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Ich entsinne mich wohl, daß ich widerstrebend meinen Fuß auf die Holztreppe setzte und einen langen Blick über den Staub und Schmutz des untern Zimmers gleiten ließ, wie jemand, der nicht weiß, was ihm geschehen kann, ehe er es wiedersieht. Der rote Rostfleck auf dem Waschtisch, der sandige Bodensatz in der Wanne, der Grünspan an allen Hähnen, die Undurchsichtigkeit der schmutzigen Fenster waren die Kleinigkeiten, die sich unauslöschlich meinem Gedächtnis eingeprägt haben. Eines der Fenster war oben offen, war so lang offen gewesen, daß zu beiden Seiten Spinnweben wie Vorhänge herunterhingen; dazwischen aber bot sich mir ein liebliches Bild der Themse, als ich hinaufstieg. Es war nur ein sonnenerleuchteter Streifen zwischen schattigen Gärten und freien Wiesen, ein paar Schiffer auf dem Schleppweg, ein Boot in der Mitte des Flusses und eine altertümliche Kirche im Hintergrund. In dieser Umgebung aber wirkte das Bildchen wie das Momentbild einer Laterna magica in einem Kohlenkeller. Nur widerstrebend riß ich mich von diesem sonnigen Stückchen los, um den Anblick meines Gefangenen aus nächster Nähe dafür einzutauschen.
Der erste Teil meiner Wache verlief so ruhig, daß sich mir der Mut für das übrige stärkte. Dan Levy öffnete bei meinem Näherkommen weder Lippen noch Augen; er lag auf dem Rücken und hatte die rote Fahne bis ans Kinn heraufgezogen, ein Bild friedlichen Vergessens. Ich sah ihn mir genau an und fand, daß sein Gesicht sich in der Ruhe sehr zu seinen Gunsten veränderte, daß er vielleicht im Tode sogar schön aussehen könnte. Die Stirn war höher und breiter, als ich dachte, die dicken Lippen schlossen sich jetzt fest aufeinander, aber daß die Lider sich über die scharfen listigen Augen senkten, gereichte dem Gesicht zum größten Vorteil. Alles in allem war es nicht nur ein besseres, sondern auch ein kraftvolleres Gesicht als am Morgen. Er war in seinen Fesseln eingeschlafen und hatte sie vergessen, aber er würde gemein genug erwachen, wenn ich nicht die Macht besaß, ihn fügsam zu machen. Ich hatte es durchaus nicht eilig, ihn meine Macht fühlen zu lassen und stahl mich auf den Zehenspitzen zu der Truhe, auf der ich mich niederließ.
Levy rührte sich nicht. Kein Laut kam von ihm; ich hatte erwartet, daß er schnarchen würde, und hätte das wie eine Erlösung betrachtet, denn die Stille in dem Turm fiel mir auf die Nerven. Es war keine vollkommene Stille; das war (und ist es immer) das Schlimmste dabei. Die Holztreppe krachte mehr als einmal, man hörte ein leises entferntes Rascheln wie von trockenen Blättern oder losen Fenstern, und obwohl diese Geräusche nichts weiter auslösten als erneute Spannung bei mir, trieben sie mir doch jedesmal den kalten Schweiß auf die Stirn. Dann erinnere ich mich einer Todesangst, verursacht durch eine Brummfliege, die durch das offene Fenster unten hereingekommen sein mußte, denn plötzlich surrte sie an mir vorüber, geradeswegs auf Levy zu. Ich brachte es fertig, sie mit wenig Geräusch zu erschlagen. Erst als ich mich atemlos wieder setzte, wurde mir klar, wie angstvoll ich bestrebt war, meinen Gefangenen schlafen zu lassen. Dabei hatte ich einen Revolver, und er war gefesselt und gebunden!
In der darauf folgenden langen Stille kam mir ein andrer Ton zum Bewußtsein, den ich gelegentlich schon gehört hatte, aber immer wieder als ein einfaches Zeichen des Außenlebens, das bis in meinen Turm drang, zu betrachten versuchte. Es war ein langsames, regelmäßiges Ticken, etwa wie ein Vorschlaghammer in einer fernen Schmiede oder wie irgend eine Maschine, und nur dann hörbar, wenn absolut nichts andres zu hören war. Es konnte kaum in der Nähe sein, denn ich vernahm es nur dann deutlich, wenn ich den Atem anhielt. Dann aber blieb es immer ein Geräusch, das nie verstummte oder sich änderte, so daß ich schließlich nur noch darauf horchte. Ich sah nicht einmal zu Levy hinüber, als er mich fragte, was es sei.
Seine Stimme war ruhig und höflich genug, ließ mich aber so zusammenfahren, daß ein boshaftes Zwinkern in den kleinen Augen erschien, die aussahen, als hätten sie mich schon mit Muße beobachtet. Sie waren wohl etwas weniger rot, die mächtigen Züge ruhig und stark wie im Schlummer oder seiner kunstvollen Nachahmung.
»Ich dachte, Sie schliefen,« stieß ich heraus und wußte, das Gegenteil, noch ehe er sprach.
»Wie Sie sehen, hat das Getränk mich wohler und frischer gemacht, als in Ihrer Absicht lag,« erklärte er. »Es hat einen neuen Menschen aus mir gemacht, wie Sie zu Ihrem Leidwesen bemerken werden.«
Ich antwortete ihm nicht. Der Ton kam dünn und fern wieder herüber. Levy fragte nochmals, ob ich wisse, was es sei.
»Wissen Sie es?« fragte ich dagegen.
»Aber gewiß,« antwortete er mit fröhlicher Sicherheit. »Es ist die Uhr.«
»Was für eine Uhr?«
»Die Turmuhr etwas weiter drunten, die nach der Straße zu ihr Zifferblatt hat.«
»Woher wissen Sie denn das?« fragte ich mit einem unbehaglichen Gefühl.
»Mein lieber, junger Freund, ich kenne das Zifferblatt genau so gut wie das Innere dieses Turms.«
»Dann wissen Sie also, wo Sie sind,« rief ich so überrascht, daß Levy spöttisch grinste.
»Natürlich; der letzte Besitzer konnte sich nicht halten, und beinahe hätte ich dies Haus an Stelle meines jetzigen genommen. Jedenfalls wurde dadurch mein Blick zuerst auf diese Gegend gelenkt.«
»Warum konnten Sie nicht gleich die Wahrheit sagen?« fragte ich, aber mein Zorn verstärkte nur sein breites Grinsen.
»Weshalb sollte ich? Es macht sich zuweilen bezahlt, weniger wissend zu erscheinen, als man ist.«
»In diesem Fall gewiß nicht,« stieß ich hervor. Aber trotz meiner Strenge und seiner Fesseln fuhr der Gefangene fort, mich mit ruhigem Behagen zu beobachten, was mich sehr beunruhigte.
»Darüber denke ich anders,« bemerkte er nach einer Weile. »Es macht sich für mich schon dadurch bezahlt, daß Raffles davonging, um den Scheck einzukassieren, und Sie als Wächter zurückließ.«
»So, wirklich?« fragte ich gedehnt, und meine rechte Hand suchte und fand Trost in meiner Rocktasche, an dem Revolver des alten Schurken.
»Ich will damit nur sagen,« fuhr er versöhnlicher fort, »daß Sie mir der Vernunft zugänglicher erscheinen als Ihr verschmitzter Freund.«
»Andererseits,« fuhr Levy ruhig fort, als wäge er uns wirklich in Gedanken gegeneinander ab, »andererseits setzen Sie sich auch nicht so vielen Gefahren aus wie Raffles. Er hat so viel angestellt, daß er sich eines schönen Tages ins Loch lotsen wird und Sie mit, wenn er es nicht schon jetzt getan hat, wie ich glaube. Aber es hat keinen Zweck, Hurra zu schreien, ehe man aus der Gefahr heraus ist.«
Dem stimmte ich bei, obgleich mir nicht wohl dabei zumute war.
»Es wundert mich doch,« fuhr mein Gefangener, wie zu sich selbst sprechend, fort, »daß er daran nicht gedacht hat.«
»Woran gedacht?«
»An die Uhr! Er muß sie schon gesehen haben, und Sie können mir nicht weismachen, daß diese Idee einer Entführung eine plötzliche war. Das war alles wohl überlegt; er hat sich genau orientiert und die Uhr sicher gesehen – gesehen, daß sie geht! Dabei aber kommt unserm klugen Freund nicht der Gedanke, daß eine Uhr regelmäßig einmal wöchentlich aufgezogen werden muß und daß er den Tag hätte ausfindig machen müssen.«
»Woher wissen Sie, daß er das nicht getan hat?«
»Weil heute zufällig der Tag ist.«
Levy dehnte sich auf seinem Lager mit dem innerlichen, dumpfen Lachen, das ich nun schon so gut kannte, das ich jedoch in seiner jetzigen Lage nicht von ihm zu hören erwartet hatte. Es ärgerte mich um so mehr, als ich fühlte, daß Raffles an meiner Stelle es gewiß nicht gehört haben würde. Immerhin war es mir eine Genugtuung, dieser Behauptung jeden Glauben zu versagen.
»Das glaube ich nicht,« sagte ich mit großer Ruhe, »das wäre ja ein zu merkwürdiges Zusammentreffen.«
»Und doch liegen die Odds nur wie sechs zu eins,« bemerkte Levy gleichmütig. »Der eine von Ihnen rennt mit offenen Augen in sein Unglück, aber daß der andre sich verpflichtet fühlt, ihm ins unvermeidliche Verderben zu folgen, ist wirklich schade. Sie werden aber wohl selbst am besten wissen, was Sie zu tun haben.«
»Verlassen Sie sich darauf,« sagte ich stolz. »Durch solch unerhörte Lüge lasse ich mich noch lange nicht verblüffen. Sie können mir ja erzählen, was Sie von dem Mann wissen, der hier die Uhr aufzieht, ich will Ihnen gern zuhören.«
»Ich weiß genau über ihn Bescheid, weil ich den Mann kenne; es ist ein kleiner Schotte, vor dem man nicht wegzulaufen braucht – obwohl das ganze Kerlchen nur aus Sehnen und Muskeln zu bestehen scheint,« erzählte Levy mit einer Umständlichkeit, die beinahe überzeugend wirkte. »Er kommt jeden Dienstag auf seinem Rad von Kingston herüber, kurz vor Mittag, und kommt dann auch in mein Haus, um die Uhren aufzuziehen. Daher weiß ich es so genau. Sie brauchen mir ja nicht zu glauben, wenn Sie nicht wollen.«
»Und wohin geht er, um die Uhr aufzuziehen? Hier oben sehe ich nichts, was damit im Zusammenhang stehen könnte.«
»Nein,« sagte Levy, »er steigt nur bis zu dem Stockwerk unter uns, aber das ist wohl nahe genug.«
»Sie glauben, wir werden ihn hören?«
»Und er uns,« setzte Levy mit unzweideutiger Entschiedenheit hinzu.
»Sehen Sie dies an, Herr Levy,« sagte ich und wies ihm seinen eigenen Revolver, »wenn wir wirklich jemand hören sollten, setze ich den Lauf auf Ihre Stirn und drücke los, falls er von uns etwas hört.«
Schon das Gefühl, daß ich wohl der letzte bin, eine solche Drohung wahr zu machen, ließ mich diese Worte wild hervorstoßen mit einem, wie ich hoffte, dazu passenden, Furcht einflößenden Gesicht. Wie verzweiflungsvoll war es nun für mich, als Levy diesen Ernst wie eine Posse auffaßte; und wenn etwas mich hätte dazu bringen können, mein Wort zu halten, so wäre es das tiefe, gurgelnde Lachen gewesen, mit dem er mich verhöhnte.
»Verzeihen Sie,« rief er und rieb seine entzündeten Augen mit der Ecke des roten Flaggentuchs, »aber der Gedanke, daß Sie das Ding da abdrücken wollen, um die Stille hier zu erhalten; – ach, der ist so komisch, wie Ihr ganzer Versuch, den kaltblütigen Schurken zu spielen – Sie, gerade Sie!«
»Ich werde ihn schon spielen,« zischte ich wütend, »wenn Sie mich dazu zwingen. Gestern abend habe ich Sie zu Boden geschlagen, und wenn Sie mich reizen, tue ich es heute morgen wieder. Nun wissen Sie Bescheid.«
»Das haben Sie nicht mit kaltem Blut getan,« sagte Levy und wälzte sich auf die Seite, »gestern abend war uns allen heiß im Schädel, das zählt nicht mit. Jetzt aber befinden Sie sich in einer ganz schiefen Lage, mein bester Herr. Ich sehe sehr gut, daß Sie im Grunde weder ein Räuber noch ein Dieb sind, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn Sie es Raffles nie verziehen, daß er Ihnen gerade diesen Posten übertragen hat. Sie haben sich mit einem Spitzbuben eingelassen, ohne selbst einer zu sein, und deshalb befinden Sie sich in dieser schiefen Lage. Er ist der Einbrecher, und Sie stehen nur Schmiere für ihn. Ich sehe das deutlich genug, aber wer weiß, wie es der Richter auffaßt. Der wird Sie beide mit gleichem Maße messen, was für Sie tiefste Beschämung bedeuten würde.«
Er hatte sich auf den Ellbogen gestützt und sprach eifrig, dringend, fast väterlich besorgt, und doch fühlte ich, daß sowohl seine Worte wie ihre Wirkung auf mich sorgfältig abgewogen waren. Ich ermutigte ihn durch eine sehr niedergeschlagene Haltung, um über einen Verdacht, der bei seinem veränderten Ton in mir aufstieg, ins klare zu kommen.
»Ich kann es nicht mehr ändern,« murmelte ich, »und muß es nun durchhalten.«
»Warum müssen Sie?« fragte Levy. »Sie sind zu einer Handlung verleitet worden, die gar nicht zu Ihrem Charakter paßt, und noch dazu für Menschen, die Sie absolut nichts angehen. Diese Handlung hat sich zu einem Verbrechen ausgewachsen, und das Verbrechen wird entdeckt, noch ehe Sie eine Stunde älter sind. Warum durchhalten, wenn man das sichere schlimme Ende voraussieht?«
»Es ist ja nichts zu machen,« antwortete ich resigniert, obwohl ich meine Pulse vor Erwartung dessen, das kommen mußte, klopfen fühlte.
Und es kam.
»Warum nicht der ganzen Sache ein Ende machen,« schlug Levy kühn vor, »ehe es zu spät ist?«
»Wie könnte ich wohl?« fragte ich, um ihn zu einem deutlichen Vorschlag zu verleiten.
»Indem Sie erst mich befreien und sich dann aus dem Staube machen.«
Ich sah ihn an, als sei das allerdings eine Idee und als halte ich dieselbe, trotz Raffles, der Überlegung für wert. Seine ungestüme Begierde labte sich an meiner offenbaren Unentschlossenheit. Er hob die gefesselten Hände, flehte und schmeichelte, ich solle ihm die Handschellen abnehmen; ich aber, anstatt ihm zu gestehen, daß das nicht in meiner Macht stände vor Raffles' Rückkehr, stellte mich, als zögere ich aus ganz andern Gründen.
»Das möchte wohl gehen,« sagte ich nach einer Weile, »aber wird es sich auch lohnen für mich?«
»Natürlich,« rief er, »ziehen Sie mein Scheckbuch aus der Tasche, wohin Sie es liebenswürdigerweise zurücksteckten, bevor der Halunke uns verließ, und ich schreibe Ihnen jetzt einen Scheck über hundert Pfund, und einen andern über weitere hundert bekommen Sie, wenn ich diesen Turm verlasse.«
»Das wollen Sie wirklich tun?« fragte ich.
»Ich schwöre es,« versicherte er, und ich bin heute noch der Meinung, daß er diesen Schwur gehalten haben würde. Jetzt aber war es am Tag, daß er mir vorhin etwas vorgelogen hatte, und ich mußte ihn wissen lassen, daß er durchschaut war.
»Zweihundert Pfund für die Freiheit, die Sie ja bald umsonst erhalten, wenn der Mann, wie Sie sagen, kommt, um die Uhr aufzuziehen? Einige hundert Pfund, um ein paar Stunden zu gewinnen?«
Levy wechselte die Farbe, als er einsah, welchen Fehler er gemacht hatte, und in seinen Augen blitzte es zornig auf; sonst aber war seine Selbstbeherrschung ebenso bewundernswert wie seine Geistesgegenwart.
»Ich will gar nicht Zeit gewinnen, nur hier in der Gegend nicht ins Gerede kommen. Wenn man den wohlbekannten Geldverleiher gefesselt und gebunden in einem leeren Hause fände, so gäbe das ein großes Gelächter. Aber Sie haben ganz recht; das ist keine zweihundert Goldstücke wert. Mögen Sie lachen, meinetwegen! Ihnen und Ihrem verschmitzten Freund wird das Lachen schon vergehen, ehe der Tag sich neigt. Darüber wollen wir kein Wort mehr verlieren. Sie tun gut, Ihren Mut ordentlich zu stärken, denn ich lasse nicht mit mir spaßen. Ich habe Ihnen eine letzte Chance geboten – aber, bei Gott, ich tue es nicht zum zweiten Male, selbst wenn Sie auf den Knieen vor mir lägen!«
Wenn man bedenkt, daß er gebunden war und ich frei, daß ich bewaffnet war und er schutzlos, so lag entschieden Komik in dem Bilde, daß ich mich zu einem Kniefall vor ihm herbeilassen könnte. Meine Gedanken glitten aber rasch wieder davon ab, und ich wunderte mich im stillen, was wohl an der Geschichte mit der Uhr wahr sein könne. Jedenfalls paßte sie nicht zu der großen Summe, die er für seine sofortige Befreiung bot; aber es war mehr als Geschicklichkeit, womit der Wucherer zwei Dinge miteinander verknüpft hatte. Ich konnte ihm nachfühlen, daß er sein demütigendes Geheimnis vor aller Welt bewahren wollte. Anderseits aber, wenn er die Absicht hatte, den großen Scheck, den er Raffles gegeben, zu sperren, durfte er allerdings keine Zeit verlieren, und es nahm mich nur wunder, daß er mir nicht schon längst mit seinem Anerbieten gekommen war.
Raffles war schon sehr lange fort, wie es mir schien, aber meine Uhr war stehen geblieben und die Turmuhr schlug nicht. Warum sie überhaupt ging, blieb mir ein Geheimnis; aber jetzt, wo Levy wieder still lag mit zusammengebissenen Zähnen und starren Augen, hörte ich sie wieder die Sekunden ticken und zählte sechzig davon zu einer Minute, die eine solche Ewigkeit dauerte, daß, was mir viele Stunden zu sein schien, vielleicht nicht einmal eine einzige war. Nur glühte die Sonne, die anfangs Levy bei dem Verhör bestrahlt hatte, jetzt durch das andre Fenster auf mich und die Truhe und machte den Lack ganz klebrig. Die dumpfe Hitze wurde fast unerträglich. Ich saß in Hemdärmeln oben auf der Treppe, wo man noch etwas Luft von dem untern offenen Fenster auffing. Levy hatte die rote Fahne mit einem Fluch plötzlich fortgeschleudert, und wohl über eine Stunde war das der einzige Laut in dem Turm. Die ganze Zeit lag er, die Augen starr zur Decke gerichtet, die gefesselten Hände auf der Brust zu Fäusten geballt, und in seinem ganzen Gehaben lag ein gewisses Etwas, das mich zwang, ihn zu beobachten, denn er erschien mir wie glimmendes Feuer unter der Asche.
Ich fürchtete im Grunde diesen Mann, das kann ich ruhig zugeben. Nicht deshalb, weil man aus ihm zwei von mir hätte machen können; denn dafür war ich so viel jünger. Auch hatte ich keine Ursache, seinen Fesseln zu mißtrauen, war doch auch noch die Waffe in meinem Besitz. Es war einfach die Persönlichkeit und der Geist des Menschen, der seine Herrschaft auf mich ausübte. Ich wußte wohl, daß ich es mit ihm aufnehmen konnte, da ich ihm gegenüber sehr im Vorteil war. Dies verminderte aber nicht das Gefühl, ihm nicht gewachsen zu sein, das mit jeder weiteren Minute mehr an meinen Nerven zerrte und mich fast einen körperlichen Kampf ersehnen ließ. Ich hätte ihn losmachen, den Revolver aus dem Fenster werfen und dann ihm Zurufen mögen: »Komm an! Deine Kräfte und Schwere gegen meine Jugend! Und möge der Teufel mit dem Unterliegenden abfahren!« Statt dessen mußte ich still sitzen und meine Ohnmacht verheimlichen. Nachdem ich lange mit solchen Gedanken gespielt, gab es schließlich einen weniger heldenmütigen, aber um so verzweifelteren Kampf, ehe ich mir noch recht klar geworden war, was eigentlich vorging.
Levy hatte den Kopf gehoben – sehr wenig nur, aber für meine wachsamen Augen genügend. Ich sah, daß er horchte. Ich horchte auch. Und tief unter mir im Turm hörte ich oder glaubte ich einen federleichten Schritt zu hören und nach einigen Augenblicken wieder einen. Dabei hatte ich instinktiv, ein paar Sekunden lang, die Treppe hinab gestarrt, aber ein leises Klirren der Handschellen brachte meinen Blick wieder zu der Koje. Da saß Levy, die hohlen Hände vor dem Mund und den Mund weit geöffnet, um laut zu brüllen, aber meine Fäuste erstickten den Laut.
Ich hatte mich wieder mit einem Satz wie ein Tiger über ihn geworfen und freute mich einen Augenblick mit Beschämung, wie sehr ich im Vorteil war. Länger kann es kaum gedauert haben, denn die Kanaille biß mich in die Hand, daß ich die Narben heute noch trage. Dann fuhren mir seine Hände an den Hals, und ich glaubte mein letztes Stündlein gekommen. Er würgte mich so, daß mir der Atem ausging und ich das Gefühl hatte, als träten meine Augen aus ihren Höhlen. Es war der Griff eines Gorilla, begleitet von einer Flut von Schimpfworten und einem geradezu teuflischen Grinsen. Meine kühnsten Träume eines gleichen Kampfes mit ihm hatten mich auf solch übermenschliche Kräfte nicht vorbereitet, noch auf solch völliges Versagen meiner eigenen. Ich versuchte mich aus seinem mörderischen Griff zu befreien, warf mich seitwärts und riß ihn von seinem Lager herunter, wobei der Haken, an dem seine Handschellen befestigt waren, nachfolgte; dadurch hatte er einen noch bessern Griff um meinen Hals; er gab nicht eine Sekunde nach, kam auch auf die Beine, als ich mich mit Mühe aufrichtete.
Jetzt fühlte ich in die Tasche nach dem Revolver, sie war leer; als wir uns auf dem Boden wanden, mußte er herausgefallen fein. Ich sah, wie er von unsern hin und her arbeitenden Füßen hemmgestoßen wurde, versuchte, mich danach zu bücken, aber Levy hatte ihn gleichfalls gesehen und gab ihm, ohne seinen wahnsinnigen Griff auch nur einen Moment zu lockern, mit dem Fuß einen Stoß, daß er durch das Geländer flog. Ich hätte später geschworen, daß ich die Waffe auf den hölzernen Stufen aufschlagen hörte. Aber was ich in der Erinnerung jetzt noch höre und deutlich heiß auf meinen Wangen spüre, war der röchelnde Atem, der jetzt von keinem Wort mehr unterbrochen wurde.
Es war ein grauenvoller Zweikampf, nicht kurz und scharf wie in der vergangenen Nacht, sondern fürchterlich in die Länge gezogen. Und keineswegs war alle Rohheit auf der einen Seite, und ich will durchaus nicht behaupten, daß ich mit dieser Niederlage, die mit meiner Vernichtung zu enden drohte, mehr zuerteilt bekam, als ich verdiente. Noch immer umklammerten mich die Hände wie Schraubstöcke. Als er mich gegen das Geländer gepreßt hatte, war in mir nur der Wunsch, daß es unter dem Anprall nachgeben und uns in die Tiefe reißen möge; das war immerhin noch besser, als so langsam erwürgt zu werden. Ich sah keine Rettung mehr und versuchte, mich über das Geländer zu stürzen. Ich schlug mit beiden Armen wild durch die Luft, als meine Hand plötzlich den Griff des Revolvers packte, den ich auf dem Boden des untern Zimmers vermutet hatte.
Ich hatte zu wenig Besinnung, um zu fühlen, daß hier ein Wunder geschehen war – oder um nur darüber nachzudenken. Aber so viel Besinnung, die Waffe zu gebrauchen, hatte ich noch. Ich hielt sie in die Achselhöhle meines Gegners und schoß in die Luft. Der Knall war betäubend. Er tat seine Wirkung. Levy ließ los und wankte einige Schritte zurück, als ob ich ihn wirklich getroffen hätte. Im selben Augenblick schmetterte ich ihm die Waffe ins Gesicht.
»Sie haben mich zu erschießen versucht! Sie haben mich erschießen wollen!« stieß er zweimal mit leichenblassem Gesicht hervor.
»Nein, das nicht,« brachte ich mühsam heraus. »Ich wollte sie erschrecken, und das ist mir vorzüglich gelungen. Aber wie einen Hund schieße ich Sie nieder, wenn Sie nicht augenblicklich in Ihren Stall gehen und sich niederlegen!«
Er saß keuchend auf dem Kojenrand. Seine Kampflust war verraucht. Sein Gesicht war blau bis in die Lippen. Ich steckte den Revolver in die Tasche und zog meine Drohung in plötzlichem Schrecken zurück.
»So, wenn Sie ihn Wiedersehen, haben Sie es sich selbst zuzuschreiben,« versprach ich fast ebenso atemlos. »Sie haben mich beinahe erwürgt.«
Seine Hände umklammerten den Bettrand, gegen den er sich lehnte; die Atemzüge kamen schwer und geräuschvoll. Vielleicht war es ein Asthmaanfall oder auch eine ernstere Herzattacke; jedenfalls brauchte er etwas Belebendes, und Raffles' Flasche fiel mir ein. Im Handumdrehen hatte ich ihm eine tüchtige Portion in den Becher gegossen und sofort hatte Daniel Levy den reinen Alkohol heruntergeschüttet. Er bat um mehr, ehe ich selbst einen Schluck genommen hatte. Ich gab ihm, denn es war mir eine Erleichterung, den bleiernen Ton von seinem welken Gesicht verschwinden, die gequälte, mühsame Atmung ruhiger werden zu sehen, selbst wenn dadurch unsre Feindseligkeiten von neuem eröffnet würden. Aber das war vorüber. Der Mann sah erschreckend alt und verfallen aus, als er sich freiwillig wieder hinlegte. Ich gab seinem Drängen nach, bis die Flasche leer war; darauf schlief er nach einer Weile fest ein, und ich wachte über ihm, wedelte ihm die Fliegen ab und fächelte ihm von Zeit zu Zeit mit einem Stück der Fahne, weniger wohl aus Menschenliebe, als um ihn so lange wie möglich ruhig zu erhalten, als plötzlich, wie ein Sonnenstrahl für mich, Raffles auftauchte.
Raffles hatte auch einige Abenteuer in der Stadt bestanden, und ich war froh, daß ich nicht an seiner Statt gegangen war. Er hatte von vornherein mit Schwierigkeiten gerechnet, einen so großen Scheck auf der Bank einzukassieren, und war deshalb erst nach Chelsea gefahren, wo er als Maler, der nie malte, ein Atelier besaß, in dem er für die Modelle, die nie kamen, eine Unmenge Verkleidungen verwahrte. Dieses Atelier verließ er als Doppelgänger einer sehr bekannten militärischen Persönlichkeit, die man ebenfalls als Levys Klienten kannte. Raffles erzählte, der Kassierer habe ihn angestarrt, aber ohne ein Wort den Scheck bezahlt. Unglücklicherweise war ihm auf dem Rückweg zu seinem Wagen ein Bekannter des verschwenderischen Offiziers, der auch ihm selbst gut bekannt war, begegnet und hatte ihn als den Offizier begrüßt.
»Es war ein verflixt schwieriger Moment, Bunny. Ich mußte ja sagen, daß er sich irre, mußte das aber so sagen, daß es weder mir noch dem andern ähnlich war. Aber Ende gut, alles gut. Und wenn du alles tust, was ich dir sage, so dürfen wir uns schmeicheln, daß ein glücklicher Ausgang jetzt in Sicht ist.«
»Was soll ich tun?« fragte ich von banger Ahnung erfüllt.
»Mach, daß du hier wegkommst, Bunny, und erwarte mich in der Stadt. Du hast deine Sache sehr brav gemacht, mein Junge, und ich ebenfalls. Alles ist in bester Ordnung bis herab zu den fünfzehnhundert Pfund, die ich an meiner Person verborgen habe. Ich habe den alten Garland ausgesucht, ihm den Schuldschein und die neue Hypothek von Levy ausgehändigt. Der Besuch war ziemlich angreifend, aber innerlich mußte ich mich immer wieder fragen, was der alte Knabe wohl dazu sagen würde, wenn er ahnte, welche Daumenschrauben ich seinetwegen angesetzt habe. Jetzt fehlt nur noch unser beider Abgang von dieser Trugbühne; ich kann ohne unfern schlafenden Kollegen nicht gut davongehen, aber du würdest die Sache immerhin vereinfachen, wenn du nicht auf uns warten wolltest.«
Dieser Vorschlag hatte manches für sich, obwohl er mir im Grunde gegen den Strich ging. Raffles hatte sich umgezogen und gebadet, hatte auch obendrein in der Stadt gefrühstückt. Ich war unbeschreiblich schmutzig und verwildert und verspürte argen Hunger, jetzt, wo die Nervenanspannung nachließ. Raffles hatte meinen Zustand geahnt und mir einen freien Weg durch die Gartentür erwirkt. Er hatte dem Gärtner eine lange Geschichte erzählt, von einem Käufer, der mit seinem Maurermeister das Haus besichtigen wolle, und hatte sich die Schlüssel geben lassen. Ich war natürlich der Maurermeister, der an den Gärtner eine Bestellung auszurichten hatte, die Raffles und Levy bis zu seiner, das heißt meiner Rückkehr Ungestörtheit verschaffen sollte. Selbstverständlich sollte ich überhaupt nicht wiederkommen.
Das schien mir viel zu fein eingefädelt für eine so kleine Sache. Aber es war wieder so echt Raffles, daß ich nachgab und versprach, ihn um sieben Uhr im Albany wieder zu treffen, wo wir diese ganze Sache gebührend feiern wollten.
Vor sieben Uhr aber sollte noch viel geschehen. Der Anfang wurde gemacht, als ich den Staub dieses verwünschten Turmes von meinen Füßen schüttelte. Ich trat beim Absteigen in der Dunkelheit auf etwas, das klingend die Stufen vor mir hinunterrollte, bis es schließlich auf einem Treppenabsatz liegen blieb, wo ich es aufnahm. Ich hatte Raffles gegenüber noch nichts von dem unerklärlichen Vorfall mit dem Revolver erwähnt. Aber damit war die Sache für mich selbst nicht abgetan, und jetzt hätte ich ihm wohl eine Erklärung geben können; fast wäre ich noch einmal hinaufgestiegen, um ihm meine Vermutung zu erzählen, dann aber fiel mir ein, wie sehr er sich bemüht hatte, mich los zu werden, und so wollte ich ihn lieber später damit überraschen.
Jetzt aber hatte sich mein Plan geändert. Nachdem ich dem Gärtner die Bestellung ausgerichtet, kaufte ich mir in einem Laden in der Nähe des Bahnhofs einen Kragen und eine Zahnbürste und machte auf dem Bahnhof, so gut es ging, Toilette.
Einige Minuten später erfragte ich den Weg zu einem Hause, an das ich nach zwanzig weiteren Minuten, gelangte.