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Als im vorigen Jahrhundert die alte Herrlichkeit der Republik Venedig lange vor dem letzten vernichtenden Sturme einem zähen und traurigen Siechthum anheimgefallen war, da begann auch in deren schönem Lande Korfu die früher bewahrte feste Ordnung des Lebens und des Rechtes mehr und mehr aus den Fugen zu weichen, und von den abendländisch humanen Sitten dieses berühmten Säculums war hier an der Schwelle des Orients kaum eine Spur mehr zu finden. Der Oberherr war träge geworden, und die Korfioten hatten längst verlernt sich selbst zu regieren; darum verfiel die Zucht, und wilder Unfriede fraß Herrscher und Beherrschte. Der Grundbesitz auf dem reichen Eiland war damals fast ausschließlich in den feudalen Händen weniger Familien theils venetianischen, theils rhomäischen Ursprungs; und diese waren es zumal, welche sich eifrigst bestrebten, solche ihnen vom blinden Glück gewährte übermäßige Bevorzugung dadurch wieder 114 auszugleichen, daß sie sich gegenseitig das Leben mit allen erdenklichen Mitteln erschwerten, verbitterten und namentlich auch thatkräftig verkürzten. Es gab Menschen, welche behaupteten, die Oelbäume des Landes verdankten ihr unvergleichliches Gedeihen hauptsächlich dem Umstande, daß sie so oft mit adeligem Blute gedüngt würden.
Aber selbst in diesen wilden Zeiten war die Geschichte der beiden vornehmen Häuser der Nerulos und der Pierakos eine ungewöhnliche und durch die Zahl der verübten Greuel auffallende; man könnte dieselbe in schrecklicher Kürze etwa folgendermaßen schreiben: Georgios Nerulos erschlug den Kosmas Pierakos; Wassilios Pierakos erschoß den Georgios Nerulos; Spyridon Nerulos ließ ermorden den Wassilios Pierakos; Ilias Pierakos erstach Spyridon Nerulos; Grigorios Nerulos jagte dem Ilias Pierakos eine Kugel durch den Kopf; Panajotis Pierakos durchbohrte den Grigorios Nerulos . . . und so fort in der Reihe, gleichwie zwei Zahnräder einer Höllenmaschine genau und pünktlich ineinandergreifen. In diesem grauenvollen Vernichtungskriege trat erst dann ein plötzlicher Stillstand ein, als der letzte männliche Sproß der Familie Nerulos, der junge wilde Rhisos, durch die Pierakos gelegentlich beseitigt war. Zwar wußte Niemand etwas anderes von dessen Ende, als 115 daß man ihn auf freiem Felde mit einer Kugel im Herzen gefunden hatte, allein es gab natürlich nicht den leisesten Zweifel, wer die Urheber des Mordes waren.
Dieser letzte Nerulos hinterließ das Erbe seiner Mutter und einer unmündigen Schwester in einem sehr traurigen Zustande, da er selbst ebenso wie schon vor ihm sein früh ermordeter Vater das reiche Gut durch eine gar zu ritterliche Wirthschaft, so gründlich als nur möglich verwüstet hatte. Dafür zeigte sich nun aber die Mutter, Frau Eudoxia, als eine Dame von so starker Gemüthsart und so klarem Geist, daß sie mehr als zwei Männer mittleren Schlages aufwog; sie verstand das Erbe nicht nur tapfer vor allen Anfechtungen zu wahren, sondern den Werth desselben allmählich auch wieder um ein Beträchtliches zu heben. Uebrigens lebte sie während der nächsten Zeit im ganzen unbehelligt von den Erbfeinden, deren Haß durch die Ausrottung des Mannesstammes endlich befriedigt schien.
Weit minder versöhnlich jedoch war die Gesinnung der Frau Eudoxia selber. Sie unterzog sich der langwierigen Arbeit, den Familienreichthum wiederherzustellen, keineswegs allein aus Fürsorge für die Zukunft ihres einzigen Töchterchens Photinissa, sondern ebenso sehr in dem starren Gedanken 116 an die Rache, welche sie an den Resten der Familie Pierakos zu nehmen hatte. Ja, sie sann nichts Geringeres, als den männlichen Stamm derselben ebenso vollständig auszutilgen, wie es den Nerulos leider geschehen war. Gewiß wäre es nun nicht allzu schwer gewesen, durch gemiethete Mörder das feindliche Geschlecht zu beseitigen, zumal es selbst nur noch auf sechs Augen stand; allein um sich für alle Fälle mit den venetianischen Gerichten auseinandersetzen zu können, dazu mochte sie unter Umständen sehr bedeutender Geldmittel bedürfen; denn ein ehrliebender Richter läßt sein Urtheil nicht durch eine Hand voll Orangen beeinflussen. So hielt sie denn ihre Rache gleichwie ein Faß voll starken Weines zurückgelegt in stiller Gährung, bis die Stunde reif wäre.
Es giebt im Nordwesten der Insel hoch über dem Ionischen Meere auf dem Gipfel eines wild abstürzenden Felsens die Trümmer einer sehr alten, ansehnlichen Burg Angelokastron, das ist Engelsburg. In Trümmern lag sie schon damals, aber mitten hinein in das verfallende Mauerwerk hatten die Nerulos ein neues Haus gesetzt, das auch so noch seinen Besitzern Schutz und Schmuck gewährte, und weithin das Land beherrschte. Hier inmitten ihrer Güter 117 verlebte Frau Eudoxia fern der Stadt ihre einsamen Jahre.
Außerhalb des alten Burgthores, das noch immer einen bescheidenen Wachtdienst versah, stand an weitschauender Stelle eine riesige Cypresse, aus der Ferne vom Meere her wie ein schlanker Thurm zu sehen; unter diesem Baume war kunstlos aus rohen Steinen ein Mal geschichtet, das Grabmal des jungen Rhisos; hier sollte der Todte harren, bis er würdig wäre, bei seinen Ahnen zu ruhen, von denen keiner ungerochen geblieben war. Oben auf den Steinen stand ein marmorner Engel, den die Mutter aus Venedig verschrieben hatte; es war eine schöne, zarte Gestalt in traurig sinnender Haltung. Eudoxia aber verstand es, ihm kräftigere Gedanken unterzulegen; sie lehnte an seine Schulter eine kleine Flinte, mit der ihr Sohn als Kind gespielt hatte, und befestigte an seiner rechten Hand einen blutigen Fetzen von dem letzten Kleide des Ermordeten, und so hatte sie sich mit geschmackloser, aber sprechender Symbolik aus dem stillen Todesgenius einen drohenden Dämon der Rache geschaffen.
Jeden Abend aber, wenn die Sonne sich dem Meeresrande näherte, kam die Herrin aus dem Thore einsam hierhergeschritten, kniete nieder neben der Cypresse und murmelte laute Gebete, fromme und heilige 118 Worte; aber der Ton ihrer Stimme schien eher Drohungen auszudrücken, und ihr schön geschnittenes Antlitz sah härter und kälter aus als der Marmor über ihr, auch wenn die rosigen Abendstrahlen es zu verklären suchten. Und jedesmal in dem Augenblick, da der letzte goldene Rand der Sonne unter das Wasser tauchte, stand sie eilig auf, zog eine große, alterthümlich reiche Pistole aus ihrem Busen und feuerte einen Schuß über das Grab aufs Meer hinaus. Das war der tägliche Gruß, den sie der Sonne mitgab in die Unterwelt für ihren Sohn. Und wenn aus den tiefen Riffen und von den Vorsprüngen der zackig schroffen Felswände und von den Meeresklippen her das Echo rollend wiederhallte, dann zog etwas wie ein Lächeln über die Züge der strengen Frau, als meinte sie, ermunternde Grüße ihres todten Kindes zurückempfangen zu haben.
Mit diesem Schuß erweckte sie jeden Tag aufs Neue ihre Rache und ließ ihr keine Zeit, im Frieden langer Jahre heimlich zu entschlummern.
Unter dieser Weile wuchs ihre junge Tochter fern von ihr in einem städtischen Kloster auf, das durch den frommen und strengen Geist seiner Nonnen besonders gut beleumundet war. Und freilich schien das Kind Photinissa einer nachdrücklichen Zucht zu bedürfen, da es von dem steifnackigen und feurigen 119 Geist seiner Ahnen gerade so viel geerbt hatte, daß die Mutter selbst trotz ihrer eigenen mehr als männlichen Thatkraft früh an seiner vollen Bändigung verzagte. Die Nonnen aber gaben es der Schwester Eustathia in besondere Pflege; dieselbe galt für ein Wunder von unvergleichlicher Sanftmuth, und ihre Schriftgelehrsamkeit war so groß, daß sie ein heimlicher Schrecken der Geistlichen im weiten Umkreise wurde. Und dieser vortrefflichen Person gelang es zu einigem Staunen ihrer Gefährtinnen in der That, die kleine wilde Photinissa vollkommen zu bezwingen und deren leidenschaftliche Triebe in so stille Bahnen zu lenken, daß bald ihr Wohlverhalten nicht minder als ihre Fortschritte in den Wissenschaften allen andern vornehmen Schülerinnen der Klosterjungfrauen als ein leuchtendes Muster vorgehalten werden konnte.
Denn nachdem Photinissa einmal durch die siegreiche Sanftmuth ihrer Eustathia unvermerkt auf den Weg der Frömmigkeit und geistlicher Studien gelenkt war, verfolgte sie denselben nun auch mit einer Kraft und einer innerlichen Gluth, welche die Lehrerin zuweilen mit einer Art von unbestimmtem Bangen erfüllte, weil ein so stürmischer Flug gläubiger Begeisterung die Kräfte ihres eigenen Taubengemüthes weit überstieg. Doch wagte sie nicht, dem heftig strebenden Geiste des Kindes die immer 120 neu begehrte Nahrung zu verweigern, und so wuchs dasselbe hastig in eine so sichere Kenntniß der heiligen Schrift, ihrer Erzählungen und Sprüche hinein, daß die berühmte Nonne selbst nach einigen Jahren sich nahezu erreicht fühlte.
Die sanfte Eustathia empfand darob auch nicht einen Anflug von Neid für ihre eigene Person, wie es sonst unter Gelehrten Sitte ist, wohl aber begann sie allmählich leise für die Ruhe und das friedliche Beisammenleben der Schwestern zu fürchten. Die schlimme kleine Glaubensheldin fing mit der Zeit an, erschreckend scharfe Augen für die mancherlei Fehler und Schwächen zu bekommen, die von der christlichen Sittenlehre keineswegs gebilligt, doch unleugbar in höherem oder geringerem Maße auch an den tugendhaftesten Nönnchen zu beobachten waren. Denn wenn das gerühmte Frauenkloster auch weder Mord noch Brand, noch groben Diebstahl oder andere große Schande und Laster in seinen Mauern barg, so wurden doch kleine gemäßigte Feindschaften, Zänkereien, üble Nachreden, unerwiesene Behauptungen, zartgesponnene Ränke und ähnliche zumeist im Bereiche des achten Gebotes liegende Sünden keineswegs vermißt. Ja selbst ein herzhaftes Fluchwort verirrte sich wohl einmal in aufgeregten Stunden auf die ungewohnten Lippen, und vielleicht war es für 121 kein geringes Glück zu erachten, daß dem gelehrten Kinde der mystische Irrgarten des sechsten Gebotes noch ein völlig unbekannter Bezirk war.
Sobald nun der Kleinen solch ein Stein des Anstoßes auf den Weg gerieth, eilte sie aufgeregt zu ihrer Pflegerin und peinigte diese mit der zähen Forderung, ihr den klaffenden Widerspruch zu lösen, daß diese und jene Sünde strenge verboten sei und dennoch von den frömmsten Schwestern fast wie etwas Selbstverständliches sorglos geübt werde. Dann ermahnte Eustathia nach mancherlei verzweifelten Seitensprüngen und Winkelzügen sie zuletzt mit Thränen im Auge, vor allen Dingen möge sie doch ihr eigenes Herz immerdar rein zu halten suchen vor Sünde und Anfechtung; sie werde vielleicht noch einst im Leben mit Schmerzen lernen müssen, wie schwer und fast unmöglich es sei, den klaren Spiegel der Seele ganz vor trübenden Flecken zu bewahren. Jedesmal nach solcher Unterredung rang Photinissa stundenlang mit ihrem Gott in brünstigem Gebet und flehte, ihr reines Herz ihr allezeit zu erhalten, und wenn sie aufstand, fühlte sie sich stolz und sicher, daß sie nun dies himmlische Kleinod sich wenigstens für lange Zeit gerettet habe.
Später kam sie sogar mit Schrecken dahinter, daß die feierlichen Gestalten des Alten Bundes von 122 den Erzvätern an bis zu den Königen keineswegs einen durchweg makellosen Wandel aufzuweisen hatten, einige vielmehr mit Thaten belastet waren, die an spitzbübischer Schändlichkeit nicht überall ihresgleichen fanden. Da hatte Eustathia von neuem schwere Stunden; sie suchte von dem guten Rufe der angegriffenen Helden zu retten, was sie konnte; in der letzten Bedrängniß zog sie sich mit entschlossener Taktik in die sichere Burg des Neuen Testaments zurück. Und hier fand sie wirklich einige Ruhe, denn an den Handlungen des Heilands fand auch Photinissa nichts zu bekritteln; auch die Jünger und Apostel bestanden leidlich vor ihrem prüfenden Auge; wenn Petrus sich durch seine arge Verleugnung des Herrn in ein bedenkliches Licht setzte, so gewann er dafür wieder einen starken Stein in ihrem Brett durch sein ritterliches Vorgehen wider den Knecht Malchus und dessen Ohr.
Fast noch mehr aber als diese fern leuchtenden biblischen Ideale stärkte ihren Muth und ihren Glauben an die Kraft des menschlichen Herzens das nähere Beispiel der Schwester Eustathia selber, welche vor ihren Augen dahinlebte frei von den Leidenschaften der Menschen draußen, in zurückgezogenem Frieden, wunschlos, gleichmäßig und ohne Sünde. Und wenn der Herr gesprochen hatte: »Selig sind 123 die Sanftmüthigen. Selig sind die Barmherzigen. Selig sind die reines Herzens sind. Selig sind die Friedfertigen –« so war mit all den trostvollen Worten aber und abermal Schwester Eustathia selig gepriesen. Und hier wurzelte vornehmlich Photinissas gläubige Hoffnung, reines Herzens zu bleiben.
Auch erlebte Photinissa den Triumph, daß ihre begeisterte Freudigkeit auf die anderen von Hause aus minder heiligen Schwestern merklich zurückwirkte; sie begannen sich nämlich bald vor ihren Blicken zu fürchten und machten alles, was sie von Sünden im Hausgebrauch nicht entbehren konnten, unter einander möglichst bei verschlossenen Thüren ab und zeigten dem Kinde fortan eine fleckenlose Außenseite.
So wuchs das letzte Kind vom wilden Stamme der Nerulos auf, eine ahnungslose klösterliche Schwärmerin.
Als nun aber die Zeit herankam, da ihre Erziehung nach den Ansprüchen des Landes vollendet schien, war inzwischen auch die ernste Thätigkeit der Mutter mit einem genügenden Erfolge gesegnet worden, daß sie daran denken konnte, ihren blutigen Racheschlag mit Ernst, wenn auch ohne Uebereilung ins Werk zu setzen.
Zu diesem Zwecke miethete sie sich in aller Stille eine tüchtige Bande epirotischer Klephthen als 124 Leibgarde und sandte zuvörderst ein Häuflein derselben in Begleitung ihres Hauspriesters Alexios Chrysikopulos zur Stadt mit Briefen, welche den Nonnen die schleunige Heimsendung der Photinissa anempfahlen. Denn es schien ihr bei Eröffnung der Fehde das beste, ihr erwachsenes Töchterlein bei sich im Schutz ihrer Bewaffneten zu haben, und sie gedachte zudem ihr in möglicher Bälde aus einer der großen Familien des Landes einen brauchbaren Gatten auszusuchen und durch solche Verbindung einen neuen Rückhalt und noch größere Wehrhaftigkeit zu gewinnen.
Gleichzeitig mit jener Sendung aber bot sich ihr eine zufällige Gelegenheit, die Aktion durch einen glücklichen Handstreich zu beginnen, indem sie von einem sorglosen Jagdzuge eines Vetters der Pierakos Kenntniß erhielt; diesen ließ sie überfallen, wegfangen und in ihren Thurm einsperren. Sie beabsichtigte, durch diese kleine Neckerei die Feinde zum Jähzorn zu reizen; es war doch immer gut, vielleicht schon um des eigenen christlichen Gewissens willen, wenn die erste neue Blutthat – die natürlich nur einen ihrer Söldlinge treffen konnte – von jener Seite ausging. Zugleich hatte sie den Vortheil, von vornherein eine nicht ganz werthlose Geisel in der 125 Hand zu haben, wenn auch der Vetter im übrigen für ziemlich unbedeutend und harmlos galt.
Es fügte sich jedoch, daß Photinissa die Boten ihrer Mutter trotz des nachdrücklichsten Drängens mehrere Tage in der Stadt hinzögerte, weil sie noch einige gelehrte Untersuchungen über das Hohe Lied Salomonis und die rechtgläubige Auslegung desselben mit der Schwester Eustathia zu Ende bringen mußte; und unterdessen hatten die Pierakos sich bereits munter zu regen begonnen.
Da diese keineswegs gesonnen waren, ihren armen Vetter, so wenig sie ihn sonst hochachteten, unerlöst oder aber ungerochen in den Händen der gewaltthätigen Dame verkommen zu lassen, so hatten sie ohne Verzug einen ihrem Hause ergebenen jungen geistlichen Schüler als unverdächtigen Kundschafter ausgehen lassen und durch diesen nicht nur Genaueres über das Loos ihres Verwandten erfahren, sondern obendrein eine gewisse Notiz über die Heimholung der feindlichen Haustochter mitbekommen und beschlossen mit raschem Geist, diese Sachlage zu einem förderlichen Gegenschlage auszunutzen.
Die Hauptlinie des Hauses Pierakos bestand damals auch nur noch aus zwei Personen, welche jedoch beide den in solchen Zeitläuften doppelt schätzbaren Vorzug genossen, dem waffenfähigen Geschlecht 126 anzugehören. Es waren zwei Brüder, welche in so verschiedenen Lebensaltern standen, daß der ältere, Dimitrios, allenfalls auch der Vater des jungen Gennäos hätte sein können. Auch fühlte er sich als solcher und leitete daraus das Recht her, den Bruder etwas von oben herab als ein kraftvoller Pädagoge zu behandeln, so sehr er auch im Herzen ihm als der eigentlichen Zukunftssäule der Familie zugethan war. Denn er selbst hatte einmal bei irgend einem besonders blutigen Handel eine namhafte Anzahl Kugeln in beide Beine bekommen, und davon war auch nach der Heilung der Wunden eine peinliche Lähmung und Unbehilflichkeit zurückgeblieben, die dadurch nicht vermindert wurde, daß ihn in der langen Weile gezwungenen Rastens eine nicht gewöhnliche Liebe zu dem feurigen heimischen Weine ergriffen hatte. Er mußte daher bei beschwerlichen Unternehmungen auf thätiges Mitwirken verzichten und vermochte sich nur durch männlichen Rath als das wahre Haupt und die Seele des Hauses darzustellen. So fiel auch diesmal dem jugendlich raschen Gennäos die Ausführung des klugen Anschlages zu.
Derselbe rüstete also in aller Eile seine Banditen, zog an ihrer Spitze in das blühende Land hinaus und ließ sie endlich hinter die friedlichen 127 Oelbäume am Wege gelagert in behaglichem Versteck der willkommenen Reisenden harren.
Photinissa hatte beweglichen Abschied genommen von den Pflegerinnen und den Genossinnen ihrer Kindheit; als sie mit ihren rauhen Begleitern aus dem Klosterhofe ritt und noch einmal thränenden Auges zurückschaute, da standen die guten Nonnen in langer Reihe mit traurigen Gesichtern, hoben alle zugleich die Arme empor mit feierlicher Gebärde des Segnens und stimmten einen Gesang voll flehender Klage an: Kyrie eleison! Kyrie eleison!
Lange noch tönten diese bangen Klänge in Photinissas Ohren nach; doch nachdem sie die Stadt verlassen hatte und draußen durch die blühenden Gärten und die gesegneten Olivenhaine ritt, da vermochte sie den Kummer nicht länger festzuhalten, sondern freute sich von Herzen ihrer jungen Freiheit und des goldenen Lichtes über den Bergen. Lange weidete sie so in Freuden die jungen Augen an der strahlenden Schönheit ihres Vaterlandes, dann fing sie an ihrer engeren Heimat zu gedenken und den Alexios Chrysikopulos, welcher neben ihr ritt, mit mannigfachen Fragen nach den Dingen und Zuständen ihres ländlichen Wohnsitzes zu beschäftigen. Unter der geistlichen Führung des Klosters hatte sie wenig genug davon vernommen, denn Schwester 128 Eustathia hielt es der reinen Entwickelung eines jungfräulichen Gemüthes nicht für förderlich, dasselbe mit der Erzählung von lauter bitterbösen Mordthaten zu sättigen; und so erfuhr Photinissa hier zum erstenmal etwas Sicheres von der blutigen Geschichte ihrer Ahnen. Obwohl nun der verständige Priester sich mühte, jene wüsten Händel noch in einem möglichst milden Lichte schimmern zu lassen, so erfüllten sie doch schon in dieser gedämpften Schilderung ihre unberührte Seele mit Schaudern und Entsetzen.
In schweigendes Sinnen tief verloren, ritt sie wohl eine Stunde lang weiter; voll Mitleid beobachtete der Greis den schmerzlichen Seelenkampf, der sich unverhüllt in ihren reinen Zügen malte; er wagte nicht, sie aus dem dumpfen Brüten aufzustören.
Da auf einmal hob sie das Haupt begeistert empor, sah dem Priester mit klarem Blick ins Angesicht und rief mit fester und freudiger Stimme:
»Ich werde Frieden stiften mit diesen Feinden!«
Und bei den Worten brannten ihre Wangen von einem lieblichen Feuer des heiligsten Eifers.
Alexios erstaunte über eine so phantastische Hoffnung, warf trüben Lächelns den Kopf zurück und fragte:
»Frieden? Wer könnte Frieden stiften jetzt, wo der alte Brand der Rache eben von Neuem 129 aufzulodern beginnt? Nicht eher kann Friede werden, als bis dies gottlose Geschlecht der Pierakos vom Erdboden vertilgt ist in allen seinen Gliedern. Wahrlich, nicht ich bin es, der nach ihrem Blute dürstet, aber ich erkenne, daß dieses greuliche Ringen nimmermehr ein Ende gewinnen kann als durch die gleiche und gerechte Vergeltung aller vorgeschehenen Frevelthaten. Wo immer auf Erden eine böse Saat ausgestreut wird, da muß sie in Schrecken aufgehen und zu ihrer Ernte reifen, ehe der Acker wieder gute Früchte tragen kann. Das ist ein ewiges hartes Gesetz über alle menschlichen Dinge. Das Feuer der Rache muß Jene verschlingen, dann wird Frieden sein.«
Diese düstere Rede, die der Priester mit bekümmerter Miene sprach, versetzte Photinissa gleichwohl in ernstlichen Zorn, und indem sie sich auf ihrem Rosse mit heftiger Gebärde gegen ihn vorbeugte, redete sie ihm mit großen, glühenden Augen gerade ins Angesicht:
»Die Rache ist mein, spricht der Herr, ich will vergelten! – Friede sei mit euch! ist der Gruß der Frommen. Ihr aber, Priester, Ihr selbst und leider auch meine leibliche Mutter, das sehe ich nun, ihr beide seid im Treiben dieser grausamen Sündenwelt mit angefressen von dem verderblichen Gift der 130 Rachsucht und des ungerechten Hasses und vergesset die Gebote Gottes, der da spricht: Du sollst nicht tödten! Und aber: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen . . .«
Und in solcher Weise fuhr die Jungfrau fort, im gewohnten Stil der Klosterpredigten mächtig und beredt gegen den geistlichen Irrlehrer anzukämpfen, daß dieser schwer betroffen auf seinem Maulthier saß, sich den Schweiß von der Stirn wischte und kein Wort mehr zu erwidern wagte. Denn es wollte ihm ernstlich scheinen, als ob der heilige Geist selber aus diesem jungen Munde redete. Mit der Zeit jedoch, wie er sich ein wenig von dem ersten Schrecken erholt hatte, begann er zugleich im verborgensten Winkel seines Herzens eine gewisse kleine boshafte Freude zu empfinden, indem er sich die strenge Mutter selbst in seiner Lage vorstellte.
Ei, Frau Eudoxia, dachte er, wie wird Euch zu Muthe werden, wenn dieses junge Erzengelein auch über Euch herbrausen und mit dem Satan um Eure Seele kämpfen wird! O schlimme Zeit, wo wir Alten von der unreifen Jugend die wahre Weisheit lernen und vor ihr im tiefen Busen unsere Sündhaftigkeit bekennen müssen! Ja, ich meine, hochgeborene Frau, es wird Euch nun weit schwerer 131 fallen, dies herrliche Himmelsfeuer zu dämpfen, als es erst den Nönnchen geworden ist, es anzuschüren. Großer Gott, was hat dies Kind für begnadete, gewaltige Augen! Und wer hat ihr solche Worte in die Seele und auf die Zunge gelegt?
Noch fuhr des frommen Mädchens Rede ungezügelt dahin wie ein feuriges Roß, als sich urplötzlich auf der Straße hinter ihr ein wildes Getümmel erhob, ein Schreien, Stampfen, Klirren und Rasseln, dazwischen knatternde Flintenschüsse und schnelle Hilferufe. Erbleichend ließ der Greis die Zügel fahren und ächzte in dumpfer Verzweiflung:
»Das sind die Pierakos!«
Photinissa aber erschrak nicht.
»Wie?« rief sie, »was sagt Ihr? Die Bösewichter sollten es wagen, auf offener Straße guten Menschen ein Leid zu thun? Ei, laßt doch gleich sehen, ihr argen Kinder der Welt, ob wirklich eure armen Seelen so ganz verhärtet sind, daß sie den Worten des Heils zu widerstehen vermöchten!«
Und ohne sich weiter um den ganz verdutzten Priester zu kümmern, drehte sie hurtig ihr Roß herum und sprengte furchtlos mitten unter die streitenden Männer. Ohne Mühe erkannte sie, welcher der Führer der Straßenräuber sein mußte, wandte 132 das Auge scharf gegen ihn und rief mit klingender Stimme:
»Halt ein, Pierakos!«
Da meinte Gennäos und mit ihm seine Pallikaren, sie wolle sich freiwillig in Gefangenschaft geben und ein Blutvergießen hindern. Darum rief auch er ein lautes Halt in das Gedränge, sprang selbst vom Rosse und trat mit leidlicher Höflichkeit auf das Fräulein zu. Auf der Stelle jedoch mußte er merken, daß es ganz und gar nicht so sanftmüthig gemeint war, vielmehr begann die junge Heldin ihm ohne Zeitverlust eine Bußpredigt zu halten, die dreimal hitziger ausfiel als die harmlose Vorübung mit dem Geistlichen und gleich einem Strom geschmolzenen Erzes auf die Hörer niederfloß. Mit unzähligen eingestreuten Schriftworten bewies sie die Verwerflichkeit jedes Blutvergießens und Unfriedens vom Standpunkt wahrer Rechtgläubigkeit, forderte sie mit herber Mahnung auf, für heute und allezeit auf so gottlosem Wege umzukehren, und schloß zuletzt mit dem freundlicheren Spruche: »Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Boten, die den Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen.«
Während dieser ganzen Zeit ihres Redens, die nicht klein war, blieben Freunde und Feinde stumm und regungslos wie versteinerte Bilder, und die 133 Räuber blickten manchmal mit verlegener Neugier auf ihren Rädelsführer, wie der wohl dieses unerwartete Abenteuer aufnehmen würde. Doch auch Gennäos verharrte in tiefem Schweigen und staunte wie verzaubert zu der wundersamen Erscheinung empor. Nie hatte jemand eine gleiche Beredsamkeit bei einem Manne, geschweige denn bei einem so jugendlichen Fräulein gefunden. Gennäos freilich vernahm von ihren prächtig herrauschenden Worten so gut wie nichts, seine ganze Seele war völlig versunken in den einzigen Anblick dieser reizenden Gestalt voll Kraft und Zartheit, dieser anmuthig feurigen Bewegungen, dieses strahlenden Angesichts und vor allem Anderen dieser tiefglühenden schwarzen Augen, in denen etwas lag, davor sich ein Bösewicht fürchten mochte, und das gute Menschen, wenn sie die Kraft hatten, den Blick zu ertragen, zu starkem Vertrauen begeisterte.
Der wilde Pierakos wußte nicht, wie ihm geschah, sein ganzes Inneres ward aufgewühlt von nie geahnten, heiß stürmenden, dunklen und doch wunderbar süßen Gefühlen, und er hätte eher eine Predigt des Patriarchen von Konstantinopel zu unterbrechen gewagt als die des wehrlosen Mägdleins.
Endlich, als Photinissa die tiefe und allgemeine Wirkung ihrer Rede sah, meinte sie für diesmal 134 genug gethan zu haben, winkte den Angreifern eine gnädige Entlassung zu und lenkte ruhig ihr Roß herum, ihres Weges in Frieden weiter zu ziehen.
Jetzt endlich erwachte Gennäos aus seiner Betäubung, stand aber doch noch eine ziemlich lange Zeit in zauderndem Besinnen. Zuletzt raffte er sich kurz entschlossen empor, lief hinter der Enteilenden her und sprach zu ihr mit bescheidener Miene:
»Wisset, Photinissa Nerulos, daß Eure Rede und Eure Tapferkeit und Schönheit an mein Herz geschlagen und Euch die Freiheit erwirkt haben, ob ich gleich ein gutes Recht hätte, Euch zu fangen. Auch möchte ich Euch gern einen guten Willen zu ehrlichem Frieden zeigen, nur ist es freilich nicht so leicht, aus einem kühnen Klephtenführer ein friedliebendes Schäfchen zu werden. Wollt Ihr also dergleichen völlig bewirken, so wäre es gut, Ihr bewährtet öfter an mir die herrliche Kraft Eurer Rede. Und mehr noch: ich habe einen Bruder, der ist älter und dreimal schlimmer als ich; es ist mir auch nicht verborgen, daß er heute mit einem höllenmäßigen Donnerwetter auf mich einfahren wird, daß ich mir einen so trefflichen Fang hier habe entwischen lassen; wolltet Ihr den nun auch zu etlicher Demuth bekehren, Ihr würdet ein wahrhaft verdienstliches Werk thun, denn er gebärdet sich bis jetzt als ein 135 breitspuriger Tyrann im Hause. Leider verbieten es mir die verjährten Häkeleien unserer Ahnen, obgleich dies mir selber unbekannte Dinge sind, Euch zu Angelokastron heimzusuchen, denn das hieße zu meinem eigenen Begräbniß gehen; darum bitte ich Euch herzlich, kommet Ihr vielmehr zu uns in unser Haus bei Gasturi und sagt uns mehr von Euren Sprüchen, und ich schwöre Euch beim heiligen Georg, beim heiligen Spyridon und bei der Allerheiligen selber, Ihr sollt in allen Stücken so ungefährdet zu unserem Thore wieder herausziehen, wie Ihr werdet hineingekommen sein. Und wer Euch auch nur mit einem Wort und einer Gebärde kränken oder Euren jungfräulichen Sinn verletzen wollte, der soll den Gennäos Pierakos seinen grimmigsten Feind nennen, wäre es selbst mein eigener gichtbrüchiger Bruder. Glaubet mir, es gelüstet mich, mit Euch in guten Frieden zu kommen.«
Während der trotzige Bandenführer so sanftmüthige Worte sprach, fiel der alte Alexios aus einem Erstaunen in das andere und meinte zuletzt, das sei eitel Spott und lose Rede; Photinissa aber verwunderte sich nicht im mindesten über den glänzenden Erfolg ihrer Redekunst, sondern nickte ruhig und etwas herablassend und antwortete:
»Ja, ja, ich werde kommen, Pierakos, denn es 136 scheint mir kein geringes Werk, Euch und Euren verruchten Bruder der Friedlosigkeit und dem Teufel gründlich zu entreißen. Rüstet Euch indessen im Stillen zu ernster Buße, denn so recht leicht, befürchte ich, wird der Böse nicht von Euch weichen, obschon ich sehe, daß Euer Herz noch nicht so von Grund aus verderbt ist, wie Eure Thaten glauben machen; Eure Rede und auch Euer Antlitz ist nicht ganz das eines Verworfenen.«
Auf diese Schmeichelei erröthete Gennäos wie ein zarter Knabe und rief begeistert:
»Fürwahr, der müßte ein Dämon oder ein Heiliger sein, der Euren Worten und Blicken zu widerstehen vermöchte!«
»Ja,« sagte Photinissa arglos mit den Worten des Propheten Jesaias, »der Herr hat mir eine gelehrte Zunge gegeben, daß ich wisse, mit dem Müden zur rechten Zeit zu reden.«
Hierauf neigte sich Gennäos ehrerbietig und verschwand mit seinen Spießgesellen unter den Oelbäumen.
Der Priester aber schüttelte bei ihrem letzten Spruche bedenklich das Haupt und blickte sie unterweilen etwas scheu von der Seite an; es war ordentlich ein stilles Grauen über ihn gekommen. Photinissa ritt beruhigt ihres Weges weiter, ohne sich 137 auch nur im eigenen Herzen des großen Erfolges zu rühmen; denn sie hatte keinen Augenblick an demselben gezweifelt. Und sie freute sich wie zuvor der lieblichen Thäler und Hügel und des fröhlichen Sonnenscheins.
Allmählich hob sich der Pfad höher und ward steiniger und beschwerlicher, die Aussicht dehnte sich immer weiter über das hügelige Land und den blauen Golf. Gegen Sonnenuntergang nahten sie dem Gipfel des Felsens, welcher Angelokastron trägt.
Unter der großen Cypresse kniete Frau Eudoxia am Grabmal ihres Sohnes und betete; sie ließ sich nicht unterbrechen durch die Ankunft der Reiter; ehrerbietig harrten diese, bis sie ihre Andacht geendigt. Endlich erhob sie sich, grüßte ihre Tochter mit einem ernst-freundlichen Blick, hob sie vom Pferde, gab ihr die Pistole in die Hand und hieß sie den Schuß über die Steine hinwegfeuern nach der untergehenden Sonne zu.
Photinissa stutzte über die seltsame Begrüßung; doch sie sah ihrer Mutter strenges Antlitz und gehorchte. Im selben Augenblick, als der Schuß krachte, fiel ihr Auge auf den blutigen Lappen in der Hand des marmornen Engels und die Flinte an seiner Schulter, und sie verstand mit Schaudern die furchtbare Bedeutung dieser mahnenden Zeichen 138 und ihres Schusses. Und als das Echo hier und dort von den Felszacken kam und grell das dumpfe Brausen der Brandung in der Tiefe übertönte, da meinte sie den häßlichen Racheschrei unreiner Geister zu vernehmen.
Hastig warf sie die Pistole von sich und rief mit beklommener Stimme:
»Mutter, es muß Friede werden zwischen uns und unseren Feinden!«
Eudoxia lächelte.
»Friede? Jawohl, der Friede des Grabes soll ihnen nicht entgehen.«
Photinissa sah die gelassene Ruhe in den Zügen ihrer Mutter und erschrak; aber sogleich erwachte ihr heiliger Eifer, und sie fing an, mit immer wachsender Freudigkeit ihren frommen Vorsatz des Friedensstiftens zu offenbaren und weitläufig aus der Heiligen Schrift zu begründen.
Eudoxias Antlitz verdüsterte sich immer mehr, und da sie aus einigen Andeutungen ihrer Tochter merkte, daß derselben unterwegs etwas Absonderliches mit den Pierakos widerfahren sein müsse, berief sie zornig den Chrysikopulos an ihre Seite und ließ sich von ihm den abenteuerlichen Zwischenfall in geordnetem Vortrage berichten. Anfangs erblaßte sie ein wenig und athmete schwer bei der schrecklichen 139 Gefahr, die ihrem Kinde gedroht; als sie aber die unbegreifliche Rettung aus der Noth erfuhr, da ging ihr rathloses Staunen hastig in den bittersten Groll über, und sie schwur, es könne unmöglich etwas anderes als eine heimtückische Arglist des verhaßten Gegners dahinterstecken, und sie dürfe nun um so weniger ruhen, ehe sie nicht die Leichen beider Brüder zu ihren Füßen sehe oder doch die gewisseste Nachricht von dem Tode derselben erhalten habe.
Ein so grimmig unversöhnlicher Ausspruch der Mutter im Gegensatz zu der freundlichen Willfährigkeit des Feindes entsetzte und verwirrte Photinissa zuerst so sehr, daß sie sich schweigend durch das große Thor über den verfallenen Burghof ins Haus und in ihre Kammer führen ließ. In der kurzen Einsamkeit jedoch, die ihr hier vergönnt ward, sammelte sie schnell wieder ihre Besinnung und ihre Kraft: sie erkannte mit kindlichem Grauen die ganze verstockte Sündhaftigkeit ihrer leiblichen Mutter und fühlte tiefer und heißer ihren eigenen heiligen Beruf, den blutigen Absichten derselben mit aller Macht ihrer erprobten Beredsamkeit entgegenzuwirken.
Sobald Frau Eudoxia sie daher wieder zu sich rufen ließ und nun Mutter und Tochter allein sich Auge in Auge gegenüberstanden, hub Photinissa in begeisterter Kampfesgluth eine herbe und langwierige 140 Bußpredigt an und merkte durchaus nicht, wie bei ihrer unwilligen Hörerin das anfängliche Staunen über die unerhörte Keckheit langsam in eine höhnische Gelassenheit überging, die sich zuweilen in einem hastigen Auflachen Luft machte. Im Fortgang ihrer hitzigen Rede ward jedoch zu aller übrigen Tollheit offenbar, daß die junge Heilsbotin die bestimmte und ausgesprochene Absicht hegte, das eigene Schloß der Feinde heimzusuchen und daselbst muthwillig einen Frieden zu bewirken, den die Mutter selbst vielmehr im Interesse ihrer nothwendigen Rache um jeden Preis zu verhindern gewillt war. Bei dieser Entdeckung verlor die starke Frau doch endlich die so lange bewahrte Ruhe, und ihre Entrüstung brach nun mit einer solchen Heftigkeit aus, daß selbst der fromme Eifer des tapferen Kindes davor in Schrecken verstummte.
»Halt ein, Wahnwitzige,« rief Eudoxia, »dein eigenes Haus, deine leibliche Mutter zu beschimpfen und den verruchtesten Feinden zu verraten! halt ein und schwöre hier auf der Stelle, von so unsinnigem Vorsatz abzustehen; gedenke deines schnöde ermordeten Bruders, deines unseligen Vaters; schwöre oder . . .«
»Mein Bruder und mein Vater ruhen in Frieden; ich bin berufen, die Feinde zu versöhnen und 141 zu bekehren, daß sie hinfort auf Gottes Wegen wandeln; du selbst aber –«
»Du bist berufen, deiner Mutter zu gehorchen, die dir zur Herrin gesetzt ist, das heißt für dich auf Gottes Wegen wandeln!«
»Ich muß Gott mehr gehorchen als den Menschen, wenn sie Böses ersinnen und trachten nach dem, was dem Herrn ein Greuel ist.«
»Du schwörst, Unglückliche, oder –«
»Ich kann es nicht, Mutter, nimmermehr. Gott allein leitet meinen Weg, und ich muß wandeln, wo er befiehlt –«
Jetzt verließ Frau Eudoxia der letzte Rest von Fassung und verächtlicher Geduld, und mit hart entschlossener Stimme rief sie:
»O du Narrenbrut und unverbesserlicher Trotzkopf, so muß man dir denn zeigen, wie wir mit ungehorsamen Kindern und Knechten zu verfahren gewohnt sind! Ei, so komm jetzt, daß ich dir für diese Nacht deine Lagerstatt anweise!«
Und mit scharfem Griff faßte sie das nicht widerstrebende Mädchen um das Handgelenk und zog es mit sich aus dem Gemach ins Freie.
Auf dem alten Burghofe befand sich ein noch ziemlich erhaltener Thurm hart am Abhang, wo der Felsen schroff mit zerrissenen Wänden zum tiefen 142 Meere niederstürzt; dieser Thurm war unbewohnt und ward nur benutzt als Verließ für Gefangene und zuchtlose Unterthanen. Dort hinein mußte Photinissa gehen und ward im allerobersten Stockwerk in einem wüsten Kämmerlein untergebracht, worauf die Mutter mit eigener Hand die schwere Thür zuschmetterte und verschloß.
»Hier sollst du bleiben,« rief sie im Abgehen, »bis du deines Frevelmuthes selbst einsichtig wirst und mir in die Hand versprichst, von solchem erbärmlichen Unterfangen abzustehen!«
Also saß Photinissa schon am Abend der glücklichen Heimkehr als rechte Gefangene im Thurm der eigenen väterlichen Burg. Sie ließ sich jedoch durch solches Mißgeschick weder entmuthigen noch verstimmen, empfand auch keinerlei Reue, sondern beharrte fest im frohen Glauben, daß sie als rechte Christin gehandelt habe, und getröstete sich tapfer der Hoffnung auf irgend eine Hilfe des Himmels, sei es, daß ihrer Mutter versteintes Herz durch ein innerliches Wunder möchte gewendet werden, sei es, daß ein Engel in Person käme, sie zu befreien.
In solchen Gedanken schlief sie sorglos die ganze Nacht mit rothen Backen wie ein gesundes Kind und blickte am Morgen hoffnungsvoll aus ihrem Fenster ins Freie hinaus. Dies Fenster war 143 weder vergittert noch so klein gebaut, wie es sonst aus guten Gründen bei Kerkern zu geschehen pflegt, weil das Gemach einst anderen Zwecken gedient hatte und jetzt die Höhe des Thurmes jede derartige Vorsicht überflüssig erscheinen ließ. An die Thurmwand lehnte sich wenig unterhalb des obersten Fensters nur eine sehr hohe und schmale Mauer, welche sich unmittelbar am Abgrund entlang zog und, der natürlichen Neigung des Felsens folgend, sich langsam senkte, bis sie auf dem halb eingestürzten Dache eines trümmerhaften Bautheils endete. Der obere Rand dieser Mauer war für Menschen nicht gangbar, sondern so scharf zugeschrägt, daß nur allenfalls eine sehr übermüthige Katze mit Vorsicht darauf entlang schleichen konnte.
Doch als Photinissa diese Mauer erblickte, da ging ein ruhiges Leuchten über ihre Züge und freudig sprach sie zu sich selber:
»Der Engel des Herrn lagert sich um die her, so ihn fürchten, und hilft ihnen aus.«
Darauf trat sie nach kurzer, fester Umschau durch das Fenster auf die Mauerkante und schritt auf derselben entlang ohne Hast und ohne Vorsicht, als wäre es eine breite, sichere Fläche; sie blickte weder rechts noch links, sondern gerade voraus auf ihre Bahn, und kein Schwindel ergriff sie vor der 144 schauerlichen Tiefe unter ihr, denn ihr gewaltiger Glaube machte sie fest gegen die Schwäche des Hirns und der Augen. Und unter dem Wandeln sang sie mit klarer Stimme einen Morgenpsalm, wie sie gewohnt war:
»Gott rüstet mich mit Kraft und macht meine Wege ohne Wandel.
Er macht meine Füße gleich den Hirschen und stellet mich auf meine Höhe.
Er lehret meine Hand streiten und lehret meinen Arm einen ehernen Bogen spannen.
Und giebst mir den Schild deines Heils, und deine Rechte stärket mich, und wenn du mich demüthigest, machst du mich groß.
Du machst Raum unter mir zu gehen, daß meine Knöchel nicht gleiten.
Ich will meinen Feinden nachjagen und nicht umkehren, bis ich sie umgebracht habe . . .«
Indem sie diese letzten Worte hersang, merkte sie plötzlich, wie sonderbar dieselben ihren wahren Absichten widersprachen, und weil sie dennoch von eben dem heiligen Sänger stammten, der alles Andere so recht eigens für ihren Fall gedichtet zu haben schien, so gab ihr das für einen Augenblick ein inneres Stutzen und Schwanken; und eben dieser kurze Gedanke des Zweifels brachte alsbald auch 145 ihre Augen in eine leise Verwirrung, daß sie hastig zu dem fürchterlichen Abgrund niederglitten.
Da war es ihr einzig Heil, daß sie nur noch zwei oder drei Schritte von dem breiteren Trümmerwerk entfernt war; so konnte sie einen raschen Sprung hinüberthun und sich retten.
Wie sie nun dort oben stand und die Augen mit der Hand bedeckte, um sich von dem jähen Schwindel zu erholen, vernahm sie von unten, vom Burghofe her einen vielstimmigen Aufschrei des Entsetzens zugleich und der Erlösung. Denn nicht wenige der Hausgenossen hatten ihren schauervollen Gang mit angesehen, aber keiner hatte zuvor einen Laut von sich gegeben, sie standen allzumal wie erstarrt und als wären ihre Kehlen umschnürt, und die härtesten Seelen mordgewohnter Pallikaren waren von Grauen erschüttert bis in ihre Tiefen. Erst als die Jungfrau das rettende Dach erreicht hatte, schrieen sie auf und athmeten tief, als ginge ein furchtbarer Schmerz von ihnen, viele sanken in die Kniee und beteten laut, andere standen noch lange, als wären sie versteinert.
Auch Frau Eudoxia selber mußte von ihrem Fenster aus der wahnsinnigen Wanderung zusehen, und als sie ihre Tochter hoch über dem Abgrund schweben und dann nur kaum dem tödtlichen Sturze 146 entrinnen sah, da unterlag sie zum erstenmal in ihrem Leben einer weiblichen Schwäche und verfiel in eine kurze Ohnmacht, danach in einen langen und heftigen Weinkrampf. Sie rief aber niemand zu ihrer Hilfe und ließ sich nichts merken, bis der Zufall überstanden war; nur zu sich selber sprach sie bitter: »Wie soll ich diese Rasende halten? Sie hat einen mächtigeren Geist als ich.«
Photinissa stieg nun ruhig hinab über das Getrümmer, das einen rauhen, doch sicheren Weg gab bis in den ebenen Burgraum. Und als sie leicht und heiter zwischen den Klephten hindurchschritt, da war nicht einer unter ihnen, der ihrem Willen nicht wider alle anderen Befehle selbst der gefürchteten Hausherrin gehorcht hätte. So trat sie, ohne um sich zu sehen, vor den Schließer des Thurmes und sprach zu ihm:
»Gieb mir den Schlüssel, welcher die Thür zu dem Kerker des Gefangenen aus dem Hause Pierakos öffnet!«
Und der Mann sah ihr starr ins Angesicht, dann that er, ohne ein Wort zu entgegnen, nach ihrem Gebot, ging voran und erschloß ihr das Gefängniß.
»Folget mir, Pierakos,« rief sie, »Ihr seid frei; und Ihr sollt mich zu dem Hause Eurer Vettern 147 Dimitrios und Gennäos führen, daß ich ihre harten Herzen zur Buße und zum Frieden erweiche! Ich bin Photinissa Nerulos!«
Der Gefangene meinte einen Engel des Lichtes zu sehen, der zu seiner Befreiung gesandt sei, fiel ihr zu Füßen, und Thränen schimmerten in seinen müden Augen.
»Ach, Photinissa Nerulos,« antwortete er nach einer Pause mit trauriger Stimme, »von Buße dürft Ihr wohl reden, doch von Frieden nimmermehr, denn die Buße werden wir mit unserem Blute zahlen. Allem, was den Namen Pierakos trägt, ist bestimmt zu sterben, und ist kein Entrinnen möglich. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut. Auch ist mir's um mich selbst nicht so leid und auch nicht so um den Dimitrios, denn er ist lahm, und ich war nie zu rechten Dingen zu gebrauchen; dem Gennäos aber gönnte ich gern Glück und langes Leben, er ist schön, edel und stark, und gern auch würde ich mein Blut für ihn geben, wenn er zu retten wäre; doch das Schicksal liegt über ihm wie über uns allen. Die Sünden der Väter werden heimgesucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied.«
»Ich aber komme, euch Frieden zu bringen und 148 Versöhnung. Folget mir!« sprach Photinissa kurz mit ruhiger Ueberzeugung.
Da blickte er staunend auf, und nachdem er eine kurze Weile in ihr Antlitz gesehen, setzte er leiser hinzu:
»Und lieber noch würde ich für Euch mein Blut dahingeben, könnte ich damit den altererbten Fluch von Eurem schönen Haupte nehmen.«
Photinissa winkte ihm stumm, und er folgte ihr gehorsam wie ein Knecht seiner Herrin. Er war ein unansehnlicher Mann, schwach von Gliedern und nicht gewohnt, für etwas Großes zu gelten. Sie ließ darauf von den Knechten Rosse satteln für sich und ihn und zwei Mägde, die sie rasch auswählte und die sich zitternd ihrem Befehle fügten. Mit diesen dreien ritt sie ungehindert und ohne Abschied zum Burgthor hinaus; bei dem Grabe ihres Bruders schauderte sie leise und bekreuzte sich. Ihr Begleiter aber sagte:
»Es ist schön, unter dieser Cypresse zu ruhen.«
Dann zogen sie vorüber.
Einige Winzer, die am Fuß des Felsens arbeiteten, hoben verwundert ihre Augen auf, erkannten die Herrin und fragten treuherzig nach ehrfurchtsvollem Gruß:
»Wohin reitest Du, Herrin?«
149 »Nach Gasturi zu den Pierakos,« erwiderte sie freundlich.
»Kyrie eleison!« riefen die Leute und starrten ihr nach mit erschrockenen Blicken.
* * *
Lange nach Sonnenuntergang kehrte Photinissa von ihrer Bekehrungsfahrt zurück. Glühend von stolzer Siegesfreudigkeit trat sie vor ihre Mutter und rief der Grollenden treuherzig entgegen:
»Mutter, vernimm, die Feinde habe ich besiegt mit der Kraft des göttlichen Wortes, sie beugen sich in Demuth und bieten Dir willig die Hand zur Versöhnung, und bieten eine Buße obenein, die Du selbst bestimmen mögest. Geh nun auch Du ihnen milde entgegen und versündige Dich nicht an dem heiligen Willen Gottes, der den Trotz jener Wilden so wunderbar in christliche Reue gewendet hat. Gieb auch Du ihnen und mir die Hand zum Frieden!«
Frau Eudoxia hörte mit eisiger Ruhe die Rede ihrer Tochter an und entgegnete fest:
»Leicht ist's Versöhnung zu bieten für den, der nichts mehr zu gewinnen und alles zu verlieren hat. Die Buße aber, die ich jenen bestimme, ist nur eine 150 und bleibt ewig dieselbe – ihr Blut. Wenn das geflossen ist und mein Sohn in der Grabstätte seiner Väter ruht, dann soll Friede sein.«
So stellten sich Mutter und Tochter von Neuem unbeugsam wider einander und fanden auch in langen Reden und Gegenreden keinen Boden, auf dem ihre Gedanken sich freundlicher begegnen konnten, bis sie sich zuletzt kalt mit zugeschlossenen Herzen trennten, jede ihren eigenen Willen bewahrend. Zwar erhielt Photinissa fortan ein geziemendes Gemach im Hause und ward in ihrem Thun durch keine Schranken behindert, aber Eudoxia beschloß in dieser Nacht, den Racheplan nun mit verdoppelter Eile zur Ausführung zu bringen.
Zur selben Stunde loderte auch in dem bußfertigen Hause Pierakos plötzlich eine ungewohnte Flamme der Zwietracht empor. Nach der Entfernung des schönen Gastes blieben die drei lange Zeit in tiefem Schweigen bei einander, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt; der Vetter saß mit trüben, Gennäos mit leuchtenden Blicken, und Dimitrios trank hastiger als sonst seinen dunkelfarbigen Wein.
Endlich unterbrach der letztere die Stille mit den kurzen Worten:
»Das Mädchen hat recht, diese Fehde muß ein Ende nehmen. Ich weiß ein Mittel, auch die 151 trotzige Frau Eudoxia zu versöhnen: ich biete ihr zur Buße den ganzen Reichthum unseres Hauses, der ihre Armuth neu vergolden kann; ihre Tochter Photinissa soll alles, was unser ist, mitbesitzen als mein Weib.«
Der melancholische Vetter ward blaß bei dieser Rede, blickte scheu empor und verließ dann leise das Gemach.
Gennäos aber fuhr aus schwärmenden Träumen erschrocken empor, ein beglückender Wunsch, der seine Seele in schwankender Ferne umgaukelt, trat plötzlich durch die Worte seines Bruders zu klarem Gedanken gestaltet vor ihn hin, und er stammelte mit verwirrter Heftigkeit:
»Dein Weib? . . . Sie . . .?«
Dimitrios verstand den Sinn der zweifelnden Frage, und vom Trunk erhitzt, ward er zornig und rief mit lautem Hohn:
»Ei, mein Söhnchen, mir scheint gar, Du möchtest selbst diese Perle gewinnen, Du unreifes Gewächs, Du lallender Knabe – mir aber scheint es nöthiger, für Dich eine Amme zu suchen als eine Ehefrau; einem neugeborenen Kinde magst Du Dich anverloben, und wenn das herangewachsen ist, wirst auch Du vielleicht die erforderliche Männlichkeit erworben haben! Jetzt aber vergiß nicht, daß ich das 152 Haupt des Hauses Pierakos und Dein Herr bin. Photinissa Nerulos wird mein Weib und Deine Herrin werden!«
»Photinissa Dein Weib! . . . Du Krüppel!« rief Gennäos in fassungsloser Leidenschaft und schüttelte die Faust gegen seinen Bruder. Dann stürzte auch er hinaus, warf sich auf sein Roß und suchte in wildem Ritte sein kochendes Blut zu beruhigen. Stundenlang jagte er durch die Finsterniß, und als er endlich heimkehrte, hatte sich sein sehnender Traum zu heißer Begierde und die Begierde zu festem Entschluß verdichtet.
Am nächsten Morgen in aller Frühe berief Dimitrios den gehorsamen Vetter zu sich, rüstete ihn in geheimer Unterredung mit gewichtigen Aufträgen an die alte Todfeindin Eudoxia Nerulos aus und entsandte ihn in großer Eile. Als er aber einige Stunden später seinem Bruder mit spöttischer Ruhe von dieser Sendung Kunde gab, schritt Gennäos schweigend hinaus, sattelte sein Roß und verließ trotzig das Haus seiner Väter, ohne dem Bruder lebewohl zu sagen.
* * *
153 In den Burghof von Angelokastron ritt ein Mann, den niemand leicht mit seinem Willen hier wieder zu erblicken gedacht hatte, da er doch erst vor einem Tage durch ein halbes Wunder aus höchst übler Lage erlöst worden war. Er kam jedoch diesmal als ein beglaubigter Friedensbote, ja noch mehr, als ein offener Freiwerber für seinen Verwandten und Herrn Dimitrios Pierakos.
Als er aber mit solcher Botschaft und Bitte vor Frau Eudoxia trat, machte diese gar sonderbare Augen und warf seitwärts auf ihre Tochter einen bitterhöhnischen Blick, als wollte sie sagen: »Also darum trieb Dich so gewaltiger Friedenseifer, daß Du Dir mit unschicklicher Eile einen Ehegemahl erjagest und noch dazu einen gichtbrüchigen Krüppel, wie man sagt?« Sie war jedoch bei all ihrer herben Gemüthsart eine kluge und feinblickende Frau und erkannte auf der Stelle genau, daß Photinissa von der raschen Werbung weder etwas wußte noch wissen wollte. Denn dieselbe stand da mit ganz erschrockenen Augen und machte eine unwillkürliche, aber so heftige Bewegung ängstlicher Abwehr, daß leicht zu merken war, von dieser lahmen Seite drohe ihr keine Gefahr einer Herzensverirrung. Vielmehr ward es Frau Eudoxia klar, daß sie ihrem Kinde selbst eine zwar unverdiente Wohlthat erweisen 154 werde, wenn sie den Antrag kurzer Hand ablehnte. Und um für diese Ablehnung eine recht kräftig wirksame Form zu gebrauchen, ließ sie den Boten sogleich verhaften als einen Menschen, der heimtückisch ihrem Gewahrsam entflohen und außerdem ohne alle Frage als Spion zu betrachten sei.
Da aber erhob sich Photinissa mit feurigem Eifer für den schuldlosen Mann, den sie zudem mit Fug als ihren besonderen Schützling betrachten durfte, und hielt eine heftige Rede wider einen so schmählichen Bruch alles christlichen Rechtes und wider die verstockte Gesinnung, die einen friedebittenden Gegner mit rohem Hohn zum äußersten treiben wollte.
Durch diese Rede erreichte sie so viel, daß Frau Eudoxia einsah, es sei höchst nothwendig, ihre mütterliche Obgewalt einmal ganz sichtbarlich vor sich selbst, vor dem trotzigen Kinde und vor allen ihren Leuten zu markieren. Aus diesem Grunde ließ sie den Gefangenen gar nicht erst wieder in den Kerker führen, sondern geradeswegs hinaus vor das Burgthor, woselbst er an der großen Cypresse über dem Grabmal des Rhisos Nerulos mit einem Stricke aufgeknüpft wurde.
Er hatte den letzten Trost, mit seinen wehmüthigen Augen zu sehen, wie das schöne Mädchen 155 für ihn einen Fußfall vor ihrer Mutter that; sein Leben aber ward dadurch nicht gerettet.
Wenige Stunden danach ritt Gennäos den Felsenweg von Angelokastron hinauf, das Herz geschwellt von sehnender Leidenschaft. Auf einmal scheute sein Pferd und ließ beiseite schaudernd den Reiter aus seinem Sinnen auffahren; und wie zu einem bösen Traume starrte er zu dem armen Gehenkten empor, der jämmerlich von der schönen Cypresse herabhing.
Seine Augen füllten sich mit Thränen, er schnitt den Leichnam mit seinem Degen ab, legte ihn zur Erde und sann darüber nach, wie er ihm zu einem ehrlichen Begräbniß verhelfen möchte. Er ahnte wohl den Zusammenhang dieses Schrecknisses, das bleiche Antlitz des Todten schien ihm eine Warnung herzuwinken, und er sprach zu sich selber: »Das ist auch dein Schicksal, wenn du drinnen von der Burgfrau erkannt würdest, ehe du etwa heimlich ihre Gunst dir erworben und ihr Herz gemildert hast.«
Eine große Furcht überfiel ihn, denn auch für einen tapferen Mann ist die Nähe eines solchen Todes häßlich und lähmend; und seine Sehnsucht kämpfte einen heißen Kampf mit der warnenden Sorge. Sein Auge fiel auf den marmornen Engel mit dem blutigen Fetzen in der Hand; mit dem 156 Schrecken zugleich aber stieg eine tröstende Hoffnung in seine Gedanken. Ich bin unschuldig, dachte er, an dem Blute dieses Menschen, denn ich war noch ein Kind, als er gestorben ist, vielleicht daß darum mir die Versöhnung gelingen mag.
Noch schwankte er unschlüssig, ob er klüglich heimkehren oder sich dem toddrohenden Wagniß unterziehen sollte, da stiegen einige Männer mit einer Bahre von der Burg hernieder und traten mit verwunderten Blicken an den Fremdling heran. Und als sie an der Tracht und Haltung einen Edelmann erkannten, wurden sie höflich und erzählten, daß die junge Herrin sie heimlich gesandt habe, den Leichnam nach Gasturi zum Hause der Pierakos zu tragen und seinen Verwandten zu ehrlicher Bestattung zu übergeben. Diese Kunde von dem freundlichen Sinne des Mädchens befeuerte sein Verlangen so sehr, daß er seinem ersten Entschlusse wieder getreu ward und kühnlich zum Burgthor hinanritt.
Er ließ sich der Burgherrin als ein fremder Edelmann melden, ohne jedoch seinen Namen anzugeben. Frau Eudoxia empfing ihn feierlich in dem großen Gemache, das ihr als Audienzsaal diente, weil es das einzige war, das dem Ruhme der Familie entsprechend noch mit reichem venezianischen Prunkgeräth aus alter Zeit geschmückt war. Sie saß 157 auf feingeschnitztem Thronsessel über einem schweren morgenländischen Teppich, ihre Tochter stand ihr zur Seite, und rückwärts im Kreise einige anständig gekleidete Mägde und bewaffnete Knechte.
Mit scharfer Aufmerksamkeit schaute sie dem Eintretenden entgegen, und darüber entging es ihr zum Glück, wie Photinissa bei seinem Anblick erschrocken zusammenfuhr, hastig den Arm erhob, als wollte sie ihm warnend zurückwinken, und dann erblassend mit tiefgesenkten Wimpern vor sich niederstarrte. Von den Knechten mochte ihn gleichfalls der eine oder andere kennen, aber so groß war der Respekt vor den beiden Herrinnen, daß niemand sein Wissen zu äußern wagte, aus Furcht, den Unwillen einer von beiden zu erregen; denn schon schwirrten unter den Bediensteten mancherlei Gerüchte von dem schweren Konflikt zwischen Mutter und Tochter.
Gennäos verwirrte sich anfangs bei dem Anblick der heißbegehrten Jungfrau, wie ein Taumel überkam ihn eine gewaltige Lust, sich zu ihren Füßen zu stürzen und sich laut sogleich ihr zu eigen zu schwören; doch ein Blick in die herrisch-kalten Züge der schlimmen Frau hielt ihn bei Besinnung; er vergewisserte sich bald, daß sie keinen Verdacht hegte – denn sie hatte den Jüngling nie mit Augen gesehen, ward er doch erst seit Kurzem zu den 158 Vollerwachsenen gerechnet – verneigte sich dann mit festem Anstand und begrüßte die Damen nach aller Gebühr als rechter Edelmann. Frau Eudoxia gab er an, er sei ein Kavalier aus edlem Hause, doch sei ihm aus Gründen daran gelegen, namenlos einige Tage das Gastrecht in Anspruch zu nehmen; in leiserer Rede deutete er an, die Seinigen sännen darauf, ihn zu beweiben, er aber gedenke, soweit es angehe, lieber selbst zu handeln und zu wählen. Er brachte das alles so keck und munter vor, daß niemand ahnen konnte, wie ihm doch dabei eine rechte Angst im Herzen saß.
Aha, dachte Eudoxia, das ist ein während deines einsamen Lebens herangewachsener Sohn entweder der Quirini oder der Barozzi oder der Theotokis oder der Komutos – denn mit diesen Häusern hatte sie stille Verbindungen behufs der Heirath ihrer Tochter angeknüpft –; er ist offenbar klug und unternehmend und von eigenem Willen, und das soll ihm von mir zum Guten angerechnet werden. Es ist möglich, daß wir diesen gern zu unserem Eidam erwählen.
Er war zudem ein schöner junger Mensch, von schlankem Wuchs und frischen, entschlossenen Augen, und jetzt, wo die verschüchternde Gewalt einer echten Liebesneigung seinen ererbten adeligen Trotz zu 159 bescheidenem Anstand herabdrückte, konnten mit gutem Recht auch mütterliche Augen auf ihm mit hoffnungsvollem Behagen ruhen.
In so wohlgefälliger Stimmung erließ sie den Befehl, für den Gast in allen Stücken auf das beste zu sorgen. Ihrer Tochter aber gab sie keinerlei Winke in Hinsicht ihrer stillen Vermuthung; sie hatte in der kurzen Frist gelernt, daß es nicht gut sei, die raschen Geister des Widerspruchs in ihr muthwillig zu reizen. Sie hoffte aber heimlich einen guten Erfolg des stattlichen Kavaliers bei einem so leidenschaftlichen Herzen; und ihre Hoffnung ward dadurch nicht verringert, daß die Jungfrau während dieses ganzen Tages scheu und still umherglitt und schwer über neuen Gedanken zu brüten schien.
* * *
In früher Morgenstunde des nächsten Tages begab sich Photinissa zu dem Priester Chrysikopulos, der ein kleines Haus in einem Winkel des Burghofes neben einer Kapelle bewohnte; auch war ein winziges Gärtchen dabei, das große Aloepflanzen umhegten; diese standen in jenen Tagen in Blüthe, und die schlanken Blumenstengel ragten in die Luft wie hohe Kerzen, und wilde Rosen hingen in üppiger Wirrniß darüber. Drinnen aber war nur Platz 160 für wenige frische Kräuter und einen einzigen schönen Granatbaum, unter welchem der Greis morgens und abends bei seinen Gebeten zu sitzen liebte. Dort fand ihn das Fräulein auch heute, doch war sein Gebetbuch geschlossen, und er saß in so tiefes Sinnen verloren, daß er nicht merkte, wie die Granatblüten, vom Morgenwind geschüttelt, ihn gleich einem rothen Regen überrieselten.
»Vater Alexios!« rief sie ihn an und rührte seine Schulter leise mit der Hand, »wißt Ihr, wer der Fremde ist, der gestern zu uns kam und den meine Mutter freundlich aufgenommen hat?«
»Ich weiß es,« erwiderte der Priester, »und seit der Morgenröthe gehen meine Sorgen um ihn. Es ist Einer, dem das Schwert über dem Haupte hängt, Einer, dem der Tod gewiß ist, sobald nur ein einziger unserer Knechte ihn gleich mir erkennt und besseren Muth hat als ich, ihn der Herrin zu verrathen. Es ist ein Tollkühner, der Unmögliches wagt – ich denke aber, Photinissa, er wagt es um Euretwillen, und deshalb gebot das Herz mir, über ihn zu schweigen. Ich habe nun vor wenigen Minuten einen Knaben zu ihm gesandt, daß er mich hier aufsuche und sich warnen lasse.«
»Um meinetwillen kommt er, ja,« sagte sie rasch, »er kommt um des Friedens willen, denn 161 meine geistliche Rede hat ihn zum Guten bekehrt. Ich denke, er hofft das Herz meiner Mutter unerkannt für sich zu gewinnen, daß sie ihren wilden Zorn fahren lasse und nachher der Versöhnung geneigter sei. Ich bete zu Gott, daß ihm sein löbliches Unterfangen wohlgelinge.«
»Den Frieden wünscht er, ja,« sprach Alexios mit Bedeutung, »aber schwerlich den Frieden allein; wie sollte ein Pierakos darum sein Leben in unerhörtem Spiele wagen? Solchen Muth verleiht die heiße Leidenschaft allein – Ihr seid es, nach deren Hand und Herz er strebt; und Gott schenke, daß ihm Euer Herz gewogen werde, das wäre die letzte und einzige Hoffnung zu einem Frieden.«
Photinissa erblaßte leicht und trat einen Schritt zurück; eine große Bestürzung malte sich in ihren Zügen, und sie fand kein Wort der Erwiderung.
Auch der Priester erschrak bei so beredtem Schweigen und fragte nach langer Pause:
»So spricht Euer Herz nicht für ihn? So liebt Ihr ihn nicht? Das geht wider meine Hoffnung und ist einem großen Unheil gleich.«
Hastige Thränen stürzten aus ihren Augen, und traurig entgegnete sie:
»Ich meinte es gut mit ihm, aber lieben kann ich ihn nicht wie einen Bräutigam. O nein, der 162 müßte ganz anders sein; den ich so lieben könnte, der müßte so hoch und hehr sein, daß mein Herz mich drängte, nur zu seinen Füßen zu sitzen und seiner Rede zu lauschen, der müßte ein Mann sein, wie der Apostel Paulus gewesen ist!«
»Seltsame Schwärmerin!« rief Alexios fast unwillig aus, »wo wollt Ihr solchen Mann in allen Landen finden? Steiget herab aus Eurem geträumten Paradies und lernet unter Menschenkindern zu leben, die anders sind, als Eure üppige Einbildung sie Euch malt. Gennäos Pierakos ist mit nichten der Schlechtesten oder Geringsten einer, er ist tapfer und ansehnlich und scheint von ehrlichem Herzen – das aber wisset zumal: jenes Wort, mit dem Ihr seine Werbung verschmähen werdet, zerstört mit unerbittlicher Macht Euer schönes Werk der Versöhnung für alle Zeit, zieht Mord und aber Mord nach sich, vernichtet ein edles Geschlecht ohne Gnade vom Erdboden. Ich begann eine leise Hoffnung zu hegen, Eure Mutter könnte mit dem schon gefallenen Sühnopfer sich begnügen und dem Gennäos, der noch ein Kind war beim Tode ihres Sohnes, Frieden gewähren – wenn er selbst ihr Sohn würde und das gesunkene Haus der Nerulos neu erbauen hülfe. Das wäre eine freundlichere Sühne der alten Blutschuld zweier mordbefleckter Geschlechter; Ihr aber werdet 163 das Todesurtheil über diesen Jüngling sprechen und das zarte Gewebe des Friedens, das Ihr selbst zu spinnen schienet, mit eigener trotziger Hand zerreißen. Jawohl, ich sehe, meine Hoffnung war eitel, und meine düstere Ahnung sprach die Wahrheit, es könne kein Friede werden, bis das Geschlecht der Pierakos vom Erdboden vertilgt sei in allen seinen Gliedern. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut!«
Der Greis verstummte bekümmert; Photinissas Farbe war nun ganz erblaßt, und ihre Augen starrten mit dumpfem Entsetzen ins Leere.
In diesem Augenblick trat Gennäos in das Gärtchen, und wie er die Jungfrau erblickte, meinte er, daß sie es sei, die ihn besandt habe, und rief mit stürmischer Freude:
»O liebe Herrliche, um Euretwillen bin ich hergeritten, den Frieden zu suchen, helfet Ihr nun vollenden, was ich glücklich begonnen. Seht, Ihr seid es, die mein Herz gefangen und meine Seele berauscht hat, ich kann nichts fühlen mehr noch denken, als wie ich Euch mir zu eigen gewinne. Das ganze Leben ist mir öde und schrecklich geworden ohne Euch, und lieber will ich heute noch den Tod vor Euren Augen erdulden, als ohne Hoffnung wieder von hinnen scheiden. Photinissa Nerulos, 164 erbarme Dich des Mannes, den Du mit tödtlicher Liebe geschlagen hast, den Deine Schönheit siech gemacht bis zum Tode, erbarme Dich und gieb mir den Frieden, daß ich in Deiner Liebe genesen könne!«
Nach diesen hastigen Worten stürzte er zu ihren Füßen nieder und bedeckte ihre Hand mit leidenschaftlichen Küssen.
Photinissa schauderte leise bei seiner Berührung und ihre Hand blieb kalt und regte sich mit keinem leisen Drucke; mit entschlossener Stimme aber erwiderte sie nach kurzem, bangem Schweigen:
»Ich erkenne, Gennäos Pierakos, daß Ihr Euer Herz aufrichtig zum Guten gewendet habt und zum rechten Glauben. Darum will ich Eurem Begehren nicht widerstreben, sondern will thun, was ich thun muß um des Friedens willen, wie es Gottes Ruf mir geboten. Ich will Euer Weib werden und Euch Treue geloben, so lange ich auf Erden wandle.«
Gennäos sprang in trunkener Freude empor und wollte die Geliebte feurig in seine Arme schließen; sie aber trat hastig zurück und sprach:
»Noch nicht, Gennäos! Zähmet Eure Wünsche, bis wir mit meiner Mutter geredet, denn ohne ihr freundliches Wort wäre kein Segen und kein Friede bei diesem Bunde. Lasset uns darum sogleich zu ihr gehen und ihr unseren Wunsch offenbaren. Ich 165 weiß, sie muß nun nach unserem Willen thun und kann nicht dawiderstreben: denn wir sind es, die das Gute wollen, und ihre Gedanken stehen auf Rache, auf Mord, darum ist kein Zweifel, daß wir meiner Mutter starren Sinn niederzwingen werden und sie sich dem Gebote Gottes beuge. Wir werden über ihren Groll den Sieg davontragen, weil wir den rechten Glauben haben, denn der Glaube ist allmächtig und kann nicht trügen, er reißt nieder, was ihm fremd ist, und gewinnt, was seine Hoffnung ist. Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie die Adler . . .«
Wie Photinissa eine so begeisterte Sprache redete, blickte ihr Gennäos mit scheuer Andacht in die glühenden Augen; es überkam ihn fast eine heimliche Furcht vor dem seltsamen und feurigen Geiste, der in diesem holdseligen Leibe wohnte.
Alexios aber blickte sorgenvoll zu Boden, legte endlich die Hand auf ihre Schulter, um sie zu beruhigen, und sagte:
»Haltet ein, Kind, in so unseligem Unterfangen; wolltet Ihr heute schon der Herrin verrathen, wer dieser ist, es wäre sein sicherer Tod. Denket an jenen armen Boten, der auch sterben mußte auf Eurer Mutter Gebot all Eurer Fürbitte zum Trotz; 166 wieviel lieber würde sie aber noch diesen tödten, der die beste Hoffnung seines Geschlechtes ist, dem sie den Untergang geschworen hat. Mein Rath ist vielmehr dieser: der Jüngling mag noch einige Tage unerkannt hierselbst verweilen und soll trachten, sich das Herz Eurer Mutter noch fester zu gewinnen, da sie ihm schon in einigem Wohlwollen geneigt scheint. Dann mag er fliehen und sich in seinem Hause bergen, bis wir mit langsamer Klugheit und etlicher List ihren Sinn zum Besseren gewendet haben. Ich verzage nicht, daß solches möglich sei, aber Ihr müsset weise die Zeit erwarten und alles sorglich im Stillen wandelnd vorbereiten. Das ist mein Rath, und dazu will ich mit meiner Kraft Euch helfen, soviel ich vermag.«
»Wie?« rief Gennäos schnell einfallend, »wie sollte mir das möglich sein, zu warten und immer zu warten, indeß die heiße Sehnsucht mich alle Tage verzehrte und marterte? Nein, als ich mich hierher wagte, da war mein Gedanke, nicht ohne Dich, schöne Photinissa, wieder umzukehren, und bei diesem Gedanken will ich bleiben, weil ich nicht anders kann. Ich rathe aber so: laß uns noch heute den Tag hindurch einander fremd scheinen, und ich will Deiner Mutter allerlei Freundlichkeit erweisen, sie mir noch besser geneigt zu machen. Sobald aber die Nacht 167 gekommen ist, wollen wir zusammen entfliehen und uns so lange im Verborgenen halten, bis wir durch die Hilfe dieses trefflichen Priesters Verzeihung erlangt haben. Auf solche Weise kann zugleich unserer Liebe ihr Recht geschehen und der Friede zwischen beiden Häusern begründet werden. Denn man weiß, daß geschehene Dinge auch von starren Herzen leichter hingenommen werden, als wenn sie noch durch Härte zu ändern sind; und so mögen wir uns der Hoffnung getrösten, daß beide, Deine Mutter und mein Bruder, sich zuletzt in das Neue fügen und selbst einander die früheren Unbilden vergessen werden.«
Dieser kecke Plan schien nach einigem Bedenken auch dem Priester noch leidlich klug erdacht, und er gab zögernd seine Zustimmung, wenn es denn einmal dem Jüngling ganz unmöglich sei, allein seinen Heimweg zu suchen; das sei freilich immer für das Allerbeste zu halten.
Photinissa jedoch hob das Haupt hoch empor und rief:
»Wie aber, Vater Alexios, soll ich also meine leibliche Mutter so greulich belügen und betrügen? Steht nicht geschrieben: Leget die Lügen ab und redet die Wahrheit? Soll uns nun Frieden erblühen aus unreinem Wesen? Wäre uns nicht das 168 Glück selber, wenn es so gewonnen würde, besudelt und vergiftet? Ich könnte nimmermehr vor meinem Herzen bestehen, noch mich in Freuden mit meinem Gott besprechen, wie ich gewohnt bin. Denn noch bin ich rein und nicht befleckt durch Sünde und arge List wie andere Menschen, und darum kann ich mit meinem Glauben allein wohl größere Wunder verrichten, als schuldige Seelen je begreifen mögen. Also ich will zu meiner Mutter gehen und thun, was mein eigenes Herz mir gebietet, welches mir in diesen Tagen beständig viel besser gerathen hat als all eure Klugheit und List.«
»O Kind, Kind,« fiel ihr Alexios ängstlich ins Wort, »überhebet Euch nicht Eures Glaubens und Eurer Reinheit! Es ist kein Mensch, der sündlos durchs Leben gehen kann; ja, vermöchte er's auch nur eine mäßige Weile hindurch, sein schöner Glaube würde bald ersticken unter dem Gewächs seines Hochmuthes, er würde sich Gott gleich dünken und meinen, alle Dinge seien in seine Macht gegeben, daß er überall thun könne nach seinem Belieben. Und wie nun? Wenn Ihr durch Euer trotziges Wagniß diesen Jüngling in jähen Tod verstricktet, sollte Euer Herz da nicht befleckt sein von Mitschuld? Sollte es sich nicht zurufen: Ich habe ihn gemordet! Denket wohl nach, ob Ihr auch ein göttliches Recht 169 habt, also mit dem Leben eines Menschen zu spielen; könnte Gott es nicht mit Zorn von Euch wiederfordern?«
»Sein Leben steht in Gottes Hand, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt,« sagte Photinissa ruhig. »Und sollte Gott sich jetzt mir versagen, nachdem er mir so herrliche Zeichen seiner Gnade gegeben? Hat er mich nicht sicher wie einen Vogel über jene Mauer geführt? Hat er nicht die Herzen unserer grimmigen Feinde unter meinem Wort gebändigt, daß sie selber kommen, den Frieden mit unserem Hause zu suchen? Sind das nicht Gottes Winke? Und soll ich nicht vertrauen, daß mein Glaube auch jetzt über unchristliches Hassen siegen muß?«
»Halt ein mit Deinem Prahlen, thörichte Seele!« rief der Priester laut und nun zum erstenmal mit zorniger Heftigkeit. »Wahrlich, wenn Du ein wenig die Welt kenntest, so würdest Du merken und wissen: weder Dein Wort noch Dein Glaube hat Dir diese Herzen der Feinde bezwungen, sondern einzig ein anderes unhimmlisches und ganz irdisches Ding. Denn glaube mir, ohne Deine schöne Gestalt und Dein hübsches Gesichtlein, die vor jenen am lautesten gepredigt haben, wärest Du nichts als ein Gespött der Männer geworden, die nie zuvor einem frommen 170 Wort aus Priestermund ernstlich ihr Ohr geliehen. Nur Deines Leibes Schönheit war es, die diesen mit weltlicher Gluth entzündet – und ich will solche Gluth nicht tadeln, wenn sie zum Frieden führt – aber Du beuge Deinen Hochmuth und maße Dir nicht an, daß Deine Siege göttlichen Ursprungs seien!«
Wie der Greis so neue, scharfe Worte ausstieß, blickte ihm Photinissa fremd und starr ins Gesicht, als hätte er plötzlich eine andere Sprache von unbekannten Lauten geredet; und als er schwieg, schüttelte sie verwundert und halb zornig das Haupt, wandte sich kurz ab zu Gennäos und wiederholte heftiger ihr Verlangen:
»Kommt mit mir, Pierakos, ich muß thun, wie mein Glaube mir gebietet; ich will die Wahrheit reden mit meiner Mutter.«
Doch auch der Jüngling neigte sich bittend zu ihr nieder: »Geh mit mir, Geliebte, wo meine Liebe und meine Waffen Dich schützen können! In diesen Mauern spüre ich's wie Blutgeruch, nicht Muth noch Trotz kann hier zum Ziele führen, sondern Klugheit allein, die sich beugt vor dem Sturm, bis er vorübergezogen.«
»Fliehet denn ohne mich!« rief Photinissa leidenschaftlich, »flieht und suchet Eure Rettung, wenn Ihr 171 keinen Glauben an mich habt und Euch fürchtet! Mich aber laßt meinen Willen vollbringen!«
Ihre schwarzen Augen sprühten Zorn und Bitterkeit, aber nie war ihr Antlitz schöner und ihre Gestalt herrlicher erschienen als in dieser Minute. Gennäos schaute sie an mit heißer Bewunderung, die wiederum mit einem heimlichen Schauer gepaart war, und sagte fest:
»Ich bleibe bei Dir und lege mein Leben in Deine Hände. Dein Glaube sei mein Glaube, und muß ich hier sterben, so soll mir der Gedanke süß sein, daß Deine Augen meine letzte Stunde segnen.«
Als er das sagte, zog ein leises Leuchten des Stolzes über ihr Antlitz, mit freundlicherem Blicke ergriff sie seine Hand und führte ihn mit sich dem Hause zu, nachdem sie dem Priester den Spruch zugerufen:
»Die auf den Herrn hoffen, werden nicht fallen, sondern ewiglich bleiben wie der Berg Zion.«
Alexios aber senkte das Haupt, da er die beiden gehen sah, und sang schwermüthig hinter ihnen her:
»Kyrie eleison! Kyrie eleison!«
Frau Eudoxia saß auf ihrem Stuhle und sah mit Verwunderung, doch nicht ganz ungnädig die Beiden Hand in Hand herantreten.
Da rief Photinissa mit zuversichtlichem Blicke: 172 »Schau her, Mutter, ein Wunder geschieht, um Deine Rache zu stillen und Deine Seele dem Frieden zu öffnen: siehe, Dein Feind, den Du zu tödten sannst, kommt selbst in Dein Haus und stellt sich Dir als Gefangener aus freien Stücken! Hier steht er vor Dir: dieser Mann ist Gennäos Pierakos, der Bruder des Dimitrios. Ich selber verrathe ihn Dir, denn ich weiß, daß nun die Großmuth in Dein Herz einziehen wird; Du hast den Sieg gewonnen, Dein Feind demüthigt sich selbst vor Dir, hier ist keine Rache mehr zu üben, nur Gnade, Vergebung und Liebe. Und nun eines wisse: um des Friedens willen habe ich ihn erwählt, daß er mein Bräutigam sei. So hebe ihn denn auf und begrüße ihn mit Freuden, Du kannst nun nicht mehr anders als Frieden geben, denn er ist Dein Sohn geworden, und es steht geschrieben: Wer sein eigenes Haus betrübt, der wird Wind zum Erbtheil haben.«
Indem sie so redete, hatte Gennäos sich auf ein Knie niedergelassen und harrte bescheiden der Antwort; die Worte der Geliebten schlugen wie süße Glockenklänge an sein Ohr und ließen seine Hoffnung freier aufathmen, denn er meinte, es könne kein menschlich Herz solchen Bitten widerstehen.
Eudoxia blieb eine geraume Weile stumm und fast übermannt von ihrem Erstaunen. Von der 173 Rede ihrer Tochter vernahm sie einzig den Namen Pierakos, so gewaltig nahm dieser ihr Ohr gefangen, und heftig wechselnde Gefühle gingen durch ihren Busen: Haß und Zorn, Triumph und grimmige Freude, qualvolle Erinnerung an den gemordeten Sohn, ein kurzes Schwanken und Sinnen und dann wieder einzig die Wollust der Rache – aber nicht ein Hauch des Mitleids und der Rührung spiegelte sich in ihren Mienen.
Zuletzt rief sie eine Magd herbei, flüsterte ihr einige Worte ins Ohr und schickte sie hinaus. Gleich darauf erschienen mehrere bewaffnete Pallikaren, denen sie einen leicht verständlichen Wink gab und mit ruhigem Hohne sprach:
»Führet diesen Fremdling hinauf in das oberste Gemach des Thurmes, damit wir ihm eine besondere Ehre und Liebe erweisen, denn an eben der Stelle hat seine Braut die erste Nacht im Vaterhause geschlummert. Und wenn es ihn gelüstet, auf demselben Wege. wie sie gethan, den Ausgang zu suchen, so soll ihm niemand wehren; ich will doch sehen, ob es Engel giebt, die auch blutbefleckte Männer über den Abgrund tragen. Ich will indessen einen Boten zu seinem Bruder senden, der auch diesen laden soll zu einem herrlichen Feste, das ich den beiden alten Freunden meines Hauses zu geben gedenke. Denn 174 ich trachte durchaus, ihrem Begehren nach Versöhnung zu willfahren, und darum will ich sie auf eine kurze Weile in die Unterwelt hinabsenden, daß sie dort über den Frieden reden mit den blutigen Schatten meines Eheherrn und meines einzigen Sohnes; und wenn die Versöhnung geschehen ist und die Hölle sie wieder heraufschickt, dann bin ich die erste, die ihnen die Hand zum traulichsten Bunde entgegenstreckt.«
Während sie mit steigender Stimme so grausam höhnte, hatten die Knechte sich auf den knieenden Jüngling geworfen, ihn entwaffnet und rissen ihn von dannen und hinauf in den Kerker, der ihm bestimmt war.
Photinissa versuchte nicht, ihn zu schützen und die Knechte abzuwehren; sie blieb und stand regungslos an derselben Stelle. Zum erstenmal hatte ihr Vertrauen sie ganz betrogen, und ihr hoher Glaube war erschüttert. Sie sah vor sich den sicheren Tod des Mannes, der sich mit frommer Zuversicht ganz in ihre Hände gegeben.
Und als sie sich endlich bewegte und langsam hinausschritt, sprach sie kein Wort weder des Zornes noch der Bitte zu ihrer Mutter; ihre Wangen waren ganz weiß wie einer Todten, aber auf ihrer Stirn lag ein furchtbar feierlicher Ausdruck sicheren Willens, 175 und, was wunderbar zu sehen war, sie wandelte mit festgeschlossenen Augen.
Bei diesem Anblick fuhr Eudoxia ein schaudernder Schreck durch die Brust, denn plötzlich stand vor ihrem Geist lebendig jene Stunde, da sie ihr Kind hoch über dem Abgrund schweben sah.
Und zum zweitenmal wankte ihre starke Natur, ein Zittern und eine hilflose Schwäche befiel sie; sie vermochte weder zu reden noch sich zu bewegen, sondern lag auf ihrem Stuhl einsam in verlassener Ohnmacht.
Und als das vorüber war, ging sie hinaus zum Grabmal ihres Sohnes, verweilte daselbst ohne Regung den ganzen Tag, rang mit ihrer Seele und besprach sich mit den Geistern der Todten.
Als aber die Sonne sich zum Untergange neigte, sandte sie den Wächter am Burgthor zu dem Priester und ließ ihn zu sich entbieten, in einer Beichte ihr Herz zu entladen.
Alexios erschrak heftig, als er herzutrat und sie ansah: ihre hohe Gestalt erschien ihm gebeugt und verfallen, ihr Antlitz, sonst noch immer schön und klar wie Marmor, war jetzt entstellt und eingesunken, das Feuer der Augen war matt geworden, und ihre Stimme hatte den festen ehernen Klang verloren.
Daran erkannte der Greis mit raschem Sinne, 176 was alles in der Seele dieser Frau während des einen Tages vorgegangen, und er dachte voll staunender Bewunderung: Also dennoch hat der Riesenglaube dieses Kindes das Unmögliche vollbracht und dies starre Herz gebändigt, das allen, die es kannten, unbezwinglich schien!
Zu der Gebieterin aber sprach er mit leiser Stimme, denn er fürchtete sich auch so noch vor ihr:
»Herrin, es ist nun Zeit, der Rache Einhalt zu thun, ehe sie weiter frißt und vielleicht auch Euer Kind und Euch selber ergreift. Denn ich weiß und sehe, Euer eigenes Herz hat es Euch geweissagt, wenn Ihr diesen Mann tödtet, wird seine todte Hand noch die Rache weiterführen und auf Euer Kind zurückschlagen, das Euch theuer und Euer letztes ist. Darum gebet nach, reicht die Hand zur Versöhnung und lasset heute nach dem Wort der Schrift die Sonne nicht untergehen über Eurem Zorn!«
Eudoxia erhob langsam den Blick, der erst müde und kalt erschien, bis er auf einmal wieder Gluth gewann und die alte Leidenschaft auch ihre Stimme durchtönte:
»Es ist geschehen, wie Ihr sagt, mein Herz ist besiegt und vermag nicht mehr zu widerstehen, die Angst um mein Kind hat alle Kraft in mir zu Staub zerrieben. Mein Sohn mag mir vergeben, 177 wenn er ungerochen bleibt, denn ich kann nicht anders. Alles soll geschehen nach dem Willen meiner Tochter: eines nur, eines will ich mir vorbehalten, einen einzigen Augenblick des Triumphes, nur diesen Augenblick, wo ich mir sagen kann: jetzt habe ich die volle Rache in meiner Hand, jetzt könnte ich, wenn ich wollte, die stumm genährten Gedanken langer Jahre vollführen! – und dann, dann will ich alles mit Frieden endigen. Ich habe zu Dimitrios Pierakos einen trügerischen Boten gesandt, der ihm verkündet, daß ich seine Werbung erhören wolle, er möge eilig kommen, sich der Braut zu zeigen. Läßt er sich nun täuschen und kommt hierher – und ich traue, er wird es, denn dies Kind hat sie alle der klaren Sinne beraubt, daß sie nicht sehen, was vor Augen liegt –, dann will ich auch ihn ergreifen und fesseln und will seinen Bruder vor ihn stellen, und beide sollen die Schrecken des Todes doppelt genießen, jeder in dem Gram um den anderen zugleich; und wenn das geschehen ist und ich mein Herz an ihrer Qual gesättigt, dann will ich ihnen den Frieden und das Leben schenken als ein freies Geschenk meiner Gnade. Es ist nur ein wildes Possenspiel, das ich zu treiben vorhabe, aber ich könnte nicht mehr leben, sollte ich auch dieses Triumphes entbehren. – Morgen um die 178 Mittagszeit, denke ich, wird Dimitrios sich zeigen, und ehe dann die Sonne untergeht, soll alles vollendet und der alte Kampf zur Ruhe gekommen sein.«
»Es mag so geschehen,« sagte Alexios, »denn ich sehe, Ihr seid nicht im Stande, Euer Herz noch ein wenig tiefer zu demüthigen, und es ist nicht weise, von dem schwachen Menschenkinde das Unmögliche zu verlangen. Doch um eines bitte ich Euch, Herrin: gehet sogleich zu Eurer Tochter und laßt sie Eure Gedanken wissen, daß sie getröstet sei und ihres Glaubens wieder froh werde, denn ich fürchte, ihre Seele liegt gewaltig daniedergeschmettert, und wer mag wissen, ob sie sich nicht in ihrer jähen Trübsal Irrwahn und Unheil gebiert.«
»Nein!« rief Eudoxia wild auffahrend, »auch sie muß meine Macht über sich fühlen, daß der Uebermuth sie verlasse, denn sie hat unkindlich gehandelt an ihrer Mutter und allerwege den Gehorsam verweigert. Darum soll sie inne werden, daß meine Gnade ihr alles gewährt und nichts ihr trotziger Glaube. Ich bin die Mutter und habe nach Gottes Willen Macht über sie und will sie demüthigen, wie ich mich selbst heute tiefer gedemüthigt habe, als ich jemals von mir gefürchtet hätte. Und wehe Euch, wolltet Ihr etwa wagen, ihr ein Wort über diese meine Absicht zu verrathen! Ihr schweigt, 179 wie ich schweige, und so lange mag sie büßen und dulden, wie sie es verdient hat durch ihren Hochmuth, bis die Stunde kommt, die uns allen den Frieden bringt.«
Nach diesem heftigen Bescheide verstummte der Priester und ging; er kannte die Herrin und meinte wohl selber, sie habe genug gethan.
Eudoxia aber feuerte zum letztenmal ihren Schuß über das Grabmal der versinkenden Sonne nach, und wild dröhnend wie immer rollten die Donner des Echos an den Felsenwänden hin.
* * *
Als aber die Mitternacht gekommen war und der Mond hoch stand und hell war wie gesänftigtes Tageslicht, trat Photinissa aus ihrer Kammer und aus dem Hause und schritt quer über den Hof zu jenen Trümmern, welche die Randmauer aufnahmen. Leicht erklomm sie die Höhe derselben, und wieder wandelte sie ruhig und sicher auf der schmalen Kante entlang. Niemand sah sie diesmal, und sie sang auch nicht, damit niemand ihrer inne würde, aber sie betete mit leiser Stimme desto inbrünstiger. Ihr Auge hing an dem höchsten Fenster des Thurmes und ließ es nicht los, es war ihr wie eine sichere Stütze, an die sie sich klammerte, und das half ihr 180 und gab ihr wieder den klaren Blick, daß ihr nicht schwindelte; und sie kam wohlbehalten hinüber wie das erste Mal. Nun stand sie fest an die Wand des Thurmes gelehnt, griff mit der Hand in das tiefe Fenster, sich daran zu halten, und rief in das Gemach hinein:
»Gennäos Pierakos, erhebt Euch und gehet mit mir, ich bin gekommen, Euch zu retten! Wenn mein Wort und mein Glaube vergeblich war vor einem verstockten Herzen, hier hat er Kraft, hier stützet mich Gott und sendet mir seinen Engel, und die Heiligen bitten für uns. Folget meiner Hand, und Ihr werdet sicher schreiten auch auf dieser Bahn, die sonst für Menschentritte nicht gemacht ist.«
Gennäos vernahm ihre Stimme und trat erschrocken ans Fenster, denn er meinte ein Gespenst oder einen seligen Geist zu hören; er sah, ihr Antlitz war weiß wie Schnee, und ihre dunklen Augen glühten darin von einem seltsamen Feuer; ein Entsetzen ergriff ihn, als er erkannte, welches Weges sie gekommen war. Das Grauen lähmte seine Zunge, daß er nichts zu erwidern vermochte, weder ja noch nein.
Doch als sie heftiger drängte, ermannte er sich und rief fast zürnend:
»Tritt Du herein, unglückseliges Kind, was 181 drängst Du Dich zum Tode? Ist es nicht genug, daß Einer sterbe und auch Einer, der um mancher Sünden willen reichlich den Tod verdient hat? Ich habe mich ergeben und weiß, daß morgen mein letzter Tag anbricht; wenn Du aber willst, so bin ich auch bereit, schon diesen Augenblick von Deiner Mauer freiwilligen Tod zu suchen, denn nichts anderes kann jener Schreckensweg bedeuten; nur gehe Du herein und rette Dein theures Leben!«
»Ja, wolltet Ihr ohne mich gehen,« sprach Photinissa, »es wäre freilich Euer gewisser Tod, denn noch ist Euer Glaube, wie ich merke, zu schwach, Euch sicher zu tragen. Wenn aber meine Hand Euch leitet, so fürchtet nichts; Gott ist mit mir, weil ich reines Herzens bin und seine Gebote halte.«
»Photinissa, das heißt mit Frevel Gott versuchen.«
»Er hat mich zweimal treulich geleitet auf dieser Bahn, wie sollte er es das dritte Mal weigern, wenn ich doch glaube wie zuvor? Ich gehe nicht hinein zu Euch noch auch von hinnen, ehe denn Ihr mir folget. Ich habe geschworen, Euch zu befreien, denn ich war es, die Euch in diese Noth gestürzt hat. Darum haltet Euch zu mir und glaubet mit mir an die Worte der Schrift:
182 Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöthen, die uns getroffen haben.
Darum fürchten wir uns nicht, wenn gleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken;
Wenn gleich das Meer wüthete und wallete und von seinem Ungestüm die Berge umfielen. Sela.«
Wie nun der Jüngling so felsenfesten Glauben und so gewaltige Worte vernahm und dazu das wunderbare Leuchten ihrer Augen sah, da ergriff ihn eine trunkene und wilde Begeisterung wie ein seliger Rausch. Er hörte das Meer tief unten an der Wurzel des Felsens wüthen und wallen, aber er zagte nicht mehr davor und zögerte nicht, ihr zu folgen.
Er trat hinaus auf den Rand des Fensters und ließ sich von ihrer festen Hand vorwärts leiten auf den gefährlichen Pfad. Freudig erhobenen Hauptes schritt Photinissa voran; doch ehe sie noch die Mitte der Mauer erreicht hatte, wankte sie und ihr Fuß glitt aus; ihre Hand ließ die seine fahren und griff krampfhaft in die Luft. Dann sank sie mit einem leisen Schrei in den Abgrund nach dem Meere zu, und Gennäos sah nur einen weißen 183 Schein wie eines matten Lichtes in der dämmerdunklen Tiefe verschwinden.
Er selbst schwankte noch einige Sekunden, mit dem betäubenden Schwindel ringend, auf der Mauer, dann kam ihm ein Augenblick gramvoller Besinnung, und er wollte sich der Verlorenen verzweifelnd nachwerfen in das Meer; aber seine Augen und seine Glieder sträubten sich schaudernd dagegen, und so stürzte er nach der anderen Seite in den Burghof hinab und ward dort am Morgen mit zerschmettertem Haupte gefunden.