Hans Hoffmann
Im Lande der Phäaken
Hans Hoffmann

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Die Neraide.

In früher Morgenstunde verließ ich die Stadt Korfu und wanderte hinaus in das von allen Göttern gesegnete, glanzumflossene Land; es war schon Sommer, und bald wurde die Hitze übergewaltig, mühsam wand ich mich seitwärts vom sonnigen Wege durch den Schatten der prachtvollen Oelwälder, deren Gleichen der Süden nicht wieder trägt, und gegen die Mittagsstunde machte ich völlige Rast bei einem Dorfe, an einer unter Reisenden berühmten Stelle, am Brunnen von Gasturi. Eine mächtige Platane, ein bewunderter Baum, breitet seine Aeste reichschattend über den Platz, wo das Wasser sprudelt, und weit dehnt sich hinter der offenen Schlucht, die ein Theil des Dorfes und Orangengärten füllen, das hügelige Land bis zu den kahlen Bergen, die den Blick mit kühnen und feinen Linien begrenzen. Hier warf ich mich nieder ins hohe Gras und träumte in die Landschaft hinaus. Die Sonne stand gerade über der Platane, die mich 2 schützte, aber draußen wogte und zitterte die glühende Luft, und wie ein lebendiger Schleier wallte es weich über den mattgrünen Wäldern und über den grauen, in das Grün begrabenen Dörfern auf den Höhen; und dieser Schleier war aus Gold gewirkt, unendliche Ströme von Licht flutheten über die Erde, und dennoch standen Berge und Wald wie in dämmerndem Dunst verschwimmend vor den Augen, fast als läge Mondschein darüber. Es war so stumm im Lande wie in einsamer Mitternacht, gnädige Ruhe deckte das Leben, nicht Mensch noch Thier regte sich vor den Häusern, keines Vogels Ruf klang aus dem unbewegten Laub in das feierliche Schweigen. Mir schien, als flüsterten manchmal fast unhörbar warnend die leisen Meereslüfte den Blättern zu, wie sie vor Jahrtausenden zu dieser Stunde gethan: »Der große Pan schläft!«

In unmerklichem Selbstvergessen träumte auch ich mich hinüber in tiefen, schweren Schlaf. Spät erweckte mich ein murmelndes Plaudern neben mir; als ich die Augen aufschlug, war die Sonne schon weit herumgegangen und die Luft war klarer und frischer geworden. Mädchen stiegen vom Dorfe herauf mit großen Wasserkesseln auf dem Haupt, kamen zum Brunnen, schöpften leise schwatzend und stiegen wieder hinab; reizende Gestalten waren 3 darunter von herrlichem Gang und edle Gesichter unter den wallenden weißen Schleiern; die jungen Schönen aber blickten nur von ferne auf den Fremdling und warfen die Augen schüchtern abseits oder zu Boden. Doch eine Alte trat zu mir und fragte fast ängstlich: »Du hast doch nicht lange hier geschlafen, Herr?«

»Seit der Mittagsstunde,« erwiderte ich, mich rasch ermunternd.

Das uralte Weib, dessen Kopf aussah wie eine verwitterte Büste aus gelbem Tuffstein, schlug die Hände zusammen und rief: »Die Allheilige behüte Dich, Herr! Hier darf Niemand schlafen zur Mittagszeit, es ist gefährlich und verderblich am Brunnen und unter der Platane.«

»Warum gefährlich?« fragte ich ein wenig erschrocken.

Sie neigte sich zu mir und flüsterte geheimnißvoll: »Die Neraide schlägt Dich!«

»Wer ist die Neraide?« fragte ich verwundert und neugierig.

»Wie, das weißt Du nicht?« sprach sie mit tadelndem Ton. »Es waren doch andere Fremde hier, die es wußten, und noch mehr, die auch gelernt hatten, daß es immer Neraiden gegeben hat, schon vor huudert und tausend Jahren. Die Neraiden 4 wohnen im Wasser überall und in den Bergen und Wäldern, und auch im Meer. Sie sind so schlank und schön wie nie ein Mädchen unter uns, außer wenn es selbst von ihnen abstammt. Sie sind auch gut und thun uns kein Böses, außer wenn Jemand zur Mittagsstunde sie stört. Und das hast Du gethan, Herr, weil Du am Brunnen schliefst.«

Ich erhob mich und reckte meine Glieder, um zu sehen und zu zeigen, daß ich nicht geschlagen war, und lächelte wohl ungläubig.

»Du glaubst es nicht?« rief die Alte fast zornig. »Und doch habe ich selbst die Neraide, die hier wohnt, mit diesen Augen und oft gesehen, und die Andern sahen sie auch, die so alt sind wie ich; das sind aber nur noch sehr Wenige hier im Dorfe. Denn es ist lange, lange her, daß sie verschwunden ist und sich nicht mehr sichtlich vor uns zeigt. Aber sie lebt doch noch, das ist ganz gewiß, oder auch irgend eine andere Neraide, und Niemand wagt sie zu stören.«

Ich war sehr aufmerksam geworden, denn auch uns weise Männer des Nordens plagt in manchen Dingen die Neugier nicht wenig, und ich forschte weiter um das Wesen jener merkwürdigen Geschöpfe, indem ich nach meinem Notizbuch tastete. Indessen hatten sich andere Frauen im Kreise um mich 5 gesammelt, den unwissenden Abendländer bestaunend, und nickten und winkten häufig mit lebhafter Beistimmung, während die Greisin eindringlich und feierlich erzählte:

»Wie unsere Neraide hieß, das weiß Niemand, denn man weiß nicht einmal, ob die Neraiden überhaupt einen Namen tragen wie wir Menschen. Aber Jedermann kannte damals ihren Gatten, der sie gezwungen hatte – denn das wirst Du doch wenigstens wissen, Herr, daß sie oftmals in Liebe gerathen zu schönen Jünglingen, und mit diesen leben und ihnen schöne Kinder gebären, nur daß sie eine rechte Ehe scheuen, weil sie keine Christen sind, und sie können nur mit List und Gewalt zur Vermählung gezwungen werden, wenn man ihren Schleier raubt und versteckt, daß sie ihn nicht wieder finden; dann bleiben sie gefangen. Diese also war auf solche oder irgend eine andere Art die wirkliche Gattin eines vornehmen Herrn aus der Stadt geworden, der hier in der Nähe, unten nach der Ebene zu, ein schönes Landhaus hatte und ein hübscher Jüngling war, der es wohl auch einer Neraide anthun konnte. Er hieß Gozzadini: das sage ich, damit Du siehst, Herr, daß ich die Wahrheit rede, denn von seinem Geschlecht wirst Du noch heutigen Tages in der Stadt erfahren können.

6 Sie lebten mehrere Jahre miteinander und hatten auch ein Töchterlein, aber die schöne Mutter sah man oftmals betrübt einhergehen, weil sie sich nach ihrer alten Freiheit sehnte, wie es diese Neraiden ja immer thun, wenn sie an ein Haus gefesselt sind. Denn es geht ihnen allen nichts über die Lust am nächtlichen Tanz und Spiel mit ihren Gefährtinnen und Dämonen; und das mußte diese nun entbehren. Ja, auch das Kind war nicht so fröhlich von Natur, wie andere Kinder, sondern still und blaß, obgleich bildschön, und irrte oft Tage lang, so klein es auch war, einsam in den Bergen umher; man sah, es wußte, daß es eigentlich eine junge Neraide war. Manche sagten auch, sie hätten es heimlich um die Mittagsstunde mit den guten Fräulein tanzen sehen; doch davon weiß ich nicht so gewiß, ob es wahr ist, obwohl ich es selber glaube.

Eines Tages entdeckte die junge Frau ihren früheren Schleier wieder, der ihr genommen war, und augenblicklich entfloh sie und wollte mit ihrem Kinde zu den Gefährtinnen zurückkehren: die aber nahmen sie nun nicht wieder auf, weil sie christlich vermählt gewesen war, nur das Kind entrissen sie ihr, indem sie es ins Wasser zogen, und behielten es bei sich als Neraide. Und so war nun die arme Mutter ganz einsam und durfte auch das Haus 7 ihres Gatten nicht mehr betreten, außer bei Nacht, wenn er schlief, dann schlich sie hinein und beugte sich über sein Lager und küßte ihn. Sobald er aber erwachte, war sie verschwunden: und dennoch erinnerte er sich, daß sie dagewesen, und erzählte davon. Viele spotteten darüber und glaubten es nicht, aber wir in Gasturi wußten wohl, daß es richtig war, und daß sie in der Nähe weilte. Denn wir sahen die schöne Neraide alle Tage um die Mittagsstunde hier am Brunnen in weißem Gewande erscheinen; zwar wagte Niemand näher zu gehen und mit ihr zu reden, doch wir standen sehr oft dort unten in der Schlucht und blickten heimlich herauf. Und dann sahen wir immer, sie ging wohl hundert Mal hier auf und ab und rang die Hände, nur zuweilen stand sie still und schaute lange Zeit in den Brunnen hinab. Sowie aber die Sonne ein wenig zu sinken begann, verschwand sie so schnell, als sie gekommen war, hinter den Bäumen.

Das dauerte so an die sieben Jahre. Denn nun wirst Du erfahren, Herr, daß während dieser Zeit ihr Gemahl einsam in seinem Hause saß und es niemals und zu keiner Stunde verließ. Das that er darum, weil er wußte, daß man eine entflohene Neraide zwingen kann, zurückzukehren, wenn man sieben Jahre ohne Unterbrechung unter seinem Dache 8 verweilt und in treuer Liebe ihrer harrt: dann muß sie wieder zu dem Gatten kommen und bleibt fortan sein ehrliches Weib, als wenn sie menschlich geboren wäre, und sie findet auch ihre Lust und Heiterkeit wieder.

Danach that nun dieser Jüngling und wartete geduldig in aller Treue. Zu allerletzt aber, als nur noch ein Tag an den sieben Jahren fehlte, ergriff ihn die Sehnsucht nach ihr so gewaltig, daß er es nicht mehr ertragen konnte, sondern zur Mittagsstunde an diesen Brunnen ging, um sie zu sehen. Niemand kann sagen, was sie miteinander verhandelt haben; doch als er nach Hause kam, war er todkrank und an allen Gliedern gelähmt: die Neraide hatte ihn geschlagen, und er starb wenige Tage danach.

Von der Zeit an aber wurde sie auch selbst nie wieder am Brunnen oder irgendwo anders gesehen. Wir glauben, daß ihre Schwestern sie nun in Gnaden aufgenommen haben, weil ihr Mann todt war, und daß sie ihr Kind wiedergefunden hat.« –

Hier endete die Geschichte der alten Frau, und warnend setzte sie hinzu: »Du siehst, Herr, daß diese Dinge wahr sind, und Du wirst wohl thun, Dich vor dem Zorn der Neraiden zu hüten. Vielleicht haben sie Dich heute noch verschont, weil sie sahen, 9 daß Du fremd bist und ihre Sitten nicht kennst; aber sie möchten Dich ein zweites Mal nicht mehr verschonen. Trink jetzt einen Schluck von unserem Wasser, es ist gut und gesund in dieser Stunde.«

Bei diesen Worten winkte sie einem jungen Mädchen, das eben seinen Krug gefüllt hatte; das schöne Kind warf den Schleier über Kinn und Mund und reichte mir den Krug, aus bescheidenen Augen mit leiser Neugier zu mir aufblickend; ich trank und dankte und half ihr den Krug auf das feine Köpfchen setzen. Dann nahm ich Abschied von meiner trefflichen Greisin und den andern Frauen und ging in der leichten Kühlung den Berg hinab durch den Oelwald der Stadt entgegen. Das vernommene Märchen beschäftigte freundlich meine Gedanken, doch hätte ich es gewißlich ohne weitere Deutungsversuche als ein schönes Phantasiegebilde dieses Volkes auf sich beruhen lassen, wenn mir nicht scharf aufgefallen wäre, wie seltsam realistisch der italienische Name Gozzadini in die zarte griechische Sagenwelt hineinklang und fast gewaltsam auf irgend eine mitspielende Thatsache der Wirklichkeit zu deuten schien. Nur hoffte ich kaum in der Stadt eine besondere Aufklärung finden zu können, da dieses Stückchen Thatsache offenbar so alter Vergangenheit angehörte.

10 Sobald ich mein Zimmer in der »Bella Venezia« betreten hatte, fühlte ich mich plötzlich von einer lähmenden Schwäche ergriffen, eine heftige innere Gluth und bald ein jäher Frostschauer folgte, und ich merkte mit Schrecken, daß ich von starkem Fieber heimgesucht worden. Ungesäumt schickte ich nach einem Arzt, und nur eine halbe Stunde quälte ich mich in Fieber und Sorge, bis dieser erschien.

Es war eine sehr absonderliche Erscheinung, die ich da vor mir sah; mir fiel bei ihrem Anblick sofort das merkwürdige Marmorbild des Aesop in der römischen Villa Albani ein. Auf einem schwächlichen, nicht blos von hohem Alter verfallenen, buckligen Leibe saß ein feiner Kopf mit raschen, klugen Augen und dem gewinnendsten Lächeln um die beweglichen Lippen. Er nahm mich alsbald in sorgfältige Behandlung.

»Sie haben sich der Hitze zu sehr ausgesetzt, mein Herr,« sagte er, nachdem er meine Temperatur gemessen.

»Die Neraiden haben mich geschlagen,« antwortete ich seufzend.

»Das heißt?« fragte er verwundert.

»Das heißt, daß ich am Brunnen von Gasturi in der Mittagsgluth geschlafen und zur Strafe dafür eine so räthselhafte Geschichte vernommen habe, 11 daß ich vor Neugier nach deren Erklärung das Fieber bekam.«

Und ich erzählte ihm wahrheitsgetreu das Märchen der Greisin.

»Zu allernächst, mein Herr,« sagte er freundlich, »werden Sie nun auf der Stelle ins Bett gehen, und danach kann ich selbst Ihnen vielleicht etwas aus meiner Erinnerung berichten, das gegen diese Art Fieber wirksam sein dürfte. Für das andere werden wir mindestens ein paar Tage der größten Ruhe nöthig haben. Also, ich bitte!«

Gehorsam folgte ich seinem Rathe, nahm seine Arznei und ertrug die Nacht hindurch geduldig das Fieber und die unbefriedigte Neugier. Am nächsten Vormittag aber, während meiner fieberfreien Stunden, kam er wieder, setzte sich in einen Lehnstuhl mir gegenüber und begann mit freundlichem Eifer seinen verheißenen Bericht.

»Ja, ja, lieber Herr,« sagte er lächelnd, »Sie mögen es vor der Hand noch so sehr bezweifeln, aber wie Ihnen Ihr altes Weib gesagt hat, die Geschichte ist vollkommen wahr, und das von Anfang bis zu Ende; es kommt jetzt nur darauf an, daß wir sie in andere Worte kleiden, oder ich könnte auch sagen, daß Sie jene Personen, nämlich den 12 unglücklichen Gaetano Gozzadini und seine Gattin, die sogenannte Neraide, welche Sie bis jetzt gewissermaßen nur bei Mondenschein gesehen haben, nun in der klaren Beleuchtung des nüchternen Tages betrachten. Denn unsere Bauern, müssen Sie wissen, sind ein gar wunderliches Volk, das sich gern alle Dinge nach seinen einfältigen Begriffen, die es aus Gott weiß wie uralter Zeit geerbt hat, zurechtlegt, wie sie denn, um die volle Wahrheit zu sagen, unser ganzes liebes griechisch-orthodoxes Christenthum durchaus nicht anders verstehen und lieben, denn als rechte, echte, gottverlassene Heiden. Aus ihren Heiligen machen sie Götter und Göttinnen, vornehme und geringe, sie haben ihren Donnergott und ihren Kriegsgott und ihren Meeresgott – nun gut, warum sollen sie sich nicht einmal aus einer Sterblichen eine Nymphe, und aus einer Nymphe vielleicht bald wieder eine Heilige machen? Ich nehme an, mein Herr, daß Sie als Europäer mir solche freie Redeweise nicht übel deuten werden.

Also, um endlich zur Sache zu kommen, es war im Jahre 1822, daß diese Begebenheit ihren Anfang nahm. Das ist lange her, aber mein Gedächtniß ist noch frisch, und ich entsinne mich genau jedes Umstandes, sowohl was ich selbst gesehen, als was ich von Andern gehört habe. Ich will hier sogleich 13 bemerken, daß ich gerade am Beginn unseres Jahrhunderts geboren bin, woraus Sie ohne Rechenkunst mein vormaliges sowie mein jetziges Lebensalter ersehen können.

Sie wissen nun, daß seit dem Jahre 1821 der Freiheitskrieg der Hellenen gegen ihre rohen und barbarischen Unterdrücker, die Osmanen, entbrannt war. Wir Kerkyräer aber und die andern Ionier waren seit sieben Jahren den Engländern untergeben, welche zu jener Zeit, unter der Regentschaft des harten Lord Maitland der hellenischen Sache durchaus nicht wohlgesinnt waren, ohne daß sie doch unsere Liebe zu dem gemeinsamen Vaterlande hätten unterdrücken können. Ferner ist Ihnen ohne Zweifel bekannt, daß unsere Insel durch mehr als vier Jahrhunderte unter der Herrschaft des Löwen von San Marco gestanden hat: aus dieser Zeit giebt es noch heute, wie Sie täglich sehen und hören können, sehr zahlreiche Italiener hier in der Stadt, und damals gar lag weitaus der größte Reichthum und der meiste Landbesitz in der Hand der venezianischen Nobili, welche auch unter der neuen Herrschaft von ihrem alten Stolze durchaus nichts aufgegeben hatten. Es war nicht schön für uns Hellenen, daß hier die Engländer, dort die Italiener hochmüthig auf uns herabblickten, aber es war leider so.

14 Aus einer der vornehmsten und stolzesten jener Familien stammte der Conte Loredano; derselbe hatte zwei Töchter, Gabriela und Cecilia, und diese beiden Mädchen waren allerdings so schön, daß ich glaube in meinen langen Jahren nichts Gleiches wieder gesehen zu haben, auch waren sie beide deswegen berühmt und umworben genug. Was mich betrifft, so sehen Sie noch heute an meiner Gestalt, daß ich meine Augen gewißlich nicht hätte zu ihnen erheben dürfen, wenn ich selbst aus edlem Geschlecht und nicht ein unbedeutender junger Arzt gewesen wäre; dafür aber habe ich von jeher eine Gabe besessen, mir die Freundschaft und ein stilles Vertrauen der Schönen zu gewinnen, wie sie es sonst nur etwa ehrwürdigen Greisen zuzuwenden pflegen – sie wußten eben, daß ich ihrem Herzen und sogar ihrem Rufe nicht gefährlicher werden konnte, als ein abgelebter Alter. Am allernächsten war ich nun gerade mit jenen beiden reizenden Contessen befreundet, und das hauptsächlich darum, weil mein früh verstorbener Vater ihnen einmal beiden in schwerer Krankheit durch geschickte ärztliche Behandlung das Leben gerettet hatte, gleich darauf aber in Folge der Ansteckung eben dieser Krankheit erlegen war. Uebrigens hätte mir ja auch ohne Das Niemand wehren können sie heimlich für mich zu bewundern, und 15 wahrlich, ihr bloßer Anblick erschien mir damals so köstlich wie frisches Wasser.

Mir gefiel anfänglich die Jüngere, Cecilia, noch besser; sie war oder schien etwas stiller und sanfter, während freilich die Folgezeit lehrte, daß sie ihre heiße Leidenschaft weit weniger zu bezwingen wußte, als ihre Schwester. Diese war höher von Gestalt und kecker in ihrem Wesen und ward noch von Mehreren gefeiert um ihrer feurigen Augen willen.

Zu ihren glühendsten Verehrern und Bewerbern gehörte jener Gaetano Gozzadini, dessen Namen Ihnen schon die Bäuerin gesagt hat; dieser hatte schon mehrfach auf das Ernstlichste um ihre Hand gebeten, doch Gabriela wies ihn immer ab, wenn nicht hart, so doch bestimmt. Er war nämlich, obwohl von sehr edlem Blut und im goldenen Buche von Korfu an einer der ersten Stellen vermerkt, und obwohl auch groß und schlank von Gestalt und von anmuthigen Gesichtszügen, doch nur etwas schwach von Gedanken; er pflegte sehr langsam zu begreifen, wenn er aber einmal an einen Gedanken gerathen war, mochte der nun gut oder thöricht sein, so blieb er daran hängen, als wenn er festgenagelt wäre, ob man ihm auch zehnmal vollwichtig das Gegentheil bewies. Ich sehe ihn heute noch wie leibhaftig vor mir, den armen Menschen: er hatte 16 Augen wie ein guter treuer Hund, und hatte auch wie ein junger Hund die Angewohnheit, immerfort mit irgend etwas zu spielen, am liebsten mit Thieren und kleinen Kindern, und er konnte sich stundenlang mit diesen Geschöpfen jagen und balgen, wenn ihn Niemand sonst beobachtete; darum liebten sie ihn auch wie keinen andern Menschen in der Stadt: und man konnte schon hieraus schließen, daß er ein ehrlich Gemüth und eine reine Seele war. Wenn er über die Esplanade spazierte, so sah man fast immer ein paar kleine Mädchen an seiner Seite hängen zur Rechten wie zur Linken und mit ihm scherzen: sowie aber solche kleinen Mädchen nachher groß und heirathslustig wurden, dachten sie an ihren alten Freund am allerletzten. Er war darin beinahe in gleicher Lage mit mir, nur daß ich doch noch weit glücklicher war, weil ich mir immer klar bewußt blieb, wie es um mich in dieser Hinsicht stand, und nie zu närrischen Hoffnungen mich verstieg. Er aber war thöricht genug, sich sogleich in die Allerherrlichste, in Contessa Gabriela, zu verlieben, und das mit der ungetheiltesten Leidenschaft, weil wenig andere Gedanken in seinem Kopfe wohnten, die ihn hätten abziehen können. Ja, er blickte gar rührend und kummervoll in jener Zeit aus seinen schönen Augen; stundenlang lief er hin und 17 her in der Nähe ihrer Wohnung – wiederum gerade wie ein Hund, der seine Herrin sucht. Es konnte aber wahrlich Niemand von dem klugen und feurigen Mädchen verlangen, daß sie dem armen Burschen ihre Liebe schenkte, da doch so viele weisere Männer ihrer begehrten. Sie wünschte jedoch garnicht sich voreilig zu fesseln, sondern bat allemal jeden Bewerber um Aufschub und lange Bedenkzeit und freute sich einstweilen vergnüglich ihrer Freiheit.

Besondere Lust hatten beide Schwestern am Fahren und Reiten, und sie konnten dieser Neigung bequemlich fröhnen, da die Engländer schon begonnen hatten, ihre neuen prächtigen Straßen nach allen Seiten durch das Land zu führen. Sie pflegten dabei einen Diener mit sich zu führen, außer wenn ich sie begleitete, was zu Wagen sehr häufig geschah; denn das Reiten war allerdings nicht meine Sache.

So waren wir auch in jenem Sommer einmal hinausgefahren auf der Straße nach Govino, wo das alte Arsenal der Venezianer war. Gabriela führte die Zügel und eben liefen die Pferde in feurigem Trabe an dem kleinen Golf vorbei, der, wie Sie sich erinnern werden, tief ins Land eindringt bis an den Weg: da springt plötzlich hinter den Oelbäumen hervor ein Mensch, wirft sich vor die Pferde, reißt in die Zügel und bringt mit einem 18 Ruck die aufbäumenden Thiere zum Stehen. Wir sehen, es ist ein Mensch in albanesischer Tracht, in zerrissener, blutbefleckter Fustanella, vollbewaffnet mit Säbel, langer Flinte und Pistolen: wir sind starr vor Schreck; nur Gabriela, wie der Fremdling jetzt an ihren Sitz herantritt, erhebt die Peitsche, um mit dem silbernen Knauf derselben den Frechen auf den Kopf zu schlagen: der aber fängt geschickt mit der Hand die niedersausende Ruthe auf, entreißt sie mit leichtem Ruck der schönen Gegnerin und giebt sie ihr sogleich mit stolzer Bewegung zurück.

– Keine Furcht, Herrin! spricht er dann ruhig, ich bin kein Räuber und verlange nichts von dir, das du nicht aus freien Stücken zu thun gewillt sein wirst. Ich komme vielmehr als Schutzflehender mit drei kranken Gefährten; wir sind versprengte Flüchtlinge aus der Schlacht von Peta, seit Wochen irren wir mitten zwischen den Schaaren der Türken fliehend in Todesgefahr durch die Gebirge drüben, bis es uns endlich gelang, bei Nacht hierher über den Sund zu setzen. Wir wagten jedoch nicht uns öffentlich zu zeigen, denn wir wissen, daß die Engländer den Christen nicht wohlgesonnen sind, sie könnten uns gefangen setzen und festhalten; wir aber streben in den Krieg zurück, sobald unsere Wunden geheilt sind. Darum bitte ich dich, mir Auskunft 19 und Rath zu geben, denn Du erschienst mir als ein vornehmes Weib und doch nicht englischen Stammes. Wenn du kannst und willst, Herrin, so gieb uns selber einen sichern Zufluchtsort, wo wir in Verborgenheit genesen mögen. Wir sind Sulioten, Genossen des Markos Botzaris.

Was die letzten Worte für uns bedeuteten und welchen Eindruck sie zumal auf die beiden Mädchen machten, das können Sie sich schwerlich ganz vorstellen, wenn Ihnen auch ohne Zweifel Einiges von den gewaltigen Heldenthaten dieser Sulioten bekannt ist. Doch Sie wissen nicht, wie damals nicht wir allein, sondern ganz Europa ihren Namen mit Ehrfurcht und Begeisterung nannte, und wenn ich des Markos Botzaris gedenke und seiner Heldengröße und herrlichen Reinheit, so wollen mir altem Manne noch heute die Thränen ins Auge kommen. Auch in jenem unglückseligen Kampf bei Peta und Arta drüben in Epiros, wo so viele der besten Philhellenen – und nicht die wenigsten darunter von deutschem Blute – den Tod gefunden, hat Botzaris mit einer Anzahl seiner Pallikaren den rühmlichsten Antheil genommen, wenn auch der Sieg ihm diesmal fehlte. Nun also, es war nichts Kleines, wenn jener Flüchtling sagen durfte: »Wir sind Sulioten, Genossen des Markos Botzaris.«

20 Auch genügte dieses Wort vollauf, den Hochsinn und das Mitleid der jungen Contessen zu entflammen, sie verließen den Wagen und gingen mit dem Pallikaren ans Ufer, wo seine Gefährten verwundet und krank im Nachen lagen. Die edlen Mädchen beriethen und kamen auf den Einfall, die Sulioten auf ein Landhaus ihres Freundes Gaetano Gozzadini zu bringen, das nicht allzu fern von jener Stelle lag; denn sie wußten wohl, daß der treue Mensch ihnen keine Bitte abschlagen konnte. So führte ich denn in Gemeinschaft mit dem kecken Pallikaren, welcher Drakos hieß, die drei Kranken zum Wagen und setzte sie, so gut es gehen wollte; wir andern aber gingen nebenher zu Fuß bis zu der Villa, wo ich sogleich auch meine Pflicht als Arzt erfüllen konnte.

Gozzadini war nun durchaus glücklich, daß er seiner angebeteten Herrin einen Dienst erweisen konnte, nahm ihre Schutzbefohlenen mit Freuden auf und ließ sie mit allem Mitleid seines guten Herzens bis zu ihrer Genesung bestens verpflegen. Drakos allein hatte nur eine leichtere Wunde am Arm und hatte auch die Leiden der Flucht so wacker ertragen, daß er frei umherwandeln konnte wie ein Gesunder. Uebrigens ergab es sich bald, daß ihm von den Engländern keine Gefahr einer Haft oder Hinderung 21 drohte, und so sahen wir ihn täglich in der Stadt, wie er vor den Augen des bewundernden Volkes kühl und gelassen einherspazierte. Sie haben gewißlich, werther Herr, schon etliche der Albanesen hier gesehen, welche vom Festlande zur Arbeit herüberkommen: nun blicken Sie diese Menschen an, die ein armseliges Volk und zerlumptes Gesindel sind, wie sie einherschreiten und ihre Fustanella um die Hüften schwenken, als wären sie lauter geborne Fürsten und Edelleute, und dann denken Sie sich, wie so ein Suliot stolziren durfte, der gleichsam im Angesicht der ganzen civilisirten Welt dastand als geweihter Kämpfer für Freiheit und Christenthum! Und da er noch dazu ein sehr schöner, starker und ansehnlicher Mann war, so dürfen Sie sich nicht wundern, daß er von Vornehm und Gering angestaunt wurde, als wenn er etwa ein anderer Kaiser Napoleon gewesen wäre. Es versteht sich, daß er nicht mehr in seinen zerfetzten kriegerischen Lumpen aufzog, sondern in neuen, sauberen und gestickten Kleidern, die er wie schon so Vieles dem Edelmuth des Gaetano verdankte.

Es war natürlich und begreiflich, daß auch die beiden schönen Contessen freundliche Theilnahme für ihren tapfern Schützling fühlten und gar nicht verschmähten, sich öffentlich auf der Esplanade in seiner 22 Gesellschaft zu zeigen; denn wer konnte an etwas Arges oder Gefährliches dabei denken? Und noch begreiflicher war, daß der Pallikare ihnen die feurigste Dankbarkeit widmete und es für seine beste Glückseligkeit zu erachten schien, an ihrer Seite zu wandeln und ihnen von seinen Abenteuern gegen die Türken zu erzählen. Ja gewiß, das war beides so ganz natürlich – und doch dauerte es nur wenige Tage, da wußten gar manche kluge und offene Augen in Kerkyra, wie es in den Herzen dieses Drakos und der Contessa Gabriela aussehen mußte. Ich meinestheils war auch nicht gerade blind geboren; einmal fuhren wir zusammen in einem jener kleinen offenen Wagen, wie sie die Engländer damals eingeführt hatten, wiederum die Straße nach Govino entlang, Gabriela saß neben dem Pallikaren und lehrte ihn mit Eifer die ritterliche Kunst des Rosselenkens: denn die hatte er in seinen pfadlosen Bergen freilich nicht lernen können. Sie lachten viel dazu und waren vergnügt wie Kinder, ihre Hände griffen gar oft über und durch einander, viel öfter, wollte mir scheinen, als für den Unterricht eben durchaus nöthig war, und ihre Wangen glühten dazu und die Augen strahlten vor Freude und Schönheit. Seit jenem Tage wußte auch ich nur allzu genau, was hier in der Luft schwebte.

23 Das aber hätte auch ein Kind in allen den Tagen an ihnen beobachten können, daß sie beide viel schöner noch geworden waren als je zuvor; es schien, als ob ihre Gestalten leichter getragen würden, wie von unsichtbaren Flügeln, und als ob ein Leuchten von ihrem Antlitz ausginge und Jedes sich in dem Anblick des Andern immer von Neuem wie in einem Zauberspiegel verklärte. Nun hätte ein solches unausgesprochenes und doch sichtbarlich von aller Welt angeschautes Glück wohl geeignet sein können, den Neid der Menschen zu wecken, und doch habe ich damals fast Niemand von diesem Gifte berührt gefunden, sei es, daß die bloße Betrachtung so wundervoll vereinter Schönheit auch niedrige Seelen für eine Zeit lang besser machte, als sie im gewöhnlichen Lauf der Dinge sind, sei es vielleicht auch, weil Jedermann ahnte, daß dieses Glück nur von so ganz kurzer Dauer sein konnte. Mir selber schienen sie dahin zu gehen gleich zwei Nachtwandlern an einem Abgrunde, und um Alles hätte ich es nicht sein mögen, der sie anriefe; denn mir war, als müßten sie beim Erwachen jählings in eine tödtliche Tiefe stürzen.

Seltsam aber war es, neben diesen Verklärten zwei andere Gestalten zu sehen, welche fast beständig ihre Begleiter waren, die Contessa Cecilia und 24 Gaetano Gozzadini. Die Beiden hatten sich auf einmal zu einander gefunden als stille herzliche Freunde, aber keineswegs wie ein anderes Liebespaar, sondern wie zwei melancholische Menschenkinder, die sich mit einander in frommer Ergebenheit und ohne Neid und Eifersucht über ein heimliches Leid zu trösten suchen. Und wenn dies stille Paar hinter dem andern glänzenden langsam einherschritt, so sah es wahrlich so aus, als heftete die trübe Zukunft sich jetzt schon der herrlichen Gegenwart an die Ferse.

Endlich kam der Tag, an welchem der große Riß geschah und sich Alles entschied – jedoch ganz anders als irgend Jemand erwartet hatte. Mir war es bestimmt, ein Zeuge dieses schmerzlichen Auftritts zu sein. Es war in Gaetano's Villa, wo die Sulioten untergebracht waren; ich hatte meinen Krankenbesuch beendigt und trat hinaus in den Garten, wo Gaetano, der dort in träumerischer Versunkenheit an einer Cypresse lehnte, sich mir anschloß. Wir hatten noch nicht viele Schritte vorwärts gemacht, als wir Drakos und Gabriela bei einander erblickten: sie brach eben eine Blüthe von einem Orangenbaume und steckte sie ihm lachend an die Brust; er aber beugte sich plötzlich nieder auf ihre Hand, küßte dieselbe mit einer wilden Gluth und flüsterte ihr Worte zu, die wir nicht vernahmen, 25 deren Sinn aber nach seiner leidenschaftlichen Geberde und dem flammeuden Blick seiner Augen auch dem Harmlosesten nicht eine Secunde zweifelhaft sein konnte. Ich schaute flüchtig auf Gaetano, und ich sah Thränen an seiner Wimper.

Gabriela glühte tief auf wie von einer Flamme bestrahlt, und unmöglich wäre es, den Ausdruck ihres Gesichts zu schildern, in welchem eine unendliche Seligkeit mit Grauen und Entsetzen sich zu mischen und zu kämpfen schien. Wohl eine Minute blieb sie wortlos, wie von Sinnen, dann auf einmal raffte sie sich gewaltsam wie mit einem starken Ruck zusammen und warf einen angstvollen Blick nach rückwärts, als ob sie sich Hülfe von außen erflehte. Da fiel ihr irrendes Auge auf uns, und in derselben Secunde warf sie stolz das schöne Haupt zurück, winkte uns hastig mit der Hand und sagte so laut, daß wir jede Silbe aufs Genaueste vernahmen: »Ich bin die Braut des Gaetano Gozzadini!«

Sie war bleich wie eine Todte, als sie diese Worte sprach. Ich verstand schnell ihre Meinung, daß sie mit dem jähen Bescheid Rettung vor sich selber suchte. Und auch ein Anderer verstand sie, Drakos; das las ich in seinen Mienen, die einen so raschen und wilden Kampf wiederspiegelten, wie ich 26 ihn nicht wieder während weniger Secunden in eines Menschen Antlitz gesehen habe: Zweifel, Schreck, Unglaube, Erkenntniß, Verzweiflung, Wuth; wilder Trotz, erzwungene Fassung, Rachedurst und Hohnlachen – das mußten etwa die verschiedenen Schwingungen seines Gehirns sein, wie sie in rasender Hast auf einander folgten. Zuletzt machte er ruhig eine anständige Verbeugung und entfernte sich nach dem hinteren Ausgang des Gartens; nur die Worte schienen ihm doch zu versagen.

Ich hatte darüber nicht Zeit gefunden, auf Gaetano zu achten, wie er diese unerhört schnelle Wandlung seines Schicksals aufnehmen würde. Jetzt kam Gabriela selbst auf ihn zugeschritten und zur Bekräftigung ihres raschen Ausspruchs lehnte sie, wiewohl schweigend, ihr Haupt an seine Schulter und barg ihr Antlitz, doch gewißlich nicht aus liebender Verschämtheit, sondern um ihm die Noth ihres Herzens zu verhüllen. Sie sah aus wie Jemand, der Alles in dieser Welt verloren hat, was ihm lieb war, und der nun irgendwo am Rande der Wüste ein stilles Plätzchen findet, wo er ungestört seinem Grame leben kann.

Die ehrlichen Züge des Gaetano aber strahlten von ungemischter Seligkeit.

Am nächsten Morgen ließ Contessa Gabriela 27 mich sehr frühe als Arzt zu sich rufen; doch sie war nicht krank, sondern wollte sich nur ohne Zeugen gegen mich aussprechen.

»Nun, was spricht man von dieser Verlobung, Grigori?« fragte sie, indem sie zu lächeln versuchte; doch nichts verrieth mir so sehr ihre innere Qual, als dieses verfehlte Lächeln.

»Man ist . . . sehr überrascht, Kontissa,« entgegnete ich verlegen.

»Das bin auch ich!« rief sie, und jetzt lachte sie wirklich. Im selben Augenblick aber traten die Thränen hervor. »Ach, Grigori,« fuhr sie vertraulich fort, »seht, es ging ja doch nicht anders. Hieltet Ihr es denn auch nur für möglich, daß ich mich mit diesem Pallikaren verbinden konnte? Ja, seht, bis gestern berauschte ich mich sinnlos, gedankenlos an seinem Glanze, seinem Heldenthum . . . und wir hätten ja noch manchen Tag mit einander glücklich sein können . . . aber er durfte das Wort nicht sprechen, das mich aufweckte aus meinem Traume. Als er mir seine Leidenschaft enthüllte, fand ich die Besinnung wieder, ich sah, welche Entscheidung ich zu fällen hatte, was mir bevorstand, wenn ich der süßen Lockung folgte: tödtliche Kränkung meines Vaters, Losreißung von meinem Hause, meiner Heimath, meiner Vergangenheit und von der 28 Zukunft der Meinen, Herabstürzen aus goldener Höhe in den sumpfigen Strudel der gemeinen Welt – das Alles war die Folge, wenn ich mich dem wildgewachsenen Sohn der Berge zu eigen gab. Mit meinem Namen hätte ich Alles, hätte ich mich selbst verloren. O Grigori, dieser Name, der bloße Schatten der Dinge, ist so allmächtig unter uns Menschen . . . es klingt so schön und erhaben, wenn ihr spottet oder predigt gegen den Adelsstolz, den Namensdünkel: und doch ist es einzig und allein der Name, der uns über die Menge erhebt . . . Daß die Natur uns nicht besser geschaffen als andere Menschenkinder, wissen wir selber zu gut, und eben darum klammern wir uns an das Eine, das uns besser macht als die Andern: der Glaube an jenen Schatten, unsern Namen, die unerschütterliche Anbetung unsrer eignen Ehre, das macht uns groß und edel, das allein hat tausend berühmte Heldenthaten geboren, tausend niedere Verbrechen verhindert, der Name ist der Schild unserer Tugend. Gut also, diesem Namen, diesem heiligen Vermächtniß meiner Ahnen, dem Glück meines Vaters, der Ehre meiner Schwester, dem allen forderte die Pflicht eine wilde Wallung des begehrlichen Herzens zu opfern . . . es war nicht leicht, Grigori, wahrhaftig nicht leicht . . . doch allein um meiner Schwester Cecilia willen 29 hätte ich das Opfer gebracht. Was spricht man nun von dieser Verlobung, Grigori?«

Ich war noch ein bischen verwirrter als vorher, es ist so seltsam, solche Dinge mit einem heiß erregten Mädchen zu besprechen; doch endlich sammelte ich mich und fragte bescheiden:

»Und hofft Ihr, mit diesem . . . mit Gozzadini glücklich zu werden?«

»Glücklich?« rief sie rasch mit bitterem Ton, »habe ich das gesagt, daß ich glücklich werden wollte? – Aber warum ich gerade diesen wählte? O Gott, ich mußte den einen Trost doch dem Verschmähten gönnen, daß ich ihn nicht . . . aus Leidenschaft für einen Andern zurückwies . . .«

Das war das letzte Wort, das sie in dieser Sache zu mir sprach: denn sie vermochte sich nun nicht mehr zu beherrschen, reichte mir die Hand und ging hinaus; ich meinte noch zu sehen, wie der Kampf mit den vorstürzenden Thränen ihren Körper erschütterte. An dies letzte Wort aber habe ich sehr, sehr viel denken müssen, weil ich der Ansicht bin, daß gerade hier zum nicht geringen Theil der Keim des weiteren Unheils verborgen lag. Denken Sie sich nur, Herr, in die Lage und die Empfindungen jenes Pallikaren, des gefeierten Helden, hinein: nicht die sanfte Trauer unerwiderter Liebe kann ihn 30 bewegen, denn seine Liebe ist erhört, er ist klug genug, das klar zu erkennen, er sieht, die Geliebte, die Liebende stößt ihn zurück nicht seiner Person, sondern seines Standes wegen – um einen guten Schwachkopf zu beglücken, der nichts als vornehmer geboren ist. Nicht Drakos ist verschmäht, sondern der Pallikare, der Freiheitskämpfer, der stolze Suliot – was muß die Folge sein? Der trotzige Gebirgssohn wird all seine Liebe untertauchen in brennenden Ehrgeiz, all seine Hoffnung in wüste Rachsucht . . . so mußte es kommen, und so kam es.

Aber dieser Suliot bewies nun, daß er nicht blos als wilder Klephthe mit Gewehr und Dolch seine Feinde zu treffen wußte – wir fürchteten wohl anfangs, er möchte im ersten Zorn den Gaetano niederstoßen: doch dieser war sein Wohlthäter, und undankbar sind jene rauhen Helden nicht – nein, er wußte die Treulose ohne Blutvergießen mit so bitterer Rache zu treffen, daß der allerfeinste venezianische Bösewicht nichts Grausameres hätte erfinden können. Und wie vollbrachte er das?

Einige Tage ging er ruhig und gleichmüthig einher und verstand sich so trefflich zu beherrschen, daß wir uns mit Erstaunen fragten, ob denn alle die Leidenschaft, die zuvor in seinen Blicken geglüht, nur unsere Augentäuschung gewesen sei. Ja, er 31 verkehrte freundschaftlich wie sonst mit mir, mit Gaetano und – mit Cecilia.

Nicht lange sollten wir in beruhigter Täuschung leben: eines Morgens war Drakos und seine halb genesenen Gefährten von der Insel verschwunden, und mit ihnen Contessa Cecilia.

Wie er die Unglückliche so schnell bethört hatte, vermochte Niemand zu begreifen; ich aber glaube, daß zu allem Anderen noch das Mitleid gekommen war, das sie mit dem so jäh Verstoßenen empfand, denn sie hatte von Jugend auf ein weiches und schnell empfängliches Gemüth und ahnte sicherlich, was hier vorgegangen war, wenn sie auch nicht gleich mir dem Augenblick der Entscheidung beigewohnt hatte. Wie dem auch sei, für die Ihrigen galt sie sogleich als eine Verlorene, Niemand dachte auch nur an eine Verfolgung, die freilich in den Bergen von Albanien jedem Verständigen als ein Unding erscheinen mußte. Der alte Conte Loredano, ihr Vater, enterbte sie, fluchte ihr und starb. Bei seinem Begräbniß sah ich Gabriela zum erstenmal seit dem traurigen Ereigniß; sie schien selbst wie eine Abgeschiedene unter den Lebenden zu wandeln, so bleich und so ohne Ausdruck waren ihre Züge. Nur einmal nickte sie mir zu mit einem müden Blick, und da trat jenes herbe Lächeln wieder auf 32 ihre Lippen; es war das letztemal, daß sie zu lächeln versuchte, von da an blieb sie ganz verschlossen, ergeben und stolz. Ich wagte auch später nie mit ihr über diese Dinge zu reden: wie kann man ein Weib trösten, das sein ganzes Glück zum Opfer gebracht hat, und nicht für die Ehre ihres Hauses, wie sie es meinte, sondern einzig – für die Schande ihrer Schwester.

Dem Gaetano hielt die Contessa ihr Wort, sie vermählte sich ihm nicht lange danach und lebte mit ihm in einem kleinen Landhause nahe bei Gasturi, nicht in jenem, das vordem die suliotischen Helden aufgenommen. Nie hat sie den Verlust ihrer Schwester beklagt oder Jemand ihr anderes Leid wieder vertraut, sie ging an der Seite ihres Gatten dahin, nicht mehr wie ein schönes Weib von Fleisch und Blut, sondern eher wie ein weißes Marmorbild, das halb nur zum Leben erwacht ist, oder, um mit den Bauern zu reden, wie eine gefangene Neraide.

Gaetano ertrug ihre Stille und Kälte mit unendlicher Geduld; und endlich nach Jahresfrist ward seine Hingebung ihm ein wenig gelohnt. Gabriela genas eines Töchterchens, und in der liebenden Sorge für dasselbe fing ihr Herz an leise wieder aufzuleben, so daß sie auch ihrem Gatten fortan mit einiger Zärtlichkeit begegnete. Freilich das holde 33 Lachen anderer junger Mütter habe ich nie auf ihrem Antlitz gesehen, und doch war aus all ihrem stillen Thun deutlich zu erkennen, daß sie ihr Kind mit all derselben Kraft ihres leidenschaftlichen Gemüthes liebte, durch welche jenes eine große Leid so unauslöschlich ihrer Seele eingeprägt worden. Seltsam aber war es, daß dies kleine Geschöpf die trübe Stimmung seiner Mutter von Anfang an geerbt zu haben schien, sei es, weil es von ihr niemals das Lachen lernen konnte, sei es, weil es in der That auch von Natur ein kränkliches und schwaches Würmchen war. Es wurde, als es einige Jahre zählte, nicht munter und gesellig wie sonst Kinder, sondern liebte es am meisten, einsam in der Nähe des Hauses unter den Cypressen und Oliven herumzuschweifen, und ganz schwermüthig blickte sein zartes junges Köpfchen in die Welt.

Weder von Drakos noch von Cecilia war jemals in diesem Hause die Rede. Und doch waren sie nicht ganz verschollen, sondern von Zeit zu Zeit drangen bestimmte Nachrichten über ihr Leben in unsere Stadt; und das war kein Wunder, denn die Zahl der Kerkyräer war nicht gering, welche draußen freiwillig die Waffen für das hellenische Vaterland trugen und hier und dort in den wechselnden Kriegsläuften jenem Paare begegneten. So erfuhren wir 34 denn, daß Drakos beständig an der Seite seines Markos Botzaris gefochten, bis dieser bei Karpenisi den vielbeweinten Heldentod fand. Dann folgte er dem Notis Botzaris und gehörte zu den heldenmüthigen Vertheidigern von Missolunghi gegen Ibrahim Pascha bis zum Fall der unglücklichen Stadt. Sie kennen den schrecklichen Ausgang dieser Belagerung: wie die halbverhungerten Hellenen mit Weib und Kind den Durchbruch mitten durch das Heer der Ungläubigen versuchten, wie die Meisten von ihnen, Bewaffnete und Waffenlose, im grausamen Gewühle den Tod fanden und nur ein geringer Haufen sich endlich in die Berge rettete. Und all' dies Elend und Grausen mußte unsere zarte Contessa mit erdulden, und das mit einem zweijährigen Kinde!

Unter den Tapfern, die vorausstürmend ihren Weibern die Bahn brachen, war auch Drakos; und hier hat er durch einen edlen Kriegertod sein Verbrechen gesühnt. Zu den zweihundert Geretteten gehörte Cecilia mit ihrem Knaben. Das geschah, wie bekannt, im April des Jahres 1826. Dann vergingen einige Jahre, ohne daß Jemand von dem Schicksal der Unglücklichen weitere Kunde zu uns brachte. Was ich später erfahren, ist in aller Kürze, daß sie nach Ithaka hinüberging und dort sich mühsam und tapfer mit ihrer Hände Arbeit durchgerungen hat, 35 bis ihre Kraft so erschöpft war, daß sie in der bittern Sorge um ihres Kindes Zukunft der Rückkehr in die Heimath nicht mehr widerstand.

Zu mir, dem alten Freunde ihres Hauses, kam sie zuerst, meine Vermittelung zwischen ihr und der Schwester zu erflehen. Fast schämte ich mich, so auf einmal als Helfer und Schützer vor der zu stehen, die ich als das schönste und vornehmste Weib vordem gekannt. Wie war sie erniedrigt und gedemüthigt! Wie einst ihr adeliger Sinn der Leidenschaft zum Manne erlegen war, so jetzt der Stolz des verstoßenen Weibes der Liebe zu ihrem Kinde. Ich sah den Knaben, und es fiel mir ein, sein schönes Kinderantlitz möchte wohl am allerbesten geeignet sein, ohne viel künstliche Vermittelung und Vorbereitung das Herz seiner nächsten Verwandten für sich einzunehmen. Deshalb überredete ich Cecilia, sogleich mit mir nach der Villa ihres Schwagers zu fahren und einen raschen Ansturm auf die Herzen zu versuchen.

Doch dieser mein Rath war nicht weise, wie sich leider zu schnell ergab. Ich hatte nicht bedacht, daß es das Kind des Drakos war und seines Vaters Züge so deutlich wie je ein Sohn im Antlitz trug: diese breite, unten stark vorgewölbte Stirn, die kräftig gebogene Nase, vor Allem die kühnen, glühenden 36 Augen, das alles war ein unverkennbares Vermächtniß des tapferen Pallikaren, nur der holde weiche Mund war der seiner Mutter.

Wir trafen die Contessa allein im Garten, und schon freute ich mich des glücklichen Zufalls. Cecilia warf sich weinend vor ihre Füße und sagte nur die Worte: »Ich bin hilflos und verlassen!« Und wie ich sah, daß Gabriela von der plötzlichen Erscheinung überwältigt und erschüttert stand und nach kurzem Kampf erbarmend die Hand ausstreckte, da schob ich leise den Knaben vor, daß er das schöne Werk der Versöhnung vollende. Gabriela faßte ihn rasch ins Auge und mußte wohl augenblicklich den Vater in ihm erkennen – mit einem lauten Aufschrei fuhr sie zurück, wehrte ihn heftig von sich ab und rief: »Dir könnte ich verzeihen, aber diesem Kinde nie!«

So hat sie die Schwester von sich gestoßen und das schützende Haus vor ihr verschlossen.

Sofort erhob sich Cecilia von ihren Knieen, riß das Kind an sich und schritt, ohne ein Wort zu sagen, wieder dem Ausgang zu; der alte Stolz der Loredani war in ihr erwacht. Ich erkannte, daß ich jetzt nichts thun konnte, als ihr folgen. Ich suchte sie zu trösten, doch sie schien keines Trostes mehr bedürftig.

37 Nicht weit vor dem Garten fanden wir das Töchterchen des Gaetano allein im Grase spielend, es hielt einen großen Strauß von Asphodeloslilien in der Hand, hinter dem sein blasses Gesichtchen sich halb versteckte. Cecilia konnte das Kind hier nicht verkennen, es hatte ganz den rührend ehrlichen Blick seines Vaters; trotz ihrer trotzigen Erregung vermochte sie nicht so schnell vorüberzugehen. Sie betrachtete es lange und wehmüthig, warf dann einen fast scheuen Blick mütterlichen Stolzes auf ihren so viel kräftiger blühenden Knaben und sagte leise mehr für sich als zu ihm: »Das sollte deine Schwester werden!«

Dies Wort schien die Neugier beider Kinder gewaltig zu reizen, sie starrten unbeweglich einander ins Gesicht wie in ein nie gesehenes Wunderding, und nur mit ernstlichem Zwang vermochte Cecilia den kleinen Burschen fortzuziehen. Ich baute damals eine leise Hoffnung auf diese Scene. –

Am selben Abend noch suchte mich Gaetano in der Stadt auf und brachte in seinem und seiner Gattin Namen eine erhebliche Geldsumme zur Unterstützung der Schwägerin: doch diese wies Alles voll stolzer Entrüstung als ein klägliches Almosen zurück und ließ sich auch durch sein herzlich bedauerndes Zureden zu nichts bewegen, obwohl sie einsah, wie 38 gut und treu er selbst es mit ihr meinte. Mich bat sie, ihr ein Haus fern von der Stadt ausfindig zu machen, wo sie im Verborgenen von ihrer Arbeit leben könnte, wie sie bisher in der Fremde gewohnt gewesen. Ich fand einen Platz, der mir wie geschaffen für sie schien: jenseits Gasturi, in einer engen Schlucht, die vom Berge Aji Deka niedergeht, nimmt unsere Wasserleitung ihren Ursprung, und hier an der Quelle im Aufseherhäuschen hauste damals ein altes wackeres Pärchen, das gern bereit war, die verlassene Frau bei sich aufzunehmen. Ich meinte meine Sache sehr gut gemacht zu haben, denn nicht nur war das Haus feiner und sauberer als eine Bauernhütte, dazu an einer reizenden Stelle gelegen, mit Weinlaub und Rosen übersponnen, sondern es war auch nicht allzu weit von Gaetano's Villa entfernt, nur der breite Hügel von Gasturi liegt dazwischen; und so dachte ich, eine zufällige Begegnung, ein plötzliches Hervorbrechen der alten schwesterlichen Liebe könnte vielleicht noch einmal Alles zu einem guten Ende bringen, wenn man nur nichts gewaltsam überstürzte. So lebten die beiden Schwestern nahe bei einander und doch in ihrem Herzen fern, und ein unversöhnlicher Groll trennte diejenigen, welche die Natur bestimmt hatte, sich die Liebsten auf Erden zu sein.

39 Da war es denn nun um so wunderbarer, daß die Kinder wider beider Mütter Wissen und Willen sich doch zusammenfanden und mit einem stillen Wohlgefallen unter sich verkehrten; wo sie zuerst ihre rasche Bekanntschaft erneuert, weiß ich nicht, denn seltsamerweise schwiegen sie beide gegen sonstige Kinderart vor Jedermann über diese Kameradschaft, als ob sie eine Ahnung von der schlimmen Kluft gehabt hätten, welche die Eltern trennte. Nachher haben die Bauern von Gasturi sie oft beisammen gesehen, am Brunnen oder irgendwo sonst unter den Bäumen an abgelegenen Stellen; diese Menschen hatten aber schon damals eine gewisse abergläubische Furcht vor den beiden fremden schönen Frauen und flüsterten allerhand wunderliche Dinge von ihnen wie auch von ihren Kindern: und deshalb getrauten sie sich nicht, Jenen von ihrer Beobachtung Kunde zu geben, obgleich sie mir gern und geschwätzig alles erzählten, was sie gesehen hatten. Ich aber hatte gleichfalls meine Gründe, davon noch zu schweigen.

Als ich jedoch eines Nachmittags, wie es nicht selten geschah, zur Villa Gozzadini hinauskam, fand ich Gabriela allein und in heftig erregter Sorge: ihr Töchterchen war über die Mittagszeit von Hause fortgeblieben und noch nicht zurückgekehrt; sie war zwar gewöhnt an das stille Schweifen und ließ es 40 furchtlos geschehen, weil das Kind sich früher niemals weiter entfernt hatte, als etwa seines Vaters starke Stimme reichte, und in jener friedsamen Gegend kaum irgend welche Gefahr zu befürchten war. So ward denn diesmal die Angst nur um so größer, schon war Gaetano mit den Dienern nach verschiedenen Richtungen ausgezogen, den kleinen Flüchtling zu suchen, und die Mutter verging in der Einsamkeit des Hauses beinahe vor Unruhe.

Unter diesen Umständen meinte ich nun, es sei an der Zeit, etwas von jener heimlichen Kinderfreundschaft verlauten zu lassen, die gewißlich das heutige Ausbleiben der Kleinen am besten erklärte. Die erste Andeutung aber steigerte die Aufregung der geängstigten Mutter zu fieberhafter Höhe; sie erklärte plötzlich, sie müsse selbst hinaus, ihren Leuten suchen zu helfen, und forderte mich auf, sie zu begleiten. Ich willfahrte ihr gern, mehr um ihre zitternde Unruhe zu beschwichtigen, als weil ich unsere Hilfe für nothwendig oder besonders förderlich hielt.

Auf einem Seitenwege ziemlich weit unterhalb Gasturi trafen wir ein junges Weib, das die Contessa mit seltsam scheuen Blicken anstarrte; ich fragte, ob das Kind hier gesehen worden: das Weib schwieg und bekreuzte sich. Nur auf mein zorniges Andringen deutete es endlich stumm auf die Richtung eines 41 stillen Pfades zwischen den Olivenhügeln, darauf lief es plötzlich wie närrisch von dannen. Ich merkte, daß hier jener abenteuerliche Neraidenglaube im Spiele war, von dem ich gelegentlich im Dorfe hatte schwatzen hören, und achtete nicht sonderlich darauf, nur daß ich im Innern die dumpfe Macht solchen unverwüstlichen Wahnglaubens über rohe Gemüther beklagte; Gabriela ward bei dem wunderlichen Gebahren der Frau von erneuter Angst gefaßt und eilte den Pfad so hastig hinauf, daß ich kaum zu folgen vermochte. Bald fanden wir eine Anzahl frischgebrochener Asphodeloslilien auf dem Wege verstreut: sie wußte, daß ihre Tochter diese blassen Blumen liebte und sah darin ein Zeichen ihrer Nähe. Und so stürmte sie noch eiliger vorwärts.

Nun muß ich Ihnen die Gegend schildern, zu welcher man auf jenem einsamen Wege gelangt. Es ist ein kleines tiefes Thal, rund wie ein Kessel, mit sanften Abhängen; zuweilen erblickt man verlassene Häuser, deren Mauern der Epheu umrankt und eingedrückt hat. Auf dem Grunde aber läuft ein lang gestreckter schmaler Sumpf wie ein Graben, so schmal, daß die mächtigen Oelbäume, welche dort stehen, darüberweg ihre Aeste ineinander schlingen; es sieht aus, als wollten sie sich festklammern, um sich vor dem Versinken zu schützen. Dieses Wasser 42 ist trübe und fast schauerlich zu sehen, nur wenige Strahlen der Sonne dringen durch das Laub und hüpfen wie zitternde Blitze über die Fläche, welche fast undurchsichtig erscheint: und doch erblickt man darunter ein häßliches Gewirr von Wasserpflanzen und schleimigen Ranken, die sich wie Schlangen zu bewegen und um einander zu ringeln scheinen. Darüber schwimmen verstreut einige breite Blätter und einsame weiße Blumen, zwischen denen große Wasserkäfer hin und her huschen. Zuweilen gurgelt es plötzlich vernehmbar in der Tiefe, und Blasen springen auf, als ob irgend ein geheimes Leben da unten verborgen wäre. Die Luft ist dort immer stickig und schwül, ohne erfrischende Regung; zahllose Schwärme von Insekten summen leise und ohne Aufhören. Stößt man einen Ruf aus, dann schallt es so jäh durch die Stille, daß man erschrickt, und tönt lange mit gebrochenem Gellen zurück, ganz als ob diese träge Einöde ihre gestörte Ruhe beklagte. Die Stelle ist gefürchtet bei den Bauern, und im Sommer zumal vermeidet sie Jeder gern, weil das Fieber dort haust, schlimmer und gefährlicher als an irgend einem anderen Gewässer der Insel; darum sind auch jene Häuser verlassen worden. Einige meinen, dieser Sumpf sei eine Lieblingsstätte der Neraiden, Andere nennen ihn den Sommersitz des 43 Charos: Sie wissen, daß die Leute mit diesem alten, nur ein wenig veränderten Namen heutzutage den Tod bezeichnen.

Dorthin also war ich mit der geängstigten Contessa gerathen, und es war, als ob wir in eine fremde, unheimliche Welt versetzt wären, denn keines von uns beiden hatte dies Thal zuvor betreten. Laut rief sie den Namen ihrer Tochter, und ich wiederholte denselben noch lauter, um nur die Brust von der beklemmenden Stille zu befreien. Da glaubten wir leicht hinflatternde Töne, ein helles Kinderlachen zu vernehmen: aber das klang so fremd, so unnatürlich in dieser Umgebung, daß ein verdoppelter Schauer unsere Herzen zusammenpreßte. Dann ward es wieder still, und immer peinlicher drückte uns diese Stille, je weiter wir längs des Wassers vordrangen – da plötzlich hörten wir wieder das Kinderlachen, und diesmal ganz laut, ganz nahe, und doch zugleich so unklar vergellend wie aus weiter Ferne. Einige dichte Oleanderbüsche an einer Krümmung des Wassers entzogen uns den Blick ins Weite; eifriger drangen wir vor, und sobald wir den Winkel erreicht hatten, erblickten wir unweit desselben die beiden Kinder.

Sie standen auf der weit ins Wasser vorspringenden Wurzel einer uralten Platane, die vereinzelt 44 sich dort eingedrängt hat, die kleine Contessa griff mit der einen Hand in eine runde Höhlung des Stammes und hielt sich darin fest, während die andere sich dem Knaben entgegenstreckte, der sie mit der Linken umklammerte und sich in kühner, gefährlicher Stellung weit über die Fluth vorbeugte, um mit einem Oelzweig nach einer schwimmenden Blume zu fischen. Gabriela stieß einen schwachen Schrei der Ueberraschung aus bei diesem Anblick: der Knabe vernahm ihn, blickt auf, sieht die weißgekleidete Frau, die plötzlich wie eine Geistererscheinung aus dem Boden gewachsen ist; in jähem Kinderschreck läßt er die Hand der Freundin los und stürzt ins Wasser, diese greift ihm nach mit der leeren Hand, will ihn wieder fassen, emporziehen, verliert darüber selbst den Halt auf der schlüpfrigen Wurzel und versinkt fast zugleich mit ihm in die matt aufsprudelnde Fluth.

Mit einem entsetzlichen Angstruf fliegt die unselige Mutter zu der Stelle, wirft sich rücksichtslos ihrem Kinde nach und tastet unter dem Wasser nach dem kleinen Körper. Ihre Füße fanden Grund, jedoch, das sah ich an ihren schwankenden Bewegungen, einen unsichern, schlammig nachgiebigen Grund, und bis über die Brüste bedeckte sie die schwarze Fluth: für die Kinder mußte sie von tödtlicher Tiefe 45 sein. Und nun stellen Sie sich meine grauenhaft jammervolle Lage vor: in diesem einen Augenblick meines Lebens habe ich Gott gelästert ob meiner verkrüppelten Zwergengestalt, denn tödtlich war diese Tiefe auch ebenso sicher für mich, den die stolze Gestalt der Contessa um mehr als Haupteslänge überragte, und ich konnte nichts als müßig vom Ufer zuschauen, wie diese mit der Angst der Verzweiflung unter dem Schlingkraut umhergriff und zerrte; zuweilen schien sie ein menschliches Glied, einen zarten Körper zu fassen, aber dann waren es nur lockere Ranken oder Binsengewirre; die Secunden wurden mir zu grausig langen Minuten – jetzt endlich, jetzt ist's wirklich ein Kinderarm, sie reißt den jungen Leib an sich, preßt ihn in die Arme, trägt ihn die Fluth durchschneidend ans Ufer und reicht ihn mir herauf. Und nun sah ich, wie sie dabei die Augen fest und gewaltsam schloß; ich ahnte, warum: sie wollte mit den Augen nicht sehen, was ihre Hände doch fühlen mußten – es war nicht ihr Kind, das sie gerettet hatte.

Wieder warf sie sich in den Sumpf und suchte und suchte, eine Minute lang und noch eine Minute; ich merkte, wie ihre Kräfte zu weichen begannen, da die entsetzliche Angst an ihnen zehrte; sie mußte sich eine Zeitlang an jene Baumwurzel klammern, um 46 nicht einer Ohnmacht zu unterliegen. Und unterdessen ward es zu spät zur Rettung. Zu lange Minuten waren vergangen seit dem Sturz, es war unmöglich, daß ihr Töchterchen noch lebte, auch wenn sie es fand. Und doch mußte sie sich erst noch wieder auf eine schreckliche Weile dem unheimlichen Grunde vertrauen, bis sie endlich – die Leiche in den Armen hielt. Ich that mein Möglichstes, das entflohene Leben noch zurückzurufen, doch bald mußte ich als Arzt erklären, daß der Tod schon eingetreten sei. Der Knabe aber war nach kurzer Bemühung zum Bewußtsein zurückgekehrt und außer aller Gefahr.

Die Contessa lag lange Zeit regungslos über das todte Kind gebeugt, das Antlitz in dessen feuchten Kleidern verbergend; wäre nicht das unaufhörliche leise Schluchzen und Zucken gewesen, ich hätte sie für ohnmächtig oder todt gehalten. Endlich wagte ich sie sanft zur Heimkehr zu ermahnen und erinnerte sie ihres in Ungewißheit harrenden Gatten. Da sprang sie plötzlich auf, starrte eine Zeitlang wie betäubt ins Leere und preßte endlich mit dem Ausdruck leidenschaftlicher Abwehr und Angst zwischen den Zähnen hervor: »Ich kann nicht mehr zu ihm zurückkehren! Sein Haus ist nicht mein Haus! Ich kann nicht länger mit ihm leben! Was an ihm 47 lebendig war, ist todt, er ist für mich gestorben mit dem Kinde, ich kann ihn nicht wiedersehen!«

Und nun auf einmal warf sie sich auf die Kniee vor dem geretteten Knaben, drückte ihn mit unendlicher Zärtlichkeit an ihre Brust und rief unter Thränen und Küssen: »Bei dir bleibe ich, du bist jetzt mein Kind geworden, ich habe dich mir gerettet, und niemals, niemals darfst du mich wieder verlassen! Du bleibst mein, du Sohn des herrlichsten Vaters, an seiner Stelle will ich dich pflegen mit deiner Mutter, und edler noch, als er war, wollen wir dich vor uns erwachsen sehen! O du Kind, mein geliebtes Kind, du sollst mir helfen um deine Schwester zu weinen, die um deinetwillen gestorben ist! Aber dich will ich nicht minder lieben als ich sie geliebt habe, so lange sie lebte. – Grigori, wir gehen zu meiner Schwester!«

Mit diesen Worten erhob sie sich, nahm den Knaben auf den Arm und winkte mir, die kleine Leiche zu tragen. Und so schritt sie mir festen Ganges vorauf.

Es war also bestimmt, daß dieser Tag, den ich wohl als den bittersten meines Lebens bezeichnen mag, mir zugleich einen Anblick gewähren sollte, wie man ihn erfreulicher nicht leicht ersinnen kann: die herzliche Versöhnung und Wiedervereinigung der beiden 48 edlen Schwestern, welche in der Folgezeit bis zum Ende niemals wieder gestört wurde. Gemeinsam schmückten, begruben und beweinten sie das arme gleichsam als Sühnopfer gefallene Geschöpfchen, und gemeinsam lebten sie in dem anmuthigen Quellenhäuschen der zärtlichen Sorge für den schönen Knaben des erschlagenen Helden Drakos, und derselbe hatte bei solcher zwiefachen Mutterliebe den Vater nicht zu vermissen.

Es erübrigt jedoch, zuletzt dasjenige zu erwähnen, was Ihr abenteuerliches Bauernmärchen von der Neraide Wahres und Begründetes enthält. Das Eine ist dies, daß Gabriela wirklich während der folgenden Jahre die seltsame Gewohnheit hatte, gar häufig um die Mittagszeit zum Brunnen von Gasturi hinauf zu steigen und dort in Einsamkeit ein Stündchen auf- und niederzuwandeln, auch wohl voll schmerzlicher Erinnerung in die dunkle Tiefe hinabzublicken. Es kränkte sie, wenn Jemand davon reden wollte; aber ich meine, sie hatte das Bedürfniß, einmal am Tage mit ihren Gedanken allein zu bleiben, und sie wählte diese Stelle, weil Niemand sie dort störte und weil das Wasser und die große Platane sie an den Sumpf des Charos erinnerten.

Das Andere betrifft den armen Gaetano Gozzadini. Ich sagte Ihnen schon, daß derselbe nie zu 49 den stärksten Geistern gehörte. Als nun aber sein Kind ertrunken war und sein Weib ihn verlassen hatte, da verlor er vollends die vernünftige Besinnung und nahm sich alles Ernstes das thörichte Gerede der Bauern zu Herzen, seine Frau sei eine Neraide und sei ihm nur entflohen, um ihrer dämonischen Freiheit zu genießen. Darum machte er auch niemals, wie verständige Leute ihm riethen, einen Versuch, sie aufzufinden und auf natürliche Weise zur Rückkehr zu überreden. Vielmehr hängte er sich mit der ganzen Kraft seines zähen Geistes an den alten Glauben des Volkes, ein Mann vermöge eine solche Dämonin, die ihn verlassen hat, dadurch zu zwingen und von Neuem an sich zu fesseln, daß er selbst sieben Jahre lang die Schwelle seines Hauses nicht überschreitet. Nach dieser tollen Vorschrift that der arme Narr und harrte wirklich durch länger als sechs Jahre wie ein Gefangener der Wiederkunft seines Weibes. Weil aber seine schwache Natur irgend etwas Sichtbares haben mußte, sein Herz daran zu hängen, so fing er an, innerhalb seiner Wände eine wundersame Blumenzucht zu treiben, nicht wie ein Gärtner, der um seines Vortheils oder auch seines Vergnügens willen seine Pflanzen als seelenlose Geschöpfe pflegt, sondern wie ein spielendes Kind, das seine Puppen mit feierlichem Ernst als 50 Seinesgleichen hegt und liebt und sich recht freundschaftlich mit ihnen unterredet. Jede Blume war ihm ein einzelnes und besonderes Wesen, das seinen Platz und seine Achtung für sich beanspruchte und erhielt. Und es war, als ob wirklich etwas von der Seele, die er ihnen andichtete, in diesen stillen Gottesgeschöpfen unter seiner schaffenden Hand erwachte, in so wundervoller Schönheit und Frische gediehen sie in den beengten Räumen; wer von draußen hereinkam, dem drang eine Wolke von Wohlgeruch wie ein süßer, leise wehender Athem berauschend und fast verwirrend entgegen; von Decken und Wänden hingen in reizendem Wirrwarr hernieder Asklepien und Geisblatt und Clematiswinden vermischt mit Epheu und wildem Wein, darunter standen gleichsam als gliedernde feste Pfeiler Orangenstämme mit ihren märchenhaft duftenden Blüthen, Rosen von hundert Arten dazwischen und zahllose kleinere Blumen, auch Pflänzchen von geringem Werth, die auf dem Felde gemein sind, wie Anemonen und Asphodeloslilien. In die Mitte seines Hauptgemaches aber hatte er einen Rosenstock gesetzt von ganz ausgezeichneter Schönheit, dessen dunkelrothe Blumen an Duft und an Pracht des Anblicks Alles hinter sich ließen, und im Kreise um denselben herum eine Anzahl ganz junger anmuthig schlanker 51 Cypressen wie zierliche Pagen um eine Königin. Dieser Rosenkönigin hatte er den Namen Gabriela gegeben, wie ein weißer Zettel an ihrem Stamme besagte; denn es war ihm in den Sinn gekommen, nach der Art wie es in botanischen Gärten zu geschehen pflegt, jede seiner Pflanzen mit einem besonderen Namen zu bezeichnen, nur daß er dabei nicht die Wissenschaft, sondern seine eigne Erfindung befragte. Dieses war allerdings seine Absicht: wer aber genauer zusah, der fand auf all diesen angehefteten Zetteln immer nur den einen Namen Gabriela wiederholt, so daß es deutlich war, er hatte in seiner Geistesschwäche alle anderen Namen über dem einen vergessen. Und so konnte man sagen, daß alle seine Blumen ihm das eine Wort gleichsam wie einen hundertfältigen Seufzer der Sehnsucht alle Tage zuriefen.

Es zeigte sich jedoch nach einigen Jahren, daß solche wunderliche Schwärmerei der Gesundheit des armen Menschen in hohem Grade nachtheilig wurde; von den überschwenglichen Blumendüften wurde nicht nur sein Geist immer schwerer betäubt und umdämmert, sondern auch sein Körper, der sonst von Kraft und Gesundheit strotzte, fing an abzunehmen und kläglich hinzusiechen. Zuletzt vermochte ich als Arzt diesen Zustand nicht länger geduldig anzusehen, und 52 nachdem ich jede gütige Ueberredung vergebens versucht hatte und er durch keine Ermahnung zu bewegen war, das Haus zu verlassen oder doch die Blumen zu entfernen, beschloß ich mit List und Gewalt gegen das Unwesen vorzugehen. Deshalb ließ ich ihn einmal Nachts, nachdem ich seinen Schlaf künstlich verstärkt hatte, sammt dem Bette über seine Schwelle ins Freie tragen, um so den abergläubischen und eingebildeten Bann vor seinen Augen zu durchbrechen.

Als er nun erwachte und sich außerhalb des Hauses fand, geberdete er sich anfangs wie ein Verzweifelter; doch nachdem er seinen Jammer ausgetobt hatte, schien seine Seele etwas klarer geworden zu sein und er hörte aufmerksam auf meine Worte. Ich sagte ihm, daß er sein Weib lebendig und menschlich am Brunnen von Gasturi sehen könne, wenn er mir folgen und seinen thörichten Wahn fahren lassen wolle, und da er endlich ermüdet in alle meine Maßregeln willigte, setzte ich ihn um die Mittagsstunde auf ein Maulthier und ritt mit ihm hinauf zum Brunnen von Gasturi. Ich hoffte durch eine so plötzliche Begegnung nicht allein günstig auf seinen zerrütteten Kopf zu wirken, sondern vielleicht auch Gabriela selbst bei seinem traurigen Anblick zum Erbarmen zu stimmen. Denn ich hatte wohl öfter zuvor 53 versucht, mit ihr von seiner elenden Verfassung zu reden, aber sie ließ mich niemals ganz zu Worte kommen, sondern schauderte so sichtlich wie in einem plötzlichen Krampf vor jedem Gedanken an ihn zurück, daß ich diesen unbezwinglichen Abscheu zuletzt für eine Art von wirklichem Wahnsinn erklären mußte, obgleich ihr Geist in allen anderen Stücken klar und still geworden war, wie er zur Zeit ihrer lange stumm genährten Leidenschaft nie gewesen.

An jenem Tage nun ließ ich ihn dort ins Gras sitzen und ging beiseite, als ich Gabriela wirklich von Weitem herankommen sah. Doch die frische Luft oder Aufregung hatten den Kranken so erschöpft, daß sie ihn völlig ohnmächtig und hilflos vor sich fand. Das gerade war meinem Plane günstig; sie konnte ihn in diesem Zustande nicht sich selber überlassen, und hatte sie einmal ihre Idiosynkrasie überwunden, so durfte ich Alles hoffen.

Mein Wunsch ging in Erfüllung. Sie half ihm auf das Maulthier und führte ihn heimwärts. Es war ein rührender Anblick, wie sie durch das Dorf zogen und die stolze und zarte Frau mit eigener Hand das Thier des bleichen Mannes am Zügel führte. Unter den Bauern aber hörte ich mehr als einmal flüstern: »Sie hat ihn geschlagen, die Neraide!« Auch ihr Ohr muß etwas von solchem 54 Gerede vernommen haben, denn als ich mich unterhalb des Dorfes in der Nähe der Villa zu ihr gesellte, sagte sie nichts als dies: »Die Leute haben Recht, ich habe ihn geschlagen! Nicht jetzt, sondern vor vielen Jahren schon, in jenem Augenblick, da ich vor Euch sprach: ›Ich bin die Braut des Gaetano Gozzadini‹. Da schlug ich ihn, da ward ich seine Dämonin. Das war die Sünde.«

Als wir das Haus betraten, war Gaetano ganz besinnungslos und im Fieber. Gabriela wich nicht von seinem Bette bei Tag und bei Nacht, sondern pflegte ihn mit aller Treue und Aufopferung, wie es ihre Pflicht als Gattin war. Aber nach vier Tagen war er todt; er hatte sie nicht mehr gesehen.

Nachdem sie ihm die Augen zugedrückt, wandelte sie durch seine Blumengemächer – denn nur das Schlafzimmer hatte ich davon säubern lassen – und sah die wunderbare, duftende Blüthenpracht, und all diese Bäumchen schienen ihr als einen stummen Gruß des Verstorbenen zuzurufen: Gabriela! Eines aber hatte auch ich zuvor noch nicht bemerkt: die Zettel an den kleinen Cypreßchen um die Rosenkönigin trugen nicht ihren Namen, sondern den ihrer Tochter.

Als sie das entdeckte, zuckte sie zusammen, sagte noch einmal: »Ich habe ihn geschlagen, Grigori!« 55 gab mir die Hand und ging hinaus. Es war gerade wie vor Jahren, als sie mir ihre Geständnisse gemacht hatte und ihre stürzenden Thränen verbarg.

Sie ist niemals wiedergekommen, weder hierher noch in das Haus ihrer Schwester, noch auch an den Brunnen von Gasturi. Niemand hat sie mehr gesehen und Niemand von ihr gehört. Ich hatte eine geheime Ahnung, sie habe vielleicht an jenem einsamen Sommersitz des Charos den Tod gesucht: doch ich ließ nicht nachforschen. Wem nützte es, wenn der arme Leichnam entdeckt ward? Sie hatte sich ja selbst verbergen wollen.

Contessa Cecilia, welche nun die Erbin war, verließ mit ihrem Kinde vor Grauen die Heimath wieder und zog nach Venedig, der Stadt ihrer Ahnen. Von dem Sohne des Drakos aber habe ich vernommen, daß er als rüstiger Mann in dem blutigen Aufstand von Kreta im Jahre 1866 gegen die Türken gefallen ist.

Das, lieber Herr, ist die einfache und wahrhaftige Geschichte von der Neraide.«

 


 


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