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Fünftes Kapitel

Der Herbststurm bog die hohen Pappeln am Friedhofstor.

Eilig schritten die beiden Mädchen dahin, durch bergige Gäßchen, bis der alte Schloßbau sichtbar wurde.

In Kitty war der alte Übermut wieder da, sie sprang mit zwei Sätzen die steinernen Treppen hinauf.

Papa hatte Besuch, einen ehrwürdigen, älteren Herrn.

Das störte Kittchen wenig. Kordial klopfte sie ihren Papa auf die Schulter, nickte dem Herrn zu, als seien sie alte Bekannte und setzte sich auf die Sofalehne.

Den breitrandigen Hut, auf dem eine mächtige Feder »gakelte«, wie Kitty behauptete, warf sie auf einen Stuhl. Er fiel auf den Fußboden. Der Herr bückte sich, ihn aufzuheben. Aber Kitty faßte ohne weiteres den Herrn beim Arm und rief:

»Mal liegen lassen! Der hat bald ausgedient!«

Der Justizrat empfand etwas Gruseln über seine Kitty. Respekt zeigte sie doch vor niemand. Da konnten leibhaftige Könige aufmarschieren, sie käme nicht aus der Fassung.

Fürchterlich verwöhnt war sein Kittchen, ließ sich gehn, wie sie Lust hatte!

»Wie war's bei Tante Melitta?« fragte Papa, nachdem er seine Jüngste feierlich vorgestellt hatte.

»Oh, fein, Papachen!« rief Kitty, »da kann man alles haben! Kaffee, Kuchen, Gesang, Klavierspiel, gute Gespräche, alles! Und denk' dir, ich habe gehäkelt! Ich, die alle solche weiblichen Handarbeiten verachtet!«

»Warum verachten Sie die?« fragte der Herr.

Kitty, mit »Sie« angeredet, fühlte sich sofort sichtlich gehoben. Sie machte einen Ruck und saß kerzengerade da.

»Weil ich sie geisttötend finde!« behauptete sie, wie vorhin zu Tante Melitta, ganz von oben herab.

Ein feines Lächeln glitt über das Gesicht des alten Herrn. Eine kleine Emanzipierte!

»Womit wollen Sie sonst Ihre müßigen Stunden vertreiben?« fragte er.

»Ich will studieren!«

Der Justizrat sah das überraschte Gesicht seines Freundes. »Ja, ja, du denkst wohl, wir in der Kleinstadt sind in der Kultur zurück? Oh, bewahre!«

»Und was, wenn ich fragen darf?«

»Jura!« war die stolz gegebene Antwort.

»Nun, da wünsche ich recht viel Glück, mein kleines Fräulein!«

Der Geheimrat hielt Kittys Hand fest, betrachtete sie und sagte:

»Schade, die soll mal dereinst schwarz von Tinte werden! Soll vielleicht richterliche Urteile fällen! Und wäre doch so recht dazu geschaffen, im Haus zu walten, Wohlbehagen um Papa und Schwester zu verbreiten …«

Kitty entzog sie ihm schnell und fuhr lachend fort: »zu stopfen, zu stricken, zu backen, zu kochen, zu bügeln und wie diese schauderhaften Tätigkeiten alle heißen! Nein, wir, Kitty Wagemann auf Schloß Soundso, richten uns unser Leben anders ein!«

Der alte Geheimrat amüsierte sich über die Schlagfertigkeit der kühnen Jüngsten seines Freundes köstlich.

Der Justizrat benützte die Gelegenheit und sagte: »Ja, mein Putt, da mußt du aber schon Ostern fort von hier! Diese Schule genügt nicht! Du mußt die höhere Schule in L. besuchen und von da gleich das dortige Mädchen-Gymnasium!«

»Fort?!«

Es war alles, was Kitty stammeln konnte.

Papa war im Schuß: »Freilich, das haben Edith und ich längst überlegt!«

»Fräulein Kitty, schrecken Sie schon vor dem ersten Opfer zurück, das Sie Ihrem hohen Streben bringen sollen?« fragte der Geheimrat.

»Nein, ich gehe nicht fort!« sagte Kitty.

»Nun, dann ist's auch mit dem Studieren nichts, denn hier gibt's kein Gymnasium für wißbegierige Jungfrauen!«

In Kitty stürmte es. An solch eine Möglichkeit hatte sie noch nicht gedacht. Natürlich! Sie mußte fort, wenn sie die Sache ernst nahm! Hier gefiel es ihr auch gar nicht in der Schule! Anderswo war es sicher schöner! Und Fräulein Richter, die ihr die 4 gegeben hatte, sollte sich schön ärgern und neidisch sein, wenn sie ihr sagte: Ich gehe nach der großen Universitätsstadt L., um dort bessere Schulen zu besuchen!

Letzteres gab den Ausschlag. Ja, sie mußte ihr Ziel energisch ins Auge fassen! Und daß dabei Fräulein Richter sich ärgerte, hatte für Kitty einen besonderen Reiz.

»Natürlich,« begann sie kleinlaut, »ich sehe es ein, Papa! Da muß ich fort! Oh, es ist nicht leicht! Ist gräßlich! Aber, wenn man –«

»Eine Studentin der Rechte werden will, anstatt eine gute Hausfrau,« sagte der alte Herr, sich erhebend, »da muß man Opfer zu bringen wissen, Fräulein Doktor in spe

Kitty lachte geschmeichelt.

Edith erschien.

Der Geheimrat merkte wohl, daß sein Freund etwas parteiisch war. Mit seiner Ältesten prahlte er nicht so und hätte doch hier alle Ursache gehabt. Der alte Herr zeigte sich sofort entzückt von dem liebreizenden, so echt weiblichen Mädchen.

Edith hatte mit auf den Gast gerechnet und in aller Eile dank ihrer Umsicht und ihrer geschickten Finger einen appetitlichen Abendbrot-Tisch hergerichtet.

Der Justizrat brauchte nicht lange zu bitten, sein Freund blieb gern da.

Heiter und angeregt ging es zu. Kitty neckte und wurde geneckt. Auch auf ihr Fortgehn kam man, und Edith bemerkte mit Beruhigung, daß Kitty sich mit dem Gedanken vertraut machte.

Ediths Wesen zog den alten Herrn besonders an. Er hatte ihre Mutter gekannt und fand hier das getreue Ebenbild dieser schönen Frau.

Das wäre etwas für seinen Sohn, den Landrat! dachte der alte Herr; Rudolf haßte die modernen Frauen, ihm schwebten jene holden Gestalten als allein begehrenswert vor, die mit Häubchen und Schlüsselkorb einhergegangen waren. Solche giebt es heutzutage nicht mehr! hatte der alte Herr seinem Einzigen gesagt. Nun, dann wollte der Herr Landrat eben ledig bleiben! Mit dem, was jetzt die jungen Damen dächten, lernten, als alleiniges Heil erstrebten, konnte er sich nicht befreunden! Sein Ideal war so ganz anders! –

Aber seit der Geheimrat Edith gesehen hatte, stand sein Entschluß fest! Diese mußte sein Schwiegertöchterchen werden! Ganz diplomatisch wollte er vorgehn! Rudolf mußte ohne jede Ahnung sein!

Trägt Edith auch nicht das Häubchen, wie es einst ihre Mitschwestern in alten Zeiten getragen hatten, so trägt sie doch ihre blonde Flechtenkrone so stolz, so umgibt dies Kind doch solch ein Zauber holder, echter Weiblichkeit, daß der Geheimrat seiner Sache sicher war.

Diese auf dem alten Schloß erblühte Blume mußte für seinen Sohn, auf den er stolz sein konnte, blühen! – –

Kitty schlief an diesem Abend lange nicht ein.

Hier in ihrem stillen Stübchen kam sie zur Besinnung. Himmel, sie sollte fort? Und Papa und Edith hatten das schon geplant, ohne mit ihr darüber gesprochen zu haben? War das nicht recht falsch von den beiden, besonders von Edith? Da steckte gewiß auch Tante Melitta dahinter! Oh, man wollte sie los sein! Sie war oft zu wild, zu unartig! In der Fremde sollte sie gezähmt, sollten ihr die Flügel beschnitten werden!

Nun, dachte sie trotzig und wischte sich die Tränen weg, ich will gehn! Ihr sollt schon die Lücke empfinden! Es soll schon fürchterlich still um euch werden!

Gern geh' ich nicht! Nein!

Sie weinte immer von neuem. Sie fürchtete sich vor fremden Menschen. Die liebten sie nicht. Denen gegenüber mußte sie sich Zwang antun, da konnte sie nicht reden, wie sie Lust hatte!

Aber sie wollte fort! Oh, nicht erst Ostern, gleich jetzt!

Aber nein, da ist sie Weihnachten fort! Und das war stets so herrlich! Der große Lichterbaum, den Edith ganz allein anputzte, der in einem der fürstlichen Säle stand!

Nein, Weihnachten mußte sie noch dasein! Aber Ostern!

Und war sie einmal fort, so kam sie nicht eher wieder, als bis sie Fräulein Doktor war!

Oh, dies Ziel erreichte sie! Sie war begabt, Papa sagt es ja auch und will stolz sein, wenn sie seine Fräulein Kollega ist! Aber fort müssen! Ach, dieser hohe Beruf fordert grausame Opfer! Die Größe dieser Opfer empfand Kitty jetzt schon!

Leichter kam man sicher durch die Welt, wenn man es machte wie Edith! Wenn man so ganz einfach dachte, so gar nichts Besonderes leisten wollte im Leben, bloß Hausfrau sein, da war's leicht!

Kitty seufzte bei dieser Erkenntnis und sagte sich, daß es eigentlich unbequem sei, wenn man als so klug auf die Welt käme, daß dann von vornherein ganz andre Anforderungen an einen gestellt würden! –

Unter Schluchzen schlief sie ein.

Als aber am andren Morgen die Herbstsonne in ihr Stübchen schien, dachte sie anders. Eine Lust, Neues zu sehen, war über sie gekommen.

Ach, was würden sie alle in der Schule sagen, wenn sie erführen: die Kitty Wagemann soll dereinst die Universität besuchen. Infolgedessen geht sie fort von hier in eine Großstadt!

Änne und Friedel mußten es wissen! Und der Respekt von allen Seiten! Das ging sicher wie ein Lauffeuer durch die kleine Stadt!

Man sah in ihr, der Kitty, schon eine große Gelehrte.

Kitty war heute sehr vergnügt und innerlich gehoben.

Die Kleinstadtverhältnisse beengten sie plötzlich. Sie sehnte sich nach Großstadtluft! Da läßt sich's gut atmen, wo ein großer geistiger Zug durch alles geht! Da stockt der Pulsschlag der Zeit nicht wie hier im kleinen Nest!

Es regnete. Wie langweilig war's dann hier, doppelt langweilig!

Kitty saß mit einem Roman von Heyse, den sie Papas Schrank entnommen hatte, an einem Fenster, das den Blick auf den Marktplatz hatte.

Wie eintönig der Regen an die Scheiben schlug! Und auf dem Markt glänzten die Steine! Und wenn jemand mit aufgespanntem Schirm dahinlief, guckte man und fragte sich: wer mag das wohl sein?

Kitty lehnte sich träumend zurück. Sie war in der Großstadt. Mit Papa war sie in Berlin, in Dresden gewesen, flüchtig nur. Damals hatte sie sich gefürchtet vor dem hastigen Leben und Treiben und sich gesehnt nach ihrem Städtchen, wo keiner den andern über'n Haufen rennt, wo man doch »wer« ist!

Aber jetzt in der Erinnerung spann sich ein Glorienschein um alles in den großen Städten. Interessante, geistreiche, moderne Menschen wollte sie um sich haben, mit Ausländerinnen verkehren, in einen Klub gehn, wenn sie Studentin war. Und lernen und lesen und hören wollte sie! Ordentlich voll Mitleid wird sie an die daheim denken, die in dem engen Gesichtskreis weiterleben. Nun, Edith wollte ja nichts anderes. Die war glücklich in ihrer Häuslichkeit, strebte nicht über das Alltägliche hinaus und war zufrieden, wenn sie mal bei Tante Melitta sein konnte!

Kitty reckte die Arme wie voll Mut in die Höhe und dehnte sich dann wieder in ihrem hochlehnigen Sessel. Ach, sie hatte Wagemut! Sie zog's hinaus in die glänzende Welt!

Aber – so behaglich hinduseln wie hier und wie so oft, das gab es dann nicht mehr! Da hieß es büffeln vom Morgen bis zum Abend! Und vor dem Examen die halben Nächte hindurch! Zum Romanlesen gab es da keine Zeit mehr! Deshalb hier noch die Freiheit genießen! –

Kitty las weiter. Daß Edith alle Hände voll zu tun hatte mit Pflaumen einkochen, Gurken einlegen, ließ Kittchen sehr gleichgültig. Sie zog sich so weit als möglich vom Schauplatz jener Tätigkeit zurück. – –

Die Socken für Papa waren fertig, Minna hatte sie ihrem Herzblättchen gestern abend auf die Schulmappe gelegt, so daß Kittchen sie sicher sehen mußte.

Kitty war befriedigt, sah flüchtig, daß sie sogar rot gezeichnet waren. Fein! Minna ist ein Prachtexemplar! sagte sich Kitty und schlief beruhigt ein. –

Edith hatte Papas Geburtstag zu Ehren alles mit Blumen und Zweigen geschmückt. Auf dem Kaffeetisch prangte ein selbstgebackener Napfkuchen.

Seine zwei flogen dem Justizrat entgegen, d. h. Kitty flog an seinen Hals, Edith in ihrer stillen Art kam heran und schmiegte ihre Wange an die Schulter des geliebten Vaters. Er wußte gar nicht, wie sehr ihn seine Älteste liebte. Für Edith verkörperte sich aller Edelsinn, alle Bravheit in ihrem Vater. Und wenn Tante Melitta sie bisweilen neckte und darauf hindeutete, daß Editha sich dereinst verheiraten würde, hatte diese stets gesagt: »Nur wie Papa muß dieser Mann sein! Mit ihm würde ich jenen, der mich haben wollte, zuerst vergleichen.« –

»Kinder, ein halbes Jahrhundert heute!« sagte der Justizrat.

»Ja,« meinte Kitty, »fünfzig Lichter haben wir dir aber nicht angebrannt, Papachen! Aber hier, sieh Ediths Meisterschaft!«

Kitty ergriff das Messer und schnitt den Kuchen an.

Der Justizrat bewunderte pflichtschuldigste alle die Sächelchen, die da lagen. Edith hatte gestickt, genäht und war fleißig gewesen. »Und hier!« rief Papa und hob in jeder Hand eine Socke hoch, »mein Wildfang! Das hast du fertig gebracht?«

Kitty nickte, bereits mit dem Kuchen beschäftigt, sorglos und ließ sich Papas Dank gefallen.

Edith war ganz blaß geworden. Sie mußte sich am Fensterkreuz halten, so erschrocken war sie. Wie? ihre Kitty konnte so lügen?

Aber jetzt durfte Edith nichts sagen, Papas Frohsinn durfte nicht getrübt werden.

Als er aber nach einer halben Stunde hinaufgegangen war und Kitty, deren Schule morgen wieder begann, in ihrem Stübchen nach ihren Büchern suchte, ging Edith in die Küche und fragte Minna in strengem Tone: »Nicht wahr, du hast Papas Socken, die Kitty ihm schenkte, gestrickt?«

Minna wurde dunkelrot. Da half kein Leugnen, sie nickte.

Nun trat Edith bei Kitty ein.

»Warum hast du Papa belogen?« fragte Edith ernst.

Kitty fuhr auf. »Belogen?«

»Jawohl! Geht dir der Unterschied so ganz ab, Kitty, der in einer offen ausgesprochenen Unwahrheit oder in einer Verleugnung der Wahrheit liegt? Du hast ruhig Papas Dank und Anerkennung für etwas hingenommen, was du gar nicht selbst geleistet hast!«

»Das ist dem Papa sehr egal, wer die dummen Socken gestrickt hat!« sagte Kitty wütend.

»Nein, da irrst du! Und du darfst nicht lügen, Kitty! Denk' an die 4 im Betragen, die du auch schon geleugnet hast! – Du sagst es heute noch Papa selbst, daß du seinen Dank nicht verdient hast und gestehst, daß Minna deine Arbeit getan hat!«

»Fällt mir gar nicht ein! Solcher Kleinigkeiten wegen mach' ich kein Aufhebens, ich verderbe Papa die gute Laune sicher nicht und noch dazu am heutigen Tage!«

»Gut, dann sage ich's ihm morgen selbst!« erwiderte Edith.

Kitty brach in Tränen aus: »Und ich gehe fort! Hier ist's nicht zum Aushalten! Alles klatschst du dem Papa!«

»Kitty!« sagte Edith traurig und trat zu dieser hin. Aber Kitty stieß die weiche, streichelnde Hand zurück.

»Kittchen,« sagte Edith, »du weißt, daß Mama dich mir übergab, als sie im Sterben lag! Du weißt, daß ich selbst noch ein Kind damals war.

»Mama sagte wenige Tage vor ihrem Tode: ›Edith, halte Kitty streng! Halte sie zur Wahrheit an! Laß ihr nichts durchgehn. Sie ist von mir als Kleinste sehr verwöhnt worden! Sie hat Anlagen zu faseligem, leichtem Wesen! Sei streng! Wenn du sie wahrhaft liebst, wirst du streng sein, ihre kleinen Untugenden ihr abgewöhnen. Nur dann kann sie ein frohes Menschenkind werden!‹

»Sieh, Kittchen, wenn du es so leichtfertig mit der Wahrheit nimmst, wie willst du da eine gute Juristin werden? Wie willst du dir ein reines Gewissen im Leben erhalten? Nur der Mensch, der jederzeit seinem Mitmenschen frei und ehrlich ins Auge blicken kann, lebt in Herzensfrieden! Du weißt, Kitty, ›Müßiggang ist aller Laster Anfang‹! Du neigst dazu, du kennst nicht den Segen, der in der Arbeit liegt! Es ist nur eine Kleinigkeit, um die es sich handelt, gewiß! Aber wärest du fleißig gewesen, hättest dir Minna, die du schonen solltest, nicht gebeten, deine Arbeit zu machen, so brauchtest du heute nicht zu lügen, hattest ein reines Gewissen, und auch mir wäre viel Kummer erspart geblieben! – Du willst fort? Das kann dir werden! Aber die Zeit wird kommen, wo du froh und dankbar bist, wenn du wieder heimatliche Luft atmest, wo du wieder bei Vater und Schwester sein kannst!«

Edith ging. Traurig schritt sie über den Korridor. Oh, das Amt, das ihr die geliebte, sterbende Mutter übergeben hatte, war nicht leicht gewesen! Es hatte mit Zentnerlast auf ihre jungen Schultern gedrückt.

Kitty war wie ein wilder Sproß, wie ein Füllen, das sich austoben mußte!

Edith lehnte an einem der Korridorfenster und blickte in den Garten hinunter.

Drüben am Zaun stand ein armer Mann, der spielte seinen Leierkasten. So wehmütig klang es herüber:

»Wenn die Schwalben heimwärts ziehn,
Wenn die Rosen nicht mehr blühn …«

Träne auf Träne netzte Ediths verschlungene Hände.

Sie blickte hinauf zum Himmel, an dem bräunliche Wolken zogen, und betete, daß Gott sie immer den rechten Weg führen möge. Eine innige, zärtliche Liebe zu Kitty erfüllte ihr Herz. Möge doch Gott dies Kind behüten, daß es nicht strauchle.

Möge die Fremde, in die Kitty zöge, ihr zur Lehrmeisterin werden! Möchte sie auch lernen, nicht im Eigendünkel auf die herabzusehen, die auf schlichte Art ihr Dasein fristen. Möchte sie den Beruf einer Hausfrau achten lernen. So viel Unkraut mußte noch ausgerottet werden aus dem geliebten Köpfchen.

Der Leierkastenmann zog weiter. Schnell raffte Edith sich auf und schickte Minna mit einem in Papier gewickelten Nickelstück zu dem armen Mann hinunter.

Dann ging sie mit frischer Kraft, mit getrösteter Seele an ihr Tagewerk. Gegen Mittag wurde ein Strauß dunkler, halb erblühter Rosen für Fräulein Edith abgegeben.

Errötend und staunend nahm Edith ihn an. Ein freundlicher Gruß auf der Karte des alten Geheimrats dankte der lieben, jungen Hausfrau für ihre Güte.

Edith freute sich. Der alte Herr hatte ihr gefallen, sein schöner, duftender Gruß entzückte sie. Die Rosen sollten Mittags auf dem Tisch prangen!

Ein paar der schönsten trug das junge Mädchen noch spät am Abend zu Tante Melitta. Diese liebte Blumen so sehr, wie jeder feinsinnige Mensch sie lieben muß. Und deshalb legte Edith so gern vor die kranke Freundin ein paar der letzten Rosen hin. –


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