Edmund Josef von Horváth
Ein Kind unserer Zeit
Edmund Josef von Horváth

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Der Schneemann

Zwei Tage sind vorbei und heut bin ich wieder der alte. Gestern und vorgestern war ich nämlich schon sehr unruhig vor lauter Unsicherheit, ob es nämlich aufkommt oder nicht, daß ich es gewesen bin. Ich fing sogar schon wieder an, mit dem lieben Gott zu reden.

Man muß ihm etwas geben, erinnerte ich mich dunkel, irgend etwas, und wärs das kleinste, er ist für alles dankbar –

Als wär er ein Bettler.

Schenk ihm etwas –

Schenk dem ersten Bettler, der dir begegnet, schenk ihm fünf Taler –

Doch halt! Du hast ja nur noch einen.

Aber auch ein Taler ist viel Geld und er wird für dich immer mehr.

Schenk alles dem ersten Bettler, damit es nicht ans Licht kommt!

So ging ich ruhelos durch die Stadt, aber ich traf nirgends einen Bettler, als hätte sie alle die Hölle verschluckt, die Herrschaften wollten anscheinend nichts mehr von mir wissen –

Und das war auch sehr gut so, denn im heutigen Morgenblatt steht endlich eine kurze Notiz, daß ein Buchhalter auf dem Heimweg tödlich verunglückt ist. Infolge seiner starken Kurzsichtigkeit scheint er in der herrschenden Finsternis auf dem vereisten Gehsteig ausgeglitten und in den Kanal gestürzt zu sein. Er hinterläßt eine trauernde Witwe, einen verheirateten Sohn und zwei ledige Töchter.

Ja, es kommt nicht auf.

Es gibt doch noch eine höhere Gerechtigkeit.

Und das Morgenblatt fragt die zuständige Behörde: wann kommt endlich das Geländer am Kanal?

Ja, wann?

Jetzt ist es Nachmittag – vor zwei Tagen um diese Zeit war es noch hell.

Über Nacht ist es Winter geworden und die Eisblumen blühen im Fenster.

Ich sitze im Zimmer meines Vaters und habe gerade einen Brief geschrieben, einen Brief an das Fräulein, das mein Schwesterlein geworden war.

»Wertes Fräulein«, hab ich geschrieben, »Sie werden sich wahrscheinlich nicht mehr an mich erinnern, aber ich wollt Ihnen immer schon schreiben. Ich war Soldat und war einst gerne Soldat. Zwar kenn ich Sie nur vom Sehen aus, aber ich hab oft an Sie gedacht und hab Sie auch überall gesucht. Heut kenne ich Ihr trauriges Unglück und vertrauen Sie mir, daß ich Sie nicht vergessen werde und Ihnen immer nach besten Kräften helfen will, denn ich liebe die Gerechtigkeit« –

Ich klebe den Brief zu und geh hinab auf die Straße, um ihn aufzugeben.

Seit gestern ist es bitterkalt.

Die Luft verdämmert dunkelblau – ja, jetzt regiert das Eis.

Und da ich den Brief in den Kasten warf, hielt ich nichts mehr in der Hand. Die Hand gehört zu meinem Arm und den werd ich wohl nie verschmerzen, solang ich noch zu leben hab.

Der wird mir keine Ruhe geben –

Wer weiß, ob sie meinen Brief bekommt.

Wer weiß, ob sie antworten wird.

Sie darf es ja nie erfahren, was ich ihretwegen schon alles tat.

Denn das war zu gefährlich für mich.

Weiber schwätzen immer –

Und was hat sie denn auch davon, daß die Behörde noch immer kein Geländer gebaut hat?

Egal!

Ob es ihr nützt oder nicht: es kümmert mich nicht, was werden soll, es kümmert mich nur, was nicht sein darf.

Es darf nicht sein, daß der einzelne keine Rolle spielt, und wärs auch nur ein letztes Fräulein.

Und jeder, der das Gegenteil behauptet, der gehört ausradiert – mit Haut und Haar!

Was hinterher kommt, das steckt noch im Nebel der Zukunft.

Jetzt ist er fort, mein Brief. –

So geh ich die Straßen entlang.

Langsam oder schnell, es wird mir nicht klar und ich versuche alles in mir zu ordnen, aber so sehr ich mich auch anstreng, immer wieder muß ich von vorne beginnen und plötzlich fühl ich mich ganz verlassen, als wär das Herz hinaus aus mir – vielleicht auf Nimmerwiedersehen.

Einst dachte ich, mit dem Haß werden wir weiterkommen. Da marschiert ich in Reih und Glied –

Wie dumm ich war, wie dumm ich war!

Denn wenn auch immer einer neben dir marschiert, rechts und links, Tag und Nacht, so bleibst du doch immer ein einsamer Gletscher.

Und die Berge, sie wachsen Tag und Nacht, aber du, du gehst zurück.

Du ziehst dich in dich hinein und hockst in dir drinnen wie eine alte Eule.

Am Tag bist du blind und in der Nacht fängst du nichts.

Denn wo du umherfliegst, hört das Leben auf.

Verhunger oder friß dich selbst! –

Ich halte und schau mich um.

Wohin geh ich da eigentlich?

Du bist schon so weit von zu Haus –

Kehr um!

Du bist ja bereits so müde geworden – natürlich–natürlich, kein Wunder! Das ist nur das Resultat dieser beiden letzten Tage und besonders der Nächte, die möcht ich nicht noch einmal haben, es strengt nämlich an, wenn man sich fürchtet.

Unwillkürlich muß ich lächeln.

Jetzt ist ja alles in Ordnung!

Er ist auf dem vereisten Gehsteig ausgeglitten usw., usw. Geh nur zu –

Bleib noch etwas an der Luft, damit du besser schlafen kannst.

Ich kehre nicht um, und die Häuser werden weniger.

Rechts beginnt ein eiserner Zaun und hinter ihm stehen viele weiße Bäume und Sträucher, groß und klein –

Aha, ein Park.

Es ist niemand zu sehen und ich atme tief.

Es riecht nach Schnee.

Hier ist es wirklich schön.

Ein hohes Tor taucht vor mir auf und auf dem Tor hängt eine Tafel: »Geöffnet von 8 Uhr früh bis zum Einbruch der Dunkelheit.«

Es ist zwar schon dunkel geworden, aber das Tor ist noch offen – komm, tritt ein!

Die silbernen Sternlein funkeln so klar, als wär der Himmel schwarzer Samt. Aber im Osten hängt eine Wolkenwand, ein ganzes Wolkengebirge – jaja, es wird wieder schneien in der Nacht.

Und wie ich so durch den Park geh, wirds mir ganz eigen zumut, denn wenn mich nicht alles täuscht, muß nach der nächsten Ecke ein Kinderspielplatz kommen – richtig, da kommt er auch schon, mein Platz!

Hier hast du ja mal im Sand gespielt, erinner dich nur! Hast Burgen gebaut und eine Stadt – wo blieb die Burg, wo blieb die Stadt? Der Sand ist verschneit.

Vorbei, vorbei!

Es kommt eine neue Zeit.

Ich setze mich auf eine Bank und schließe die Augen.

Wie still die Welt werden kann –

Und wie lautlos manches geht und kommt.

Zum Beispiel die Erinnerung –

Auch aus den fernsten Winkeln.

In den Bäumen tickt eine Uhr – schlaf nur nicht ein!

Ich gähne und gähne, als kam eine große Nacht. Ja, es wird Zeit, daß du umkehrst, sonst schließt man noch das Tor.

Ich schrecke zusammen – was dachtest du da? Was war das für ein komischer Satz?

Der hatte doch gar keinen Sinn? –

Jetzt kommt der Schnee.

Der Wind treibt ihn mir ins Gesicht – es juckt und zwickt, als wärens lauter Ameisen.

Sie kriechen und bauen.

Es wird immer schärfer und kälter.

Und auf einmal, da find ich ihn wieder, meinen Satz, diesen komischen Satz von vorhin – jetzt kann ich ihn sogar auswendig:

Am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den erloschenen Augen und den feurigen Schwertern. Ob die Frau meines Hauptmanns den Brief zerriß?

Oder ob ihn einst jemand finden wird?

Andere Menschen –

Geh heim, sonst schließt man noch dein Tor!

Laß nur, laß! Jetzt schlafen auch schon die Ameisen und die Kälte wird wärmer werden –

Es schneit, es schneit – wie in einem Märchenbuch.

Wo bin ich denn schon?

Das Zimmer ist dunkel, ich sitz auf dem Boden.

Die Fenster sind hoch, ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt.

Jaja, nach einem Krieg gibts oft keine Kohlen –

Ich werde den lieben Gott fragen, warum es Kriege geben muß.

»Es ist kalt«, das bleibt meine erste Erinnerung – – –


Die Nacht vergeht, langsam kommt wieder ein Tag.

Ich bin voll Schnee und rühre mich nicht.

Es kommt eine junge Frau mit einem kleinen Kind.

Das Kind erblickt mich zuerst, klatscht in die Hände und ruft: »Schau, Mutti! Ein Schneemann!«

Die Mutti schaut zu mir her und ihre Augen werden groß.

Sie starrt mich entsetzt an und kreischt dann: »Um des Himmels willen!« Sie reißt das Kind mit sich weg und ich hör sie schreien: »Hilfe! Hilfe!«

Jetzt kommen die beiden wieder zurück, und noch einer ist dabei: ein Polizist.

Er bückt sich zu mir nieder und betrachtet mich aufmerksam. »Ja«, meint er, »der ist allerdings erfroren. Damit ists vorbei« –

Die Mutter wagt nicht mehr herzuschauen, aber das Kind kann sich kaum von mir trennen. Immer wieder dreht es sich um und schaut mich mit seinen runden Augen neugierig an.

Schau nur, schau!

Es sitzt ein Schneemann auf der Bank, er ist ein Soldat.

Und du, du wirst größer werden und wirst den Soldaten nicht vergessen.

Oder?

Vergiß ihn nicht, vergiß ihn nicht!

Denn er gab seinen Arm für einen Dreck.

Und wenn du ganz groß sein wirst, dann wirds vielleicht andere Tage geben und deine Kinder werden dir sagen: dieser Soldat war ja ein gemeiner Mörder – dann schimpf nicht auch auf mich.

Bedenk es doch: er wüßt sich nicht anders zu helfen, er war eben ein Kind seiner Zeit.


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