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Zugeeignet Karl Vossler, dem Rektor der Universität
Nicht durch unser Wohnen auf dem Heimatboden, nicht durch unsere leibliche Berührung in Handel und Wandel, sondern durch ein geistiges Anhangen vor allem sind wir zur Gemeinschaft verbunden. Hierdurch unterscheiden sich unsere alten europäischen Nationen von jenem jungen, nach außen mächtigen amerikanischen Staatswesen, in dem wir eine Nation in diesem Sinne noch nicht zu erkennen vermögen. In einer Sprache finden wir uns zueinander, die völlig etwas anderes ist als das bloße natürliche Verständigungsmittel; denn in ihr redet Vergangenes zu uns, Kräfte wirken auf uns ein und werden unmittelbar gewaltig, denen die politischen Einrichtungen weder Raum zu geben, noch Schranken zu setzen mächtig sind, ein eigentümlicher Zusammenhang wird wirksam zwischen den Geschlechtern, wir ahnen dahinter ein Etwas waltend, das wir den Geist der Nation zu nennen uns getrauen. Alles Höhere, des Merkens Würdige aber, seit vielen Jahrhunderten, wird durch die Schrift überliefert; so reden wir vom Schrifttum und meinen damit nicht nur den Wust von Büchern, den heute kein einzelner mehr bewältigt, sondern Aufzeichnungen aller Art, wie sie zwischen den Menschen hin und her gehen, den nur für einen oder wenige bestimmten Brief, die Denkschrift, desgleichen auch die Anekdote, das Schlagwort, das politische oder geistige Glaubensbekenntnis, wie es das Zeitungsblatt bringt, lauter Formen, die ja zuzeiten sehr wirksam werden können.
Das Wort Literatur bezeichnet wohl annähernd das gleiche, aber es ist uns zweideutiger in seinem Klang: der unglückliche Riß in unserem Volk zwischen Gebildeten und Ungebildeten tritt uns gleich ins Gefühl, wenn wir dieses Wort brauchen, wir sind sogleich in seinem Bildungsbereich – der Abglanz aber von Goethes Geist, der vor hundert Jahren auf diesem Worte lag, ist verblaßt.
Nicht die gleiche Bewandtnis aber hat es mit dem gleichen Begriff, wenn wir uns anderen benachbarten Nationen zuwenden. Von den drei romanischen Nationen, welche seit dem sechzehnten Jahrhundert eine nach der anderen die kulturelle Führerschaft innehatten, ist uns die französische ihren Grenzen nach und durch Schicksalsverbundenheit die nächste. Sie nun besitzt eine Literatur im wahren Sinne des Wortes. Das Große, seit Beginn der neueren Ära, das ist seit etwa dreihundertfünfzig Jahren, Hervorgetretene erscheint fortwirkend. Das Mittlere, zu jenem Großen in klar abgestuftem Verhältnis, tritt nach gemessener Zeit ins Dunkel zurück und steigt in neuen geistreichen Formen wieder hervor. Selbst das Geringe, für den Tag Bestimmte, nimmt für die Spanne seiner Wirksamkeit teil an einer gewissen Würde durch die Sorgfalt, mit welcher es eine reine Sprache anstrebt und die Gedanken klar und wohlgeordnet und faßlich wiedergeben will. Mode belebt die Tradition, Tradition adelt die Mode. Innerhalb solchen beharrenden Wechsels ist der Ehrgeiz nicht darauf gerichtet, abzustechen, sondern: die traditionellen Forderungen zu erfüllen. Ein großer Beobachter hat es ausgesprochen, daß bei jenem Volk die Zucht des persönlichen Ausdruckes über das Hinreißende der Einmaligkeit gestellt wird, und dem Kunstwerke gegenüber richtet sich die Aufmerksamkeit nicht auf das biographische Mysterium, sondern auf das aus der Leistung abnehmbare Gesetz. Die Blüte dieser Tendenz ist die Sprachnorm, welche die Nation zusammenhält und innerhalb ihrer dem Spiel widerstreitender Tendenzen – der aristokratischen wie der nivellierenden, der revolutionären wie der konservativen – Raum gewährt. In dieser geselligsten Nation entwickelt sich auch innerhalb der Literatur jenes vor allem gesellige Element, dessen Grundlage eine nie schlummernde wechselseitige Aufmerksamkeit und Rivalität ist. Bei einer ungeheuren geselligen Reizbarkeit, deren Quälendes nur durch eine fast unbegrenzte soziale Erfahrung erträglich wird, erscheint es mehr versprechend, seine Grenzen zu erkennen als sie zu überschreiten. Eben diese große Aufmerksamkeit sichert der unauffälligen Schönheit, dem glücklichen einzelnen Zug, der Eleganz ihren Triumph. Die Originalität gilt nur bedingt, jedenfalls gilt sie nur in bezug auf die anderen – der Deutsche statuiert eine Originalität an und für sich –, aber eine relative Überlegenheit, das Überragen um ein Geringes, wird hoch gewertet. Auch die Einsamkeit, bei uns der natürliche Spielraum des Geistigen, wird nur in der Spiegelung des Geselligen überhaupt wahrgenommen. Sei es Rousseau, sei es sein Vorläufer, jener Misanthrop des Molière, ihre Einsamkeit ist wie die Verbannung des Ovid nur das Widerspiel der Geselligkeit. Ihr Dortsein, wo die anderen nicht sind, ist der Quell ihres Stolzes und ihres Zürnens, und sein Objekt sind immer die, welche, obwohl abwesend, ihm als gegenwärtig stets vorschweben. Die Scheu vor dem unverstandenen Alleinsein ist größer als die vor dem Tode, und noch die Unsterblichkeit erscheint als die Vision eines geselligen Fortlebens. Das einzelne Talent wird streben, sich mit Grazie in seinen Grenzen zu bewegen, wissend, daß diese Bescheidung ihm am meisten einträgt. Nirgends hat die grobe geistige Scharlatanerie weniger Aussichten, dagegen ist das geistige Gewebe so dicht, die Aufmerksamkeit aller auf alles so groß, daß auch der bescheidenen Leistung ein Mittönen noch der höheren Regionen des Geistigen zuteil werden kann: denn in der Tat tönt dort alles überein mit allem. Was Selbstzucht allein nicht wirken könnte, wirkt die eherne Disziplin des Geschmacks und der Übereinkunft. Der Möglichkeiten lächerlich zu sein, sind unzählige, die Resonanz jedes Fehlers fast unbegrenzt, der witzige Kommentar immer parat und bis zur Vernichtung scharf. In der Medisance wird die ganze Nation zum Autor und zum geistig Genießenden. »Geschlossen ist der Ring, nicht der Formen selber, sondern gerade durch die Weltlichkeit, die Soziabilität der Formen ist der Ring geschlossen zwischen Dichter und Nation, Schriftsteller und Leser, Sprecher und Hörer«, um mich der Worte des Mannes zu bedienen, der von diesen Dingen und ihren Zusammenhängen öfter und meisterhaft gehandelt hat und auch noch den zartesten Flaum um sie, den Lebenshauch, der die geistige Form umgibt, uns tausendfach zugemittelt hat – um mich der Worte Karl Vosslers zu bedienen.
In solchem Kontext, in welchem die Dinge nur im flüchtigen Umrisse erscheinen, kann auf die Übereinstimmung gerade nur hingedeutet werden, in welcher diese Seite des Lebens durchaus und auf jede Weise mit der politischen steht. Eng ist der Zusammenhang zwischen der skeptischen Geisteshaltung, als einer für diese Nation charakteristischen – wenngleich nicht ihrer einzigen –, mit jener politischen Möglichkeit, fruchtbare, die Nation aufrüttelnde, nicht sie zerrüttende Revolutionen zu entfesseln. Vollständig ist die Übereinstimmung einer gewissen Grundtendenz des sprachlichen Gehabens mit dem Schwung der Diesseitigkeit, dessen stärkste Entladung in der Französischen Revolution zu einem solchen, in seinen Folgen noch nicht erledigten materiellen und zugleich geistigen Einbruch in die deutsche Welt führte.
Genug: Die Literatur der Franzosen verbürgt ihnen ihre Wirklichkeit. Wo geglaubte Ganzheit des Daseins ist – nicht Zerrissenheit –, dort ist Wirklichkeit. Die Nation, durch ein unzerreißbares Gewebe des Sprachlich-Geistigen zusammengehalten, wird Glaubensgemeinschaft, in der das Ganze des natürlichen und kulturlichen Lebens einbeschlossen ist; ein Nationstaat dieser Art erscheint als das innere Universum und von Epoche zu Epoche immer aufs neue als »das gedrungene Gegenstück zur deutschen Zerfahrenheit«.
Der Raumbegriff, der aus diesem geistigen Ganzen emaniert, ist identisch mit dem Geistesraum, den die Nation in ihrem eigenen Bewußtsein und in dem der Welt einnimmt. Nichts ist im politischen Leben der Nation Wirklichkeit, das nicht in ihrer Literatur als Geist vorhanden wäre, nichts enthält diese lebensvolle, traumlose Literatur, das sich nicht im Leben der Nation verwirklichte. Auf den Literaten in diesem »Paradies der Worte« strahlt eine Würde ohnegleichen. Der Journalist noch, und wäre er der kleinste, darf sich neben Bossuet und La Bruyère stellen, der Schullehrer ist der Gefährte Montaignes; Molière und Lafontaine, Voltaire und Montesquieu sprechen noch heute für alle, alle sprechen aus ihnen. Auch hier ist der Ring geschlossen.
Wenden wir uns der eigenen Nation zu, so tönt uns freilich geradezu das Gegenteil jener Einhälligkeit entgegen. Von einer Zusammenfassung aller produktiven Geisteskräfte der Nation im Gebiete der Literatur kann keine Rede sein; oder wir müßten uns darauf einlassen, unter dem Begriff Literatur hier etwas völlig anderes zu verstehen als dort. Jener Kreislauf zwischen dem Geistigen und dem Gesellschaftlichen, auf den dort alles hindrängt, in den schließlich alles einmündet, ihm wirkt hier der tiefste Instinkt entgegen. Statt daß dort noch in der Abweichung vom Allgemeinen der Hinweis auf das Allgemeine fühlbar wird, bedarf es hier keiner Abweichung, damit sich das Bezuglose enthülle. Kein Zusammenhang in der Ebene der Gleichzeitigkeit, kein Zusammenhang in der Tiefe der Geschlechterfolge. Jenes Fortwirken des dort einmal Geleisteten, wodurch eine gleichzeitige geistige Präsenz von zwölf Generationen erreicht wird, hier ist von ihr, strenggenommen, keine Spur. Der ganze Begriff geistiger Tradition erscheint nur höchst bedingungsweise anerkannt. Daß beispielsweise eine Nation ihre zwei größten Historiker, Geister von der Kraft Johannes von Müllers und Rankes, die wahren großen deutschen Epiker der neueren Zeit, bei einer Wendung ihres Weges völlig aus dem Auge verlieren könne, erscheint – wenn es zufällig ins Bewußtsein tritt – fast unbegreiflich. Und selbst in bezug auf ein solches Phänomen wie Goethe fahndet man nach einem Konsensus, will man herab in eine tiefere Strömung als das oberflächliche Gerinnsel der Bildungstradition, sieht man ab von der nicht ganz angenehmen Goethevertraulichkeit der Philologen und der Goethepietät der einzelnen, so kommt man zu der Einsicht: daß sein Wirken als ein schlechthin gegebenes, das durch alle Schichten hin fortwirke, als Besitz, als ein Haben, als eine Immanenz im geistigen Bestehen nicht gelten kann; höchstens könnte man in bezug auf ihn sich auf die Formel einigen, die Rudolf Pannwitz ausgesprochen hat: daß Goethe für den Deutschen in seinem Verhältnis zur Welt zwar nicht der Standpunkt sein könne, aber ein Punkt, auf den bezogen andere Punkte Figuren werden. Aber auch dies gilt doch nur für die Reifsten unter den Gebildeten, und über das Verhältnis der Nation zu ihrem größten Individuum ist damit nichts ausgesagt.
Die Grundhaltung drüben ist diese: teilhaben am nationalen Besitz, mitinbegriffen sein in die Repräsentation der Nation, als welche sich vollendet in der vollkommenen und allen zugänglichen Sprachschönheit – Klarheit, schöne Nüchternheit, zuchtvolle Nachdenklichkeit –, welche ein Sichhaben ist, ein Selbstbesitz und Genießen dieses Selbstbesitzes, gleichweit vom »Barocken« und vom »Gotischen«. Hüben aber ist dies die Grundhaltung: das National-Gesellschaftliche ist nicht das Primäre, sondern die Widerlegung des Gesellschaftlichen ist das Primäre. Von einem Etwas im geistigen Bestände der Nation, dem eine verkappte, aber kaum bestrittene Macht zukommt, wird jene Ebene negiert, durch deren Setzung sich die Gesamtheit der geistigen Erzeugnisse erst zur Literatur zusammenfassen würde. Wir haben eine Literatur im uneigentlichen, konventionellen Sinne, die aufzählbar, aber nicht wahrhaft repräsentativ noch traditionbildend ist. Und wir haben neben ihr, außer ihr, unter ihr, über ihr eine geistige Regsamkeit, die in dem Begriff Literatur nicht einbegriffen sein will, aber alle Ansprüche, das geistige Leben der Nation zu bestimmen, in sich faßt, die sich weder an die Gegenwart als die verantwortliche Geselligkeit der Lebenden, noch an die Geschichte als die verantwortliche Geselligkeit der Nation zu binden, die überhaupt nichts zu verantworten begehrt und doch nach den tiefsten, ja nach kosmischen Bindungen und den schwersten, ja religiösen Verantwortungen für die Gesamtheit begierig, durchaus nur in der einzelnen Persönlichkeit wirksam sein will.
Wie nun bezeichne ich Ihnen diese Geistigen und doch nicht durch das Werk Gedeckten und im Werke Aufgehenden, diese Verantwortungsbeladenen und doch Verantwortungslosen, diese durchaus Vereinzelten, aber um die höchsten Bindungen Bemühten, diese fast Unbekannten und doch da und dort heimlich und hinterrücks Autoritativen – diese ungreifbaren vielen oder wenigen, ohnmächtig Mächtigen, geheim Wirksamen? Ich weiß kein treffenderes Wort, sie zu bezeichnen, als daß ich sie mit dem Worte nenne, mit dem Nietzsche in der ersten »Unzeitgemäßen Betrachtung« diese deutsche Geisteshaltung bezeichnet hat: daß ich sie Suchende nenne, unter welchem Begriffe er alles Hohe, Heldenhafte und auch ewig Problematische in der deutschen Geistigkeit zusammenfaßte und es gegenüberstellte allem Satten, Schlaffen, Matten, aber in der Schlaffheit Übermütigen und Selbstzufriedenen: dem deutschen Bildungsphilister.
Jener deutsche Bildungsphilister meinte damals nach einem siegreichen Ringen endgültig triumphieren zu dürfen. Er meinte, es sei an dem, daß man sich als die Nation der stärksten Kultur betrachte; es sei an dem, daß man das ewige Suchen und Wollen und Ringen in ein Sein und Haben verwandle, daß man sich behaglich niederlasse auf dem Fundament einer Bildung, die man besitze, geschaffen wie sie nun einmal sei durch die Leistung unserer Klassiker, die man ja habe, als einen festen Bestandteil, der nicht verlorengehen könne und der zusammen mit anderen irdischen Besitztümern eben die Wirklichkeit ausmache. Wie freilich eine solche übermütig satte Geisteshaltung im überwiegenden Teile der großen tragisch veranlagten Nation Platz greifen konnte, so daß nur ein einzelner, eine so gespannte Seele wie Nietzsche, diesem Sichgebärden entgegenzutreten da war, das nimmt uns heute fast wunder. Wir müssen darüber staunen, daß es einen Moment geben konnte, in welchem jene verkappte, aber kaum bestrittene Macht sich so wenig Geltung zu verschaffen wußte, jene verkappte Macht, welche innerhalb der Nation die Spannungen und Beklemmungen hervorruft, an denen wir alle mitleiden, diesen Spannungen zeitweise durch Ausbrüche und Umstürze ein Ende macht, Scheinautoritäten stürzt, herrschende Zeitgedanken abwirft und unser schattenhaftes Dasein immer wieder ans Ewige bindet, und die ich nicht anders benennen kann als das geistige Gewissen der Nation. Wenn dieses Gewissen nun, geweckt und geschärft durch allerdings furchtbare Erfahrungen, heute mit solcher Entschiedenheit die dem Bildungsphilister entgegengesetzte Partei nimmt, wenn es die Autorität, die es zu vergeben hat, heute so entschieden und unbedenklich hinüberwirft von den Behausten zu den Unbehausten, von denen die haben zu denen die suchen, von der Literatur zum außer der Literatur stehenden, ringenden Sektierertum, von der geistigen Besitzordnung zur Anarchie – und wie sehr dies der Fall ist, das zu bezeugen rufe ich Ihr eigenes Gefühl an, das untrügliche Gefühl der Zeitgenossen, Ihre tägliche Erfahrung, die Atmosphäre geistiger Beunruhigung und Fragwürdigkeit, in der wir leben –, so vermag ich darin nur eines zu erkennen: die Kraft und Gesundheit dieses Gewissens, seine deutsche Kühnheit, daß es wieder einmal die Schiffe hinter sich verbrennt, wie jener tollkühne Agathokles von Syrakus, als er in Afrika gelandet war, um den Angriff auf Karthago aufzunehmen – die große Art auch dieses Gewissens, daß es mit großen Zeiträumen rechnet und des Gefährlichen, der Romantik und jener nicht unverschuldeten Verödung und Entgötterung, die auf sie folgte, nur als eines Intermezzos, eines leichten Zwischenwellenspieles gedenkt und darüber hinweggeht und mit neuem Mut und Glauben die Anarchie legitimiert und dadurch zu erkennen gibt, sie halte diese für die gültige Erscheinungsform des Produktiven in unserem geistigen Handel und Wandel.
Die Träger nun dieser produktiven Anarchie – wenn anders als eine produktive diese Anarchie von uns begrüßt und gläubig hingenommen werden soll –, diese Suchenden, da wir sie mit dem einzigen Worte als eine Gemeinschaft begreifen können – was sie denn suchen, um was sie denn ringen, vielleicht können wir dem späterhin auf Blickweite uns annähern. Aber zuvor wollen wir sie doch selber vor uns sehen, wir wollen diese Geister zitieren, daß sie uns für einen Augenblick hier Erscheinung werden. Wo, fragen wir da, in welchem Randbezirk unseres Lebens siedeln denn diese Suchenden, in welchem Geklüfte unserer vielzerklüfteten Kultur haben sie denn ihre Wohnstätten aufgeschlagen, wo begegnete denn, wer ihnen begegnen wollte, am schnellsten diesen schweifenden, verlorenen Söhnen, die doch den Fahnenwagen ihrer Nation in ihrer Mitte führen? – so wissen Sie darauf die Antwort so wohl als ich sie weiß. Auf Schritt und Tritt begegnen wir ihnen, niemals aber als einem dichten Haufen, sondern einzeln schweifend durchdringen sie diese Nation der einzelnen. Ihre Nächsten, die Sie da vor mir sitzen, wo nicht Sie selber, Ihre Kinder, Ihre jüngeren Brüder und Schwestern, Ihre Freunde und die Freunde Ihrer Freunde sind in dies schweifende Treiben verstrickt. Ich versuche es und rede Ihnen zusammenfassend von dem, was im einzelnen in der täglichen Erfahrung ist, die unser Leben mit fragwürdigen Lichtern überspielt. Dies Suchen und Treiben und Drängen ist überall da, es manifestiert sich in jedem Wort höherer geistiger Rede, das zwischen uns hin und her geht. Es ist da als ein Schwindel unter unseren Füßen, es bringt dies Gefährliche und Abwegige, mit Überraschungen und Zweifeln Schwangere in jede Unterhaltung, es durchsetzt die Atmosphäre mit der Ahnung, daß beständig alles möglich ist – mit diesem Knistern wie vom Zerfall ganzer Welten, diesem hahlen Heranwehen eines ewig Morgigen ...
Wem ist nicht, und mehr als einmal, die Gestalt begegnet, die diese Zeichen trug und von solcher Luft umweht war? Der schweifende, aus dem Chaos hervortretende Geistige, mit dem Anspruch auf Lehrerschaft und Führerschaft – mit noch verwegeneren Ansprüchen – mit dem Anhauch des Genius auf der hohen Stirn, mit dem Stigma des Usurpators im scheulosen Auge oder im gefährlich geformten Ohr? Er, der darum revolutionär in der geistigen Welt ist, weil ihm, als einem wahren Deutschen und Absoluten, die Formen der gesellschaftlichen, der geschichtlichen Welt nicht des Zerbrechens wert erscheinen, so wenig nimmt er ihr Gewaltiges wahr, so wenig gilt ihm ihr Gewaltiges für wirklich, und der nun für seinen Kriegszug Gefährten wirbt, Adepten, solche, die sich ihm unbedingt unterwerfen, denn sosehr alles in seinem titanischen Beginnen auf Alleinsein gestellt ist, die völlige, starrende Einsamkeit erträgt er doch auf die Dauer nicht. Er ist auch Dichter, dieser unser Ungenannter, dessen Umrisse ich Ihnen in die Luft hinzeichne, als eines für viele – vielleicht ist er mehr Prophet als Dichter, vielleicht ist er ein erotischer Träumer – er ist eine gefährliche hybride Natur, Liebender und Hassender und Lehrer und Verführer zugleich. Wenn er es zuzeiten nicht verschmäht, Dichter zu sein, so geschieht es nicht um des Werkes willen. Das Werk würde ihn in die Ordnung hineinbeziehen, um ihn aber in seiner empedokleischen Nacktheit schlägt unrealisierte Dichtung ihren Mantel, sein Hauptwerk ist ein nie geschriebenes, dem alles, was er von sich gibt, nur Prolegomena sind, als solche belanglos, bedeutsam nur in der von ihm und den Seinen erahnten Relation zum Hauptwerk, jenem, das einer Umschöpfung seines Ich und damit einer Umschöpfung der Welt gleichkommt. Um die Sprache ringt er zuzeiten wirklich – aber nicht mitzuwirken an der Schöpfung der Sprachnorm, in der die Nation zur wahren Einheit sich bindet, sondern als die magische Gewalt, die sie ist, will er sich sie dienstbar machen, seine geistige Leidenschaft ist so groß, in den höchsten Momenten wird er wirklich ein leidenschaftlich Erschautes bis in den Rhythmus seines Leibes in sich nachzittern fühlen und dann wahrhaft Dichter sein. Zuzeiten wieder wird er die Herablassung des Sprechens verschmähen, wird er durch Krisen einer Sprachbezweiflung durchgehen, die ihre furchtbaren Spuren bis in die flackernden Züge seines Gesichtes zurücklassen wird, und wieder zuzeiten sich emporschwingen zu einer Ahnung der heilenden Funktion der Sprache, zur Erschauung verwirklichbarer Maßgestalten. Er wird sich gelegentlich auch der literarischen Formen bedienen: des Dramas, des Romans, der Parabel, aber wo er sich ihrer bedient, wird es nur geschehen, um sie zu transzendieren. Sein Drama wird ihm zum Mythos des eigenen Ich aufschwellen, sein Roman wird kosmische Geheimnisse umschließen, wird Märchen, Historie, Theogonie und Bekenntnis zugleich sein wollen. Je großartiger, fragmentarischer er sich gibt, um so großartiger wird er verlangen, als ein Ganzes, als das einzige Ganze dieser zerrissenen Welt genommen zu werden ... Er wird viele kennen und vielen sich verstricken, wird erschüttern und verwirren, Entwicklungen mit sich reißen und verschütten: aber es wird keiner ihm begegnet sein, der nicht von dieser Begegnung in seinem inneren Leben Epoche datierte.
Denn er hat dieses Gesetz über sich gesetzt, daß alles mit ihm, mit seiner Seelenwallung neu anfangen müsse – und so meint jeder von seinen jungen Begegnenden; für ihn ist alles überwunden und so, wie es zu gelten scheint, nicht gültig, sondern muß zu neuer Gültigkeit aus ihm wiedergeboren werden – und so meint es jeder; er schleppt sich aus der Ferne der Zeiten die widerspenstigsten Blöcke herbei, seinen Tempel zu bauen, Urworte von da und dort, sibyllinische Sprüche der vorplatonischen Denker, Orpheus oder Hamann, Lionardo oder Laotse – und so hält es jeder; er verschmäht es, gemäß Ordnungen zu empfangen, und will gemäß Ordnungen, die von ihm gesetzt sind, austeilen – und so will es im Herzen jeder.
Ist Ihnen aber der Umriß dieser Gestalt zu scharf und zu unheimlich, so lassen Sie mich einen anderen Umriß hinzeichnen; völlig kontrastierend mit diesem in der Grundgebärde. Auch ihm sind wir im Gewühl der Suchenden begegnet, der so zuchtvoll war, als jener erste voll Überhebung, so gebunden bis zur Qual, als jener frei bis zur Zerrüttung. Waren die Ränder unserer Geisteswelt der Wohnbereich jenes Schweifenden, so suchen wir das Bild dieses an einer der hohen, strengen Stätten der Wissenschaft, inmitten des aufgehäuften Geisteserbes; und dieses Erbe selbst und die Berufung, es zu wahren, wird ihm zum dunkelsten Geschick. Ein schwermütiger Ernst umfließt diese Gestalt, aber geistige Leidenschaft ist auch in ihr der dunkelglühende Kern, etwas Heroisches ist in ihr, heroisch der nie entspannte Wille, dem Überschwellen geistiger Erkenntnis immer wieder die sittliche Norm, das absolute Maß zu entreißen, tragisch die höchste Einsicht, jene, die direkt zur Aufopferung führt, daß »die Dignität der sittlichen Norm uns erst im Vollzug zu erkennen gegeben sei«.
Eine Hybris ist auch hier: im Überspannen der Kräfte – als ein Einzelner – die hybrid gewordene Wissenschaft, dies Weggebrochene vom Leben, das nicht mehr da sein will, daß es dem Menschen diene, sondern daß der Mensch ihm diene, mit seinen, eines Individuums, Kräften zurückbiegen zu wollen und koste es das Leben – in dieses Klaffende sich mit seinem Individuum hereinzustürzen, damit die Kluft sich schließe. Wunderbar pathetisch vollzieht sich diese Hybris als die Gebärde eines kraftvollen, von Fesseln und Banden umschnürten raumlosen Gefangenen – wie dort als eines fast Rasenden, im allzu freien Räume Lechzenden, daß ihn etwas berühre und begrenze. War in jenem Tun die Hybris des Herrschenwollens, fußend auf erträumten, vorweggenommenen Ordnungen, so ist in diesem eine Hybris des Dienenwollens, überkommenen Ordnungen das Blutopfer zu bringen; klingt hinter jenem Sichaufrecken ein Wildes, Heidnisches wie Tubaklänge, so tönen hinter dieser heldenhaften Strenge mit eherner Schwermut die Töne des Zinzendorfischen Kirchenliedes:
Wir wollen nach Arbeit fragen,
Wo welche ist,
Nicht an dem Amt verzagen
Und unsere Steine tragen
Aufs Baugerüst.
Aber sie sind nur Schatten und Schemen, diese beiden, und der wirklichen unserer Suchenden ist Legion und Legion die Zahl unserer Begegnungen mit ihnen. Die Gestalt des Suchenden ist an keine Altersstufe gebunden: wie wir jenem zum frühen Tode bestimmten Jüngling begegnet sind und in verwandelter Gestalt ihm wieder begegnen werden, dessen Gespräche so hoch waren, daß es den Überlebenden bedünken mochte, aus diesem früh verschlossenen Munde habe der Genius der Nation zu ihm gesprochen, so führt uns ein anderer Schicksalstag den Sechzigjährigen entgegen, der mit fast Gleichalterigen sich zusammengefunden hat, daß sie mit Jünglingseifer ihre Erfahrung aufeinanderlegen, die Erfahrung ihrer Wissenschaft, ihres Arzttums, ihres geistlichen Amtes, ihrer Jugendbildnerschaft, ihres Künstlerstrebens, und daß sie aller dieser Dinge Wesenheit erkennen, als die »verstreuten Glieder einer Idealität, die sich nicht zu sehen, nur zu suchen gibt«, und ringen, aus ihnen die eine Wissenschaft zu ziehen, die not tut.
Dieser Gruppen gibt es viele im innerlich so weiten Räume unseres großen Landes, vom Bodensee bis an die Kurische Nehrung, von der Weser bis ins steirische Gebirge, und ihr geheimer Konsensus – all dieser Abseitigen, Ungekannten, von Geistesnot sich selber berufen Habenden – ist die wahre und einzig mögliche deutsche Akademie.
Deuter sind sie in ihren höchsten Augenblicken, Seher – das witternde, ahnende deutsche Wesen tritt in ihnen wieder hervor, witternd nach Urnatur im Menschen und in der Welt, deutend die Seelen und die Leiber, die Gesichter und die Geschichte, deutend die Siedlung und die Sitte, die Landschaft und den Stamm; Schriftleser, Handleser, Sternleser – und die Wucht der Erfahrung oder die Not der Jugend löst ihnen das Wort vom Munde, der Wirbel der Vielheit oder die Ergriffenheit vor dem einzelnen. Um sie ist ein Kreisen von Begegnenden und Mitgerissenen, von Sektierern aller Sorten – da spukt allerlei aus drei oder vier Jahrhunderten, nicht ganz Abgelebtes, da zuckt Paracelsus auf und Jacob Böhme, das zerrissene Gesicht von Reinhold Lenz, Lavaters physiognomisches Prophetenauge und die flackernde Miene jenes Christoph Kauffmann, den seine Zeitgenossen den Spürhund Gottes nannten – dies alles kreist mit –, aber wo Wirbel sind, dort ist Kraft wirksam, Wirbel ziehen Wirbel an sich zu stärkerem Kreisen, und es gibt den Geist nicht, der sich der saugenden Kraft dieses Feldes von ringenden Wirbeln entzöge, er wäre denn ein Abgestorbener.
Worin liegt denn aber das Neue, das diese unsere Suchenden bezeichnet als die Unsrigen, wodurch denn unterscheiden sie sich vom romantischen und von jenem Treiben um 1770? Denn wirklich vieles ist ihnen mit diesen Vorfahren gemeinsam. Wer keinen sehr genauen Blick hinwürfe, nicht scharf hinhorchte, könnte glauben, es ginge doch abermals um dieses verwirrende Gemisch von Begriffsgespinsten, um diesen Kultus des Gemütes über alles, diese Suprematie des Traumes über den Geist, um diese schwärmerisch-sehnsüchtige, diese träumerische Pietät gegen das Gewesene, um dieses fast wollüstige Sichverlieren in das Naturhafte, um diesen ganzen raffinierten Sensualismus, mit dem sich die romantischen Geister wie ein Insektenschwarm über alle Lebensblüten des Morgen- und des Abendlandes gestürzt haben, ihre trunkenmachende Süßigkeit abzuweiden, es ginge um das Genießen – das Genießen seines Selbst als Geist im Aufbau von Begriffen, seines Selbst als Gemüt im Sehnsüchtigen und Träumerischen, zuletzt in der Musik, es ginge um das Musikmachen aus allem und mit allem, das das letzte Wort der Romantik ist – dieses Weiche und Vage, alles in allem Auflösende, welches das Stigma ist, womit die Romanen diese Geistesart als die deutsche bezeichnen zu dürfen meinen und uns als Knaben, gleichsam schwärmende und schwelgende, unmündige, von ihrem Reich der Klarheit und männlichen Festigkeit absondern.
Uns aber, den Zeitgenossen nicht nur, sondern den Genossen schlechtweg dieser Geistesbedrängnis, den Mitleidenden unter diesen Zerklüftungen, Parteiungen, zeitweisen Verdunkelungen und Verfitzungen, uns, die wir in der Welt zu leben haben, die für das Auge der romanischen Nationen ein undurchdringliches Dickicht ist, uns sind noch unbetrüglichere Organe gegeben als das Auge und das Ohr, um zu erkennen und zu werten, was hier vorgeht. So dürfen wir es wohl aussprechen, daß es doch noch anders steht um unsere Suchenden als um ihre älteren Brüder, jene Generationen von 1780 und 1800, wenngleich sie diesen schicksalsverbunden sind, als Glieder schmerzvoller Entwicklung. An Stelle jenes damaligen verantwortungslosen Wesens – und es mag dahingestellt bleiben, ob es von Kraft oder von Schwäche trunken war, denn es war viel jäher Übergang darin von der überheblichen Selbstbehauptung zur fast wollüstigen Prostration –, an Stelle eines Rausch- und Schwärmerwesens ist bei unseren Suchenden ein strengeres, männlicheres Gehaben unverkennbar getreten, eine Bescheidung, in der Tapferkeit liegt, eine fast grimmige Festigkeit gegenüber der Verführung, sowohl ans Begriffliche als an das Schwärmerische sich zu verlieren – ein Mißtrauen gegen das unverantwortlich Spekulative und ein Mißtrauen auch gegen das unverantwortlich Musikantische, etwas Fanatisches und Asketisches, ein die Hast verschmähendes, ausdauernd resigniertes Wesen, wie es jene früheren Zeiten nicht gekannt haben. Denn nicht Freiheit ist es, was sie zu suchen aus sind, sondern Bindung. Dies besagt die bis zum Krampf energische große Gebärde, die wir an ihnen wahrnehmen, daß sie sich festbinden wollen an der Notwendigkeit, aber an der höchsten, an der, die über allen Satzungen und gleichsam der geometrische Ort aller denkbaren Satzungen ist. Nie war ein deutsches Ringen um Freiheit inbrünstiger und dabei zäher, als dieses in tausenden Seelen der Nation vor sich gehende Ringen um wahren Zwang und Sichversagen dem nicht genug zwingenden Zwang. Wenn Lichtenberg einmal schrieb: Dies sei das englische Wort, das sich jeder Deutsche auf den Fingernagel schreiben müsse: »Als ein Ganzes muß der Mann sich regen« – heute ist dieser Samen in den Besten der Nation aufgegangen; denn um die Ganzheit, auf die jenes Wort hindeutet, daß sich Seele und Geist, daß sich das ganze Gemüt auf eins rege, um das geht es heute, wenn es um etwas geht. Jenes »Gib mir, wo ich stehe, und ich werde dir die Welt aus den Angeln heben« tönt aus ihren Sendschreiben, aus ihren Unterredungen und auch aus ihren einsamen Meditationen mit einem finster festen Klang, der, wenn ich meinem Ohre trauen darf, mehr von innerem Metall zeugt als die titanischen Ausbrüche und melodischen Romantismen jener früheren Epochen.
Wohl ist die Form, in der sich dieses neue Suchen und Ringen vollzieht, scheinbar die gleiche geblieben: der leidenschaftlich-einsame Dienst an der eigenen Seele als einziger Daseinsinhalt, einzige Pflicht, die alles aufzehrt – jener Geisteszustand des einsamen weltlosen Deutschen, seit ihn die Revolution zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts von der Sitte, dem Herkommen, dem Väterglauben jäh losgerissen und ihm nur die schrankenlose Orgie des weltlosen Ich anheimgegeben hatte. Auch unseren Suchenden ist die Tiefe des Ich, die dunkle, eigene Seelenwallung das einzig Gegebene, und einzige Aufgabe dieses titanische Beginnen: jenes Ganze da außen mit den bloßen zwei Händen auszureißen aus seinem Stand, den es einnimmt in der Welt scheingeistiger Ordnungen, und es mit sich hinabzureißen in die tiefere Lebenswoge und von da es wieder emporzureißen zu neuer Wirklichkeit.
Aber auch diese titanische Grundhaltung, dieses furchtbar angespannte, tragische Sichübernehmen der einzelnen Seele – bleibe es die Grundform der schöpferischen Anspannung beim Deutschen – es ist an ihr viel und entscheidend Veränderndes geschehen, denn zwischen diesem suchenden Geschlecht und jenem früheren liegt das furchtbare Erlebnis des neunzehnten Jahrhunderts – oder es anders auszudrücken: der gleiche deutsche suchende, nach höchsten Verantwortungen und Bindungen dürstende Geist spricht aus ihnen wie aus jenen früheren, aber er ist indessen einen furchtbaren Weg gelaufen und als ein Veränderter wieder zutage getreten. Jenes mit Lust unmündige, knabenhafte titanische Wesen ist ihm auf immer abgestreift. Sehr strenge Zeichen der Männlichkeit sind seiner Miene eingezeichnet: sein intellektuelles Gewissen hat eine unbegrenzte Schärfung erfahren, es ist etwas von dem Verantwortlichkeitssinn der Wissenschaft über ihn gekommen, von den strengen Gelehrtenmethoden des neunzehnten Jahrhunderts, von diesem Nichtsauslassendürfen, alles mit allem konfrontieren zu müssen, diesem Zwang, eine maßlose Vielfältigkeit in sich ausgleichen zu müssen, auf keinem Resultat länger als eine Sekunde ausruhen zu dürfen, noch minder aber auf dem bequemen Bett der Skepsis, sondern immer wieder sich aufraffen und neuen Fragen und Schicksalsentscheidungen auf Leben und Tod ins Auge sehen zu müssen – gewitzigt zugleich und heroisch sein zu müssen und einmal für allemal alle unverantwortlichen Übertreibungen von sich abtun zu müssen, so die Selbstüberhebung wie die romantische Prostration vor diesem oder jenem geliebten Phantom mit ihrer Folge, der romantischen Ironie.
Welch ein Erlebnis aber auch, dieses neunzehnte Jahrhundert, so wie der deutsche Geist es durchzumachen hatte, mit diesen immer neuen Anspannungen und Entspannungen, immer schärferen Reaktionen und Zusammenbrüchen, welche die Seele verzehrenden Täuschungen, Trunkenheiten und furchtbaren Rückschläge, welche halben und Zwischenzustände unausdenklicher Art, bis endlich in diesem ganzen scheingeistigen Bereich die Luft unatembar wurde, bis endlich aus diesem Pandämonium von Ideen, die nach Lebenslenkung gierten – als ob es lebenlenkende Ideen geben könnte –, er sich losrang, unser suchender deutscher Geist, bewährt mit dieser einen Erleuchtung: daß ohne geglaubte Ganzheit zu leben unmöglich ist – daß im halben Glauben kein Leben ist, daß dem Leben entfliehen, wie die Romantik wähnte, unmöglich ist: daß das Leben lebbar nur wird durch gültige Bindungen.
Wie kein Menschengeschlecht vordem weiß sich dieses und das nächste, das wir schon zwischen uns aufsteigen sehen, der Ganzheit des Lebens gegenüberstehend, und dies in einem strengeren Sinne, als ihn romantische Generationen auch nur zu erahnen fähig waren. Alle Zweiteilungen, in die der Geist das Leben polarisiert hatte, sind im Geiste zu überwinden und in geistige Einheit überzuführen; alles im äußeren Zerklüftete muß hineingerissen werden ins eigene Innere und dort in eines gedichtet werden, damit außen Einheit werde, denn nur dem in sich Ganzen wird die Welt zur Einheit. Hier bricht dieses einsame, auf sich gestellte Ich des titanisch Suchenden durch zur höchsten Gemeinschaft, indem es in sich einigt, was mit tausend Klüften ein seit Jahrhunderten nicht mehr zur Kultur gebundenes Volkstum spaltet. Hier werden diese einzelnen zu Verbundenen, diese verstreuten wertlosen Individuen zum Kern der Nation. Denn von Synthese aufsteigend zu Synthese, mit wahrhaft religiöser Verantwortung beladen, nichts auslassend, nirgends zur Seite schlüpfend, nichts überspringend – muß ein so angespanntes Trachten, woanders der Genius der Nation es nicht im Stiche läßt, zu diesem Höchsten gelangen: daß der Geist Leben wird und Leben Geist, mit anderen Worten: zu der politischen Erfassung des Geistigen und der geistigen des Politischen, zur Bildung einer wahren Nation.
In dieser Grundhaltung ist die Sicherung des geistigen Raumes antizipiert, wie in der romantischen Haltung die Vergeudung des Raumes, in der Haltung des Bildungsphilisters die Verengung des Raumes inbegriffen ist.
Was dieser synthesensuchende Geist erringt – wo immer hier, auch in der einzelnen Brust, von Errungenschaften die Rede sein kann –, das sind schon ins Chaos projizierte Punkte, deren Verbindungen den Grundriß jenes Geistraumes ergäben.
Ich spreche von einem Prozeß, in dem wir mitten inne stehen, einer Synthese, so langsam und großartig – wenn man sie von außen zu sehen vermöchte – als finster und prüfend, wenn man in ihr steht. Langsam und großartig dürfen wir den Vorgang wohl nennen, wenn wir bedenken, daß auch der lange Zeitraum der Entwicklung von den Zuckungen des Aufklärungszeitalters bis zu uns nur eine Spanne in ihm ist, daß er eigentlich anhebt als eine innere Gegenbewegung gegen jene Geistesumwälzung des sechzehnten Jahrhunderts, die wir in ihren zwei Aspekten Renaissance und Reformation zu nennen pflegen. Der Prozeß, von dem ich rede, ist nichts anderes als eine konservative Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt. Ihr Ziel ist Form, eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könne.