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Im tiefen Grenzwald. Graf Almaviva, die Gräfin, Figaro und Susanne fliehen vor der Revolution. Man hört nur ihre Stimmen, denn es ist stockdunkle Nacht.
Gräfin Wo bist du?
Graf Hier.
Gräfin Ich sehe nichts.
Graf Es ist die finsterste Nacht meines Lebens.
Susanne schreit kurz auf.
Figaro Was denn los?
Susanne Ich bin in etwas Weiches getreten.
Gräfin Hoffentlich gibts hier keine Schlangen.
Susanne Heiliger Himmel!
Der Mond bricht bleich durch die Wolken, und nun kann man die Flüchtlinge sehen.
Graf blickt ironisch empor: Wir haben zunehmenden Mond.
Gräfin sieht sich um: Beißen Schlangen auch in der Nacht?
Susanne zuckt ängstlich zusammen.
Figaro Gnädigste Frau Gräfin, wenn ich ergebenst bitten dürft, komplizierens nicht noch die Situation. Sie ist auch ohne Schlangen schon komplizierend genug.
Graf Das walte Gott.
Susanne Ich bin ganz zerkratzt vom Gestrüpp.
Gräfin Und ich zerfetzt –
In der Ferne fällt ein Schuß.
Susanne bange: Was war das?
Figaro Ein Schuß. Aber wir sind gerettet.
Gräfin Ich muß mich setzen – Sie setzt sich auf eine Wurzel.
Graf langsam und leise zu Figaro: Sind wir sicher schon jenseits der Grenze.
Figaro Herr Graf, ich kenne hier jede Lichtung. Links der See, rechts die Schlucht, drüben das Moos und dort liegt das teure Vaterland. Wir haben es hinter uns.
Graf Wollen es hoffen. Seit vierundzwanzig Stunden frage ich mich immer wieder, was habe ich denn nur verbrochen, daß ich wie ein ehrloser Brigant das Land meiner Väter heimlich verlassen muß, um das nackte Leben zu retten.
Figaro Ihr seid der hoch- und hochwohlgeborene Graf, oberster Erb-, Lohn- und Gerichtsherr. Sind das nicht Verbrechen genug? Er lächelt zweideutig.
Graf Die Ereignisse der letzten Tage sind unfaßbar. Seine Majestät ermordet, der Adel vertrieben, erschlagen, die Güter geraubt, die Kirchen zerstört, die Schlösser geplündert – ein Bäckergehilfe ist Marschall, ein Schuster Präsident und ein Schreiber Gesandter in London! Die Privilegien abgeschafft, gleiches Recht für alle, ob einer Landstreicher ist oder Fürst: gleiches Recht. Nein, dieses Unrecht kann sich nicht halten, es schlägt jedem göttlichen Gesetz ins Gesicht! Kein Mensch hätte das ahnen können.
Figaro Außer denen, die die Revolution gemacht haben.
Graf sieht ihn groß an.
Gräfin bange: Es geht wer –
Susanne Wo?
Alle lauschen.
Gräfin tonlos: Man verfolgt uns.
Figaro Keine Seele.
Graf Im nächtlichen Wald hört man immer Schritte.
Susanne Besonders im Herbst, wenn die Blätter fallen.
Stille.
Graf zart zur Gräfin: Komm, wir müssen weiter –
Gräfin leise: Ich möchte schlafen.
Graf Hier? Im Wald?
Gräfin sieht ihn groß an und summt ein melancholisches Lied.
Graf hält die Hand vor die Augen.
Figaro um aufzuheitern: Gnädigste Frau Gräfin, ich hab mal mit einem Scheintoten gesprochen und der hat gesagt, lieber ein gehetztes Wild im Dickicht, als ein Kaiser unter der Erde! Lieber in einem Himmelbett, als im Himmel. Gnädigste Frau Gräfin, ich beschwör Euch, in spätestens einer halben Stunde erreichen wir das erste Dorf – ich spür es direkt! Verlaßt Euch auf meinen berüchtigten Instinkt!
Gräfin muß unwillkürlich leise lachen: Dein Instinkt, mein Bester, in allen Ehren –
Susanne fällt ihr ins Wort, ebenfalls um aufzuheitern: Oho Frau Gräfin! Über Figaros Instinkte laß ich nichts kommen! Es trifft alles ein, was er prophezeit, und er hat auch alles prophezeit.
Graf Auch die Revolution?
Figaro Die zu prophezeien, das war kein Kunststück gewesen.
Graf fixiert ihn: Kein Kunststück?
Figaro weicht aus: Wir waren alle taub. Oder blind.
Susanne Ich seh ein Licht! Dort!
Alle sehen hin.
Graf Ich sehe nichts.
Gräfin Wo ist mein Lorgnon?
Figaro Jawohl, ein Licht! Ich seh es genau – ohne Zweifel ein Haus, gnädigste Frau Gräfin!
Gräfin In Gottes Namen! Sie erhebt sich. Ich glaub schon, ich sitz in der Hölle und die Hölle besteht aus lauter Wald.
Vier Stunden später, es ist noch immer Nacht. Auf der Grenzwache, anderthalb Kilometer von der Revolution entfernt. Behördlicher Raum mit Schreibtisch, Schrank, eisernem Bett und dergleichen. Vier Grenzbeamte haben Nachtdienst. Der Erste sitzt am Schreibtisch und liest die Zeitung, er ist der Älteste. Der Zweite spielt mit dem Dritten Schach, und der Vierte liegt auf dem eisernen Bett und döst rauchend vor sich hin.
Erster Wir bekommen Verstärkung. Er liest. »Infolge der blutigen und unübersichtlichen Ereignisse in unserem Nachbarreiche, hat das königliche Kriegsministerium im Einvernehmen mit dem königlichen Innenministerium den Beschluß gefaßt, die Grenzwachen durch Militär zu verstärken, um einerseits den Zuzug unerwünschter Elemente und andererseits das Übergreifen der revolutionären Irrlehren nachhaltigst zu verhindern« – Er blickt aus der Zeitung empor. »Zu verhindern« ist gut gemeint, aber zwangsläufig-weltgeschichtliche Elementarentwicklungen lassen sich nicht aufhalten, fürchte ich – Er grinst.
Zweiter Schach!
Dritter schlägt eine Figur.
Element! Jetzt hab ich den König übersehen!
Dritter König übersehen, alles übersehen –
Erster Hier steht grad ein hochinteressanter aktueller Bericht, wie der König ermordet worden ist, von einem Augenzeugen – Liest. »Er starb wie ein König« – so ein Blech! Wie soll denn ein König anders sterben, als wie ein König, wenn er doch schon ein König ist! Er sieht sich, auf Zustimmung wartend um, doch keiner reagiert.
Dritter Schach!
Vierter plötzlich zum Ersten: Kennst du Kitty?
Erster perplex: Wer ist Kitty?
Vierter Wenn du sie nicht kennst, dann ist der Fall uninteressant. Sie ist Kellnerin beim wilden Mann.
Erster braust auf: Ich bitt dich, verschon mich damit!
Stille.
Vierter Kitty hat die längsten Beine der Welt.
Zweiter Und die längsten Ohren.
Dritter Matt.
Zweiter springt auf: Element!
Erster Also ich versteh euch wirklich nicht mehr, Kameraden! Nur anderthalb Kilometer von uns gebiert sich eine neue Welt in sich selbst, ein Orkan der menschheits-historisch bedeutungsvollsten Ereignisse fegt Jahrhunderte über den Haufen, aber ihr spielt da Schach und kümmert euch um die langen Ohren einer Kellnerin!
Offizier tritt ein.
Die Vier springen auf und salutieren.
Offizier zieht Mantel und Handschuhe aus, setzt sich an den Schreibtisch: Was Neues?
Erster Melde gehorsamst, alles in Ordnung.
Offizier unterschreibt Formulare: Hat der Pöbel drüben wieder herübergeschossen?
Erster Melde gehorsamst, nur Freudenschüsse.
Offizier Bei deren Freude gibts meistens Leichen. Kannibalen! Sonst was Neues?
Erster Melde gehorsamst, eine Arretierung. Vier Personen. Offizier horcht überrascht auf.
Zweiter Ich war auf meinem Rundgang und traf besagte Arretierte unweit der Schlucht. Zwei Männer, zwei Frauen.
Offizier Flüchtlinge?
Zweiter Angeblich. Sie hatten sich verirrt und gingen im Kreis. Die ältere Frau war sehr erschöpft.
Dritter Sie war am Ende –
Zweiter Sie hatten keinerlei Legitimationen bei sich.
Erster Und da sich der Mann anläßlich der Arretierung sehr renitent benahm, haben wir bei der angeblich erschöpften Frauensperson anläßlich einer Visitation diese Perlen gefunden – Er überreicht dem Offizier eine Kassette.
Offizier öffnet sie: Huj! Er betrachtet die Perlenschnur. Also, wenn das keine Imitation ist, dann sind diese Arretierten echte Fürsten.
Zweiter Oder Räuber.
Dritter Ohne Legitimation ist das schwer zu unterscheiden.
Erster lacht kurz.
Offizier horcht auf: Was soll das?
Erster steht stramm.
Offizier fixiert ihn und brüllt plötzlich: Ruhe!
Stille.
Zum Ersten, fast leise. Bring sie herein. Alle vier.
Erster Zu Befehl! Ab in den Arrest.
Offizier Wer von euch kennt Kitty?
Vierter Melde gehorsamst, wer ist Kitty?
Offizier Kitty kriegt ein Kind. Sie behauptet, ein Grenzbeamter wäre der Vater, sie wüßte aber nicht mehr, welcher. Seht euch vor, meine Herren! Die Sache muß geordnet werden. Er deutet auf den Zweiten und Dritten. So oder so. Er deutet auf den Vierten. Oder so.
Erster kommt mit dem Grafen und Figaro. Zum Ersten. Und die beiden Frauen?
Graf Meine Frau ist zusammengebrochen.
Offizier stutzt und sieht sich etwas ratlos um: Hm. Zum Ersten. Und die andere?
Figaro kommt dem Ersten zuvor: Die andere ist in der Zelle zurückgeblieben, um die kranke gnädigste Frau Gräfin zu pflegen.
Offizier stutzt wieder: Gräfin?
Erster Mir scheint, daß sie nicht simuliert, melde gehorsamst. Liegt auf der Erde und kann sich nicht rühren.
Offizier Ruf einen Arzt.
Erster Zu Befehl! Ab.
Graf ironisch zum Offizier: Ich danke Ihnen, mein Herr.
Offizier zum Grafen: Treten Sie vor.
Graf tritt vor. Ihr Name?
Graf Graf Almaviva.
Offizier Beruf?
Graf Groß-Corregidor und im diplomatischen Dienste meines unglücklichen Königs. Gesandter in London, Lissabon und Rom.
Offizier Bitte, nehmen Sie Platz.
Graf rührt sich nicht.
Offizier deutet auf einen Sessel. Bitte –
Graf bleibt stehen: Ich protestiere. Ich komme aus einer Hölle, danke dem Himmel für meine Errettung und werde wie ein Verbrecher behandelt.
Offizier Da Sie ohne Legitimation und Erlaubnis die hermetisch gesperrte Grenze überschritten haben, muß ich pflichtgemäß die Amtshandlung einleiten. Sollte es sich erweisen, daß diese gesetzwidrige Überschreitung einen Akt der nackten Notwehr darstellt, so haben Sie nichts zu befürchten.
Graf Man hätte mich erschlagen.
Offizier Davon bin ich überzeugt.
Graf Bei uns regiert die Bestie.
Offizier Kannibalen.
Graf verneigt sich leicht: Und, was meine Legitimation betrifft, so bitte ich Sie, zu registrieren, daß ich die Ehre und das Vergnügen habe, Ihren Herrn Unterstaatssekretär zu meinen wenigen Freunden zählen zu dürfen. Ich kenne ihn aus meiner Londoner Zeit, er war damals Handelsattaché. Wer ich bin, wird er jederzeit beweisen.
Offizier Ich werde Ihnen in aller Früh Gelegenheit geben, sich mit dem Herrn Unterstaatssekretär zu verständigen. Und was Ihre Frau Gemahlin betrifft, so werde ich dafür sorgen, daß man sie in das Krankenhaus transportiert, sobald sie der Arzt untersucht haben wird. Wollen Sie nun Platz nehmen? Er lächelt verbindlich.
Graf Gestatten Sie mir, daß ich mich zu meiner Frau begebe?
Offizier Jederzeit, Herr Graf!
Graf verbeugt sich leicht und geht in den Arrest. Zu Figaro. Treten Sie vor. Ihr Name?
Figaro Figaro.
Offizier Beruf?
Figaro Kammerdiener des hoch- und hochwohlgeborenen Grafen Almaviva.
Offizier Geboren?
Figaro Unbekannt.
Offizier Was heißt das?
Figaro Ich bin ein Findelkind.
Offizier Und das relative Alter?
Figaro Keine Ahnung!
Offizier Aber das gibts doch nicht! Sie müssen sich doch an diverse wichtige Daten in Ihrem Leben erinnern, an Hand derer Sie Ihr Alter rekonstruieren können!
Figaro Wenn ich an Hand der diversen wichtigen Daten meines Lebens mein Alter rekonstruieren würde, dann müßt ich den Trugschluß ziehen, daß ich zirka dreihundert Jahr alt bin – soviel Diverses hab ich nämlich bereits hinter mir. Zigeuner stehlen mich, ehe ich von meinen Eltern eine Ahnung habe, ich entlaufe ihnen, weil ich kein Vagabund sein will, ich suche, strebe, ringe nach einem ehrlichen Beruf und finde alle Wege verschlossen, alle Türen versperrt. Ich hungerte und hatte Schulden – welch ein wunderliches Geschick! Endlich fand ich eine offene Tür und griff nun alle Berufsarten auf, nur um leben zu können, war Journalist, Kellner, Politiker, Spieler, Vertreter, Barbier, bald Herr und bald Diener, wie es dem Zufall beliebte, ehrgeizig aus Eitelkeit, fleißig aus Not, aber träge von Natur und Wonne! Schönredner bei Gelegenheit, Dichter zur Erholung, Musiker nach Bedarf, Liebhaber aus Laune! Alles habe ich gesehen, getan, genossen, jede Täuschung war geschwunden, ich war nur zu sehr erwacht, bis ich dann – geheiratet habe! Das war der Markstein in meinem Leben, die große Um- und Einkehr, denn seit jener Hochzeit des Figaro bin ich ein anderer Mensch –
Offizier unterbricht ihn, maßlos erstaunt über den plötzlichen Redeschwall, und schlägt auf den Tisch: Jetzt aber Schluß! Zu den Grenzbeamten. Hat er getrunken?
Figaro Ja.
Offizier grimmig: Das merk ich.
Figaro Da ich seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hab und da weder meine Frau noch der Graf noch die Gräfin auf das bißchen Schnaps, das wir bei uns führten, gesteigerten Wert legten, vertilgte ich das bißchen im Augenblick unserer Verhaftung, um es vor der drohenden Konfiskation zu bewahren.
Offizier seufzt gequält: Ein Hofnarr! Zu Figaro. Name der Frau?
Figaro Susanne. Sie ist die Kammerzofe der gnädigsten Frau Gräfin.
Offizier Aha.
Figaro Wir sind schon sechs Jahre verheiratet.
Offizier Das geht mich nichts an.
Erster kommt mit dem Arzt zurück.
Arzt begrüßt den Offizier: Ist jemand tot?
Figaro Noch nicht.
Offizier muß lächeln: Wir haben nur eine Patientin. Bitte, nach mir – Geht mit dem Arzt in den Arrest ab.
Figaro Hat einer der Herren eine Zigarette?
Erster Rauchen verboten!
Zweiter Geh, das ist doch kein Mörder! Zu Figaro. Hopp, Hofnarr! Er wirft ihm eine Zigarette zu.
Figaro fängt sie: Dank, Herr General – Zündet sie an.
Zweiter zum Ersten: Er ist froh, daß er lebt.
Stille.
Dritter zu Figaro: Gehts bei euch wirklich so drunter und drüber, wie es in unseren Zeitungen steht?
Figaro Es ist nicht so schlimm, sie zünden nur alles an und erschlagen die Herrschaft.
Erster Da habt ihrs! Ich habs ja gewußt, daß alle diese Greuelnachrichten übertrieben sind!
Zweiter zu Figaro: Ist es wahr, daß sie alle Grenzbeamten entlassen haben! Ohne Pension?
Figaro Alles Greuel! Die Herren Grenzbeamten versehen ihren Dienst genau so, als wäre nichts geschehen.
Erster Da habt ihrs.
Vierter Und wie stets eigentlich mit den Alimentationen? Ich hab gelesen, sie hätten die freie Liebe eingeführt, und die Weiber sind also Gemeingut – es tat mich nur interessieren, wer sorgt denn dann für die Kinder?
Figaro Nach dem Programm: die Allgemeinheit.
Zweiter Element! Das täte uns not!
Vierter grinst: Das wär ein Programm –
Erster Eine bevölkerungspolitische Tat!
Figaro Nach dem Programm soll überhaupt das ganze Verhältnis zwischen Mann und Weib neu geregelt werden. Ich, zum Beispiel, hab schon oft mit meiner Frau über das Kinderkriegen debattiert, denn ich war immer dagegen. Als Diener und Zofe, denen an jedem Ersten und Fünfzehnten gekündigt werden kann, darf man sich keinen Kindersegen gestatten, wär ja ein strafbarer Leichtsinn, solange deine Existenz auf der Laune deines Herrn basiert.
Erster zu den Grenzbeamten: Da hört ihrs wieder! Laune des Herrn und derweil steht doch dieser brave Mann – Er deutet auf Figaro – weißgott nicht in Verdacht, ein Sendbote der Revolution zu sein, er haßt sie vielmehr und ist geflohen –
Figaro unterbricht ihn: Pardon, aber hassen tu ich die Revolution nicht. Wie käm ich denn dazu? Ich find es absolut verzeihlich, daß jemand aufbegehrt, weiß ich es doch aus allerintimstem Kontakt, daß die jetzt vertriebenen Herren Zahlreiches auf dem Kerbholz haben, habe auch auf dem eigenen Buckel verspürt, daß es zu einer Explosion kommen muß – ich hab es direkt wetterleuchten gesehen und hab es auch prophezeit.
Dritter Sie haben also mit der Revolution kokettiert?
Figaro Kokettieren tu ich nie. Meine Herren, ich war der erste Diener, der seiner Herrschaft die Wahrheit gesagt hat.
Stille.
Erster Wenn Sie die Wahrheit gesagt haben, warum sinds denn dann nicht zuhaus geblieben? Er grinst.
Figaro Das hat Gründe privatester Natur. Meine Herren, als ichs mit meiner Frau besprochen habe, sollen wir beide nun bleiben oder mit unserer Herrschaft flüchten, da hat sie gesagt, es gäbe auch eine Treue und man hätt nicht nur Pflichten gegen sich selbst, sondern auch gegen seine Mitmenschen, wenn es auch nur die eigene Herrschaft war. Wir hätten mit ihr in der guten Zeit gelebt und würden sie also auch im Unglück nicht verlassen dürfen – wißt ihr, meine Frau ist ein richtiger Mensch mit Herz.
Vierter Eigentlich sind Sie also nur wegen Ihrer Frau geflohen?
Figaro horcht auf, stutzt; leise: Vielleicht. Er denkt nach. Stille.
Zweiter Ich frag mich oft, warum gibts eigentlich zweierlei Menschen, Mann und Frau –
Dritter Frag den lieben Gott.
Erster Es gibt keinen Gott.
Figaro plötzlich: Könnt ich mal meine Frau sprechen?
Vierter Jederzeit.
Figaro Danke – Er will ab in den Arrest und trifft in der Tür Susanne, die soeben heraustritt.
Susanne Ach, da bist du ja –
Figaro Ich wollt gerade zu dir.
Susanne lächelt: Komisch. Ich muß schon seit fünf Minuten immer an dich denken.
Figaro Und ich an dich. Telepathie – Er grinst leise.
Susanne Wo stecktest du denn die ganze Zeit?
Figaro Ich hab mich mit den Herren unterhalten.
Susanne lächelt: Ich hatte schon Angst, du hättest mich sitzen lassen –
Figaro Nein. Wie gehts der Gräfin?
Susanne Schlecht.
Figaro Was sagt der Arzt?
Susanne Der sagt keinen Ton.
Stille.
Figaro Sie wird schon wieder gesund.
Susanne Ich weiß nicht, du bist so teilnahmslos –
Figaro Ich bin nur auch etwas nervös.
Susanne Die arme Gräfin kann sich überhaupt nicht beruhigen, jetzt hat sie schon eine Spritze bekommen, aber immer hört sie Schritte und glaubt, sie würde verfolgt –
Erster seufzt: Hier wird sie von niemand verfolgt! Hier herrscht Ruhe und Ordnung.
Susanne Gottseidank! Ich bin ja nur froh, daß ich über der Grenze bin, drüben herrscht ja die Hölle! Sie können sich das gar nicht ausmalen, selbst in Ihrer kühnsten Phantasie, meine Herren! Lauter Verbrechen, Raub und Mord und –
Figaro unterbricht sie: Nana! Übertreib nur nicht so!
Susanne perplex: Übertreiben? Ich?!
Figaro Was die treiben, das wird bei jeder Revolution getrieben und ist nur logisch, denn vom Standpunkt der Revolution aus haben die Leut auch recht.
Susanne Recht?
Figaro Es gibt zweierlei Recht. So oder so. Dir und mir, zum Beispiel, hätt keiner ein Haar gekrümmt, wir hätten ruhig zuhaus bleiben können, wie deine ganze Verwandtschaft, Antonio, Pedrillo, Fanchette – uns zwei hätt niemand erschlagen, höchstens wär ich vielleicht sogar Schloßverwalter geworden –
Susanne fällt ihm ins Wort: Schloßverwalter?!
Figaro Warum nicht?
Stille.
Susanne starrt ihn an: So hab ich dich noch nie reden gehört –
Figaro fixiert sie: Nein? Hast es denn vergessen?
Stille.
Susanne sieht sich fast ängstlich um; leise: Ich muß jetzt wieder zur Gräfin – Ab in den Arrest.
Stille.
Erster zu Figaro: Sagen Sie, Verehrtester: wieso reagiert denn Ihre Frau Gemahlin auf welthistorische Ereignisse so ganz anders wie Sie?
Figaro grinst: Sie glaubt noch an den lieben Gott.
Drei Monate später. Hoch drohen in den Bergen, in einem der schönsten Winterkurorte der Welt. Große Hotelterrasse, die zum Appartement des Grafen Almaviva gehört, mit herrlicher Aussicht auf hochalpine Majestäten. Auf dem Eislaufplatz vor dem Hotel spielt Musik. Susanne zieht der wiederhergestellten Gräfin Schlittschuhe an. Schnee und Sonne.
Gräfin Daß ich in diesem Leben noch mal aufs Eis gehen werde, das hätt ich mir nicht geträumt, noch vor wenigen Wochen –
Susanne So vergeht das Böse, Frau Gräfin. Die Schuhe sitzen fabelhaft.
Gräfin Sie sind mir zu eng.
Susanne Oh, das vergeht!
Figaro erscheint: Der Eislehrer wartet, gnädigste Frau Gräfin.
Gräfin Bin schon bereit. Wo steckt denn der Graf?
Figaro Herr Graf befinden sich im Casino.
Gräfin lächelt: Er sollt auch lieber Sport treiben, als immer spielen, wo er doch nur verliert.
Susanne Viel Vergnügen, Frau Gräfin!
Gräfin Leg dich in die Sonne, Susanne! Ab.
Susanne Komm, Figaro, jetzt machen wir es uns bequem – Während sie zwei Liegestühle in die Sonne rückt. Weißt du, wie hoch wir hier sind? Zweitausend Meter über dem Meer.
Figaro Immer noch zu nieder für die hohen Preise. Der teuerste Winterkurort der Welt. Und das teuerste Hotel.
Susanne Du und ich, wir zahlens ja nicht.
Figaro Meinst du?
Susanne bietet ihm Platz an: Darf man bitten, Herr Graf –
Figaro setzt sich: Diese Höhensonne ist ungesund. Sie ist nur gesund für Kranke.
Figaro Ich.
Susanne lächelt: Hast Angst, daß du krank wirst? Armer Figaro!
Figaro Amüsier dich nur.
Susanne Ach Figaro, wie hast du dich verändert! Was fehlt dir denn eigentlich? Drei Monate sind wir nun fort, zuerst war die arme Gräfin sieben Wochen im Sanatorium –
Figaro unterbricht sie: Das war kein Sanatorium, das war eine Irrenanstalt für die höheren Zehntausend. Die teuerste Irrenanstalt der Welt.
Stille.
Susanne Früher warst du nicht so pedantisch.
Figaro Ich habe Sorgen.
Susanne Du machst dir Sorgen! Es ist uns noch nie so gut gegangen wie in dieser Emigration. Lauter große Hotels, und wir werden wie Gäste behandelt.
Figaro Wie bezahlende Gäste. Aber wie lange werden wir denn noch bezahlen können bei dem luxuriösen Lebenswandel, den unsere Herrschaft zu führen beliebt? Bis Ostern, und was ist dann? Dann ist es Schluß mit den Perlen, die wir vor die Säue geworfen haben!
Susanne fettet sich mit einer weißen Sonnensalbe ein: Gestern abend sagte der Graf zur Gräfin, in spätestens vier Wochen sind wir wieder zu Hause.
Figaro springt auf Ich kann diesen Blödsinn nicht mehr hören! Vor drei Monaten hat er gesagt, in zwei Monaten ist alles aus. Essig! Vor acht Wochen hat er gesagt, in sechs Wochen ist alles aus. Essig! Vor vier Wochen hat er gesagt, Weihnachten feiern wir zuhaus – und Weihnachten ist übermorgen! Also wieder Essig! Ich sage dir, es ist alles Essig, die Lage konsolidiert sich, alles kapituliert, und wir werden das Ende nicht mehr erleben, nur unser Ende! Essig, Essig, Essig!
Susanne Der Graf ist ein gewiegter Diplomat, willst du es besser wissen?
Figaro hält ruckartig und fixiert sie Wähle zwischen ihm und mir!
Susanne perplex: Was heißt das?
Figaro Susanne, es ist eine Welt zusammengebrochen. Als in jener Nacht wir über die Grenze gingen, mitten im Wald, und ich, um der Gräfin Mut zu machen, den Unsinn von dem Scheintoten erzählte – erinnerst du dich? –, da wurde es mir plötzlich klar, daß ich zu Scheintoten rede und daß ich lüge, wenn ich den Hofnarren spiele, um vor Schwerkranken für das Leben zu plädieren. Es wäre besser für den Grafen und die Gräfin gewesen, sie wären nie über die Grenze gekommen, wären geblieben und man hätte sie erschlagen –
Susanne entsetzt Figaro!
Figaro Es ist eine Welt zusammengebrochen, eine alte Welt. Der Graf und die Gräfin, sie leben nicht mehr, sie wissen 's nur noch nicht. Sie liegen aufgebahrt in den Grand-Hotels und halten die Pompesfunebres für Portiers, die Totengräber für Oberkellner und die Leichenfrau für die Masseuse. Sie wechseln jeden Tag die Wäsche, es bleibt aber immer ein Totenhemd, parfümieren sich, es riecht aber immer nach Blumen, die auf einem Grab verwelken. Es geht in die Grube, Susanne! Willst du mit? Ich nicht.
Susanne ängstlich Ich versteh dich nicht, Figaro –
Figaro Wir müssen uns von den Almavivas trennen.
Susanne Trennen?!
Figaro Wir müssen uns selbständig machen. Heut ist der Erste.
Susanne Bist du verrückt?!
Figaro Ich bin zwar kein gewiegter Diplomat, aber ich weiß, was ich will. Er holt eine Zeitung aus seiner Tasche hervor. Ich lese hier in den kleinen Anzeigen: es ist ein Barbiergeschäft zu verkaufen.
Susanne Barbier?
Figaro Ja, ich werde wieder Barbier. Er liest eine kleine Anzeige. »Bestrenommierter Friseursalon wegen Ausheirat zu verkaufen. In Großhadersdorf.« Großhadersdorf ist ein emporstrebender, mittlerer Ort mit dreitausendvierhundert Seelen. Schöne Umgebung, hügeliges Land. Ich hab mich erkundigt. Viel Wald.
Stille.
Susanne starrt ihn an Ist das dein Ernst?
Figaro Absolut. Und als Abfertigung soll uns der Graf nur jene Summe gewähren, die wir hier zu viert in einer Woche verbrauchen, exklusive jener Unsummen, die er täglich im Kasino verspielt. Nein, Susanne, ich spiele nicht mehr mit, wir machen uns selbständig und werden uns retten. Was starrst mich denn so an?
Susanne Weil mir etwas eingefallen ist –
Figaro Was?
Susanne Du hörst es nicht gern.
Figaro Mir kannst du alles sagen.
Stille.
Susanne Als wir geheiratet haben, hast du immer gesagt, zwei derart unselbständige Existenzen wie Zofe und Diener, die könnte sich doch kein Kind leisten, und das hab ich ja auch eingesehen –
Figaro Na also!
Susanne Aber du hast auch immer gesagt, sollten wir mal unsere eigenen Herren werden, dann sofort – »Sofort!« hast du gesagt.
Figaro Stimmt. Aber ich muß erst sehen, wie der Hase läuft.
Susanne Was für ein Hase?
Figaro Abwarten, ob wir auch unsere eigenen Herren bleiben!
Susanne lächelt seltsam: Wie ängstlich du geworden bist –
Figaro Ich bin nicht feig, ich hab nur Respekt vor der Zukunft!
Stille.
Susanne plötzlich: Für mich wird der Graf schon sorgen.
Figaro Für dich hat niemand zu sorgen, nur ich!
Susanne Ich bleibe.
Figaro So? Du willst mich jetzt allein lassen, wo ich doch nur wegen dir geflohen bin?
Susanne Das ist nicht wahr, du wärest auch aus Treue zum Grafen –
Figaro unterbricht sie: Das ist möglich, aber ich wär auch geblieben, wenn du geblieben wärst! Zu guter Letzt bin ich einzig und allein nur wegen dir emigriert, ich bin ein Emigrant aus ehelicher Treue und aus sonst nichts!
Stille.
Susanne Wie wirds denn sein, wenn wir alt werden und es ist niemand da, der zu uns gehört? Ich werde nie das Wort »Mutter« hören und du nie das Wort »Vater«. Es wird sinnlos geworden sein, daß wir überhaupt gelebt haben.
Figaro Viel Sinn hats so und so nicht. Und woher willst du wissen, ob wir überhaupt alt werden in solch unruhigen Zeiten?
Susanne Wenn du so redest, möcht ich gleich sterben.
Figaro zart: Glaub es mir, ich hab dich sehr lieb.
Susanne Das allein genügt mir nicht.
Figaro Genügt dir nicht?
Graf kommt zu Susanne: Wo ist denn die Gräfin?
Figaro Sie tanzt auf dem Eise.
Graf blickt Figaro überrascht an und mustert ihn mißtrauisch, denn er merkt in seinem Tonfall eine gewisse Respektlosigkeit.
Susanne will retten: Figaro ist heut so nervös –
Graf leicht ironisch: Ach! Ist es der Föhn, oder habt ihr euch wieder mal gestritten?
Figaro Nein, Herr Graf, wir sind derselben Meinung.
Graf Das wäre ja nur begrüßenswert – Er setzt sich.
Susanne wendet sich weinend ab.
Graf blickt sie überrascht an.
Figaro gibt sich einen Ruck: Herr Graf, Sie haben Artikel über Artikel verfaßt und Vorträge gegen die neuen Herrschaften gehalten –
Graf unterbricht ihn: Das hatte keinen Sinn, das sah ich ein. Die neuen Herrschaften werden sich gegenseitig stürzen, in längstens vier Wochen –
Figaro fällt ihm ins Wort: Herr Graf, und wenn sie sich nicht stürzen?
Graf fährt hoch. Pardon!
Stille.
Graf Susanne sagte mal, du könntest prophezeien. Aber ich kann auch prophezeien. Gib acht!
Figaro Ich verstehe Sie nicht, Herr Graf.
Graf Ein Mensch, der heute zu meiner täglichen Umgebung gezählt werden will, der soll mir nicht immer seine Ansicht sagen, selbst wenn sie richtig ist, er soll mich lieber durch bedingungslose Zustimmung belügen, denn eine Wahrheit in solcher Zeit ist häufig nur heimliche Kritik. Und für heimliche Kritik sorge ich persönlich – Er nickt ihm lächelnd zu.
Figaro Ich hätte nie so unbesorgt gefragt, aber ich darf leider nicht sorglos in die Zukunft leben, denn ich habe auch für meine Frau zu sorgen, ob es ihr paßt oder nicht, es ist meine Pflicht Nummer eins. Herr Graf, ich würd mich an Ihrer Stelle an einem gutgehenden Kaffeehaus beteiligen, heut ist noch Zeit.
Graf Du bist wohl krank! – Was sind das für laszive Vorschläge?
Figaro Sie sind von der Not diktiert.
Graf Leidest du Not?
Susanne weinend: Herr Graf, er ist verrückt geworden, er möcht kündigen – kündigen möcht er! Sie schluchzt.
Graf Kündigen? Er fixiert Figaro.
Stille.
Figaro verlegen und unsicher: Es ist heut der Erste, Herr Graf –
Graf fällt ihm ins Wort: Spielt keine Rolle. Wer nicht bei mir bleiben will, kann jederzeit fort. Akzeptiert.
Figaro Danke, Herr Graf!
Graf zu Susanne: Wo wollt ihr denn hin? Etwa zurück?
Figaro kommt Susanne zuvor: Ich kann mich beherrschen, Herr Graf!
Graf zu Figaro: Gib acht! Wenn du als Emigrant zurückkehrst, verlierst du den Kopf!
Figaro Mit Recht.
Graf perplex: Recht?
Figaro Herr Graf, es gibt leider zweierlei Recht. So oder so.
Susanne fährt plötzlich Figaro an: Es gibt aber auch zweierlei Unrecht! So oder so!
Figaro zu Susanne: Das liegt in der Natur der Dinge.
Stille.
Graf zu Susanne: Ihr wollt also nicht nach Hause –
Susanne weinend: Er will wieder Friseur werden –
Graf Wieder Friseur! Er lächelt unwillkürlich.
Figaro Herr Graf, ich möchte nach Großhadersdorf –
Graf unterbricht ihn: Interessiert mich nicht.
Figaro Bitte – bitte!
Stille.
Graf Wie lange warst du bei mir?
Figaro Neun Jahre, Herr Graf.
Graf Hm. Es tut mir leid, daß wir uns trennen, aber ich habe es erwartet, denn ich fühle bereits seit einiger Zeit, du treibst passive Resistenz.
Figaro Pardon, das ist alles nur aktiver Selbsterhaltungstrieb.
Graf Ich vertrage alles, nur eines nicht: du bist bürgerlich geworden, lieber Figaro – Er lächelt leise.
Figaro Herr Graf, ich habe in meinem Leben schon so oft immer hungern müssen, daß das Wort »bürgerlich« für mich seine Schrecken verloren hat.
Gräfin kommt vom Eislaufplatz und erblickt den Grafen: Ach, schon zurück vom Casino? Nun, was haben wir heute verloren?