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Jetzt steht derselbe Mond über dem alten Schloß in der Heimat! dachte Kitty und starrte in die Nacht hinaus. Häuser, Schlöte, Kirchtürme, wohin sie sah! Kaum ein Stückchen Himmelsblau!
Nun war sie da, wohin sie sich gewünscht hatte, in der Großstadt! –
Der Herr Direktor hatte sich Mühe gegeben, aus dem trotzig verschlossenen Mädchen ein Wort herauszubringen, vergebens!
Er dachte schließlich an seine eignen Angelegenheiten, da sein freundliches Bemühen ohne Erfolg blieb und überließ die kleine Ungnädige sich selbst.
Erst, als die weite Ebene auftauchte, als nach stundenlanger Fahrt die Dämmerung herabsank, da war Kitty zutraulich geworden. Sie ließ sich die Städte, an denen der Schnellzug vorüberflog, nennen.
Als nun aber ein graues Häusermeer auftauchte, Türme sich vom abendlichen Himmel abhoben, die Mitreisenden nach ihrem Handgepäck griffen und Herr Direktor freundlich sagte: »Kitty, in fünf Minuten sind wir am Ziel!« da war Leben in das junge Mädchen gekommen. Nun war es am Ziel! – –
Direktor Rothes wohnten nicht weit von der Schule, an welcher er Direktor war, in einer belebten Straße. Den ganzen Tag fuhren Wagen vorbei, hörte man Ausrufer, die Wagen der elektrischen Bahn fuhren durch diese Straße, kurz, Frau Direktor, die etwas nervenschwach war, behauptete, in der Hölle müsse es auch nicht toller hergehn, wie auf ihrer Straße.
Sie lag viel auf dem Sofa und las.
Ihr Hauswesen befand sich in Händen der Ida, die seit einem Dezennium das Scepter im Rotheschen Haushalt schwang.
Sophie war es, seit sie denken konnte, nicht anders gewöhnt, als daß sie der Mama wegen sich still zu verhalten habe. So hatte die Kleine meist allein für sich gespielt. Auch als sie älter wurde, schloß sie sich an niemand an. Sie sah vom Fenster aus hinab auf das fröhliche Treiben der andern Kinder. Manchmal empfand sie Sehnsucht, auch mitzutun. Aber sie unterdrückte diese Sehnsucht.
In der Schule waren sie alle besonders freundlich zu ihr, weil sie das Töchterchen des Direktors war.
Aber keine der Mitschülerinnen schloß sich an sie an, teils weil sie etwas Schüchternes, Unnahbares in ihrem Wesen hatte, teils weil alle zu viel Respekt hatten, im Hause des Direktors, der für streng galt, aus- und einzugehn.
Frau Rothe war es zufrieden, daß ihr Sophiechen kein lärmendes Kind war, das hätte sie ja ihrer Nerven wegen nicht vertragen können.
Als die Anfrage des Justizrats Wagemann kam, ob man seine Kitty aufnehmen wolle, hatte Sophie ihren Vater mit heißen Augen gebeten: »Ach ja, laß sie kommen! Ich bin so allein!«
Mama setzte voraus, Kitty sei ein äußerst sanftes, musterhaft erzogenes Kind und stellte es sich nicht schwer vor, sie da zu haben. Es war ja einerlei, ob Ida noch für eine Person mehr zu sorgen hatte oder nicht. Ein einfenstriges Stübchen lag Tür an Tür neben dem Sophies.
So konnte man es versuchen. Ging es nicht, so ließ sich die Sache ja ändern.
Sophie war glücklich. Sie hatte die Stunden gezählt, bis zu welcher Papa mit Kitty ankommen konnte.
In ihrem angeborenen Sinn für häusliche Beschäftigung hatte sie Ida fleißig geholfen, Kittys Stübchen recht gemütlich herzurichten. Mama war es einerlei, was Ida und Sophie da aufstapelten. Sie war müde, ein Buch in der Hand, einmal herübergekommen, hatte sich das Stübchen angesehen, es hübsch befunden und war dann wieder zu ihrer Lektüre zurückgekehrt.
Sophie eilte fort, kaufte einen Blumenstrauß und stellte ihn auf den ovalen Tisch, der vor dem Sofa stand.
Sophie grübelte: wie mochte Kitty aussehen? War sie recht kleinstädtisch? Lachte man sie am Ende in der Schule aus? Oder war sie stolz, da sie auf einem Schloß aufgewachsen war? Sie sollte ja so furchtbar klug sein, auf alle herabsehen, die es nicht höher als bis zur Hausfrau gebracht hatten! So etwa hatte ihr Papa in humoristischer Weise geschrieben. Aber sie sollte ja viel lernen, um dereinst die Universität besuchen zu können!
Sophie saß in Kittys künftigem Heim auf dem Sofa, hatte die Füße heraufgezogen und hüllte sich in ein dickes Tuch.
Es war schon fünf Uhr, in zwei Stunden waren sie da!
Wenn Sophie an Kittys Studium dachte, wurde es ihr angst. An so etwas würde sie ihr Lebtag nicht denken, und sie lebte doch in der Großstadt, wo man zu so was angeregt würde, und war doch die Tochter des Direktors!
Aber nein, sie dachte sich ihren Lebensweg anders! Sie wollte so bald als möglich alle Schulweisheit über den Haufen werfen, zu Ida in die Küche gehn und bei ihr etwas Tüchtiges lernen!
Die Ida war ja heimlich verlobt, aber ganz heimlich! Sophiechen hatte es ihr schwören müssen, daß sie keinem Menschen etwas sagte! Idas Bräutigam wollte einen Gemüseladen kaufen, und darinnen sollte Ida dereinst tätig sein. Sie hatte Sophie versprochen, daß ihre Direktors immer das Beste aus ihrem Laden bekommen sollten.
Damit nun die arme Mama den Fortgang Idas nicht so fühlen sollte, wollte Sophie recht fleißig sein; sie mußte bis dahin kochen können, benutzte sie doch jetzt schon jede freie Minute, von Idas Weisheit zu profitieren.
Sophie bereitete früh den Kaffee für die Eltern und sich, sie kaufte viel ein, wobei sie selbständig wurde.
Da sie ihre Zeit nicht mit Kameradinnen verspielte, blieben ihr viele Stunden, die sie in ihrem Eifer der ihr so lieben Tätigkeit im Haushalt widmete.
Kam sie Sonntags aus der Kirche, so ging sie zu Ida in die Küche. Eine große, blaue Schürze vorgebunden, hantierte das zierliche Kind in Idas Bereich mit so viel Eifer und Geschicklichkeit, daß Ida ihre Freude daran hatte.
War es doch ein Glück, daß Sophiechen solch ein braves, vernünftiges Kind war! Was sollte denn sonst aus der armen, nervenschwachen Frau Direktor werden, wenn sie, die Ida, mal ging!
So aber war Sophiechen der Aufgabe gewachsen, die sie übernahm. Mama freute sich über ihr Kind, wenn sie mal im Vorbeigehn in die Küche guckte und dort ihre Sophie mit hochroten Wangen am Herd stehn sah, jedes Winkes der Lehrmeisterin Ida gewärtig. –
Sophie war ein still zufriedenes Mädchen, das Freude an jeder Arbeit hatte, nie müßig saß und der Zukunft mit freudiger Zuversicht entgegensah. Sie strebte nicht hoch hinaus, sie wollte keine Gelehrte werden, aber in der kleinen Welt, die sie umgab, wollte sie ihren Pflichtenkreis suchen und ihn erfüllen. –
Mama fühlte sich doch aufgeregt durch die Aussicht auf Kitty. Hoffentlich war sie ein stilles Kind!
Sophie legte ein weißes, mit Stickerei verziertes Schürzchen um, strich die dunklen, schlicht gescheitelten Haare, die in einen Knoten aufgesteckt waren, glatt und zündete die Lampe in Kittys Stübchen an.
Recht traut sollte Kitty alles anheimeln, dachte Sophiechen.
Da fuhr ein Wagen vor, sie kamen. Papa Rothe führte seine Schutzbefohlene zuerst zu seiner Frau.
Kitty wunderte sich über das blasse, ein wenig unbelebte Gesicht der Dame. Frostig wehte sie deren müdes Willkommen an. Aber der Herr Direktor hatte ihr unterwegs ja schon gesagt, seine Frau sei leidend.
Da tat sich plötzlich die Türe auf, und ein liebes, schüchternes Mädchen kam langsam auf Kitty zu. Aus schönen, tiefblauen Augen sprach eine unendliche Freude.
»Schön willkommen, Kitty!« sagte Sophie.
Die Eltern tauschten einen Blick der Freude: die beiden würden sich schon miteinander befreunden!
Da legte Kitty zum ersten Male ihre Hand in die kleine, die sie mit festem, herzlichem Druck umschloß, die sie führen sollte mit sicherer Leitung aus einem Labyrinth in ein Eden, die sie begleiten sollte in Freud und Leid lange Jahre hindurch …
Sophie zog Kitty mit sich fort in deren Stübchen.
»So,« sagte sie aufatmend, »nun mache es dir bequem, und – fühle dich recht glücklich hier!« fügte sie leise hinzu.
Kitty nickte.
Es gefiel ihr hier. Auf der Fahrt durch die Straßen hatte so viel Neues auf sie eingewirkt, daß sie ganz davon benommen war. Sie fühlte sich innerlich gehoben, empfand keine Spur von Sehnsucht und lief freudig hin und her.
»Nett ist's hier!« sagte sie und warf ihren Hut auf die Bettdecke, »von wem sind die Blumen?«
»Von mir!« war die schüchterne Antwort.
Kein Wort des Dankes von seiten Kittys. Sophie empfand dies eine Sekunde lang, dachte aber schnell entschuldigend: sie hat's vergessen.
Sophie öffnete den Kleiderschrank, zog die Kommodenfächer auf, Ida brachte mit Hilfe des Dienstmanns den großen Reisekorb Kittys.
»Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit bis zu Tisch,« sagte Sophie, »bist du hungrig oder durstig? Nein? Dann kannst du am Ende gleich deine Sachen einräumen, Kitty! Morgen ist Sonntag, dann ist dein Stübchen in Ordnung!«
Kitty nickte sorglos. Ihre zwei schwarzen Zöpfe flogen, den Mantel schleuderte sie neben den Hut, einen Handschuh steckte sie in die Kleidertasche, den andren legte sie auf den Schreibtisch.
Wenn Kittchen nicht so mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre, so hätte sie die grenzenlose Enttäuschung, den heillosen Schrecken auf Sophiechens Gesicht lesen müssen.
Meine Zeit! dachte die Kleine, die Kitty wirft ja alles hin, als stände immer ein Diener hinter ihr, der aufräumte!
Aber schnell kam wieder der Trost: sie ist noch fremd hier, sie weiß nicht, wohin mit ihren Sachen. –
Kitty kniete hin und öffnete den Korb.
Sophie fand ihre neue Hausgenossin sehr hübsch, sie konnte sich an dem klugen Gesichtchen nicht sattsehen. –
Kitty packte aus, das hieß, sie warf alles neben sich, die Pakete Wäsche auf den Fußboden, die Kleider auf das Sofa. Eine Bluse ballte sie recht klein zusammen, warf sie auf das Sofa und freute sich, daß sie gut gezielt hatte.
»Da hat mir Edith allerlei eingepackt!« sagte sie erfreut und zeigte Sophie die Pakete Schokolade und andres Zuckerzeug. Ihr etwas anzubieten, fiel ihr nicht ein. Andern Freude zu machen, hatte Kitty noch nicht gelernt!
»Hast du eine gute Schwester!« sagte Sophie und legte die Zuckersachen ruhig auf die Kommode, »ich habe mir immer so sehnlichst gewünscht, eine Schwester zu haben! Du Glückliche hast eine!«
Kitty blickte erstaunt auf, sagte aber nichts. Im stillen aber fand sie diese Sophie etwas »schnurrig«. Sie hatte bis jetzt das große Glück, Edith zu haben, noch nicht eingesehen.
»Hast du keine Bilder von deinen Lieben mit?« fragte Sophie.
Kitty sagte: »Daran hab' ich offen gestanden, gar nicht gedacht!«
»Oh!« war die bedauernde Antwort, »aber du läßt sie dir schicken, Kitty! Dann kaufen wir schöne Rahmen und stellen deine Lieben auf deinen Schreibtisch! Und immer müssen frische Blumen dabei stehn! Das finde ich so schön, Kitty!«
»Ja, kann sein! Gottlob, Edith hat nur alle Schnuren und Schweife geflickt! Ich hätte es doch nicht gemacht, das wußte sie! Und hier ist Briefpapier! Meine Zeit, ich schreibe gar nicht so oft! Und hier hat sie mir ihren Handschuhkasten geschenkt, auch gefüllt!«
»Ach, ist diese Edith gut! Die hab' ich ordentlich lieb! Sie sorgt ja für dich wie eine Mutter!« sagte Sophie.
Sie begann, da Kitty sich nicht dazu entschloß, es zu tun. alles in Schrank und Kommode zu ordnen. Kitty knabberte derweil Schokolade und setzte sich auf das breite Fensterbrett.
In aller Ruhe ließ sie sich von Sophie bedienen. Diese mußte peinlich ordentlich sein! Sie ist wie Edith! dachte Kitty, sie räumt gewissenhaft jedes Stückchen an seinen Platz.
Auch gut, da brauch' ich's nicht zu machen!
Gerade, als Sophie fertig war und den Korb schloß, trat Mama ein.
»Schon alles so nett in Ordnung?« sagte sie freundlich, »so hab' ich's gern! Nun kommt, ihr zwei Mädels! Ida hat heut' der Kitty zu Ehren ein warmes Essen bereitet!«
Frau Direktor zog Kittys Arm durch den ihren, an ihrem andren hing Sophie.
Diese hatte in ihrem Ordnungssinn Kittys Serviettenring mitgenommen und legte ihn neben deren Serviette.
Wieder kein »Hab' Dank!« –
Die Sache gefiel Kitty. Es ließ sich alles prächtig an! Der Herr Direktor war nicht streng, er scherzte mit seinen beiden »Töchtern«; Sophie war still, so konnte Kitty, wie sie es gewöhnt war, ihr Licht leuchten lassen. Lebhaft erzählte sie, ihre Bewegungen dabei waren so wild, daß Frau Direktor ängstliche Blicke auf ihren Mann warf. Diese Kitty war ja wie ein Füllen! Nach der Reise keine Ermüdung, das Mäulchen ging immerzu. Sie mußte wohl daheim die erste Geige gespielt haben!
Der Direktor sprach davon, daß er Kitty morgen prüfen wollte, um zu sehen, ob sie in die erste Klasse aufgenommen werden könnte, in der auch Sophie war.
Diese verließ Ostern die Schule, aber für Kitty sollte dann ja erst die Lehrzeit kommen!
Als das Essen vorüber war, warf Kitty ihre Serviette hin, wie sie es gewöhnt war.
»Komm, mein Kind!« sagte Frau Direktor und reichte Kitty den Ring. So steckte sie etwas verblüfft ihre Serviette, die sie hübsch zusammenrollen mußte, hinein.
Die Aussicht auf die Prüfung morgen hatte sie etwas gedrückt gemacht. Wer weiß, ob sie bestand!
Kitty sah mit Erstaunen, wie Sophie half, sie räumte den Tisch mit ab, legte die grüne Decke auf, holte ihrem Vater das Rauchzeug und die Zeitungen. Der Mutter brachte sie eine Häkelei, denn am Abend durfte Mama nichts tun, als sich mit leichter Handarbeit beschäftigen.
Sophie packte eine mächtige Decke aus, es war eine schwierige Arbeit, Plattstichstickerei. Aber das junge Mädchen schien sehr geschickt zu sein, die Blumen hoben sich prächtig von dem dunklen Grund der Decke ab. »Eine Decke für meine Patin zu Weihnachten!« sagte sie erklärend zu Kitty.
Diese verschränkte die Arme. War denn alle Weiblichkeit begeistert für Handarbeiten? dachte Kitty entsetzt. Die verfolgten sie ja förmlich!
»Du hast keine mit?« sagte Frau Direktor, »nun, dann fangen wir dir eine an! Sophiechen, hol' mal eine Häkelnadel und Garn! – So, danke! – Sieh, Kitty, nun paß auf! – Das gibt einen sehr schönen Einsatz, zum Beispiel in Kopfkissen! Wenn sich deine Schwester mal verheiraten sollte, dann schenkst du ihr alles, was du hier gehäkelt hast, zu ihrer Aussteuer! Sollst mal sehen, wie die sich freut! Und jedes junge Mädchen muß irgend etwas nebenbei arbeiten! Das ist am Abend wie ein Ausruhen von der geistigen Anstrengung des Tages! So, nun fang' an!«
Kitty hätte auf- und davongehn mögen! Da war sie ja vom Regen in die Traufe gekommen! Sie hatte gedacht, am Abend könne sie mit Sophie noch ein Stündchen in den interessanten, belebten Straßen der Stadt bummeln!
Sie sprach das auch ganz ungeniert aus.
»Nein, Kitty, das tut man hier nicht, wenn man erst fünfzehn Jahre alt ist!« sagte Frau Direktor.
»Ich werde im Dezember sechzehn!« antwortete Kitty schnippisch.
»Ist auch nicht viel mehr!« war die Antwort der Mutter. Sie lächelte.
Was man bei Sophie gespart hatte an Schwierigkeiten in der Erziehung, das konnte man reichlich jetzt aufwenden.
Sophie saß starr. Nein, diese Kitty! Diese Kitty!
Kitty häkelte, innerlich voll Grimm. Sie dachte: jetzt sollten mich Papa und Edith sehen! Die würden lachen! Da saß ja der Vogel schon gefangen im Bauer!
Als sie mit vieler Mühe, die auf beiden Seiten lag, unter der geduldigen Anleitung der Frau Direktor glücklich eine Zacke fertig hatte, empfand sie so einen Schimmer von Freude und Genugtuung.
Frau Rothe bemerkte das wohl. – In ihrem Herzen stieg warmes Mitleid auf mit dem mutterlosen Kind! Ja, bis jetzt hatte Gott ihr's leicht gemacht, ihre Sophie war wie ein Blümlein erblüht. Aber jetzt trat mit Kitty so etwas wie eine heilige, große Aufgabe heran! Und sie freute sich darüber, sie wollte sich dieser gewachsen zeigen und nicht verzagt die Flinte ins Korn werfen. Ihr war's, als stände eine Lichtgestalt, die tote Mutter, hinter Kitty und bitte sie: Nimm dich meines Kindes an, das ich zurücklassen mußte! –
Kitty fühlte sofort die überaus herzliche Art, mit der Frau Direktor zu ihr sprach.
»Da!« rief Kitty lustig und hielt die Zacke gegen das Licht, »wie fein ich häkeln kann!«
»Nun mache noch die zweite fertig, dann ist's genug für heute!«
Kitty häkelte weiter.
Sophie freute sich.
Papa las einiges aus der Zeitung vor. Das erinnerte Kitty an daheim, und es ward ihr mit einem Male weh ums Herz. –
»Zu Hause lesen sie jetzt auch,« sagte sie.
»Und ihr Mädels könnt euch jetzt in eure Gemächer zurückziehen!« sagte Frau Direktor. Sie wußte, in Kittchen regte sich das Heimweh. Da war's am besten, sie überließ die beiden Mädchen sich selbst, die plauderten noch miteinander. So kam Kitty vielleicht leichter über das Weh, welches das schlimmste mit ist, hinweg.
Kitty hatte gerade die zweite Zacke fertig. Sie freute sich sichtlich. Sophie brachte ein Täschchen, darin sollte von jetzt ab Kittys Handarbeit stecken.
»Wenn Kitty erst auf dem Gymnasium ist, dann ist sie abends zu müde, solche Dinge zu machen! Da heißt's bis spät in den Abend hinein lateinische Vokabeln lernen!«
Kitty erschrak. So schrecklich mußte man büffeln?!
»Ja, ja, es ist ein weiter Weg bis zum Fräulein Doktor!« sagte der Direktor lächelnd, »aber mit eisernem Fleiß erreicht jeder sein Ziel!«
Die beiden Mädchen sagten gute Nacht. Kitty bekam so gut wie Sophie von der Mutter einen Kuß. –
Ja, Kittchen fühlte trotz der Liebe, die man ihr zeigte, wahre, wirkliche Sehnsucht.
Sophie merkte das. Sie verließ die neue Freundin nicht. Reizend war sie um Kitty beschäftigt.
Da man morgen ausschlafen konnte, setzten sich die beiden auf das Sofa in Kittys Stübchen.
Zuvor hatte sie sich erst Sophies Stube angesehen. Wie schön, daß man nebeneinander wohnte! Die Tür sollte offen bleiben, damit man noch plaudern konnte!
Jetzt aber saßen die beiden im Dunkeln beisammen. Es war, als kennten sie sich schon lange! Sie ergänzten sich ja einander! Sophie fühlte erfrischend das Lebhafte an Kitty, und dieser tat das stille, sanfte Wesen Sophies wohl.
Unwillkürlich kam Kitty auf daheim zu sprechen. Sie erzählte von dem alten, grauen Schloß, dem Garten, der so dürftig war und doch so schön! Sie erzählte von ihrer Mama, dem Papa, sie schilderte Edith, Minna. Alle zogen im Geist an ihr vorüber.
Sophie benützte die weiche Stimmung Kittys, sie zu ermahnen, daß sie recht geduldig sei. Es sei kein leichtes Leben, das vor ihr liege!
Kitty solle mit Mama, die so leicht elend sei, recht lieb und nett sein, solle ihr alles zur Freude machen.
Und nun erzählte sie, die Sophie, aus der Schule. Sie wollte ihre Freundin auf andre Gedanken bringen, sie interessieren für das Leben, das vor ihr lag. Sophie schilderte die Schule und versprach, morgen mal mit Kitty hinzugehn. Ihr, als der Tochter des Direktors, öffne der Hausmann alle Türen.
Kitty wußte bald sehr viel, sie kannte aus Sophies Erzählung die Lehrer und Lehrerinnen, die Mitschülerinnen der ersten Klasse, falls sie in diese aufgenommen werden sollte.
»Morgen schreibst du nach Hause, Kitty,« sagte Sophie.
»Ich wollte eigentlich lange Zeit kein Wort an meine Leute schreiben!« meinte Kitty.
Entsetzt blickte Sophie auf und rief: »Ich bitte dich, warum denn?«
»Weil sie so lieblos und grausam sind!« sagte Kitty ruhig.
Eine Weile war es still, dann sagte Sophie: »Ich dachte immer, wenn man so hoch strebt, nur dem Schönen leben will und klug ist, dann müßte man auch recht verständig und gut sein! Das scheint aber nicht immer der Fall zu sein! Gute Nacht, Kitty! Schlaf recht gut die erste Nacht unter fremdem Dache!«
Sophie ging wirklich! Kein Kuß, keine Umarmung! Ruhig machte sie die Türe hinter sich zu. –
So begann, unbewußt für beide Mädchen, die kleine Sophie ihr Erziehungswerk. Kein Vorwurf, keine unnützen Worte, aber ein Entziehen aller Herzlichkeit! Starr saß Kitty. Was hatte denn Sophie auf einmal? Hatte sie, die Kitty, denn etwas so Schlechtes getan oder gesagt? Sie saß da wie entgeistert. Sie hätte nicht gewagt, jetzt zu Sophie zu gehn, ein sicheres Gefühl sagte ihr, daß diese sie gar nicht beachten würde.
Ganz gedrückt fühlte sich Kitty; solch ein Gefühl hatte sie im Leben noch nicht gehabt! Es war eine tiefe Beschämung! Sie hatte Sophie einen Blick in ihr Inneres tun lassen, und dies Innere mußte Sophie entsetzt haben. Deshalb zog sie sich so still und kurz von ihr zurück!
Daheim, wenn sie Schelte bekommen, hatte nur Trotz ihr Herz erfüllt, niemals Beschämung. Hier war's kein Trotz.
Kitty war allein. Sie weinte. So hatte sie sich in den ersten Stunden schon Sophies Liebe verscherzt!
Sie stellte sich ans Fenster, öffnete es und blickte hinaus.
Es regnete. Düster brannten die Gasflammen. Einzelne Tritte wurden laut.
Kitty sah die dunklen Häusermassen, sah, wie sich die schlanken Kirchtürme vom Himmel abhoben. Fremd, fremd alles um sie her!
Da tauchte der Mond auf, gerade über einem breiten Kirchendach kam er hervor. Sein mattes Licht scheint auch über die Dächer meines Heimatstädtchens! dachte das einsame Kind, scheint auch auf unser altes, graues Schloß! Was sie wohl sagen daheim? Ob man die Kitty vermißt?
Heiße Tränen fielen auf die gefalteten Hände. Das Heimweh riß an Kittys Herz. Ach ja, es war so schön daheim gewesen! Die Fremde tat weh! –