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Vor Einvernahme der Zeugen schaltet der Präsident eine Pause ein. Es ist Mittag. Der Saal leert sich allmählich, der Angeklagte wird abgeführt. Staatsanwalt und Verteidiger blicken sich siegesgewiß an.
Ich gehe in den Anlagen vor dem Justizpalast spazieren. Es ist ein trüber Tag, naß und kalt.
Die Blätter fallen – ja, es ist wieder Herbst geworden. Ich biege um eine Ecke und halte fast.
Aber ich gehe gleich weiter.
Auf der Bank sitzt die Mutter des Z.
Sie rührt sich nicht.
Sie ist eine mittelgroße Dame, fällt es mir ein.
Unwillkürlich grüße ich. Sie dankt jedoch nicht.
Wahrscheinlich hat sie mich gar nicht gesehen.
Wahrscheinlich ist sie ganz anderswo – –
Die Zeit, in der ich an keinen Gott glaubte, ist vorbei. Heute glaube ich an ihn. Aber ich mag ihn nicht. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er im Zeltlager mit dem kleinen R spricht und den Z nicht aus den Augen läßt. Er muß stechende, tückische Augen haben – kalt, sehr kalt. Nein, er ist nicht gut.
Warum läßt er die Mutter des Z so sitzen? Was hat sie denn getan? Kann sie für das, was ihr Sohn verbrach? Warum verurteilt er die Mutter, wenn er den Sohn verdammt?
Nein, er ist nicht gerecht.
Ich will mir eine Zigarette anzünden.
Zu dumm, ich hab sie zu Hause vergessen!
Ich verlasse die Anlagen und suche ein Zigarettengeschäft.
In einer Seitenstraße finde ich eines.
Es ist ein kleines Geschäft und gehört einem uralten Ehepaar. Es dauert lang, bis der Alte die Schachtel öffnet und die Alte zehn Zigaretten zählt. Sie stehen sich gegenseitig im Wege, sind aber freundlich zueinander. Die Alte gibt mir zu wenig heraus, und ich mache sie lächelnd darauf aufmerksam. Sie erschrickt sehr. »Gott behüt!« meint sie, und ich denke, wenn dich Gott behütet, dann bist du ja wohl geborgen.
Sie hat kein Kleingeld und geht hinüber zum Metzger wechseln.
Ich bleib mit dem Alten zurück und zünde mir eine Zigarette an.
Er fragt, ob ich einer vom Gericht wär, denn bei ihm kauften hauptsächlich Herren vom Gericht. Und schon fängt er auch mit dem Mordprozeß an. Der Fall sei nämlich riesig interessant, denn da könnte man deutlich Gottes Hand darin beobachten.
Ich horche auf.
»Gottes Hand?«
»Ja«, sagt er, »denn in diesem Falle scheinen alle Beteiligten schuld zu sein. Auch die Zeugen, der Feldwebel, der Lehrer – und auch die Eltern.«
»Die Eltern?«
»Ja. Denn nicht nur die Jugend, auch die Eltern kümmern sich nicht mehr um Gott. Sie tun, als wär er gar nicht da.«
Ich blicke auf die Straße hinaus.
Die Alte verläßt die Metzgerei und geht nach rechts zum Bäcker.
Aha, der Metzger konnte auch nicht wechseln.
Es ist niemand auf der Straße zu sehen, und plötzlich werde ich einen absonderlichen Gedanken nicht mehr los: es hat etwas zu bedeuten, denke ich, daß der Metzger nicht wechseln kann. Es hat etwas zu bedeuten, daß ich hier warten muß.
Ich sehe die hohen grauen Häuser und sage: »Wenn man nur wüßte, wo Gott wohnt.«
»Er wohnt überall, wo er nicht vergessen wurde«, höre ich die Stimme des Alten. »Er wohnt auch hier bei uns, denn wir streiten uns nie.«
Ich halte den Atem an.
Was war das?
War das noch die Stimme des Alten?
Nein, das war nicht seine – das war eine andere Stimme.
Wer sprach da zu mir?
Ich dreh mich nicht um.
Und wieder höre ich die Stimme:
»Wenn du als Zeuge aussagst und meinen Namen nennst, dann verschweige es nicht, daß du das Kästchen erbrochen hast.«
Das Kästchen!
Nein! Da werd ich doch nur bestraft, weil ich den Dieb nicht verhaften ließ!
»Das sollst du auch!«
Aber ich verliere auch meine Stellung, mein Brot –
»Du mußt es verlieren, damit kein neues Unrecht entsteht.«
Und meine Eltern?! Ich unterstütze sie ja!
»Soll ich dir deine Kindheit zeigen?«
Meine Kindheit?
Die Mutter keift, der Vater schimpft. Sie streiten sich immer. Nein, hier wohnst du nicht. Hier gehst du nur vorbei, und dein Kommen bringt keine Freude –
Ich möchte weinen.
»Sage es«, höre ich die Stimme, »sage es, daß du das Kästchen erbrochen hast. Tu mir den Gefallen und kränke mich nicht wieder.«