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Dritter Akt

1. Bild

Ein Jahr später, wieder in der Fremde, und zwar in Cherubins Nachtcafé, einem kleinen Emigrantenlokal. Bar, Piano und Nischen. Im Hintergrund der Eingang, rechts eine Tür nach der Küche. Es ist Abend, aber das Lokal ist noch leer. Susanne ist hier die Kellnerin und stellt soeben Blumen und Gläser auf die Tische. Ein Gast kommt, er könnte aus Großhadersdorf sein. Gedämpftes Licht.

Gast  setzt sich nicht: Mir scheint, ich bin euer einziger Gast.

Susanne  Wir sind ein Nachtcafé, mein Herr, und öffnen erst um zehn.

Gast  Bei euch wirds erst später lebendig?

Susanne  Ja, nach Mitternacht.

Stille.

Gast  betrachtet Susanne: Sind Sie eine Prinzessin?

Susanne  Ich?

Gast  In solch Emigrantenlokalen, hör ich, ist ein jeder ein Aristokrat. Der Chef ein Herzog, der Pianist ein Baron und die Kellnerin zumindest eine Hoheit – Er grinst.

Cherubin erscheint, doch Susanne und der Gast bemerken ihn nicht; er ist ein dicklicher, jüngerer Herr und hat ein rosiges Antlitz voll verschwommener Brutalität; er lauscht.

Susanne  lächelt: Ich bin keine Prinzessin.

Gast  Was denn sonst?

Susanne  Nichts.

Stille.

Gast  Traurig, traurig. Also, vielleicht komm ich nach Mitternacht. Wiedersehen, schönes Nichts! Ab.

Susanne  Wiedersehen, der Herr, Wiedersehen!

Cherubin  tritt vor: Susanne.

Susanne  schreckt etwas zusammen: Herr Chef?

Cherubin  Wie oft habe ich es dir schon eingeschärft, wenn dich einer für eine Prinzessin hält, dann mach ihm die Freud und sag ruhig ja, oder lächle zumindest zweideutig, es ist doch nicht der Sinn des Lebens, braven Leuten die Illusionen zu rauben und uns das Geschäft zu verpatzen – Er lächelt. Apropos Illusionen: ich hab mir heut ein neues Lied zusammengestohlen, es singt von einer großen Liebe, die nicht erwidert wird. Wüßtest du einen Titel?

Susanne  Ich kann nicht dichten, Herr von Cherubin.

Cherubin  Was hältst du von dem Titel »Susanne«?

Susanne  lächelt: Das ist doch kein Titel.

Cherubin  Wer weiß! Vielleicht wirds ein Welterfolg – Er setzt sich ans Piano.

Susanne  Wenn es »Susanne« heißt, dann sicher nicht.

Cherubin  Werden sehen! Er spielt und singt kitschig-leise.

Susanne, ich hab dich lieb,
Susanne, der Maientrieb
Treibt mich hin zu dir,
Weit weg von mir –
Der Frühling gibts mir kund:
Susanne, mein Herz ist wund.
Mein Blut ruft nach dir
Drinnen in mir –
Susanne, mein Auge bricht,
Ich sehe Himmelslicht.
Im Tod noch denk ich dein,
Dank dir für alle Pein –!

Nun?

Susanne  Sehr melodiös.

Cherubin  Ist das alles? Stille.

Susanne  Herr von Cherubin, es tut mir sehr weh, aber: benennen Sie, bittschön, Ihre Komposition nicht mehr nach mir.

Cherubin  Weißt du, was du bist?

Susanne  Ja. Undankbar.

Cherubin  Aber!

Susanne  Ohne Sie wär ich verhungert.

Cherubin  Aber – aber!

Susanne  Doch!

Stille.

Cherubin  fixiert sie freundlich: Unverbesserlich –

Susanne  Ich werd nie wieder heiraten.

Cherubin  Wars denn so schlimm?

Susanne  Lassens mich, ich bin ein verworfenes Wesen – ich danke den Menschen, die ich verachte, und die ich achte, die kommen mir komisch vor, und dann ist gleich alles aus.

Cherubin  Dieses Gefühl ist mir nicht fremd, aber ich habs mit der Emigration überwunden. Ich war ja mal ein großer Lebejüngling, noch vor – Er stockt plötzlich. Halt, wie lang ist denn das jetzt her, daß wir nicht mehr zu Hause sind?

Susanne  lächelt: Zweihundert Jahre.

Cherubin  grinst: Mindestens!

Stille.

Susanne  Wissen Sie, was heut für ein Datum ist? Heut kommt er frei.

Cherubin  Wer?

Susanne  Der Graf. Genau auf den Tag vor einem Jahr wurde er rechtskräftig verurteilt.

Stille.

Cherubin  Wird er herkommen?

Susanne  Ich erwart ihn schon jeden Augenblick.

Stille.

Cherubin  Willst du mir eine Frage offen beantworten?

Susanne  Wenn ich kann, gern.

Cherubin  langsam: Hattest du etwas mit ihm, dem Grafen?

Susanne  Ich? Wie kommen Sie darauf?

Cherubin  Nun, er war doch hinter dir her, noch vor deiner Hochzeit mit Figaro –

Susanne  Sie wissens doch, daß damals nichts passiert ist. Das ist doch allgemein bekannt.

Cherubin  Und jetzt? In der Emigration?

Susanne  Jetzt ist erst recht nichts passiert. Alles, was der Graf für mich tat, auch, daß er mich zu Ihnen protegierte, tat er aus purer Menschlichkeit.

Cherubin  Ein seltenes Wort.

Susanne  Es war aber so.

Stille.

Cherubin  Ist es wahr, daß die Gräfin gestorben ist, aus Kummer über das Verhältnis zwischen dir und dem Grafen?

Susanne  fährt ihn an: Wer sagt das?! Das ist ja die niederträchtigste Verleumdung! Die arme Gräfin wär wegen mir gestorben! Hören Sie: ich schwöre es Ihnen bei allem, was mir noch heilig ist, die arme Gräfin ist an der Grippe gestorben, und jetzt soll sie zur Tür hereinkommen, so wie sie starb, mit offenem Mund, und soll mich holen, ich hatte nichts mit dem Grafen, nichts, nichts, nichts, denn ich liebe einen Andern, einen, der mich zerstört hat und der mich keine Mutter werden ließ und den ich hasse wie die Pest!

Cherubin  Figaro?

Susanne  Ja. Dieses Letzte auf der Welt.

Es wird dunkel und auf dem Piano ertönt Cherubins Lied »Susanne«, von mehreren Personen gesungen und gesummt; als es wieder Licht wird, ist im Lokal Betrieb. Ein Pianist spielt und singt das Lied, und die Gäste summen es mit, auch jener Gast von vorhin, der wiedergekommen ist und nun an der Bar sitzt.

Susanne  zu Cherubin, der hinter der Bar steht: Hat er gegessen?

Cherubin  Er sitzt noch in der Küche.

Gast  zu Susanne: Wer sitzt in der Küche?

Susanne  Ein flüchtiger Bekannter – Sie läßt ihn stehen und serviert.

Gast  sieht ihr nach, zu Cherubin: Was sagen Sie, wie schnippisch die ist?

Cherubin  lächelt: Sie ist eine Prinzessin. Sie sagts nur nicht gern, weil sie sich schämt.

Pause.

Gast  plötzlich alkoholisiert: Wer sitzt denn in der Küche?

Cherubin  Niemand.

Gast  Herr, haltens mich nicht zum besten!

Cherubin  Herr, in der Küche sitzt nur das Personal und ein Bettler!

Gast  Wenn es ein Bettler ist, dann bringens ihm diesen Kognak – Er deutet auf sein großes, volles Glas. Aber sofort, bitt ich mir aus!

Cherubin  Wie Sie befehlen! – Grimmig ab in die Küche mit dem Glas.

Gast  ruft zu Susanne: He, Prinzessin, wer sitzt denn in der Küche? Ein Prinz? Er grinst.

Susanne  Ja. Sie kehrt ihm den Rücken zu.

Kommissar  kommt zu Susanne: Könnt ich mal den Chef sprechen? Polizei.

Susanne  schrickt zusammen: Sofort! Sie eilt an die Küchentüre und ruft in die Küche. Herr von Cherubin!

Cherubin erscheint.

Susanne  deutet auf den Kommissar. Der Herr möcht Sie sprechen – Leise. Polizei – Sie wirft einen ängstlichen Blick nach der Küche.

Cherubin  zum Kommissar: Bitte?

Kommissar  Es dreht sich um folgenden Akt: Sie beschäftigen hier eine staatenlose Kellnerin, deren Arbeitsbewilligung bereits vor vier Wochen abgelaufen ist –

Susanne  unterbricht ihn erleichtert: Ach, es dreht sich nur um mich?

Kommissar  mißt sie mit einem Blick: Ja, nur um Sie – Er wendet sich wieder an Cherubin. Sie muß ihre Stellung sofort verlassen, ansonsten macht sie sich strafbar und Sie, mein Herr, dito, Sie verlieren noch Ihre Konzession –

Cherubin  Aber ich kann doch das Fräulein nicht einfach auf die Straße –

Kommissar  unterbricht ihn: Tut mir leid!

Graf erscheint in der Küchentür, mit dem leeren Kognakglas in der Hand; er ist eine Ruine geworden, aber mit Spuren ehemaliger Eleganz; da er keinen Alkohol mehr verträgt, ist er von dem einen Glas bereits benommen.

Ich tu nur meine Pflicht, und der Einzelne spielt leider keine Rolle, Gesetz ist Gesetz.

Graf  lauscht: Gesetz?

Cherubin  zum Grafen: Ruhe, bitte!

Graf  Ich höre immer Gesetz.

Kommissar  zum Grafen: Mischen Sie sich da nicht in Amtshandlungen!

Graf  Eure Amtshandlungen, die kenne ich schon, und in eure Gesetze da müßt man sich mal hineinmischen – höchste Zeit wärs!

Gast  Bravo, Prinz!

Kommissar  zum Grafen: Halten Sie den Mund!

Graf  Ich halte nicht den Mund, verstanden? Fällt mir nicht ein!

Cherubin  zum Kommissar: Er hat getrunken, der alte Mann –

Kommissar  Das will ich hoffen, in seinem Interesse.

Graf  schreit den Kommissar an: In meinem Interesse haben Sie nichts zu hoffen, ich verbiete es Ihnen! Und getrunken habe ich nur ein Glas, aber ich vertrag noch soviel wie früher, genau soviel, verstanden?! Und jetzt sag ich Ihnen meine Meinung –

Kommissar  unterbricht ihn: Sie werden hier keine Meinungen sagen!

Graf  Ich werde sie sagen – Er stockt, läßt das Glas fallen, faßt sich ans Herz und taumelt.

Susanne  Um Gottes Willen, Herr Graf!

Graf  lallt: Ich werde jedem meine Meinung sagen, auch dem Herrn Lehrer – Er bricht auf einem Stuhl nieder. Susanne bemüht sich um ihn. Die Gäste verlassen das Lokal.

Kommissar  zu Cherubin: Was ist das? Ein Graf?

Cherubin  Ein Graf Almaviva.

Kommissar tritt an den Grafen heran und fühlt ihm den Puls.

Susanne  Ist er tot?

Kommissar  Keine Spur. Alkohol und sonst nichts – Er nimmt des Grafen Brieftasche an sich, blättert in den Papieren und stutzt; leise. Nummer siebenundachtzig. Entlassen am –

Cherubin  Ja, ja, es ist ein Trauerspiel. Er hat etwas verkauft, was nicht ihm gehört hat –

Kommissar  Veruntreuung?

Cherubin  nickt ja: Veruntreuung und glatter Betrug – ein jedes Kind hätt das sehen können, nur er nicht. Ja, ja, Not und Leichtsinn, der erschwerende Umstand hebt den mildernden auf.

Graf  kommt zu sich: Wo ist mein Hut?

Cherubin  In der Küche.

Susanne  Ich such ihn – Ab in die Küche.

Kommissar  zum Grafen: Sie können gleich gehen, ich seh nur nach, wer Sie sind – Er deutet auf die Brieftasche.

Graf  erkennt seine Brieftasche: Achso.

Stille.

Kommissar  gibt dem Grafen die Brieftasche zurück: In Ordnung.

Graf  Haben Sie auch das Schloß gesehen?

Kommissar  perplex: Was für Schloß?

Graf  Mein Schloß. Hier – Er holt aus seiner Brieftasche einige Photographien hervor und zeigt sie dem Kommissar. Das war der Park, der ging bis zum Wald. Und das, das sind Familienbilder, Erinnerungen, meine Frau und so – Er lächelt.

Kommissar  Ich an Ihrer Stelle würde jetzt nach Hause gehen.

Graf  grinst: Wohin?

Kommissar  Übrigens: wo wohnen Sie?

Graf  Kennen Sie das Hotel Esplanade? Und das Carlton? Kenn ich alles, alles – Meine Hochachtung, Herr Kommissar! Gute Nacht! Ab.

Susanne  kommt mit des Grafen Hut aus der Küche und sieht sich perplex um: Wo ist er?

Cherubin  Fort.

Susanne  bange: Ohne Hut?

Kommissar  Betrunkene tun sich nichts an.

Cherubin  Ein einziges Glas –

Kommissar  Er verträgt halt nichts mehr.

Cherubin  Ja, ja, ein tragischer Fall.

Kommissar  Hm. – Zu Susanne. Fräulein. Kommen Sie morgen aufs Kommissariat, vielleicht wills der liebe Gott und es gibt noch einen Aufschub – Gute Nacht! Ab.

Cherubin  Meine Empfehlung, Herr Kommissar!

Stille.

Susanne  Ich geh nicht aufs Kommissariat!

Cherubin  Bist du wahnsinnig?

Susanne  Ich pfeif auf den Aufschub!

Cherubin  Aber ohne Arbeitsbewilligung, von was willst denn leben?!

Susanne  Ich werd einen Brief beantworten –

Cherubin  Was für einen Brief?

Susanne  Einen Brief, den ich schon seit zwei Wochen bei mir herumtrag. Möcht nur wissen, woher er meine Adresse weiß –

Cherubin  lauernd: Wer?

Susanne  überhört die Frage: Er schrieb mir, ich möchte wieder zu ihm kommen. Er war sehr einsam – Sie grinst.

Cherubin  Wer?

Susanne  Figaro.

Stille.

Cherubin  Wo steckt er denn?

Susanne  Schloßverwalter ist er geworden und hat Gewissensbisse.

2. Bild

Im tiefen Grenzwald. Susanne und der Graf überschreiten heimlich die Grenze, um zurückzukehren. Man hört nur ihre Stimmen, denn es ist stockdunkle Nacht.

Graf  Wo bist du?

Susanne  Hier.

Graf  Ich sehe nichts.

Susanne  Es ist die finsterste Nacht meines Lebens – Sie schreit kurz auf.

Graf  Was denn los?

Susanne  Ich bin in etwas Weiches getreten.

Der Mond bricht bleich durch die Wolken, und nun kann man die Heimkehrenden sehen.

Graf  Wir haben zunehmenden Mond – wie damals. Ich habe das Land meiner Väter verlassen, um nicht erschlagen zu werden, und jetzt kehr' ich heim durch denselben Wald, um nicht etwa wieder eingesperrt zu werden. Not kennt kein Gebot – Er lächelt. Heut frag' ich mich nicht mehr, was ich verbrochen hab, daß ich heimlich über die Grenze muß –

Susanne  Aber, Herr Graf, Sie haben doch nichts verbrochen!

Graf  Oho. Ich hab' mich verrechnet. »In zwei Monaten ist alles aus« – Er grinst. Figaro hatte recht. Er sieht sich um. Sind wir schon jenseits?

Susanne  Ich erinnere mich hier an jede Lichtung. Rechts der See, links die Schlucht, wir haben 's hinter uns.

Graf  Was versprichst du dir eigentlich davon, daß du mich mit dir nimmst?

Susanne  perplex: Wieso?

Graf  Nun, denkst du, es wird so glatt abgehen, wenn ich zuhaus auftauch?

Susanne  Aber das haben wir doch schon alles besprochen, Herr Graf! Wir gehen jetzt heimlich zu Figaro und fragen ihn, wie die Situation liegt –

Graf  fällt ihr ins Wort: Hast du es ihm eigentlich geschrieben, daß wir kommen?

Susanne  Nein, er weiß noch nichts. Ich wollte, aber ich konnt nicht, hab den Brief immer wieder zerrissen. Ich muß ihn sprechen.

Stille.

Graf  Schloßverwalter ist er geworden, nicht?

Susanne  Das wissen Sie doch, Herr Graf!

Graf  Und was bin ich geworden – Er grinst.

Susanne  Herr Graf, ich seh ein Licht!

Graf  sieht nicht hin: Ich sehe nichts.

Susanne  Kommen Sie –

Graf  unterbricht sie: Nein. Der Baum, der dort liegt, sieht aus wie ein Bett. Ja, links stand das Bett, rechts das Sofa. Sie schlief auf dem Sofa, denn mir wars zu kurz. – Er blickt empor. Liegst du jetzt besser? Stille.

Susanne  blickt empor: Es regnet.

Jetzt weht der Wind, zunächst noch schwach.

Graf  Geh, Susanne, er hat dich gerufen, mich ruft niemand. Ich bleibe.

Susanne  Hier?

Graf  Es war mir nie recht klar, warum ich dir zurückgefolgt bin, erst jetzt begreif ich, daß ich zuhause schlafen wollt – ja, das Sofa war zu kurz –

Susanne  weinerlich: Aber, Herr Graf, komplizierens doch nicht noch die Situation! Was wollens denn hier im Wald?

Graf  deutet auf den Baumstamm: Dort ist mein Bett.

Starker Windstoß. Der Mond verschwindet hinter Wolken, es wird wieder stockdunkle Nacht, man hört nur Susannes Stimme aus immer weiterer Ferne, verschwindend im Sturm.

Susanne  Herr Graf! Wo sind Sie denn? So antworten Sie doch! Herr Graf! Herr Graf!

Stille.

Jetzt bricht der Mond wieder durch die Wolken und man sieht den Grafen allein.

Graf  entledigt sich seines Mantels und prüft den Gürtel auf seine Festigkeit hin; dabei summt er Cherubins Lied »Susanne«; plötzlich vor sich hin: Meine Frau sagte immer, wir sitzen noch in der Schule und warten auf die großen Ferien – Er blickt empor. Herr Lehrer, dauerts noch lang?

Stimme  Halt!

Graf zuckt zusammen und lauscht.

Wohin?

Graf starrt in den Wald und schweigt.

Wachtmeister  tritt vor, es war seine Stimme: Ihre Legitimation?

Graf  lächelt seltsam: Was?

Wachtmeister  Ihre Papiere, Paß oder dergleichen?

Graf  grinst: Was ist das?

Wachtmeister  Machen Sie keine blöden Witze! Wer sind Sie?

Graf  Ich?

Wachtmeister  ungeduldig: Wer denn sonst?

Graf  langsam: Ich, ich bin der Graf Almaviva –

Wachtmeister  Almaviva?!

Graf  lächelt: Ja.

Wachtmeister starrt ihn fassungslos an, reißt sich dann zusammen und pfeift auf einer Alarmpfeife. Wache erscheint.

Wachtmeister  zum Grafen: Im Namen des Volkes! Sie sind verhaftet!

3. Bild

Wieder auf dem ehemaligen ländlichen Herrensitz des Grafen Almaviva. Fanchette sitzt vor dem Portal und flickt die Hose ihres Gatten. Es ist ein warmer Herbstmorgen.

Fanchette  singt vor sich hin:

Der Frühling gibt mirs kund,
Susanne, mein Herz ist wund,
Mein Blut ruft nach dir
Drinnen in mir –

Figaro erscheint im Portal, hält und lauscht. Fanchette bemerkt ihn nicht und singt weiter.

Susanne, ich hab dich lieb,
Susanne, der Maientrieb
Treibt mich hin zu dir.
Weit weg von mir –

Sie bemerkt erst jetzt Figaro und verstummt plötzlich.

Figaro  Was singst denn da für ein Lied von einer Susanne?

Fanchette  Kennst das nicht? Der neueste Weltschlager, hat sich in paar Tagen den ganzen Erdkreis erobert.

Figaro  So? Mir scheint, Gassenhauer sind ansteckender als revolutionäre Lyrik. Ist die Post schon gekommen?

Fanchette  Ja. Hier – Sie gibt ihm einige Briefe.

Figaro  betrachtet die Briefe: Ist das alles?

Fanchette  fixiert ihn: Auf was wartest du eigentlich?

Figaro  Auf einen Brief. Etwas Privates.

Fanchette  mit leiser Ironie, während sie die Hosen ihres Gatten ausbreitet: Daß du auch etwas Privates hast, soll man nicht für möglich halten, du lebst doch nur für das Schloß und die Kinder –

Figaro  fällt ihr ins Wort: Sag: glaubst du, daß die Kinder mich gern haben?

Fanchette  Wie blöd du immer wieder fragst! Du bist doch den Kindern ihr oberster Herrgott, für dich würden sie stehlen und rauben und morden –

Figaro  lächelt: Meinst du? Er sieht sich um. Wann kommt denn die nächste Post?

Fanchette  Morgen ist Feiertag.

Figaro  Hm – Er will ab ins Schloß.

Wachtmeister  kommt rasch von rechts und salutiert: Guten Morgen, Herr Verwalter!

Figaro  Guten Morgen, Wachtmeister! Alles in Ordnung?

Wachtmeister  Melde gehorsamst, eine wichtige Arretierung. Ein Mann. Er hat sich über die Grenze geschmuggelt, und wir trafen ihn unweit der Schlucht. Er behauptet, er sei der Graf Almaviva –

Figaro  fällt ihm ins Wort: Was?!

Fanchette  Almaviva? Um Gottes Willen!

Figaro  Wo ist er?

Wachtmeister  Wir haben ihn in den Keller gesperrt.

Figaro  Sofort! Kommen Sie, Wachtmeister! Rasch ab mit ihm nach rechts.

Pedrillo  kommt aufgeregt von links: He, Fanchette! Weißt du, wer im Lande ist?! Grad hab ichs im Wirtshaus gehört – der Graf Almaviva, dieser hochgeborene Unhold ist da! Na, mit dem werd ich ein Wörterl reden, mit diesem Zyniker, der mein Weib vergewaltigt hat –

Fanchette  fällt ihm ins Wort: Aber Mann! Kümmer dich doch nicht mehr um Politik!

Pedrillo  Eine Vergewaltigung ist keine Politik, bitt ich mir aus!

Stille.

Fanchette  langsam: Pedrillo, ich muß dir jetzt etwas sagen, aber du darfst mich nicht verachten –

Pedrillo  Ich verachte nicht den letzten Wurm, das weißt du. Was gibts?

Fanchette  Ich hab Angst. Wenn du jetzt nämlich das alles aufs Tapet bringst, was mir der Graf angetan hat, das gibt doch nur Scherereien –

Pedrillo  Recht muß Recht bleiben, und ungestraft wird bei uns nicht vergewaltigt, bei uns nicht, so tief sind wir noch nicht gesunken!

Fanchette  Pedrillo. Ich habe dich belogen.

Pedrillo  stutzt: Was willst du damit ausdrücken?

Fanchette  langsam: Damit will ich ausdrücken, daß von einer korrekten Vergewaltigung nicht die Rede sein kann –

Pedrillo  Nicht die Rede?! Sondern?

Fanchette  lächelt unsicher: Sondern.

Stille.

Pedrillo  fixiert sie: Du hast mich also nur so betrogen, so korrekt?

Fanchette  Sei mir nicht bös, bitte –

Pedrillo  Soll ich mich vielleicht noch freuen, daß er dich nicht vergewaltigt hat?! Da stürzt ja eine Welt in mir zusammen, ganze Berge von Theorien und überhaupt alle Rechtsbegriffe! Ich sags ja immer: es bleibt einem nur das Wirtshaus.

Stille.

Fanchette  Was wirst du jetzt machen?

Pedrillo  Aufhängen werd ich mich nicht.

Fanchette  langsam: Wirst du dich scheiden lassen?

Pedrillo  fährt sie an: Willst du mir noch mehr Scherereien bereiten?! Von Scheiden kann gar keine Rede sein, schon wegen unserer Kinder, aber das eine bitt ich mir von heut ab aus: von diesem deinem Geständnis ab hast du mir aber schon radikal keine Vorschriften mehr zu machen, wann ich ins Wirtshaus geh und wie lang ich dortselbst verweil, verstanden?! Er läßt sie stehen und nach links ab.

Fanchette  allein; sieht ihm nach: Du liebst mich nicht mehr – Ab in das Schloß.

Figaro  kommt von rechts mit dem Wachtmeister, gefolgt von zwei Kindern, Carlos und Maurizio; zum Wachtmeister: Es bleibt dabei! Ich übernehme die volle Verantwortung!

Wachtmeister  Bitte, Herr Verwalter, jedoch –

Figaro  unterbricht ihn: Da gibts kein »jedoch«! Befehl ist Befehl!

Wachtmeister  Zu Befehl, Herr Verwalter! Er salutiert und ab nach links.

Figaro will in das Schloß.

Carlos  Herr Schloßverwalter!

Figaro  hält: Was gibts?

Carlos  Der Graf Almaviva gehört doch sofort erschossen, nicht?

Figaro  Wer sagt das?

Carlos  Ich.

Figaro  sieht ihn ernst an: So, du.

Carlos  Ja, denn er ist ein politischer Verbrecher.

Maurizio  zu Carlos: Nein, er tehört nicht tertossen, tondern er toll lebentlänglich Tuchthaus betommen?

Figaro  grimmig: Und warum soll er Tuchthaus bekommen?

Maurizio  Weil lebentlänglich Tuchthaus eine tlimmere Trafe ist, hat der Herr Lehrer tesagt.

Figaro  So? Beiseite. Diesem Lehrer werd ich mal einen kleinen Privatunterricht in Humor geben – Zu den Kindern. Paßt mal auf, ihr zwei Richter! Erstens: Schmeißt mir lieber ein paar Fensterscheiben ein, als daß ihr politisiert! Zweitens: Der Graf Almaviva ist kein Verbrecher –

Carlos  unterbricht ihn: Er ist doch ein Graf!

Figaro  Warst du schon mal ein Graf?

Carlos  verdutzt: Nein.

Figaro  Na also! Dann red auch nicht mit. Ich sage euch, wenn ihr mal den Grafen Almaviva treffen solltet, dann müßt ihr ihn anständig grüßen, höflich und artig sein, denn er ist ein alter Mann und ihr seids Lausbuben, und wenn er Verbrechen begangen hat, dann wird er nicht auf euch warten, um bestraft zu werden. Und überhaupt: Ihr wollt einen Menschen so mir-nix-dir-nix erschießen und lebenslänglich einsperren? Was hat er euch denn getan, dir und dir? Schämts euch denn nicht? Gebt acht, vielleicht wenn ihr alt sein werdet, wirds heißen, ein jedes Findelkind ist ein Verbrecher, und es wird nur Grafen geben, und die Grafen werden die Findelkinder einsperren und erschießen – So, und jetzt werfts ein paar Fensterscheiben ein, marsch!

Kinder still ab.

Susanne kommt von links.

Figaro  erblickt sie. Susanne! Er starrt sie an. Susanne sieht ihn an und schweigt. Figaro fährt sich verwirrt mit der Hand über die Augen. Warum hast du meinen Brief nicht beantwortet?

Susanne  muß lächeln: Hätt ich schreiben sollen?

Figaro  Was red ich? Es ist mir noch nicht im Kopf drinnen, daß du vor mir stehst – ich wart seit Wochen auf einen Brief –

Susanne  Figaro, ich habe gehört, ihr habt den Grafen verhaftet?

Figaro  Was für einen Grafen?

Susanne  Den Grafen Almaviva!

Figaro  Ach so, ja. Verzeih, ich bin noch wirr –

Susanne  fällt ihm ins Wort: Daß dem Grafen nur nichts geschieht, hörst du mich? Ich bin ja schuld, daß er zurück ist, und es wär entsetzlich, wenn ihr ihm was tun würdet, er hat mir draußen immer geholfen –

Figaro  unterbricht sie: Was sprichst du immer vom Grafen, wo wir uns so lange nicht gesehen haben?

Susanne  Weil mir das jetzt wichtiger ist!

Figaro  horcht auf: Wichtiger?

Susanne  Versprich es mir, bitte, daß ihm nichts passiert!

Figaro  Du traust es mir also zu, daß dem Grafen etwas passiert?

Susanne  Ich weiß es nicht.

Figaro  Du weißt es nicht? Na wart! Also der Graf ist natürlich nicht zu retten, nur, wenn er begnadigt werden sollte, bekäm er Zuchthaus, lebenslänglich –

Susanne  Was?! Figaro, du mußt ihn retten!

Figaro  Das kann ich nicht. Recht ist Recht.

Susanne  Es gibt zweierlei Recht –

Figaro  unterbricht sie: Seit wann?

Susanne  Seit wann, fragst du? Das waren doch immer deine Theorien – oh, jetzt seh ich erst, wie du mich belogen hast mit deinem Brief, hast mir von Menschlichkeit geschrieben, aber bei dir ist alles nur Phrase!

Figaro  Nein. Aber, obwohl du gekommen bist, traust du mir immer noch alles Böse zu, und deshalb gehörst du enttäuscht.

Susanne  Du hast dich nicht verändert.

Figaro  Ich glaub schon.

Stille.

Susanne  Ich bin zu dir zurückgekommen, weil mir meine Arbeitsbewilligung entzogen wurde.

Figaro  Das freut mich.

Susanne  Nur weil ich draußen nichts mehr zu Essen hatte, bin ich zu dir zurück.

Figaro  Das glaub ich dir nicht.

Susanne  Doch.

Figaro  Nein.

Susanne  Warum sollt ich dich belügen.

Figaro  Warum belügst du dich selbst? Tuts dir wohl? Mir machts nichts aus.

Stille.

Susanne  Hast Gewissensbisse gehabt? Sie grinst.

Figaro  Wenn du mich so fragst, sag ich nein.

Susanne  Warum hast du mich gerufen?

Figaro  Weil ich dich brauche.

Susanne  höhnisch: Zu was denn?

Figaro  Ich bitt dich, frag nicht so dumm!

Stille.

Figaro  geht langsam auf sie zu und hält dicht vor ihr: Susanne. Du hast mich mal gefragt, wie wird denn das sein, wenn wir alt werden und es wird niemand da sein, der zu uns gehört? Es wird sinnlos geworden sein, daß wir überhaupt gelebt haben –

Susanne  sieht ihn groß an: Und du hast gesagt, viel Sinn hats so und so nicht – und ich hab gesagt, dann möcht ich lieber gleich sterben –

Figaro  Und ich hab gesagt, ich hab dich sehr lieb. Erinnerst du dich?

Susanne  leise: Ja. Aber ich hab gesagt, das allein genügt mir nicht –

Figaro  Stimmt. Er nickt ihr lächelnd zu. Aber heute, heut hab ich keine Angst mehr vor der Zukunft –

In der Nähe klirrt eine eingeschmissene Fensterscheibe. Die Zwei horchen auf. Es klirrt wieder.

Antonio  kommt rasch von links: Figaro, die Saububen schmeißen die Fensterscheiben ein, ich reiß ihnen die Ohren aus!

Figaro  Du wirst dich beherrschen. Ich habs ihnen erlaubt, daß sie die Scheiben einschmeißen.

Antonio  Erlaubt?

Und wieder klirrt es.

Figaro  Ich habe ihnen versprochen, daß sie es dürfen, wenn sie nicht politisieren.

Antonio  Das ist zuviel.

Es klirrt abermals.

Figaro  Das ist aber wirklich zuviel! Zu Antonio. Na, und – Er deutet auf Susanne. Was sagst du zu meiner Frau?

Antonio  Wir haben uns schon begrüßt.

Graf erscheint im Portal; er macht einen gepflegten, aber sehr müden Eindruck.

Himmel, der Herr Graf Almaviva!

Graf  lächelt: Ach, alter Antonio – lebst du auch noch?

Antonio  Nimmer lang, gnädiger Herr Graf, nimmer lang!

Graf  Das sowieso. Er starrt plötzlich nach links. Hopp, dort fehlt ja meine große Tanne –

Antonio  Die hat der Blitz getroffen –

Graf  Dann bin ich schon wieder beruhigt. Ich dachte bereits, ihr hättet sie gefällt – Er lächelt und sieht sich um. Ja, die Bänke stehen noch unter den Bäumen und die Bäume haben ihre Plätze nicht verlassen, auch die Wiesen sind zuhaus geblieben – Figaro!

Figaro  tritt zu ihm hin: Herr Graf wünschen?

Graf  Bin ich nun wirklich frei?

Figaro  Gewiß, Herr Graf.

Graf  Und ich soll wieder in meinem Zimmer wohnen?

Figaro  Gewiß, Herr Graf.

Graf  Hm. Ist denn die Revolution zu Ende?

Figaro  Im Gegenteil, Herr Graf. Jetzt erst hat die Revolution gesiegt, indem sie es nicht mehr nötig hat, Menschen in den Keller zu sperren, die nichts dafür können, ihre Feinde zu sein.

Susanne  Figaro! Sie eilt auf ihn zu und umarmt ihn. Und abermals klirrt eine Fensterscheibe.


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