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Sechstes Kapitel

Am andren Vormittag machte der Justizrat seiner Freundin von Dehring einen Besuch. Gerade hatte ihm Edith Kittys gestrige Lüge mitgeteilt. Als er seine Jüngste daraufhin vorgenommen hatte, war sie aufgebracht, nichts weniger als schuldbewußt gewesen und hatte behauptet, sie ginge fort.

Nun wußte der geplagte Vater keinen besseren Rat, als zu Tante Melitta zu gehn, welche sich ihr Lebtag als treue, edle Seele bewährt hatte. Was Melitta für richtig hielt, sollte geschehen.

Als er eine Stunde später das traute Heim der alten Dame verließ, stand sein Entschluß fest: Kitty sollte nach L., sobald der Direktor und seine Frau sich bereit erklärt hatten, sie als Pflegetochter aufzunehmen.

Sorgenvoll, gramvoll blickte der Justizrat drein. Niemand ahnte ja, was es für ihn hieß, seine Kitty fortzugeben auf so lange Zeit! Ihr fröhliches Treiben nicht mehr zu sehen, ihr übermütiges Lachen nicht mehr zu hören! Es schwand ja der goldene Sonnenschein aus seinem Leben!

Denn Ediths Art war eine andre, sie umhegte alle mit ihrer sanften Liebe, aber Kitty war das belebende Element im Hause!

Und doch war es am besten so, ihr trotzig ausgestoßener Wunsch wurde erfüllt. – Er mußte seinen Freund, Direktor Rothe, wahrhaftig darauf aufmerksam machen, daß Kitty die böse Neigung habe, es mit ihrer Wahrheitsliebe nicht allzu genau zu nehmen. Und streng müßte man mit ihr sein, ihren Ehrgeiz wecken, sie zur Arbeit anhalten …

Der Justizrat setzte sich sofort, daheim angekommen, an seinen Schreibtisch und verfaßte den wichtigen Brief.

Kitty sagte er kein Wort. Sie spielte die Gekränkte, sprach nichts und stand unartig vom Tisch auf, sobald sie satt war.

Edith saß still und blaß dabei.

Die Antwort aus L. kam sehr bald. Kitty solle sofort sich reisefertig machen, der Herr Direktor käme selbst, sie abzuholen. In L. begann die Schule einige Zeit später, so daß Kitty nach vorhergegangener Prüfung in die für sie passende Klasse aufgenommen werden könne. – Seine Frau und sein einziges, mit Kitty in gleichem Alter stehendes Kind, Sophie, freuten sich sehr auf die liebe, junge Hausgenossin. So gut es ging, wollte man ihr die Heimat ersetzen!

Der Justizrat ging mit dem Brief in die Küche, wo Edith allein war, Minna hatte im Garten zu tun.

Edith las, und dann brach sie in Tränen aus. Weinend fiel sie ihrem Papa um den Hals. Ein unsagbarer Schmerz erfüllte sie. – Und die beiden kamen sich vor, als begingen sie die größte Sünde, Kitty fortzulassen.

Die würde ja außer sich sein, das war sicher.

Heute war Mittwoch. Am Sonnabend schon sollte Kitty bereit sein, in die neue Heimat zu fahren.

Sorglos schritt Kitty mit ihrer Änne über den Markt. Die zwei tuschelten sehr eifrig miteinander, sie hatten sich mit Friedel gezankt. Deshalb fehlte heute an dem bekannten Kleeblatt ein Blättchen.

Kitty war aber sehr vergnügt, hüpfte die Treppe herauf und verzog erst dann ihr Gesicht, als sie Edith sah.

»Komm zu Papa!« rief diese. Kitty bekam einen Schrecken. Edith hatte verweinte Augen gehabt. Was war denn da los?

Sie trat ins Wohnzimmer. Papa sah seinen Liebling, und nun wurde es ihm doppelt schwer, zu sprechen. Aber es mußte ja sein, zum Besten seines Kindes!

»Kitty,« sagte er, den Brief des Direktors entfaltend, »du willst durchaus fort! Dein Wunsch erfüllt sich eher als du vielleicht dachtest!

»Am Sonnabend kommt der Direktor der L.er Töchterschule, mein Studienfreund, und holt dich! Bist in seiner Familie wie ein Kind vom Hause, besuchst seine Schule und lernst in jeder Hinsicht, Kitty! – Nun, sei tapfer! Es ist ja dein Wunsch gewesen! Weihnachten besuchst du uns!«

»Das fällt mir gar nicht ein, Papa!« sagte Kitty mit zornfunkelnden Augen, blaß bis in die Lippen, »ihr gebt mich fort! Gut, ich bleibe fort!«

Sie stürmte hinaus in ihr Stübchen, riegelte sich ein und warf sich dort auf ihr Sofa.

Es drehte sich alles vor ihr. Hatte sie denn das Ganze soeben geträumt?

Sie richtete sich entsetzt auf: Fort? Fort? Heute in einer Woche, ja am nächsten Sonntag schon war sie nicht mehr zu Hause?!

Das war doch nicht denkbar! Bloß weil sie es angeblich mit der Wahrheit nicht so genau nahm? Weil sie manchmal trotzte?

Edith rief nach ihr, sie antwortete nicht.

Kittys Kummer löste sich bald in Tränen. Daß ihr Wunsch so bald sich erfüllen sollte, hatte sie freilich nicht geahnt!

Ein grenzenloser Trotz, der sich auf Vater und Schwester erstreckte, erwachte in ihr. Nie wollte sie wieder zu denen zurückkehren! Kaltherzig hatten diese sie aus dem Hause gestoßen! Papa mußte ihr reichlich die Mittel geben, daß sie dereinst ihr Studium vollenden konnte! Dann wollte sie sich ihr Brot schon selbst verdienen!

Kitty las den Brief des Direktors, den Papa ihr gegeben hatte. Also eine gleichalterige Tochter gab es dort, eine Sophie! Nun, hoffentlich war die vernünftig, das heißt jederzeit zu tollen Streichen aufgelegt. Papa und Edith sollten sich freuen über die Berichte, die von dort her an sie kamen! So wild, so ausgelassen als möglich wollte sie sein! Die sollten mal sehen, was ein Schloßfräulein alles fertig brachte! –

Bei Tisch erschien Kitty. Zwar waren die Augen noch rot von den Tränen, aber im übrigen war sie wie stets. Sie sprach nicht mehr, als nötig war, sie mußte doch Papa und Edith zeigen, was sie von ihnen hielt!

Der Justizrat meldete seine Tochter persönlich in der Schule ab.

Kitty lief nach Tisch sofort zu Änne, ihr das Unerhörte zu berichten.

Bei Täubers hieß es, sich still verhalten. Der Vater schlief; den Leidenden störten sie nicht. Änne und Kitty setzten sich deshalb auf die oberste Stufe der Bodentreppe. Da störte sie kein Mensch.

Änne war starr; alle beide weinten, fanden das Leben hart und beschlossen, mit Friedel sich sogleich auszusöhnen.

Damit kamen sie dieser gerade recht. In Friedels Stübchen saßen die drei.

Kitty wurde beneidet, daß sie aus dem langweiligen Nest herauskam. Friedel ginge am liebsten mit, Änne nicht, die liebte ihr Heim und kannte nicht den Sehnsuchtsdrang, in der Fremde sein Glück zu suchen. Aber daß sie ihre Kitty verlor, ging ihr zu Herzen. »Wirst dich schön sehnen!« sagte Friedel, »das ist mal so, auch wenn man riesig gern in die Pension geht! Mama war auch ein Jahr fort, die ist bald gestorben vor Sehnsucht! – Aber schreib uns oft, Kitty! Denk mal, was du für Stoff hast! Wir armen Würmer können dir gar nichts berichten, gelt, Änne? Du glückliche Änne, gehst Ostern ab, weil dich deine Mama im Haushalt braucht, aber ich muß noch ein Jahr sitzen! Graß!«

»Aber, was soll ich denn da sagen? Noch so lange die Töchterschule besuchen, dann das Gymnasium, dann die Universität!« rief Kitty.

»Ja, dafür bist du aber auch ganz was Großes, wenn du fertig bist!« sagte Friedel voll Bewunderung. Das weckte Kittys Stolz wieder. Ja, sie wollte zeigen, was in ihr steckte! Sie wollte es weiter bringen, als all ihre Schulkameradinnen, viel weiter natürlich als Edith! –

Am selben Nachmittag war Kitty schon aus der Schule entlassen. Zu ihrer Vorsteherin ging sie nicht, sich dort zu verabschieden, obwohl Papa es befohlen. Sie wollte allen zeigen, daß sie machte, was sie wollte.

Man drang nicht weiter in sie. Kitty sollte ja das Folgen und Vernünftigsein erst noch lernen!

Minna saß in der Küche und weinte. Sie fand es über alle Maßen herzlos, Kitty fortzugeben.

Edith aber hantierte mit blassem Gesicht und verweinten Augen in der Bodenkammer. Sie suchte den großen Reisekorb hervor, der Kittys Sachen aufnehmen sollte.

Endlich hatte sie ihn von den schützenden Decken befreit. Nun setzte sie sich darauf und weinte sich aus. Ach, wenn es doch dereinst eine Zeit geben möchte, wo Kitty als lieb und brav wieder heimkehrte! Wo sie alle drei recht froh und glücklich sein konnten!

Eine quälende Reue überkam sie: hätte man Kitty nicht lieber daheim behalten sollen? Was würde die selige Mama sagen, sähe sie, daß ihr Liebling in fremde Hände gegeben würde?

Und dann dachte die weinende Edith wieder an Tante Melitta, die es doch so gut mit allen stets meinte und die so dafür war, daß einmal fremde Strenge an Stelle der allzu großen Nachgiebigkeit und Liebe in Kittys Leben treten müsse. Ein junges Bäumchen müsse gezogen werden. Es sei dies alles nur zu des Kindes Bestem, wenn es beiden Teilen auch für den Anfang schwer und bitter werde.

Edith rief Minna. Mit dieser, die schluchzte, als ob es zu einem Leichenbegängnis gehe, trug sie den Reisekorb in Kittys Zimmer.

Edith packte ein. Sauber umwickelte sie jedes Paket Wäsche mit buntem Seidenband. Die Röcke prüfte sie, ob Saum und Borte tadellos seien.

Viele von den Kleidern mußte sie beiseite legen, um sie auszubessern. Ihren eignen Handschuhkasten gab sie Kitty.

Am Donnerstag kaufte Edith eine Menge ein. Wie es in kleinen Städten ist: jedes fragte, Kitty käme wohl fort. In jedem Laden mußte Edith diese Marter von neuem ertragen.

Sie füllte den Handschuhkasten; sie kaufte Kitty Parfüm, Briefpapier, versteckte Süßigkeiten überall im Reisekorb.

Die Schulbücher blieben da, dort gab's andre. Aber die Noten und übrigen Bücher wurden eingepackt; die Bilder von den Wänden nahm Kitty selbst ab und legte sie nebst andern Andenken in ihren Korb.

Edith saß bis in die Nacht und nähte an Kittys Garderobe. Die Kleine hatte ja nie sich das selbst gemacht, es war ganz unter ihrer Würde, eine Nadel in die Hand zu nehmen. Was zerrissen war, wurde mit Stecknadeln zusammengehalten.

Edith schüttelte den Kopf. Und dabei liefen ihr die Tränen aus den Augen.

Ihr war, als könne sie den Abschied nicht ertragen. –

Kitty war blaß, aber ihr feindseliges, trotziges Wesen behielt sie bei.

Papa kaufte ihr allerlei für die Reise: ein Kurier-Täschchen, eine Schirmhülle, ein Reisebesteck.

Jedes suchte dem Kinde noch was Liebes zu erweisen.

Zu Tante Melitta zu gehn, war Kitty nicht zu bewegen.

Am Abend vor Kittys Abreise gab die Mertens ein Paket ab.

Als Kitty es in ihrem Stübchen öffnete, enthielt es einen Ring. Der stammte von ihrer seligen Mama, die ihn vor langen Jahren Tante Melitta gegeben hatte. Ein paar rührende, herzliche Abschiedsworte und ein paar bunte Astern aus ihrem Garten hatte die Geberin beigefügt.

Kitty schob den schmalen Reif an ihren Finger; er paßte. Sie drückte weinend die Lippen darauf. Wie gut war Tante Melitta!

Kitty setzte sich an Papas Schreibtisch und schrieb mit ihrer steilen Kinderschrift: »Innig danke ich Dir, liebe Tante Melitta! Aber ich konnte nicht selbst kommen. Dir Lebewohl zu sagen, ich bin zu traurig, daß man mich so wenig liebhat! Ich komme nie wieder hierher, Tante! Deshalb sagt Dir auf ewig Lebewohl

Deine kleine Kitty.« –

Die Schreiberin war selbst gerührt und schloß das Briefchen weinend in den Umschlag. Minna sollte es hintragen, wenn Kitty fort war.

Papa gab sich Mühe, recht heiter zu erscheinen.

»Aber, Puttchen!« rief er, Kitty einen liebkosenden Schlag auf die Schulter gebend, »nun sei mal vergnügt! Morgen geht's in die weite Welt! Und wie schnell geht die Zeit hin, dann kommst du als stolze Gelehrte in den Ferien her! Denke mal, was du alles siehst! Wir armen Krähwinkler dagegen!«

Armer Papa, Kitty zeigte, daß sie einen Starrkopf hatte, sie blickte finster vor sich hin.

So verlief der letzte Abend lieb- und freudlos.

Kitty schlug es Edith kurzweg ab, den Abend mit ihr zusammen zu sitzen. Sie ging allein in ihr Stübchen.

»Ein grenzenloser Eigensinn!« sagte der Justizrat. »Edith, weine nicht! Es gibt keine bessere Medizin für unser Kittchen, als die Fremde kennen zu lernen! Paß mal auf, mein Kind, was für ein prächtiges Kittchen wir dereinst im Hause haben! Denn, daß sie Fräulein Dr. juris wird, darauf baue ich nun noch nicht so felsenfest! Erst mal ein bißchen Lebensschule durchmachen, das ist für unsren Trotzkopf gut!« –

Am andren Mittag hielt ein Wagen vor dem Schloß. Änne und Friedel standen da und blickten voll Neugierde und Trauer auf Kitty, die soeben im Portal erschien.

Sie trug einen langen Mantel, über das blasse Gesichtchen war ein dichter, grauer Schleier gelegt.

Der Justizrat und sein Freund, ein lieber Herr mit dunklem Bart, stiegen ein, Edith und Kitty hinterher.

Am Portal stand Minna, aufgelöst in Tränen.

Kitty gab ihren Freundinnen die Hand.

Handtäschchen u. s. w. wurde gereicht, dann flog der Schlag zu.

Eine halbe Stunde später gingen der Justizrat und seine Älteste ihrem Heim wieder zu, still und traurig.

Edith lief weinend von Zimmer zu Zimmer. Ihr war gar zu traurig zu Mute.

Überall noch Spuren von Kitty. Da hing ihr großer Sommerhut; ihr Schirm, den Papa ihr durch einen neuen ersetzt hatte, stand in der Ecke.

Edith trat in das Stübchen ihrer Schwester. Hier überwältigte sie das Weh. Sie kniete an dem Bett, das nun lange, lange leer stehn sollte, nieder und drückte ihr Gesicht in die Kissen.

Ein Schluchzen erschütterte sie.

Lange lag sie so, dann kam es wie göttlicher Friede und Ruhe über sie.

Kitty war ja in guten Händen. Die Liebe von Vater und Schwester gingen mit ihr.

Dort, in der neuen Heimat, warteten ihrer viel Neues und Schönes, freilich auch eine strenge Schule.

Oh, wie oft würde Kitty die Augen weit aufmachen, wenn es nicht mehr allein nach ihrem Köpfchen ging.

Edith nahm sich vor, Änne Täuber bisweilen zu besuchen. Das blonde, liebe Kind mochte sie gern, war Änne doch allzeit Kittys beste Freundin gewesen!

Edith suchte Trost in ihrem Schmerz da, wo er zu finden ist, im Gebet und in der Arbeit.

Sie sprach mit Minna von Kitty, von der Zeit ihres Wiederkommens. Sie arbeiteten beide wie die Bienen. Edith vergaß richtig auf Stunden das Weh, das ihr Herz erfüllte.

Aber abends, als sie mit Papa allein am Tisch saß, kam es über sie.

Der Justizrat kannte L., er sprach davon, daß er im November einmal hinfahren könnte, nach Kittchen zu sehen. Edith sprach von Weihnachten, wo sie doch sicher kommen würde.

Sie ließ ihren Vater an diesem Abend nicht allein, holte die Karten und spielte Sechsundsechzig mit ihm.

Aber beide glaubten jede Minute, Kitty müsse hereinstürmen wie zu den Zeiten, wo von ihrem Fortgehn noch nicht die Rede war. – Sie glaubten, ihr Lachen und Plaudern zu hören, wie sie mit Minna so oft sich abends in der Küche unterhalten hatte. Da hatte sie der Mine Rätsel aufgegeben, oder sie hatte mit ihr Geographie getrieben. Minna mußte ihre Thüringer Heimat auf der Landkarte studieren!

Oder manchmal waren Änne und Friedel noch am späten Abend gekommen. Da hatten die drei Mädchen sich in Kittys Stübchen gesetzt und gesungen.

Friedel hatte sogar die dritte Stimme fertig gebracht.

Wie entzückend hatten die lieben, frischen Mädchenstimmen zusammengeklungen, herein zu Papa, der mit der Zeitung am Tisch saß, und zu Edith, die mit einer Handarbeit dem Papa stillschweigend Gesellschaft leistete!

An alles das dachten die beiden heute, und eins zeigte es dem andren nicht, was es litt und vermißte. Eine große Lücke war entstanden, eine große Stille wird einziehen. –

Lange blickte Edith an diesem ersten Abend, den sie ohne ihre Kitty verlebte, noch zum Fenster hinaus.

Es war eine herrliche Mondnacht. Edith saß an dem Plätzchen in einem der Säle, das Kitty so gern gehabt hatte und blickte über den Markt hin, über die Dächer und die Umrisse der Waldberge. Drüben über einem der hochgiebeligen Häuser stieg der Mond herauf. Der Brunnen, von Linden umstanden, rauschte in die stille Nacht hinein.

Edith betete für ihr Kittchen. Mitternacht war nicht mehr fern, als das junge Mädchen leise ihr Zimmer aufsuchte. – – –


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