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Zweiter Akt

Speisesaal im Hotel zur schönen Aussicht. Zwei Tische im Vordergrunde sind gedeckt: einer weiß, einer bunt. Auf den übrigen Tischen stehen Stühle mit den Beinen himmelwärts.

Müller  sitzt an dem weißgedeckten Tische und hält die Hände vor das Gesicht; ruft: Ober! Ober!

Max  kommt rasch; erblickt auf dem bunt gedeckten Tische die Karte: Ach, da liegt ja die Speisekarte! Seltsam! Was man alles sucht! Er breitet sie geschäftig vor Müller aus.

Müller blickt mechanisch in das Blatt.

Stille.

Müller Sagen Sie –: haben Sie Krücken?

Max Krücken?

Müller Kennen Sie keine Krücken? – Richtige Krücken, solche – Er macht eine Geste des Humpelns. Au! Ich habe mir nämlich das Bein gebrochen. Das Schienbein. Das Knie. Den Knöchel. Die Knöchel. – Und nun kann ich nicht laufen.

Max Sie wollen mit Krücken laufen? Interessant!

Müller Wieso?

Max Sie werden auch mit Krücken nicht mehr laufen.

Müller Tatsächlich?

Max Na selbstverständlich!

Stille.

Müller Haben Sie auch keinen Rollstuhl?

Max Rollstuhl? Nein. Aber Krücken haben wir.

Müller Krücken?

Max Ja, solche richtige – Er macht Müllers Geste des Humpelns.

Müller  braust auf: Sie haben doch soeben gesagt –

Max  unterbricht ihn: Ich habe gesagt, daß Krücken Ihnen nichts nützen dürften, aber ich habe nicht gesagt, daß wir keine haben. Wir haben Krücken. – Da war einmal ein Herr hier zur Erholung, der ging auf Krücken und trug ein eisernes Korsett. Der war seinerzeit im Weltkrieg ziemlich verwundet worden, an der Nordfront –

Müller Unsinn! Es gab doch gar keine Nordfront! Junger Mann. Sie beherrschen ja die vaterländische Geschichte famos!

Max Gott, damals war ich noch keinen Meter hoch, und was ich in der Schule gelernt habe, das hab ich sofort vergessen – Kurzum: als jener von uns ging, brauchte jener die Krücken nicht mehr. Er hat sich nämlich ersäuft, in dem Weiher, dort drüben, weil er unheilbar war. Seine Krücken hat er uns vermacht, weil er sagte, er sei noch nirgends in seinem Leben so friedlich gesessen wie unter unserer Tanne. Romantisch, was? Aber es muß auch solche Käuze geben – und wir haben seine Krücken auf den Speicher gestellt, aus Pietät, sozusagen: als Erinnerung an große Zeiten.

Müller Das waren sie! Bei Gott! Ein Volk in Waffen! Ihr jungen Hunde müßtet mal ordentlich gedrillt werden – das tut Not!

Max An welcher Front standen Sie?

Müller Fragen Sie nicht so unverschämt, ja?! Ich verbitte mir das!

Stille.

Max Soll ich nun die Krücken bringen?

Müller  hat sich wütend in die Speisekarte vertieft: Bringen Sie mir Schweinebraten mit Röstkartoffel. Und Gurkensalat. Marsch, marsch!

Max Wir haben keine Kartoffel.

Müller Keine Kartoffel?

Max Wir haben auch keinen Gurkensalat.

Müller Skandal! Dann bringen Sie Rotkohl!

Max Wir haben aber auch keinen Schweinebraten.

Müller schlägt auf den Tisch: Das ist zuviel!

Max Zu wenig.

Müller  schnellt empor und läuft schäumend hin und her: Zuviel! Viel zuviel! Keine Kartoffel, keine Gurke, kein Schwein!

Max Herr Müller!

Müller Kein Schwein! Was haben Sie denn?!

Max Sie laufen ja!

Müller  immer hin und her: Das geht Sie nichts an, Sie! Ich frage: was bekommt hier der, der Hunger hat? Zeigen Sie mir keine Speisekarten –

Max Nur Formsache!

Müller – geben Sie mir etwas zum fressen! Was haben Sie, was haben Sie?! Die Wahrheit!

Max Ich muß erst nachsehen.

Ada und Karl erscheinen.

Ada Ha, der Herr Generaldirektor!

Müller Irrtum, Baronin! Ich bin kein Generaldirektor.

Ada lächelt: Inkognito? Sie setzt sich an den bunt gedeckten Tisch.

Müller  setzt sich auf seinen Platz: Mein Name ist Müller, Vertreter der Firma Hergt und Sohn, Weingroßhandlung, kurherzogliche Hoflieferanten, gegründet 1678 –

Ada  unterbricht ihn: Charmant! Sie werden mir immer charmanter – das haben Sie sich ja charmant ausgeklügelt, und ich will Ihren Willen tun – hören Sie, großes, dickes Kind: Ihren Willen tun, aber Sie dürfen ihn nicht falsch auffassen – Wir wollen auf unseren Willen trinken! Los! Mit Sekt! Mit dem Willen versetzt man bekanntlich Berge, wenn es sein muß. Ich hätte ja ursprünglich ein Mann werden sollen, ich wäre ein Cäsar geworden, ein Nero – Quo vadis, Herr Generaldirektor? Glotz nicht! Sekt! Sekt! Aber keinen von Hergt und Sohn! Faule Firma!

Max  zu Müller: Ganz meine Meinung!

Ada Daß man hier nichts anderes ausschenkt, als Jauche in Pullen!

Max  stellt Gläser auf den Tisch: Darum trinken ja auch Herr Generalgeschäftsreisender meistens Wasser.

Ada Aber was kann man denn machen, wenn man anstoßen will?! So trinken wir eben mit Jauche auf unsere Ideale!

Karl  hatte sich neben Ada gehockt: Pupille! Pupille! Max entkorkt eine Flasche mit Krach.

Ada Salut! Und zusammen die Tische! Zusammen! Es geschieht. Ich lade ein! Ihr seid bei mir zu Gast, Herr Generaldirektor! Nach unserem Geschmack! Sie schnellt empor. Still! Sie starrt in sogenannte Fernen; lallt. – Ist das die Sehnsucht? Still! Jetzt zieht ein Choral durch meine Seele – Wenn ich die Wörter nur verstehen würde, diese Silben aus einem anderen Reich, so könnten wir singen –

Karl Nur nicht singen!

Müller Schwätzt die immer so viel, wenn sie besoffen ist?

Karl  zu Müller: Sauf! Auf daß du Generaldirektor wirst!

Max  hatte Flaschen auf den Tisch gestellt und sich gesetzt: Ihr habt auch schon gar keinen Sinn für Poesie.

Karl Ich verblöde nie!

Ada Sphärenmusik –

Müller  nippt an seinem Glase: Ich finde den Sekt recht ordentlich. Oder?

Max Oder.

Karl  säuft aus der Flasche: Außerordentlich!

Müller Außerordentlich! Er leert sein Glas.

Karl Wenn man dabei nur nicht hungern müßte!

Müller Dito!

Max Schwalbennester wären noch da.

Müller höhnisch: Sonst nichts?

Max Und Krücken.

Müller stiert ihn an; leert hastig sein Glas.

Emanuel erscheint.

Ada  erblickt ihn: Heiliger Himmel, du lebst ja auch noch! Was die Medizin vermag! Dieser Kopf! Wie er zittert, wie der zittert! Halt! Halt! Daß du ihn nur nicht verlierst! Die Würfel sind gefallen, aber das Resultat wird erst eine Sekunde vor Schluß verkündet – sonst ginge ja die Spannung flöten, und ich hasse die Langeweile – eine Sensation muß das werden! Eine Sensation!

Müller lacht: Jetzt hab ich das Wort! Sie sind ein Original, Baronin!

Ada Nicht? – Nimm Platz! Darf man bitten, Sensation! Ohne Vorwort, und keine Kritik!

Emanuel nähert sich widerwillig.

Müller  schnellt empor und schlägt die Haken zusammen: Müller!

Emanuel steif; murmelt; setzt sich an die weißgedeckte Seite.

Karl Emanuel Freiherr von Stetten, genannt Bubi – Grün ist die Hoffnung, Schwager! Ex!

Emanuel schnellt empor; eilt an die Rampe; faßt sich an das Herz.

Ada Was hat er denn? Was ist ihm denn schon wieder?

Karl Der Idiot.

Ada schleicht zu Emanuel.

Müller  zu Karl: Diese Beleidigung!

Max Ex! Saufen.

Ada  zu Emanuel: Daß du parierst! Daß du parierst!

Emanuel Kreuzige mich! Aber verlange nicht von mir, daß ich mit Kellner und Chauffeure an einem Tische trinke!

Ada Das ist kein Kellner! Das ist kein Chauffeur! Das sind standesgemäße Personen! Die scheinen nur zum niederen Volke zu gehören, weil sie Unglück hatten. Das sind keine Arbeiter, keine Handwerker und so – der eine ist Ästhet, der andere war Plantagenbesitzer in Portugal, der dritte Star und Offizier! Die zählen nicht zum Volke, zur Masse, zum Plebs! Die gehören in die Salons! – Pech kann ein jeder von uns haben. Auch du. Bedenke! Darum habe Mitleid mit den Enterbten. Emanuel, ich appelliere an dein Standesbewußtsein, an Ritterlichkeit und Christentum!

Emanuel  verbeugt sich ergriffen und küßt ihre Hand; eilt an den Tisch und erhebt sein Glas: Auf das Wohl, die Herren! Er leert sein Glas und schleudert es in den finsteren Hintergrund; es zerbricht klirrend.

Ada Bravo! Bravo! Sie will rasch an den Tisch, bekommt einen Magenkrampf, hält angewurzelt und krümmt sich.

Karl  zu Ada: Plärr nicht! Sauf!

Müller Ich komme nach, komme nach, Herr Baron!

Max  zu Müller: Es scheint Ihr Schicksal zu sein, alles zu versäumen?

Ada stöhnt: Mein Leib, mein Leib –

Karl  zu Ada: Hinaus!

Müller  zu Emanuel: Mein Bruder, Herr Baron, war der einzige Bürgerliche im Offizierkorps seines Regiments. Wäre nämlich ich der Älteste von uns Drillingen, wäre heute ich Rittmeister! Selbstredend a. D., Herr Baron! Man kann doch nicht dem Volke, wenn man im bunten Rock des Königs schwor –

Karl Schwör nicht! Sauf! Du Drilling!

Müller Drillinge können auch saufen, Sie!

Ada  stöhnt, faßt sich plötzlich an den Kopf: Jetzt hab ich den Strasser vergessen!

Emanuel  zu Müller: Ich bezweifle in keiner Weise, daß Sie nicht Talent zum bunten Rock hätten.

Müller Darf ich auf Ihr ganz Spezielles?

Emanuel Danke. Ich allerdings war zwar nur Fähnrich, schon aus Tradition, aber heute bin ich Pazifist. Die Geschichte meiner Bekehrung ist pittoresk: es sprach nämlich unlängst eine entzückende Person für den Pazifismus – ich habe noch nie solch durchgeistigte Hände gesehen.

Müller Herr Baron! Ich hasse den Militarismus! Mit meinem Bruder, dem Rittmeister, habe ich mich noch nie verstanden, obwohl wir doch Drillinge –

Karl  unterbricht ihn: Schluß mit der Viehzucht!

Emanuel  zu Karl: Sie sind freilich verbittert; aber die Weltpolitik, gewissermaßen die kosmischen Zusammenhänge –

Ada  schreit: Wo ist der Strasser? Der Strasser! Dieser Strasser – Sie läuft erregt hin und her. Es kann ihn doch nicht die Erde verschlungen haben! Hat denn niemand den Strasser gesehen?

Emanuel  hatte sich mit dem Rücken zu Ada gesetzt: Doch. Ich.

Ada So sprich doch, ja?!

Emanuel Nein. Der Sekt steigt ihm allmählich zu Kopf. Es gibt nämlich Personen, die durch Bacchus zum Helden avancieren, aber ich bleibe Diplomat. Vorsicht soll nämlich die Mutter der Weisheit sein. Jener Weisheit, die schweigt. Er trommelt mit den Fingern fröhlich auf der Tischplatte. Ich traue mich nicht, ich traue mich nicht! Aber ich will es den Herren hier erzählen. Wollen sehen, wer der Mutigste ist!

Karl Ich!

Emanuel flüstert.

Ada Was soll das Getuschel?! Keine Geheimnisse! Unter uns!

Karl  imitiert einen Posaunenstoß: Der Strasser ist mit einer hübschen Blondine nach – hinauf.

Ada erstarrt.

Emanuel kichert: Mein Schwager Strasser hat besagte Blondine im Treppenhaus umarmt. Und geküßt.

Karl Daß es knallte!

Emanuel Vor ungefähr einer Stunde.

Max Und seit dieser Stund wurd er nimmer gesehen.

Stille.

Ada Ist das wahr?

Müller schadenfroh: Na Pupille! Pupille! Saufen.

Ada  hysterisch: Der Strasser, der Strasser – dieser Strasser, dieser Strasser! – Strasser! Strasser! Strasser!!

Strasser erscheint.

Ada stürzt sich zischend auf ihn und gibt ihm eine klatschende Ohrfeige; lacht. Hat es geknallt? Hat es geknallt?!

Strasser unbeweglich: Geknallt oder nicht geknallt. Es wird einem allmählich alles egal.

Ada Dir! Aber mir nicht! Weder allmählich noch plötzlich! Nie! Kusch! Du bist mein Eigentum, du! Ich habe dich gekauft, und ich kaufe dich jeden Tag! Ich bezahle!

Müller Hört! Hört!

Ada Ich bezahle. – Kannst du mich denn betrügen, wenn ich nicht will? – Wirf diese Person hinaus! Sofort! Oder ist das keine Hure?

Strasser Ja. Das ist eine Hure. Und ich hätte sie sogleich hinauswerfen sollen, aber ich habe ein goldenes Herz. Nicht wahr, Herr Müller? Er tritt an den Tisch, leert hastig ein Glas, setzt sich und vergräbt das Antlitz in den Händen. Ich bitte um Hilfe. Ich kann nicht mehr denken vor lauter Pech.

Alle setzen sich um den Tisch.

Stille.

Ada lächelt: Ja, was hat er denn? Was hat er denn?

Strasser  sieht sie groß an: Ada. Die Treue ist kein leerer Wahn. Ich pflichte dir begeistert bei, wenn du auf Hygiene den größten Wert legst. Seit wir uns kennen, seit diesen herrlichen drei Monaten, blieb ich dir treu.

Ada  grinst: Das kann man nicht kaufen!

Strasser Aber was vor ungefähr einem Jahre, was vorher war –

Ada  unterbricht ihn: Geht mich nichts an! Vor uns die Sintflut!

Strasser Ich danke dir, daß du meiner Meinung bist.

Ada Du bist meiner Meinung! Verstanden? Ihr habt alle meiner Meinung zu sein!

Müller Zu Befehl!

Karl Es gibt nur eine Meinung!

Emanuel Ich sehe alles doppelt –

Strasser  erhebt sich: Ich bitte um Hilfe. Er zieht aus seiner Tasche einen Bund bunter Briefe. Erinnert ihr euch? Rosarot und himmelblau? Und bis vor fünf Wochen jeden dritten Tag vier Seiten.

Karl Was sind das für Seiten?

Strasser Ihr habt sie doch alle gelesen! Er setzt sich wieder und streicht sich über die Schläfen.

Stille.

Max Richtig! Rosarot und himmelblau! Der Kitsch!

Ada Den hab ich jetzt schon vergessen –

Strasser Ich auch. Fast. Aber plötzlich erschien die Verfasserin.

Karl Krach.

Max Bumbum.

Stille.

Ada Ist das die?

Strasser Ja.

Max Man gratuliert.

Karl Papa! Papa!

Ada Das ist die?  Sie wiehert. Charmant! Charmant! Das ist ja eine charmante Episode! Armer Strasser, armer! Kannst du mir die Ohrfeige verzeihen, kannst du ungeschehen machen – nein, das kannst du nicht, aber einen Kuß will ich jetzt haben – oah!

Strasser gibt ihr einen Kuß.

Müller Soviel ein Nichteingeweihter aus all dem entnehmen kann, dreht es sich um eine Alimentationsangelegenheit.

Emanuel Wie war das Wort?

Karl Erraten!

Max Welch Scharfsinn!

Ada  zu Strasser: Und? Und? Und?

Strasser Ich habe es ihr gesagt, das heißt: ich gab es ihr zu verstehen, daß ich nichts mehr mit ihr zu tun haben will, aber sie wollte es nicht verstehen, daß wir uns entfremdet sind. Sie hat tremoliert und gelogen. Unglaublich gelogen! Sie hat zum Beispiel behauptet, ich hätte keinen Brief erhalten!

Max Unglaublich!

Strasser Sie will den Mann: das bin ich. Sie will ein Heim: das ist dies Hotel. Sie will Frau Hotelbesitzer werden, so läuft der Hase! Heilige Dreifaltigkeit! Weib, Kind und Pleite!

Müller Ich dachte, Baronin bezahlen –

Ada unterbricht: Sie Schalk! Ich finanziere nicht Familien.

Müller Also scheint es eine gefährliche Erpresserin zu sein!

Max Wer?

Ada  zu Müller: Ist sie auch! Ist sie auch! Na klar! Da hätten Herr Generaldirektor nur mal diese Briefe hier – diese sentimentale Verschlagenheit!

Max  erhebt sich: Pst! Er liest lispelnd aus einem Briefe. ›Mein Innigstgeliebter! Mein Alles! Du kamst diese Nacht im Traum –‹

Emanuel  melancholisch; er hat auch etwas Magenschmerzen: Das Leben ein Traum –

Karl  zu Emanuel: Sie sollten mal austreten.

Max  liest: ›– diese Nacht im Traum zu mir und hast Dich über mich gebeugt. Das Kleine schläft gerade, nun kann ich Dir schreiben. Warum schreibst Du mir nicht? Ich fühle mich noch schwach. Täglich, stündlich lechze ich nach Nachricht von Dir. Ich liebe Dich doch, laß mich nicht versinken, reich mir Deinen starken Arm, hilf mir, bitte –‹

Alle, außer Strasser, schütteln sich vor Lachen.

Max liest weiter. ›– Und ich habe Sehnsucht nach Dir, nach einem Heime!‹

Müller Aha!

Ada Das Hotel!

Strasser Zur schönen Aussicht.

Emanuel Pardon! Knabe oder Mädchen?

Karl Zwitter.

Müller Wo haben Sie nur diese unmögliche Person aufgegabelt?

Strasser Das Schicksal ließ mich ihren Weg kreuzen.

Max Wie hochdeutsch!

Strasser Sie blieb vierzehn Tage. Zur Erholung. Im Mai. Ich glaube Stenotypistin. Oder etwas in einem Warenhaus.

Müller Schon faul!

Strasser Ich war auf die Saison angewiesen.

Müller 80 % der Frauen sind unterleibskrank. Und erst die gewöhnlichen Mädel, so aus den ärmeren Schichten – Sie verstehen mich, Baron?

Alle außer Ada, lachen brüllend.

Ada Ist Syphilis eigentlich heilbar?

Stille.

Karl  grinst: Na Prosit!

Max Gesundheit!

Müller Berufstätige Frauen unterhöhlen das bürgerliche Familienleben.

Emanuel Die Moral!

Strasser Man handelt oft unüberlegt.

Müller Ich leere mein Glas auf die gute alte Zeit! Saufen.

Emanuel Nach Ladenschluß holte man sich einen netten, süßen Käfer – und diese Walzer aus Wien!

Müller Der Kaiserstadt!

Emanuel Für ein warmes Abendessen war alles zu haben! Hernach lüftete man das Barett: mein Liebchen, adieu! Allez! Marchez! Gallopez!

Müller Und damals waren sie noch dankbar dafür, dankbar! Heute aber: nur nicht arbeiten, aber soziale Einrichtungen! Frech und faul! Lauter Gewerkschaftler! Ehrlichkeit und Pflichtgefühl haben unser Vaterland verlassen! Heute erholen sie sich! Skandal!

Emanuel Jeder Prolet möchte sich schon erholen!

Müller Müßiggang ist aller Laster Anfang! Ordnung fehlt! Und Zucht! Und der starke Mann! – Seinerzeit, da haben es auch die Weiber am tollsten getrieben! Aber ich gab kein Pardon! Ich nicht! Hoho, ich habe selbst drei dieser Furien niedergeschossen!

Max Im Kriege?

Müller Nach dem Kriege!

Max Ich dachte, hier säße ein Pazifist.

Emanuel Für den äußeren Feind!

Müller  zu Max: Sie kommen mir sonderbar vor, junger Mann!

Strasser Zur Sache! Ich habe einen inneren Feind!

Müller Legt an! Feuer!

Strasser Rührt euch! Was soll ich tun? Stille.

Emanuel Wenn ich raten soll, so muß ich erzählen, wie es bei uns Sitte war. Wir haben seinerzeit auf der Universität zwei Kommilitonen vor dem Alimentenzahlen gerettet. Den Grafen Hochschlegel und den Baron Krottenkopf, bleibt natürlich unter uns – Der Hochschlegel Franzi ist verwandt mit dem Kohlenmagnaten, und der Krottenkopf ist der bekannteste Rennstall, Sie spielen ja auch, kurzum: die hatten je eine Liaison mit Folgen, und da haben wir sie gerettet, indem wir klipp und klar behaupteten, wir hätten auch etwas mit den Mädels gehabt. Sie verstehen mich? Etwas stimmt ja immer. Das Leben ist zu eintönig, um nicht zu sagen: langweilig –

Max  unterbricht ihn: Sie, das ist Meineid!

Karl Quatsch!

Emanuel Ach, es kam ja gar nicht vor Gericht! Wir haben sie schon derart eingeschüchtert. Der einen haben wir mit der Kontrolle gedroht!

Müller Da hat sie aber zum Rückzug geblasen! Fluchtartig, was?

Emanuel Na! Davor haben diese kleinen Mäuschen nämlich Höllenangst. – Später hörte ich, daß die andere ihr Kind umgebracht hätte –

Ada  unterbricht ihn: Nur nicht unappetitlich werden.

Emanuel Du hast eine rege Phantasie.

Müller Man könnte doch ruhig einige Millionen Menschen vernichten! Wir haben ja Übervölkerung, nicht?

Karl Wo man hintritt, schnauft ein Mensch.

Müller Wir brauchen einen neuen Krieg. Und Kolonien!

Strasser Ich verzichte auf Kolonien! Die kann ja jeden Augenblick herunter, hierher – sie wollte sich nur die Händchen waschen, und dann will sie die Leitung übernehmen, die Leitung!

Stille.

Emanuel  sieht sich um; flüstert: So etwas muß genau besprochen, daß keiner aus der Rolle fällt, und das Stichwort – Das war damals Theater, ein richtiges Theater, vom Krottenkopf raffiniert einstudiert, ich wundere mich noch heute über unser Talent! – Freilich Sie! Sie als anerkannter Mime – Sie müssen berücksichtigen, daß wir nur Laien – Pst! Sonst zerstört uns noch jemand die Komödie – Er erklärt unhörbar.

Alle stecken die Köpfe zusammen. Beratung.

Karl räuspert sich.

Max Wo?

Beratung.

Wann?

Beratung.

Was?

Beratung.

Wieso? In die Finsternis?

Strasser Jaja!

Ada nickt begeistert; wirft den Kopf in den Nacken; lacht lautlos.
Beratung.
Müller lacht kurz auf und schlägt sich auf den Schenkel.
Alle erheben sich.

Emanuel gedämpft: So. Und dann alle fort, nur der bleibt zurück.

Max  hat den Finger in der Nase: Ich?

Strasser Frag nicht so untalentiert!

Alle Gläser und Flaschen kommen auf den weißgedeckten Tisch, der lautlos in den finsteren Hintergrund geschafft wird.

Ada  zu Emanuel: Talentiert! Bubi, du bist ja ein Genie! Dir gebührt das ewige Leben!

Emanuel Vergiß nicht, daß ich zum Tode verurteilt bin, daß ich punkt fünf Uhr früh geköpft werde.

Ada Dieser Galgenhumor! Wenn es ein charmanter Henker ist, so will ich ihn bestechen.

Emanuel Ada!

Karl  zu Emanuel: Ruhe!

Ada  zu Emanuel: Du Sensation!

Müller  zu Strasser: Einen Augenblick! Wo hat die das Muttermal?

Strasser Schräg rechts.

Müller Von mir aus oder von ihr aus?

Strasser Von uns aus.

Karl verschwindet.

Ada  zu Müller: Herr Generaldirektor!

Müller Baronin!

Ada lächelt: Werden Sie sich in Ihre Rolle hineinleben können?

Müller Hineinknien, Baronin! In alles, was ich anfasse, knie ich mich hinein!

Ada Sympathisch –

Müller reicht ihr den Arm.

Ada hängt sich ein. Die echten Männer sterben nämlich aus, Herr Generaldirektor.

Müller schlägt einigemal die Hacken zusammen; ab mit Ada in den Hintergrund.
Emanuel folgt ihnen.
Strasser will auch ab.

Max Halt! – Ich tu nicht mit.

Strasser unterdrückt: Bist du wahnsinnig geworden?!

Max Nein, aber ich habe schon einmal geschworen – und ich fürchte, ich werde wieder schwören müssen. Schwörst du mir, daß ich nicht wieder schwören muß?

Christine erscheint.
Strasser erblickt sie; setzt sich.

Christine Ich dachte, du würdest mich holen, ich habe am Zimmer gewartet. Du weißt doch, daß ich mich fürchte: allein durch so dunkle Treppenhäuser.

Strasser Nein, das weiß ich nicht.

Christine Ich habe es dir doch zuvor gesagt, und du hast es schon vergessen?

Strasser Ich habe ein ganzes Hotel im Kopf. Er erhebt sich. Hast du dich sehr gefürchtet? Ich meine, du bist doch nun allein – Stille.

Christine Warum bist du nicht gekommen?

Strasser  drückt sich: Ich kann nicht bleiben. – Setz dich nur. Und guten Appetit.

Ab in den finsteren Hintergrund. Christine unschlüssig; überlegt; setzt sich langsam an den Tisch, mit dem Rücken zur spanischen Wand.
Max stellt sich ihr gegenüber und reicht ihr die Speisekarte.
Christine blickt hinein, ist aber anderswo.

Stille.

Christine  ohne ihn anzusehen: Sagen Sie: könnte ich kein anderes Tischtuch? Dies verdirbt den Appetit.

Max  ist etwas unsicher; unterdrückt erregt: Leider – Wir haben nämlich nur wenige weiße Tischtücher, und die sind beschmutzt. Man könnte zwar auch Bettücher, aber die sind zerfetzt, da wir nur unruhige Übernachtungen – Alle unsere Gäste leiden nämlich an Albdrücken.

Stille.

Christine  hat nicht hingehört; blickt noch immer in die Karte: Kommt er bald wieder, der Herr Direktor?

Max Jetzt ist er fort, Christine.

Christine starrt ihn an.

Max  lächelt verwirrt. Ja, er ist fort, ganz fort, jetzt ist er fort, sozusagen: fort –

Christine  entgeistert: Wer?

Max Der Herr Direktor, Christine.

Christine schnellt empor.

Max unterdrückt. Jesus Maria Joseph! Setz dich! So setz dich!

Christine setzt sich.

Max sieht sich scheu um; beugt sich über den Tisch; leise. Ich muß nämlich hier einschalten, daß ich meinen Beruf verliere, wenn die Direktion erfährt, daß – Man hat es nämlich nicht leicht als Liebeshummer. Oh, und ob ich dich sofort wiedererkannt habe! Zuvor: in der Halle, aber als Kellner muß man selbst die edelsten Empfindungen, wie zum Beispiel Eifersucht, ersticken, will man weiter Kellner bleiben, was man ja muß. Christine, hast du denn all die holden heißen Stunden vergessen? Oh, rede! Sag! Sprich! Er zuckt zusammen. Pst! Schweig! Still!

Emanuel  kommt; hält einen Augenblick, tritt dann an den Tisch; verbeugt sich: Verzeihen, Gnädigste, daß ich mich an Ihrem Tische niederlasse, aber ich muß Sie leider belästigen, da ich, wie Sie sich selbst überzeugen können, nirgends anderswo – und ich bin froh über meine Unfähigkeit. Er setzt sich.

Max verschwindet.
Emanuel fixiert sie durch das Einglas.
Christine weicht seinen Blicken aus.

Emanuel lächelt. Pardon! Ich habe soeben gesagt, ich sei froh über meine Unfähigkeit. Über die Unfähigkeit, mich an einen anderen Platz – Pardon! Er sieht sich um. Jetzt sind wir allein.

Christine starrt ihn an; krallt in das Tischtuch.

Pardon! Aber es ist alles vergänglich, und das tut weh. Sehr weh. – Vor vier Stunden noch hätte ich den auf Pistolen gefordert, der es gewagt hätte zu behaupten, daß du die Direktion umarmst –

Christine schnellt empor und will rasch ab nach rechts.
Karl erscheint; verstellt ihr den Weg.

Was wollen Sie, Chauffeur?

Karl  stiert Christine an: Herr Baron möchten mal nachsehen. Die Vierradbremse hat sich den Magen verstimmt und die Kerzen brennen, als wäre es Weihnachten, – bald explodiert der Tank – Halt! Er packt Christine am Handgelenk.

Emanuel Lassen Sie die Dame los!

Karl  reißt sie an sich und küßt sie: Ha du!

Strasser erscheint im Hintergrunde.
Emanuel nickt ihm grinsend zu und applaudiert lautlos.

Strasser  räuspert sich; tremoliert erschüttert: Christine! Christine!

Christine reißt sich verzweifelt los; wankt.

Emanuel  zu Karl: Sie sind entlassen, Sie Subjekt!

Karl  zuckt die Achsel: Man darf doch wohl noch eine alte Bekannte begrüßen.

Christine schreit gellend auf.

Emanuel überschreit sich: Hinfort! Verlogener Bandit!

Karl Hoho! Hoho!

Strasser  stützt sich auf den Tisch: Christine – Christine –

Karl Die Erotik, Sie Herr Baron, kennt keinen Standesunterschied, vorausgesetzt, daß ein Auto vorhanden ist. Da wiegen andere Unterschiede! Solider Brustumfang und so! Ha, Chrysantheme?

Max tritt von links mit einem riesigen Kunstchrysanthemenstrauß rasch ein und eilt auf Christine zu.
Christine bricht lautlos zusammen; fällt ohnmächtig vornüber.
Alle starren auf sie unbeweglich.

Stille.

müller  kommt aus dem Hintergrunde; überblickt überrascht die Lage; unterdrückt: Na was, was hat sie denn?

Strasser  hebt den Arm: Pst!

Stille.

Emanuel  leise: Still, nur still – Es gibt ja auch Simulanten – bekanntlich.

Stille.

Emanuel  flüstert zu Karl: Abgesehen davon: sie heißt doch nicht Chrysantheme, Herr, sie heißt Christine.

Karl  brummt: Blume bleibt Blume.

Max  hat sich verhört; schwätzt nervös vor sich hin: Chrysantheme bleibt Chrysantheme. Ich kenn doch die Chrysantheme – hier, allerdings aus Papier, aus Kunst, aber das macht nichts, denn es sind ja Chrysanthemen –

Müller laut: Ich bezweifle, daß sie simuliert.

Stille.

Emanuel Eigentlich müßte man nachsehen, selbst wenn sie simulieren sollte.

Strasser  beugt sich über sie: Dann erst recht.

Müller  beugt sich auch über sie: Hoppla, Blut!

Karl  grinst: Das Auge geschlossen. Und ausgezählt.

Max K. o.?

Emanuel Nur kein Blut! Sonst wird mir übel.

Müller Keine Sorge!

Strasser  zündet sich eine Zigarette an: Nur geritzt.

Emanuel Blut bleibt Blut.

Max  schwätzt wieder: Chrysantheme bleibt Chrysantheme. Gong. Zwote Runde. Der blonde Neger fightet los. Mörderisch. Serie. Serienmörderisch. Das Favoritenauge schließt sich, achte Runde, obwohl er klar nach Punkten führt. Jedoch ein geschlossenes Auge kostet den blauen Gürtel der Meisterschaft, der Vereinsweltmeisterschaft, obzwar es ja auch ein lila Gürtel gewesen sein mag – überhaupt diese Weltmeisterschaft! Eins, zwo, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf! Er hebt den Strauß.

Christine wimmert; zuckt; schlägt mit den Armen auf das Parkett.
Emanuel, Karl, Müller zogen sich etwas zurück, ins Halbdunkle.
Strasser steht hinter Christine.

Christine  stützt sich schwerfällig empor, kauert und sieht scheu, verstört um sich; sie blutet über dem linken Auge: Wer, wer hat mich niedergeschlagen? Wer? Sie erblickt Max mit dem Blumenstrauß

Max verbeugt sich tief.
Christine entsetzt, will schreien, kann aber nicht; schnellt auf, flieht, erblickt Strasser, stürzt auf ihn zu, stolpert, bricht in die Knie, kriecht zu ihm und küßt seine Hand.
Strasser läßt sie sich küssen.

Christine leise: Mein bist du – du mein du, mein höchstes Glück –

Strasser  dumpf: Es dürfte zu furchtbar sein, die Nichtigkeit des höchsten Glückes zu sehen.

Emanuel souffliert: Es ist zu furchtbar!

Strasser Ist es auch. Richtig.

Christine Nicht so, nicht so sein – nicht du so sein –

Strasser Wie?

Christine Du bist nicht so, so wie du denkst. Ich kenne dich ja, wie mich – wenn ich nur wieder denken könnte – Wo? Wann? Wie? Was? Sie klammert sich an sein Bein und schreit verzweifelt. Strasser! Wo bin ich? Ha, ich bin auf der Flucht! Die Polizei! Rette mich! Rette mich! Die Polizei behauptet ja, ich, ich hätte unser Kind zur Seite, ich hätte unser Kind erwürgt, zerstückelt und in Zeitungspapier –

Strasser hält ihr den Mund zu.

Stille.

Max Großer jüdischer Gott!

Stille.

Emanuel  leise: Das ändert die Situation.

Karl  ebenso: Jetzt bin ich aus der Rolle gefallen.

Max Das Stichwort, das Stichwort –

Stille.

Müller Na gute Nacht!

Christine  hat sich beruhigt; tonlos: Es war keine gute Nacht. Dieser Traum, dieser entsetzliche Traum –

Strasser  atmet auf: Traum?

Christine Nur ein Traum. Aber es hätte Wirklichkeit werden können –

Max Psychoanalytisch hochinteressant.

Christine Ich war unschuldig, aber alles schwor gegen mich, vor allem die Not. Und dann hatte ich auch kein Alibi, ich war immer allein – und dann überschlug ich mich. Stürzte. Kopfüber! Schneller und schneller! Drehte mich, wand mich – Oh, ich glaube, ich drehe mich noch! Drehe mich, drehe mich – Ich bin das Drehen! Strasser! Wo schlag ich auf?!

Strasser Ich bin kein Prophet.

Christine Kopfüber!

Strasser Fasse dich! Du warst lediglich in Ohnmacht gefallen und bist vierundzwanzig Stunden ohne Besinnung gelegen.

Emanuel Bravo!

Strasser Du hast das Bewußtsein verloren, weil du ausnahmsweise der Wahrheit begegnet bist.

Christine Was ist die Wahrheit? Sie erblickt Max; starrt ihn ängstlich an.

Strasser Ach, könnte man nur so in Ohnmacht fallen! Nur einmal so sich drehen, hindrehen, herdrehen, herumdrehen – Ich bin verdammt, alles bei Bewußtsein zu verdauen, zu sehen und hören, wie die eigenen Gedärme arbeiten.

Emanuel  kichert unterdrückt; zu Müller: Der absolute Hölderlin?

Müller Wer ist Hölderlin?

Christine  erhebt sich scheu: Wer? Wer ist das? Du, wer ist das dort mit den Blumen?

Strasser Du kennst ihn.

Christine Nein.

Strasser So kennt er dich!

Christine Nein!

Max Christine!

Christine Wir kennen uns nicht, mein Herr!

Strasser  zu Christine: Du kannst es ruhig zugeben, daß er dich kennt. Es ist alles an den Tag gekommen.

Max Durch die Sonne, wahrscheinlich.

Christine  schreit: Nein, nein! Wir kennen uns nicht! Der irrt sich, verwechselt mich, täuscht sich! Der lügt ja! Lügt! Lügt!

Emanuel gibt Max Zeichen, daß er sprechen soll.

Strasser  zu Christine: Still!

Max  ist noch immer unsicher: Christine. Laßt also Chrysanthemen sprechen. Blumen lügen nämlich nie. Auch Chrysanthemen lügen bekanntlich nie. – Die Liebe ist eine Blume, und unsere Chrysantheme blühte im Verborgenen, war gewissermaßen ein Gewächs der Nacht. Mond und so. Aber über Nacht, da schien die Sonne mitten in der Nacht. Man kann es gar nicht erfassen. Kaum glaublich, schier unglaublich, aber ich habe um eine Chrysantheme mein Brot verloren. Nun ziehe ich dahin. Ach, wohin? Woher, wohin?

Christine Träume ich?

Max Chrysantheme. Trockne und presse diesen Strauß zum Gedenken an deinen dich liebenden Emil Krause aus Chemnitz.

Emanuel  für sich; grimmig: Das auch noch! Gott, wie blöd!

Müller ebenso: Wenn Emil improvisiert –

Karl  ebenso: Schlimm!

Christine Träume ich das?

Strasser Nein!

Christine  fährt sich mit der Hand langsam über die Augen; leise: Nein? – Nein?

Strasser Auf alle Fälle schmerzt es mich zutiefst da drinnen, daß du mich mit meinem eigenen Oberkellner betrogen hast.

Christine Du sprichst chinesisch! Sind wir in China?!

Strasser Wir sind in Deutschland. Ich spreche deutsch. Kerndeutsch! – Höre: ich habe bereits des öfteren Verdacht gefaßt, aber oh wie war ich feig: ich wich dem ungetrübten Auge der Wahrheit aus.

Christine Pfui, wie gemein!

Strasser Die Wahrheit ist immer gemein!

Max Hm.

Emanuel unterdrückt zu Max: Ab!

Christine  starrt Strasser an: Wie anders du aussehen kannst, nein, wie anders – jetzt sehe ich –

Strasser Was?

Christine Daß die recht behalten, die mich warnten.

Strasser Vor der Wahrheit?

Christine Nein, vor dir.

Strasser Man hat dich gewarnt?

Christine Ja.

Strasser Wer?

Christine Alle. Alle. Alle – Sie nähert sich ihm und hängt sich an ihn – aber, aber ich kann ja nicht, ich kann es nicht glauben – nur meinen Gefühlen bin ich gefolgt, allen zu Trotz der inneren Stimme, die nie trügt. Dem Herz.

Strasser  lächelt schmerzlich: Tja! Ich habe ein goldenes Herz –

Christine Du, es flüstert in mir: wir zwei sind von der Vorsehung für einander bestimmt –

Strasser Flüstert?

Christine haucht: Ja – Bei dir vergesse ich mich selbst.

Stille.

Strasser  reißt sich plötzlich los von ihr: Aha! Aha! Jawohl! Wir zwo waren von der Vorsehung für einander bestimmt, aber du hast die Vorsehung belogen! Schamlos belogen! Schamlos belogen! Ja, du! Ist ja gar nicht wahr! Ist ja alles verlogen! Du vor allem! Ich habe ja gar kein Kind! Kein einziges! Und wie überschäumte ich schon vor Glück, eines zu haben, zu bekommen haben! Ja, wagst du zu leugnen, Weib, daß, während ich dir zu Füßen lag, du über mein Haupt hinweg und hinter meinem Rücken umeinandergebuhlt hast?! Wagst du die Wahrheit zu widerlegen, die Wahrheit?! Oh, es ist alles verlogen, alles!

Christine  krümmt sich: Nein, das ist nicht wahr –

Strasser Wie? – Darf ich bitten, Herr Baron?

Emanuel Herr Strasser! Ich verwahre mich auf das Entschiedenste gegen die öffentliche Erörterung intimer Seelenqualen –

Strasser  unterbricht ihn: Mehr Licht!

Emanuel Kein Skandal!

Strasser Haha! Was frägt ein Herz, ein goldenes Herz, das verwundet umherzuckt, gekränkt, getreten, gemordet – was kümmert solch ein Herz das Wort Skandal?! Solch Herz schlägt auf den Tisch: Tabula publico! Coram rasa! Solch Herz soll auf der Stelle blind umfallen, wenn es dir, ja dir, du Schlange, auch nur in Gedanken untreu sündigte! – Und du? Und du?! Sieh die Blumen, die Blumen! Auto und Chauffeur! Zu dritt, zu dritt! Und das Tabarin! Zu viert! Zu fünft!!

Emanuel formell: Wir sprechen uns noch, Herr. Denn selbst wenn es Hunderte waren, stelle ich mich schützend vor eine Dame. Obwohl sie mich mit meinem eigenen Lakai betrogen hat, bleibe ich dennoch bis zum letzten Tropfen Kavalier. Das ist Kinderstube, Herr!

Strasser Keine Komplikationen!

Karl Prozeß?

Strasser Ich schwöre.

Karl Klar!

Max bekreuzigt sich.

Christine  starrt vor sich hin; tonlos: Es waren keine hundert, keine hundert –

Strasser So waren es fünf!

Emanuel Den Prozeß, Madame, dürften Sie kaum gewinnen. Behörden bereiten nur zu gerne Unannehmlichkeiten, denn sie nehmen den Lebenswandel scharf unter die Lupe – unter das Mikroskop!

Strasser Oh, es gibt noch einen Gott!

Christine dumpf: Jetzt weiß ich nicht mehr, ob es einen Gott gibt. Wenn ich nur verzweifeln könnte. Muß man denn immer lügen –

Strasser Das frage dich!

Christine Ja, mich selbst –

Karl Was war das mit dem Tabarin?

Christine schreit: Ich kenne kein Tabarin!

Emanuel gibt Müller ein Zeichen; klatscht in die Hände. Müller hatte sich etwas zurückgezogen; lacht schallend.

Strasser Kommen Sie nur, Herr Generaldirektor! Kommen Sie nur!

Müller nähert sich langsam Christine; hält vor ihr; fixiert sie dreckig.

Stille.

Du kennst kein Tabarin?

Stille.

Kennst du mich?

Stille.

Nanana! Tu man nicht so! So vom Mond importiert! Das wäre schon unverschämt, ja! – Was suchst du hier? Was? Wie? Hier hast du nichts verloren! Verstanden?! Willst du einen biederen Bürgersmann, einen kreuzbraven Gewerbetreibenden, meinen Schulkameraden Strasser in Unkosten stürzen? Denkst wohl, die würzige Luft hier schadet weder dir noch deinem Bankert? Verstanden?! Aushalten willst du dich lassen, aushalten! Nur nichts arbeiten, was? Wie?

Christine Bin ich wahnsinnig geworden? – Hilfe!

Müller Wer hilft Nutten? Kein Aas! Kein Gott! Er ergreift ihren Arm. Was macht das Muttermal? Das Muttermal! Hoppla, da wird wer bleich und blaß! Das Muttermal, das Muttermal! Rechts, schräg rechts! Von mir aus!

Christine Was für Muttermal?

Müller schüttelt sie: Lüg nicht, Nutte!

Christine Ich hab kein Muttermal! Au! Lassen Sie los! Sie reißt sich los und flieht. Ich habe kein Muttermal!

Strasser Sollte ich mich geirrt?

Christine hört es; hält ruckartig; begreift allmählich.

Karl  zu Strasser: Rindvieh!

Stille.

Emanuel  faßt sich; zu Christine: Richtig! Aber natürlich! Sie haben kein Muttermal! Freilich!

Stille.

Max Muttermal ist ganz anders.

Stille.

Strasser verwirrt: Es dreht sich hier nicht um das Muttermal, es dreht sich hier darum, daß nach dem Gebote der Redlichkeit du von mir nicht verlangen – nach all dem was geschah, nicht verlangen, daß ich mein Geld, das ich gar nicht habe, für irgendein Kind –

Christine  unterbricht ihn; sie steht in einiger Entfernung mit dem Rücken zu den anderen: Es dreht sich hier nicht um Geld.

Stille.

Müller Haha!

Emanuel Pah!

Karl Quatsch!

Strasser Ich hasse Illusionen!

Müller ›Nicht um Geld‹!

Max  zu Christine: Sondern?

Stille.

Christine  in leicht singendem Tonfall, voll unterdrückter Erregung: Wollen mich die verehrten Herren ausreden lassen?

Die verehrten Herren setzen sich.

Ich wollte alles, was ich besitze, dem Manne geben, dem ich mein Herz gab, dem Vater des Kindes, alles. Vielleicht dachte ich an frühere Zeiten. Ich wollte helfen, sonst nichts. Ich wollte das Hotel zur schönen Aussicht verbessern, vergrößern und neu möblieren –

Strasser scharf: Mit was denn?

Christine Ich habe zehntausend Mark.

Die werten Herren schnellen empor.

Stille.

Max Ist das wahr?

Müller Zehntausend –

Strasser Betrag! Betrug! In den Briefen stand nichts als Jammer und Not und ins Wasser! ›Zehntausend Mark‹! Erstunken und erlogen!

Christine Still! – Not und Jammer stand nicht nur in den Briefen, und ich wäre ins Wasser gegangen, hätte sich nichts geändert.

Karl Hast das große Los gezogen?

Christine Vielleicht.

Emanuel Pfui, wie dumm!

Müller Der typische Roman!

Christine Im Herbst wurde ich abgebaut und ich hätte noch gestern nicht einmal das Fahrgeld nach hierher gehabt und wär noch gestern vielleicht gar ins Wasser gegangen, hätte mir nicht der liebe Gott geholfen.

Strasser Was verstehst du unter ›lieber Gott‹?

Christine Zehntausend Mark.

Stille.

Ich habe dir erzählt, daß ich eine Doppelwaise bin. Mein Vater fiel bei Verdun, und meine Mutter starb in der Inflation. Aber ich hatte eine Tante in St. Gallen, die hinterließ mir zehntausend Mark, zahlbar wenn ich volljährig – Ich bin am 14. März geboren. Also wurde ich gestern einundzwanzig Jahre alt.

Stille.

Strasser  vor den Kopf geschlagen: Warum, warum hast du mir das nicht gleich anvertraut?

Christine Was?

Strasser Das mit dem lieben Gott, dem Geburtstag.

Christine Wolltest mir gratulieren?

Strasser  erregt; unterdrückt: Also bitte, bleiben wir nur hübsch bei der Wahrheit!

Christine Ich hatte Angst vor der Wahrheit. Vor dem Geburtstag. Vor dem lieben Gott.

Strasser Ist das nun dumm oder gemein?

Christine Minderwertig!

Stille.

Strasser Du! Du wolltest als Bettelkind gefreit werden, du Kitsch!

Christine Ja, das wollte ich.

Max Rosarot und himmelblau!

Christine Jetzt ist es mir, als hätte ich nie daran gedacht, diese schöne Aussicht neu zu möblieren. Jetzt lach ich mich selber aus.

Strasser Triumphiere nur! Ein trauriger Ruhm!

Emanuel Minderwertig.

Christine Entschieden!

Stille.

Strasser. Die Post ist zuverlässig. Ich habe alle Briefe erhalten.

Stille.

Christine Nun muß ich fort. Sie will ab, hält aber nach einigen Schritten. Wann fährt der erste Zug?

Max Wohin?

Christine Fort.

Max Fünf Uhr sieben.

Christine Danke. Ab.

Die werten Herren starren ihr nach; betrachten sich gegenseitig verstohlen, weichen sich aus; gehen hin und her; kreuz und quer.

Stille.

Max  schüttelt den Kopf: Das begreife ich nicht, das begreife ich nicht! Komisch. So ein Zufall!

Strasser Komisch?

Karl Zehntausend? Das ist kein Zufall, das ist Glück!

Strasser grimmig: Der liebe Gott!

Stille.

Müller Mit zehntausend ist man Millionär.

Max Ist das soviel Geld?

Emanuel Sie Kind!

Stille.

Karl Ich hatte mal zehntausend –

Max  unterbricht ihn: In Portugal?

Karl  zuckt zusammen, hält und stiert ihn an: Was soll das schon wieder?

Max Der Zufall ist eine eigenartige Einrichtung. Eigentlich undramatisch, aber man trifft ihn trotzdem. Ab und zu.

Müller Wenn man bedenkt, wie man sich um sechs Kisten Sekt raufen muß –

Emanuel Man soll gar nicht denken – Man könnte leben. Ja, nicht nur das! Auch aufatmen!

Max Als Millionär könnte man auf den Himalaya, nach Bali und Berlin, über den Ozean fliegen, im Sandmeer baden, Krieg führen, ja sogar Frieden stiften –

Karl  unterbricht ihn: Wann fährt der Zug?

Max Nach Paris?

Karl Nach Chemnitz!

Max überrascht: Nach Chemnitz?

Karl  brüllt ihn an: Nein, nach Kalkutta!!

Max Fünf Uhr sieben.

Emanuel Es wäre Pflicht, die Dame rechtzeitig zu wecken, damit sie den Zug nicht versäumt.

Max Die Dame hat es zwar nicht befohlen, aber die Pflicht –

Müller unterbricht ihn: Ich werde wecken!

Karl Ich!

Strasser Ich! Man kann sich nämlich auf das Personal nicht verlassen und die p. t. Gäste darf man doch nicht bemühen, Herr Generaldirektor.

Emanuel Pardon! Ich bringe kein Opfer, da ich nun so nicht schlafen kann –

Karl  unterbricht ihn: Ich dachte, Sie sind mondsüchtig, Baron!

Emanuel  lächelt spöttisch: Es ist Neumond, Herr.

Max  sieht empor; verträumt: Der Mond. – Damals schien der Mond. Voll Sehnsucht und Sinnlichkeit. Reifer Sinnlichkeit. Dito Sehnsucht. Ach, du Mond! Wo blieben all die holden heißen Stunden, die herrlichsten Stunden meines Lebens?

Strasser Was für Stunden?

Max Kavalier schweigt.

Strasser brüllt: Was für Stunden?!

Max Mein Herr. ›Vater‹ ist ein gewaltiges Problem. Ein Fragezeichen!

Karl Apropos Fragezeichen: bekannt kommt sie mir vor. Verteufelt bekannt!

Strasser Wer?

Müller Wen der Beruf zu reisen zwingt, der weiß nie, wo er sein Kind trifft.

Emanuel Ich liebe Kinder. Über alles.

Strasser setzt sich.

Ada  erscheint verschlafen; setzt sich neben Strasser und betrachtet ihn von oben bis unten genau; lächelt liebevoll:

Nun? – Nun? – Wenn ich nur nicht so erschlagen wäre – Nun? Hast du die Hure hinausgeworfen, ja?

Strasser nickt ja.

Charmant! – Ich habe ja leider Gottes nur den Anfang vernommen, dann bin ich entschlummert – aber ihr seid Künstler – charmant! Sie tätschelt seine Wange; gähnt. Du – Wie schade, schade, schade, daß ich so müde – du –

Strasser tonlos: Gute Nacht.

Ada  legt das Haupt auf den Tisch: Danke – danke dir, daß du die hinausexpediert – Sie gähnt. Ein gutes Gewissen ist ein sanft Ruhekissen.


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