keine Witze!

Strasser Richtig! Im Ernst. Man bittet um Ruhe: die Gäste wollen schlafen.

Ada Was für Gäste?

Stille.

Was für Gäste? Ihr seht mich wohl zehnfach, ihr besoffenen Gegenstände! Es gibt hier bekanntlich nur einen Gast, und der bin ich. Es kann nur einer befehlen. Die anderen haben zu gehorchen! Ihr seid doch meine Sklaven, nicht? Ich verzichte auf Ruhe, ich fühle mich frisch. – Sollte ein Sklave schlafen wollen, so wird er lebendig begraben, und wenn er widerspricht, wird ihm die Zunge herausgerissen, und will er nicht hören, die Ohren abgesägt, und geht er auf mich nicht ein, wird er kastriert! Sie lacht.

Karl Man sollte das Irrenhaus anrufen.

Max Das Telefon ist leider verdorben.

Emanuel So gehört es repariert.

Ada  lacht: Strassersklave! Geh auf mich ein! Geh auf mich ein!

Müller  in Hemd und Unterhosen; reißt Türe fünfzehn auf: Na was ist denn los?! Die reinste Revolution!

Max Wer weitergeht, wird erschossen.

Ada  kann nicht mehr aufhören zu lachen: Ein Gast! Ein Gast! Und was für ein illustrer Gast!

Müller Was hat denn die dumme Kuh?

Ada  hat es nicht gehört: Incognito! Ich habe Sie total vergessen, Herr Generaldirektor!

Müller brüllt sie an: Ich bin kein Generaldirektor! Ruhe! Wiehern Sie nicht, sehen Sie zu, daß Sie in die Klappe kommen, besoffene Person! Mitten in der Nacht, na, das ist schon räudig! Ab; er schlägt die Türe zu.

Ada  perplex: Was war das? Wie war das Wort?

Strasser Räudig.

Max R wie Rembrandt, äu wie Euter, d wie Daheim, i wie Inzest, g wie gebenedeit.

Ada Dieses Schwein ist wohl verrückt geworden, wie?

Eine Uhr schlägt vier-, dann dreimal.

Strasser  zählte mit: Drei.

Emanuel  zählte auch mit: Nein, vier!

Max  ist anderswo: Es wird bald fünf.

Emanuel entsetzt: Schon fünf?

Strasser  fährt Emanuel an: Sie versäumen nichts!

Ada  grinst: Steht die Guillotine? Steht die Guillotine?

Strasser Herr Baron erreichen den Zug.

Emanuel  erregt: Sie Wirt. Ich verbiete es Ihnen, sich mit meiner Abreise zu beschäftigen!

Strasser Ich verbiete es Ihnen, die Dame von zwölf a mit Ihren unsittlichen Anträgen zu belästigen! Und wären Sie königliche Hoheit, Baron!

Ada  scharf: Was ist das für Dame?

Stille.

Wo gibt es hier eine Dame? Und seit wann?

Strasser Das geht dich nichts an!

Ada Hierbleiben! Hierbleiben! – Strasser, schau mir in das Auge! In das Auge – Was für Dame, was für Dame? Soll das etwa? Habt ihr gelogen? Ist das die? Diese Kloake! – Hinaus damit! Sofort! Oder ich hole sie an den Haaren herbei – Sie will zu zwölf a.

Karl  reißt sie zurück, daß sie niederbricht: Halt das Maul! Selber Kloake! Kusch! Oder ich zertrete dich!

Ada  am Boden: Na, was hat er denn?

Karl Dieses Maul. Wie ein Lurch!

Ada Emanuel! So ohrfeige ihn!

Karl Jener Greis? Mich?

Ada Ohrfeige ihn!

Emanuel Ada, ich habe es mir bereits überlegt, ob ich ihn züchtigen soll, aber das Resultat wird erst eine Sekunde vor fünf Uhr veröffentlicht. Damit die Spannung nicht flöten geht, denn wir hassen bekanntlich die Langeweile und lieben die Sensation.

Karl  grinst: Ein schlagfertiger Patriarch.

Ada  verwirrt; irr: Die Sensation – Oh, dieser Kopf! Was kostet dieser Kopf? Siebentausend? Wie? Ich biete einen roten Heller! Zum ersten, zum zweiten, zum dritten!

Emanuel Ich behalte meinen Kopf. – Zu guter Letzt hat man doch auch seinen Stolz. Adieu! Er verbeugt sich steif und ab in vierzehn.

Ada  sieht ihm nach: Adieu! – Adieu, du Kopf! Wenn nicht, dann nicht! Wenn kein Kopf, so die Uniform! Jene charmante Uniform – Zum ersten, zum zweiten, zum dritten! Zieh dich aus, Herkules!

Karl Gott, wie neckisch!

Ada Nicht? Sie erhebt sich stöhnend. Hierbleiben! Sie lächelt und nähert sich taumelnd Karl. Herkules, laß mich an deinem Kinn riechen – du duftest wie mein erstes Erlebnis.

Karl Zurück! Schon lange her, das erste Duften, was? Dreißig? Vierzig? Fünfzig! Ein halbes Jahrhundert! Wann wird denn Schluß?! Ab in zehn.

Ada  starrt ihm fassungslos nach: Schluß? – Was für Schluß? Von was Schluß? – Ich verstehe kein Wort – Sie wankt.

Max Es wird bald fünf.

Strasser  zu Ada: Komm. Geh zu Bett.

Ada Nein! Jetzt muß ich noch eine Kleinigkeit trinken etwas Prickelndes.

Strasser Du bist schon betrunken. Und krank.

Ada Ich bin nicht krank!

Strasser  kneift sie in den Arm: Geh zu Bett!

Ada Au! Du mußt mich sanfter anfassen – wir Frauen sind nun mal so. Au!

Strasser Ada. Du hast kein Recht, eine Mutter zu beschimpfen. Das Weib erfüllt durch die Geburt eine göttliche Funktion. Wo wären wir, wenn es keine Mütter gäbe? – Ich habe mich geirrt: sie ist keine Prostituierte, sie kennt nur mich. Ich werde die Dame von zwölf a um Verzeihung bitten, daß ich gewagt habe, niedrig über sie zu denken. Sie wird mir die Wirtschaft führen, ich lege ihr alles zu Füßen: mich und das Hotel. Er geht hin und her.

Ada  ist nahe daran, bewußtlos zu werden: Lüg nicht! Lüg nicht!

Strasser Geh zu Bett!

Max Es wird bald sechs.

Strasser Es wird bald sieben.

Max Schau, Ada: ich bin jung und du bist alt. Ich spreche sachlich, um uns unnötige Aufregungen zu ersparen. Wir wollen nicht weh tun, wir wollen unsere Bindung, die uns viele reine Freude brachte, sanft lösen, um uns ohne bitteren Geschmack zurückerinnern zu können. Schau, ich bin jung und du bist alt. Ein junger Mann, geleitet von einer erfahrenen Frau, ist derselben immer zu Dank verpflichtet, und auch deshalb befleißige ich mich, sachlich zu sein, objektiv, gerecht. Schau, du darfst und kannst nicht verlangen, daß ein normal immerhin entwickelter junger Mann sich zeitlebens an dich kettet. Ich müßte mich ja zwingen, und das wäre wider die Natur. – Nein! Das täte nicht gut. Lieber nichts! Er tritt zu zwölf a; horcht; klopft. Christine – Christine, Christine!

Strasser  fährt ihn an: Laß das, wenn man bitten darf!

Max Du bist ein böser Mensch, Strasser. Du könntest ja einen erschlagen, aber das wahre Gefühl ist nicht umzubringen: es kommt immer wieder. Und klopft. Auch als Gespenst. Ab in neun.

Strasser  sieht ihm verdutzt nach: Das wahre Gefühl?

Ada  lallt: Hierbleiben – Hierbleiben –

Strasser Ins Bett! Ins Bett! Ab in zwölf.

Eine andere Uhr schlägt zwölf.

Ada  wimmert; erregt hin und her; immer rascher; sie zählt mit: – drei, vier, fünf – neun, zehn, elf, zwölf –

Christine tritt aus zwölf a, erblickt Ada; erschrickt.
Ada hält ruckartig; betrachtet sie scheu.
Stille.

Zwölf.

Christine Ich bin es.

Stille.

Ada Ich habe Ihre Briefe gelesen – Halt! Bleiben! Bitte, bleiben – um Jesu Christi Willen, ich habe das Gefühl, der ganze Raum steckt voller Leute und ich bin blind!

Christine Ich dachte, endlich könnte man fort, ohne jemanden wiederzusehen.

Ada Wiedersehen? Wissen Sie, wer ich bin?

Christine Ja.

Ada Wer bin ich?

Christine Ich wohnte im Zimmer Nummer elf. Vor einem Jahre.

Ada Wer wohnt jetzt in Zimmer Nummer elf?

Christine Eine alte Frau.

Ada Tatsächlich?

Christine Ja.

Stille.

Ada Wie einfach sich das sagen läßt: eine alte Frau –

Christine Es ist doch so.

Ada Ja. – Man sollte jung sterben. Mit der Zeit wird alles zwecklos. Nicht?

Christine Möglich.

Ada Man sagt, jede Mutter meint, ihr Kind sei das schönste. Meine Mutter hat aber darüber nicht nachgedacht – Glauben Sie, daß ich sehr häßlich bin?

Christine Möglich.

Ada Sie kennen mich nicht.

Christine Ich kenne diese Stimme. Ich habe hinter dieser Tür gehorcht. Zuvor.

Ada Das war nicht ich!

Christine Doch!

Stille.

Ada Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.

Christine Warum erzählen Sie mir das?

Ada Seien Sie nicht grausam. Bitte. – Gestatten Sie, daß ich Ihnen helfen darf, damit Sie das Kind ohne Sorgen –

Christine  unterbricht sie: Ich habe keine Sorgen.

Ada Das gibt es nicht.

Stille.

Christine gehässig: Ich danke für Ihre Wohltätigkeit. Mir hat nämlich der liebe Gott geholfen. Wissen Sie, was das heißt?

Ada Nein, das weiß ich nicht.

Stille.

Das weiß ich wirklich nicht. Lachen Sie mich nur aus – Sie nickt ihr zu; langsam ab in elf.

Christine starrt ihr nach; will fort, hält jedoch nach einigen Schritten und überlegt; kehrt plötzlich entschlossen um und tritt an Türe elf; klopft; lauscht – nichts.

Max  tritt aus neun; erblickt sie, erhellt sich; unterdrückt: Pst! Sonst kommt nämlich wieder wer, ich habe geklopft und geklopft und war bereits nahe daran zu verzweifeln, aber nun wird alles gut – Halt! Es ist erst halb vier. Zum Bahnhof sind es fünfzehn Minuten. Geht man gemütlich, braucht man zwanzig, wenn Sie sich aber beeilen, nur zehn. Halt! Ich fahre ja auch fünf Uhr sieben. Wir haben noch Zeit.

Christine Wer ›wir‹?

Max Wir zwei, Christine. Ich und Sie. Sie und ich. Wir. Ich bin nämlich kein Kellner, sondern Kunstgewerbler. Und dann habe ich das Gefühl, eine unschöpferische Periode hinter mir zu lassen. Ich fahre fünf Uhr sieben. Ob ich wieder zum Plakat finde, hängt lediglich von Ihnen ab.

Christine Ich verstehe kein Wort.

Max Sagen Sie das nicht!

Christine spöttisch: Meint der Herr mich?

Max Ich kenne nur eine Christine.

Christine Ist das dieselbe Christine, die sich hier vor ungefähr einem Jahre für den Herrn mit dem Chrysanthemenstrauß interessierte?

Max Ja. Das heißt: nein. Sicher. Ich habe mich geirrt. Vielleicht. Apropos Irrtum: auf mein Ehrenwort: wahre Liebe gibt es nur einmal, alles übrige dürfte zu untergeordneter Bedeutung schwinden, gemessen an der Tatsache, daß man in seinem Leben bekanntlich nur ein einziges Mal den Menschen trifft, mit dem man zusammengehört bis über das Grab. Still! Vielleicht drücke ich mich ungeschickt aus, aber es ist so. Lachen Sie mich nicht aus, bitte. Wir zwei müssen uns schon mal begegnet sein, da ich Sie nicht vergessen kann. Ja, wir haben uns sogar schon geliebt, in unserer letzten Inkarnation, ich bin nämlich Buddhist. Vor tausend Jahren waren Sie ein Ritter und ich war Ihr treuer Knappe.

Christine Ich denke nicht daran, was ich vor tausend Jahren war.

Karl  tritt aus zehn; erblickt die beiden: Hoppla! Zu Christine. Hat er schon wieder geklopft? Zu Max. Kerl, du klopfst ja tausend Jahr!

Max Rühr mich nicht an! Terrorist! Sachlich, bitte! Laß mich allein!

Karl  hatte sich Max nicht genähert; zu Christine: Er leidet nämlich an Verfolgungswahn.

Christine  will ab: Ach, lassen Sie mich in Ruh!

Karl und Max Halt!

Müller  tritt aus fünfzehn in Hemd und Unterhosen und versperrt ihr dadurch den Weg: Na wohin? Ich wollte gerade auf das Klosett. Aber Kleines, wer wird denn noch daran denken, daß ich mich gestern nicht ganz korrekt benahm. Ich weiß, was sich gehört, doch es ging mir zu nahe, daß du dich mit solchen Kerls – Wir kennen uns zwar aus dem Tabarin, aber ich bin der Letzte, der kein Verständnis dafür hätte, wie leicht ein unbescholtenes Mädchen mit gutem Kern in unserem neuen Deutschland auf die schiefe Ebene kommt. Schwamm darüber! Das Kind soll einen ehrlichen Namen haben! Meinen Namen. Nur nicht verzagen: du wirst noch eine rechtschaffene Hausfrau mit Gefühl für das Familienleben. Oh, das hast du, kleiner Blondkopf! Hinter diesem Stirnchen sitzt Sinn für Ordnung und Zucht. Ich sehe mich schon im eigenen Geschäfte und sehe dich schalten und walten in Küche und Keller. Du erinnerst mich manchmal, so in der Bewegung, an meine selige Mutter. Arme Kleine! Bist ein gefallenes Mädchen, aber ich leite dich retour in die bürgerliche Atmosphäre. Na, was sagst du?

Emanuel  tritt rasch aus vierzehn; reißt im letzten Augenblick das Handtuch vom Kopfe; hält es in der Hand: Pardon! Ich habe alles gehört. Es ist menschliche Pflicht, die Dame zu warnen. Dieser Herr liebt aus platter Gewinnsucht. Es riecht nach Heiratsschwindel.

Müller  braust auf: Wie kommen Sie mir vor?!

Emanuel Ich bin Herr Baron Stetten, Müller. Ich weiß nicht, ob Gnädigste sich für Golf interessieren, aber abgesehen vom Golf: Gnädigste werden meinen Namen bereits kennen.

Christine Nein.

Emanuel Ich nehme an, daß Sie ein schlechtes Namensgedächtnis haben, um nicht glauben zu müssen, daß es Ihnen an historischem Sinn mangelt. Gnädigste. Es ist immer tragisch, wenn solch glorreiches Geschlecht erlischt. Christine. Da keine Hoffnung besteht, unser Geschlecht auf natürliche Weise zu verlängern, bitte ich Ihr Kind adoptieren zu dürfen.

Christine Ich habe ein gutes Gedächtnis und kenne mich in der vaterländischen Geschichte nicht aus.

Emanuel Still, bitte! – Wollen Sie Baronin werden?

Müller Wie selbstlos!

Emanuel Kein Krämerstandpunkt! Ich bringe Opfer, meine Herren! Es ist klar, daß ich durch die Ehe mit einer nicht standesgemäßen Person auf die Zugehörigkeit zur anständigen Gesellschaft werde verzichten müssen.

Karl Auch mit siebentausend?

Emanuel In einer knappen Stunde müßte ich mir eine Kugel durch diesen Kopf jagen, aber ich verzichte. Ich bringe Opfer über Opfer.

Müller Spartanisch!

Karl  zu Christine: Verzichte! Der würde doch alles verspielen! Den ganzen lieben Gott!

Max Auf ein Blatt.

Emanuel Ich habe ausgespielt. Ich kenne keine Karten mehr, vorausgesetzt, daß mir jemand hilft. – Wollen Sie Baronin werden?

Stille.

Sagen Sie ja.

Karl Sag nein!

Emanuel Ich verbitte mir jede Beeinflussung! Sie selbst soll entscheiden. Wir leben doch nicht im finsteren Mittelalter, wir Modernen haben gelernt, auch im Weibe den Menschen zu achten. Nur der Mensch zählt! So wählen Sie! Hie Baron Stetten! Hie Müller, Chauffeur und Kellner!

Max Ich bin kein Kellner!

Emanuel Sondern? Photograph?

Christine Still! Ich überlege. Ich überlege. Sie lacht lautlos.

Müller Tu nicht so blasiert!

Emanuel Sie sind keine kalte Frau.

Max Lachen Sie mich nur aus –

Christine horcht auf; lacht nicht mehr.

Karl Ich wähle! Ich bin ein Mann, kein degenerierter Idiot! Das Weib will genommen werden!

Emanuel Pardon! Kein Faustrecht!

Karl Keine Entrüstung! Wer verliert und nicht bezahlt, ist selbst ein Schuft!

Müller Wer?

Karl Der Herr Baron!

Emanuel Zustände!

Strasser tritt aus zwölf, ohne bemerkt zu werden.

Max  zu Emanuel: Pfui!

Müller Donnerwetter ja!

Karl  zu Emanuel: Sie gehören geköpft.

Strasser Es wird bald fünf.

Alle starren ihn an.

Strasser  zu Karl. So köpfe ihn! Aber schmerzlos. Du hast doch Routine im Zahnziehen.

Stille.

Christine. Mach einen Bogen um diese Galauniform: es steckt in ihr ein Zuchthäusler.

Stille.

Karl  zu Strasser: Wärst du in Portugal gewesen, hätte man dich gehängt.

Max Vielleicht begnadigt.

Müller Zu lebenslänglichem Zuchthaus.

Strasser Aber ohne Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, nicht wahr, Sie Galauniform?

Karl  ohne Grimm: Was willst du denn von mir?

Strasser grinst herausfordernd aus plötzlicher Unsicherheit. Karl nickt ihm zu. Lach mich nur aus. Er nähert sich langsam Christine; dumpf. Fräulein. Es ist gut. Ich bin ein Zuchthäusler. Ich saß sechs Jahr, weil ich einen erschlagen habe. Nicht Mord. Totschlag. Aber es wurden mir keine mildernden Umstände zugebilligt, das heißt: nur ganz geringe, und die zählen kaum vor Gericht und sind doch sehr ausschlaggebend. Sie sollen keine Angst vor mir haben, Fräulein. Bitte. Es gibt ja nichts, was einem nicht zustoßen könnte. Man kann sich auch selbst erschlagen, und doch umhergehen, Fräulein. Und dastehen: in Galauniform.

Stille.

Christine leise: Ist das wahr?

Karl Es ist wahr, Fräulein.

Strasser Es ist gelogen, Christine. Von A bis Z.

Christine Kusch!

Stille.

Strasser  zu Christine: Du hast recht: was ich dir antat, ist ein perfideres Verbrechen als Mord.

Müller Wieso kommen Sie zu dieser Behauptung?

Max Jeder von uns trägt die gleiche Schuld.

Müller Na klar!

Emanuel Pardon! Es war mein Plan.

Strasser Quatsch!

Müller Wir haben ihn alle unterschrieben! Wir alle fühlen uns verantwortlich!

Max Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.

Karl Das haben wir alle nicht.

Christine Still! Würden die werten Herren Reue spüren, hätte mir nicht der liebe Gott geholfen?

Müller Jawohl!

Emanuel Jederzeit.

Karl Das war niedrig, Fräulein.

Stille.

Max Warum glaubst du mir das nicht, das mit den tausend Jahren?

Stille.

Strasser Ich hätte nichts bereut, hätte dir nicht der liebe Gott geholfen.

Emanuel Charakterlump!

Max Er kann nicht lieben.

Karl Er ist überhaupt kein Mensch.

Müller Wo bleiben die Ideale?

Strasser Das weiß ich nicht! Ich weiß nur, daß ich dich nun liebe, weil du zehntausend Mark hast. Ohne diese Summe hätte ich auch keine Reue empfunden. Du kannst doch nicht verlangen, daß einer, der wirtschaftlich zu Grunde gerichtet worden ist, sich in eine Bettelprinzessin verliebt.

Christine Und das Kind?

Strasser Du kannst doch nicht verlangen, daß ich dich ewig liebe, nur weil du ein Kind von mir hast.

Stille.

Christine Ja, das ist wahr. Aber ich wäre fast zugrunde gegangen –

Strasser Ich hätte dir nicht helfen können.

Christine Das weiß ich noch immer nicht.

Strasser Glaub es!

Müller Nach dem bürgerlichen Gesetzbuche ist der Vater verpflichtet –

Strasser  unterbricht ihn: Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren!

Christine Man müßte ein anderes Gesetzbuch schreiben.

Müller Das wäre das Ende der Familie.

Christine Wenn schon.

Emanuel Und das Ende des Staates.

Christine Wenn schon!

Stille.

Es gibt einen lieben Gott, aber auf den ist kein Verlaß. Er hilft nur ab und zu, die meisten dürfen verrecken. Man müßte den lieben Gott besser organisieren. Man könnte ihn zwingen. Und dann auf ihn verzichten.

Karl Man soll nicht an ihn glauben.

Christine Man muß.

Stille.

Strasser  zu Christine: Bleib bei mir.

Christine  sieht Strasser groß an: Der Zug fährt in einer halben Stunde und wer sich beeilt, ist in zehn Minuten am Bahnhof, aber mir ist es noch immer, als müßte ich den Zug versäumen –

Max  sieht Christine groß an: Dreizehn ist meine Glückszahl. Und Christine wohnt zwölf a.

Strasser Du wirst den Zug versäumen.

Christine Nein. – Nein. Nein, ich werde nichts versäumen – Laß mich fort, bitte – Wenn mich das Kind nicht mehr braucht, so komme ich dich besuchen – sollte dies Haus dann noch stehen – Ab.


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