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Unsere Fremdwörter

(1914)

Die Zuschrift eines Unbekannten, daß ich mich unserer Fremdwörter annehmen sollte, überraschte mich durch ihre gute Fassung. Der Schreiber brachte das Sittliche in diese Frage, und man darf es und muß es in der Tat überall hineinbringen. Er nannte die Hetze auf die fremden Wörter ein pöbelhaftes Vorgehen; es wird schwer sein, ihm in allen Fällen nachzuweisen, daß dieser Ausdruck zu scharf ist. Wie immer die einzelnen Anstifter einer solchen Aktion aus ihrer Gesinnung heraus verfahren zu müssen glauben, es kann jedenfalls stets in zweierlei Weise verfahren werden, mit Würde und würdelos, mit Vernunft und albern. Wer sich mit dem Bestand einer Sprache zu tun macht, wird zu allererst den Beweis zu führen haben, daß er diesen Bestand überhaupt kennt, daß er ahnt, welche geistigen Güter hier zu respektieren sind.

Gibt mir einer einen Zettel in die Hand, auf welchem anstatt Programm Vortragsfolge steht, so werde ich nichts gewahr als einen Versuch am untauglichen Objekt und einen erstaunlichen Mangel an deutschem Sprachgefühl. Reihenfolge ist ein schönes deutsches Wort. Vortragsfolge dagegen ein abscheuliches; im Klang häßlich, wie niemals die alten gutgebornen Zusammensetzungen, ist es ein zusammengestoppeltes Kunstwort heutiger oder gestriger Mache. Was soll uns dies als Ersatz für das halb so kurze, nett und scharf dastehende: Programm, das doch im übrigen – muß man dies sagen? – kein französisches Wort ist, sondern ein griechisches, und mit den Griechen und Römern liegen wir ja wohl nicht im Kriege. Wenn aber das Wort Programm schon glücklich hinausgedrängt wäre, wie stünde es mit dem, was dieses Programm ja erst ankündigt, dem Konzert, und wie mit dem, woraus dieses Konzert besteht, der Musik? Wir haben freilich neben dieser die Tonkunst. Aber es wirkt, wenn man ehrlich sein will, von diesen zwei Worten das Fremdwort als das gewachsene, das herzliche, das eigentlich deutsche Wort, dagegen das andere ein wenig kalt und künstlich. Wem kommt es ungezwungen in den Mund, von deutschen Tonkünstlern zu reden, wenn er schlechthin oder auch gehobenen Tones von deutschen Musikern reden will? Und der Ersatz für musikalisch? Sollen wir sagen und schreiben, daß die Deutschen ein der Tonkunst geöffnetes Volk sind?

Das Leben der Sprache, der deutschen, ist zart, dabei rastlos. Aus Musik leitet sie sich musikalisch ab, daneben aber, mit ganz anderem Sinn, etwa musikhaft. Neben den eigengewachsenen Trieben aus dem gleichen Grundwort hält sie immer auch das einmal aufgenommene und eingebürgerte Fremdwort fest und wahrt ihm eine zarte, aber bestimmte Schwebung des Sinnes: so läßt sie neben »Empfindlichkeit« und »Empfindsamkeit« doch auch noch das dritte »Sentimentalität«, fortlaufen, und eben dadurch wird sie zur reichsten aller Sprachen. Ihr Geist ist ein aneignender und gerade dann am schrankenlosesten im Aneignen, wenn er sich am stärksten fühlt. Niemand gebot unumschränkter über ihren Reichtum als Goethe; und niemand war unbedenklicher im Gebrauch von Fremdwörtern. Sein Darstellungsstil in der Jugend ist verschieden von dem im Alter, sein Gesprächsstil von seinem Briefstil; aber in dem einen wie in dem andern wimmelt es von »statuieren« und »sentieren« und »sekretieren« und tausend anderen Borgwörtern, zum Teil solchen, die, in der schöpferischen Laune des Augenblicks aus dem Gefüge einer fremden Sprache herausgerissen, nur für diesen einmaligen Gebrauch genau die vom Sprechenden gewollte Nuance des Ausdrucks hergeben. Denn je höher ein deutsches Individuum steht, desto schärfer geht seine Intuition aufs Einzige, dessentgleichen nirgends zu finden ist. Französisch ist Gemeinsprache und hat den Zug auf Verständigung; Deutsch ist Individualsprache und hat den Zug aufs Einmalige, jenseits aller Kommunikation. Ich glaube nicht, daß das Fremdwort »karterieren« bei irgendeinem deutschen Autor außer bei Goethe vorkommt, und ich glaube nicht, daß es bei Goethe öfter vorkommt als an einer einzigen Stelle, eben jener Stelle einer Aufzeichnung oder eines Gesprächs, die mir vorschwebt. »Karterieren« ist abgeleitet von dem griechischen χαρτερεινchartereon, das soviel heißt als »stark sein, aushalten, ausharren«; Goethe gebraucht es von einer seiner Lieblingsfiguren, der Ottilie in den »Wahlverwandtschaften«. »Ottilie«, sagt er, »muß karterieren.« Es stand ihm, dem großen Meister der deutschen Sprache, eine starke Zahl deutscher Tätigkeitswörter zur Verfügung, um diesen seelischen Bezug auszudrücken: aber er wählte das griechische Wort und verlieh ihm für einen Augenblick das Gastbürgerrecht; es schien ihm, muß man sich sagen, prägnanter, einmaliger.

Aber Goethes Handeln ist in diesem wie in jedem anderen Punkt durchaus Geist, durchaus Takt. In der Konversation gebraucht er mehr Lehnwörter als in den Briefen; in der höheren Darstellung treten sie noch stärker zurück, es wäre denn, daß die wissenschaftliche Terminologie sie verlangte; in den poetischen Produkten waltet die allerzarteste Unterscheidung. Mephistopheles braucht reichlich Termen und Fremdwörter, Faust sparsamer, Gretchen gar nicht.

Den Gegensatz, den diametralen, zu Goethes larger Manier bildet überraschenderweise die Schreibart eines österreichischen Dichters: unseres Stifter. Er meidet die Fremdwörter durchaus, und es ist seltsamerweise noch nicht oft hervorgehoben worden, daß es eben diese mit Festigkeit durchgeführte Enthaltung ist, die seinem Stil das Besondere, Gereinigte, zart Feierliche gibt. Seine Beharrlichkeit, den einfachsten Gebrauchswörtern auszuweichen, wenn sie fremden Ursprungs sind, entspringt einem Streben seiner Seele, dem Gewöhnlichen und dem Niedrigen, Unreinen, Gemischten nie und nirgends Gewalt über sich zu verstatten. Seine Darstellung bekommt dadurch etwas rührend Umständliches, jezuweilen Zauberhaftes oder auch Ermüdendes, und er entgeht der Gefahr nicht ganz, dort, wo er nicht unmittelbar zur Seele spricht, zu ermüden und preziös zu wirken. Nirgends, wie bei Goethe, die unendliche Abstufung; schlägt man eine Seite Stifters auf, so ist man immer in der gleichen zarten, bezaubernden Sprachatmosphäre, ob es sich um eine Herzensergießung oder um die Beschreibung eines Möbels handelt. Diese mit zartem Eigensinn durchgeführte Manier ist eine grundsätzliche Reaktion: es ist die Flucht aus dem Bunten ins Abgedämpfte, aus dem Vielfachen ins Einfache, aus dem Schlampigen ins Zuchtvolle. Der Mann, der dies gereinigteste Deutsch schrieb, war ein Österreicher, ein Landsmann und Zeitgenosse von Raimund und Nestroy. Die Sprachatmosphäre, die ihn umgab, war die unsrige, die bunteste, gemengteste, die es im deutschen Sprachbereich gibt – oder gab. Denn wir sind in diesem Punkt vorwärtsgekommen oder ärmer geworden. Grillparzer, der in einer »höheren« Sprache dichtete, aber die Sprache des Volkes liebte und kannte wie einer, würde vermutlich dem letzteren von beiden Ausdrücken den Vorzug geben. Die österreichische Umgangssprache ist auch heute ein Ding für sich; aber vor hundert Jahren war dies Ding noch bunter und besonderer als heute. Es war sicherlich unter allen deutschen Sprachen die gemengteste; denn es war die Sprache der kulturell reichsten und vermischtesten aller Welten. Wir haben eine Diplomatensprache, und wir hatten sie noch ganz anders; wir hatten und haben eine Militärsprache. Aber wir haben und hatten auch neben der bürgerlichen eine aristokratische Sprache und neben der Sprache der Innern Stadt eine Vorstadtsprache; und diese wieder ist nicht gleich der Sprache der Ortschaften rings um Wien, ganz zu schweigen vom flachen Lande. In den Vorstädten aber wieder hat es in früherer Zeit scharfe dialektische Sprachgrenzen gegeben, und so im Gesellschaftlichen, und ich würde mich getrauen zu sagen, daß bis gegen die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hin in einer gräflichen Kammerdienerfamilie nicht ganz das gleiche Österreichisch gesprochen wurde wie in einem altansässigen Seidenweberhaus und daß dort wieder sprachliches Material im Gebrauch war, das in einer Gesangslehrerfamilie – von einer Offiziersfamilie nicht zu sprechen – nicht so ganz gang und gäbe gewesen wäre. Hinter allen diesen Abstufungen und Schattierungen stecken historische Wahrheiten, Geheimnisse der geschichtlichen Struktur und der Tradition. Was ein Schilderer Japans in einem seiner Bücher bewundernd hervorhebt, man könne einem Vorübergehenden, wenn er nur den Mund auftut, anmerken, zu welcher von siebzehn sozialen Schichten er gehöre, das gilt auch für Wien und Österreich, wenngleich sich hier vieles angeglichen und abgeschliffen, manches auch verfälscht hat. In diesem unserem Sprachbesitz steckt ein ganzer Wust von Fremdwörtern, aber es sind unsere Fremdwörter, sie sind bei uns seit Jahrhunderten zu Hause und so sehr die unseren geworden, daß sie darüber in der eigentlichen Heimat ihr Bürgerrecht verloren haben. Da ist zum Beispiel unser unglückliches lavoir oder »Lawor«, das man mit »Waschbecken« übertragen mag, wenn man in einem österreichischen Gast- oder Bürgerhaus durchaus unverstanden bleiben will; es hat keine Heimat mehr: dort, wo es herkommt, ist es heute durch cuvette verdrängt. Vermutlich wird es bei uns bleiben und auch dem jetzigen sprachlichen Sturm standhalten. Dieser wirft sich mit besonderer Heftigkeit auf die Küchensprache. Auch die zahllosen Entlehnungen des Sports und der Rasenspiele werden mit Wut angegangen, und hier mag ja viel Unnötiges und eine rechte Zuvieltuerei in der Mode gewesen sein, und eine gewisse Reaktion wird ja ihren Sinn haben. In den früheren Sprachschichten unseres Österreichisch ist fast alles, was sich auf Unterhaltungen bezieht, italienischen und spanischen Ursprunges. Ein österreichischer Bürger, wenn er den Vorsatz ausspricht, sich seinen Lehrjungen oder einen ungeratenen Sohn »solo zu fangen«, ahnt wohl nicht mehr, daß er sich dabei eines sportlichen Kunstausdruckes bezieht, der auf die in Wien so geschätzten, von Herkunft spanischen und italienischen Tierhetzen zurückgeht. In diesen wurde zuerst mit der Meute gegen Stiere, Bären usw. gearbeitet; die Glanznummer zum Schluß war aber, daß ein besonders hervorragender Fanghund den Bären oder den Eber solo fing. Das Wort grand Hetz, für eine Gaudee, das unseren Großeltern vielleicht geläufiger war als der jetzigen Generation, ist die stehende Bezeichnung eines solchen Tierspektakels auf den Ankündigungen. Dieses Grand ist das italienische Adjektiv grande. (Die Hetzmeister waren fast durchwegs Italiener.) Ein ganz anderes Grand, unser unersetzliches österreichisches Substantiv für schlechte Laune, ist spanischer Herkunft und identisch mit jener geläufigsten spanischen hohen Titulatur. Der Bedeutungsübergang ist deutlich und amüsant. Eine spanische, eine vornehme Allüre war die, übellaunig zu sein. »Stolz und verdrossen«, heißt es in Auerbachs Keller in bewunderndem Sinn von zwei distinguierten Fremden. Ein Grand war eine Persönlichkeit, die einen fumo hatte, ein dünkelhaftes, stolzes, grandiges Auftreten. An einer Stelle bei Nestroy hat sich eine dämmernde Ahnung dieses linguistisch-historischen Zusammenhanges erhalten. In »Liebesgeschichten und Heiratssachen« heißt es: »Ein spanischer Grand ist er, sagt der Schwager, und ich weiß nicht, wie man einen grandigen Spanier anredt.«

War die Allerweltssprache so voller Fremdwörter, so war es die Militärsprache noch mehr. Und wie hätte sie, bei der Zusammensetzung, bei der Geschichte unserer Armee, anders sein sollen? Die Titulaturen, die Bezeichnungen der Truppenkörper und Abteilungen und die zahllosen Kunstwörter, die das einzelne der militärischen Aktion bezeichnen, vielfach auch die, welche sich auf das Terrain beziehen, waren und sind fremden Ursprungs. Aber sie sind organisch geworden, wie unsere Armee ein Lebendes, ein Organismus ist. Es ist symbolisch, daß der, welcher einer ihrer Gründer und vielleicht der allergrößte Österreicher ist, den wir haben, der Prinz Eugen, seinen Namen gewohnheitsmäßig in drei Sprachen unterschrieb und wohl ohne einmal in tausenden Malen zu denken, wie seltsam das war, was er da tat; er schrieb: Eugenio von Savoye. An die Fremdwörter der Armeesprache wagt sich der reformatorische Drang nicht heran. Aber der Speisezettel hat daran glauben müssen, und was sein Leben lang eine Sauce geheißen hat, heißt seit vorgestern »Tunke«. Auch die verschiedenen Zurichtungen von gebratenem und gesottenem Rindfleisch führen, unter Vertreibung des Französischen, Bezeichnungen, die irgendwo in Deutschland heimatberechtigt und gebräuchlich sein mögen, hier aber einfach orts- und sprachfremd sind. Und dies, obwohl die Kunstsprache unserer Fleischhauer über alle die ganz hübschen, bezeichnenden und österreichischen Ausdrücke verfügt. Wozu also eine Tuerei durch eine andere ersetzen und die französische Speisenkarte durch eine norddeutsche? Meint man, dem Bundesgenossen auf diesem Gebiet Komplimente machen zu müssen, so sei gesagt, daß man hierdurch den Ernst dessen, was jetzt in der Welt vorgeht, herabwürdigt. Deutsch, dem Geist nach, ist dergleichen nicht; denn alles Nivellierende wird von einer flachen niederträchtigen Gesinnung eingegeben: daß Deutschland keinen Kasernengeist besitzt, das ist es, unter anderm, warum wir siegen. Es ist immer etwas Ungutes dabei, zumindest etwas vom Lakaiengeist, der gerne schnell den Herrn wechselt, wenn man meint, daß sich was Großes im Handumdrehen machen lasse. Wer sich so an der Oberfläche der Sprache zu tun macht, verrät, daß ihm wenig Ehrfurcht vor Tiefen innewohnt. Wer meint, es ließe sich da vieles mit wenigem machen, dem sollte gesagt werden, daß hier wie überall im Geistigen und Sittlichen vieles und Großes aufgeopfert werden muß, um auch nur das scheinbar Geringe im historischen Bestand wirklich zu verändern. Was an Wortbeständen der Alltagssprache jetzt attackiert wird, ist ziemlich belanglos: das Streben danach ist Philisterei und nicht mehr, die meint, man inauguriere eine Epoche der Sprache wie einen Kegelklub. Wenn aber unter der gewaltigsten Erschütterung, welche die Welt gekannt hat, möglicherweise aus den Tiefen des deutschen Wesens manches emporsteigt, was lange verschwunden war – wenn Geistesworte höchster Art wieder eine ungeahnte erhabene Spannung annehmen, der Spannung vergleichbar, die ihnen um die Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert innewohnte, dann kann sich uns zu den ungeheuerlichsten Erlebnissen, in denen wir schon stehen, auch das Erlebnis fügen, daß wir in grandiosem Sinn eine neue Epoche der deutschen Sprache heraufkommen sehen.


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