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Zweites Kapitel.

Der Lindenhof

Es war wirklich auch nöthig gewesen, daß ein erheiterndes Element in das Leben kam, wie es auf Schloß Königshofen in den letzten Wochen geführt worden war. Es war niemals so still gewesen, seit die alte Erlaucht, früher als Gemahlin des letzten regierenden Grafen, Wolf Christoph, und nach dessen Tode als Wittwe hier lebte. Ihr Rang und noch mehr ihre Geselligkeit, die hohe Achtung, in der sie überall stand, die Liebenswürdigkeit und ächte Vornehmheit, welche die alte Dame von jeher ausgezeichnet hatten, mit denen sie jedermann bei sich aufnahm, jedem sein Recht widerfahren ließ und es ihm bei sich so behaglich zu machen wußte, wie es seine Stellung, seine Lebensweise verlangte – das alles hatte die ganze Nachbarschaft durchdrungen und einen großen Kreis in Künigshofen und dem dortigen Leben seinen geselligen Mittelpunkt finden lassen. Alle Welt verweilte gern bei der ›alten Erlaucht,‹ wie man sie landein und aus nannte, und besonders die jungen Leute mußten sich nichts Besseres als einen Aufenthalt in dem weitläufigen Schloß, ein heiteres, oft ausgelassenes Dahinleben unter den Augen der wohlwollenden, selbst zu allem Scherz aufgelegten Dame, mit Freunden, Verwandten und Bekannten, die stets daselbst zu finden waren. Seit Menschengedenken, das heißt, seit Gräfin Charlotte vom letzten Pariser Frieden und der Verheirathung ihres Stiefsohns an ununterbrochen hier residirte, war Königshofen niemals ohne Gäste gewesen.

Das hatte sich nun seit einigen Jahren aber nach und nach geändert. Die Alten waren gestorben oder nicht mehr zu Ausflügen geneigt: die Jungen waren alt geworden und fingen an, der früher in dieser Gegend ziemlich unbekannten Mode zu folgen und den Winter in irgend einer größern Stadt, den Sommer auf Reisen oder in Bädern zuzubringen, wobei sie natürlich von der jetzt heranwachsenden Generation begleitet wurden. Dazu kamen nun auch mancherlei Familienereignisse – der Tod des einen Verwandten, die unheilbare Krankheit eines andern; der Stiefsohn der Erlaucht, der jetzt regierende Reichsgraf, lebte, wenn er daheim war, auf den größern und reichern Besitzungen, zu denen dies alte Stammgut trotz seines großen Umfangs und seines angemessenen Ertrages noch lange nicht gehörte. Die Tochter der alten Gräfin war auch vor Jahren gestorben, und das heranwachsende Kind derselben, Margarethe, kam von ihrem vierzehnten bis zum achtzehnten Jahre nach alter Familiensitte zur Vollendung ihrer Erziehung in ein französisches Kloster. Zu gleicher Zeit etwa ging auch Hugo, der bisher mehr in Königshofen als bei seinen Eltern gelebt, auf die Universität und von da auf große Reisen, und damit ward es im Schlosse so still, daß Gräfin Charlotte sich gar nicht darin zu finden wußte. Zwar wuchs kein Gras auf den Höfen – dafür sorgte die sehr aufmerksame und strenge Gutsverwaltung – aber die Diener hockten gelangweilt umher, die Pferde wurden steif in den Ställen, und all die Prachtgemächer öffneten sich nur noch, wenn sie gelüftet wurden, oder die Hausmeisterin es für nöthig hielt, sie einmal wieder von Grund auf zu reinigen.

Nun war Margarethe bereits seit Jahr und Tag zurückgekehrt, und seit dem Frühling auch Hugo wieder in der Heimat erschienen, allein der Letztere war durch den Tod der Mutter niedergedrückt, der in seiner Abwesenheit erfolgt war, und als sein froher Sinn und sein kräftiges Herz diese Trauer überwunden, hielt ihn die Sorge um den Vater zurück, der, wie wir schon hörten, seit dem Tode seiner Frau in finsterer Schwermuth und Einsamkeit dahinlebte. Margarethe aber zeigte von vornherein neben aller Jugendlust und Heiterkeit auch so viel Ernst und – die Gesellschafterin der alten Erlaucht nannte es mit höchster Anerkennung: Gesetztheit – daß die Großmutter mehr als einmal den Kopf schüttelte und alles Mögliche versuchte, ihre Enkelin, wie sie es hieß, aufzuwecken. Es half aber nicht viel: Margarethe blieb still. Sie war wohl heiter, jedoch nur selten wirklich munter und lustig, selbst ihr Scherz und ihre gelegentliche Neckerei behielten stets etwas Gehaltenes! und zu Zeiten traf man sie in einer so tiefen Träumerei oder gar Schwermuth, daß die Erlaucht darüber ganz böse und heftig werden konnte.

Die alte Dame war aber eine kluge Frau und Margarethe nicht das erste junge Mädchen, das unter ihren Augen herangewachsen und in die Welt getreten war. Sie wußte zwar nicht, wie und zu wem der Enkelin Herz von Liebe erfaßt sein könne, allein sie dachte doch an diese Möglichkeit und befragte das Mädchen, da die gedrückte und gedankenvolle Stimmung desselben ihr einmal besonders auffällig ward, in ihrer offenen Weise gradezu, ernst und eindringlich nach dem Zustande seiner Gefühle. Margarethe erröthete tief, erklärte aber ziemlich gefaßt und bestimmt, daß sie bisher sich zu niemand inniger hingezogen fühle, an niemand mehr und lebhafter denke als an alle Welt. »Mein Kind,« hatte die Großmutter da gesagt, indem sie ihre Augen mit durchdringendem Blick auf dem Gesicht der Enkelin ruhen ließ, »ich dränge mich nicht in dein Vertrauen; ich bin immerhin nicht deine Mutter, und weiß sehr gut, daß in dergleichen Dingen selbst das zärtlichste Kind auch vor der zärtlichsten Mutter seine Geheimnisse hat. Das Gegentheil, den Wunsch, daß ein Kind nie etwas verberge, findet man nur in dummen Romanen oder bei eben so dummen Menschen, die romanhaft denken und handeln. Ich aber habe das Vertrauen zu dir, daß du, wo du dich auch bewegst, mit wem du zusammentriffst, stets deiner Ehre und deiner Familie eingedenk warst und es bleibst. Es braucht kein Graf zu sein,« hatte sie lächelnd hinzugesetzt: »aber es muß ein ehrenwerther Mann sein und in selbständiger Stellung, den du erwählst; sonst geb' ich dich ihm nicht. Das ist nun also abgemacht. Aber Eins will ich dir noch sagen,« hatte sie weiter geredet, während ihr Blick wieder ernster wurde. »Es sollte mir leid thun, wenn du an deinen Cousin Hugo dächtest. Daraus wird mit meinem Willen nie etwas.«

Da hatte Margarethe zuerst verwundert aufgesehn, dann, wie die Großmutter ihre letzten Worte noch ernster wiederholte, herzlich gelacht und endlich ungefähr in derselben Weite, wie sie Eingangsabend unserer Geschichte zu Diana that, sich offen über die Grundlosigkeit dieser Annahme ausgesprochen.

»Das beruhigt mich sehr!« hatte die alte Dame heiter entgegnet. »Siehst du, mein Kind, sein Vater, Graf Wolfgang, denkt, wie ich weiß, sehr ernsthaft an eine solche Verbindung, wahrscheinlich, weil du ihm so sehr gefällst. Denn im Uebrigen sehe ich keinen Grund dafür; Hugo erbt das Majorat und nach menschlichen Aussichten auch das unsere dazu, und du bist nur ein armes Fräulein, während Hugo doch trotz des großen Besitzes grade auf Geld sehen muß. Verwandtschaftsehen mag und will ich aber auch nicht, habe das Graf Wolfgang schon angedeutet, und daher war es mir im Frühling ordentlich lieb, daß Hugo so schnell wieder fortging. Schon die Ehe deiner Mutter mit seinem Oheim war mir nicht recht, und ihr beide seid ja nun gar richtig Vetter und Cousine.«

»Da wüßte ich jemand für ihn,« bemerkte Margarethe lachend. »Reich wie Crösus, Großmama, schön wie ein Engel und ganz dazu geeignet, seinen Uebermuth zu brechen und ihn zum gehorsamen Hausherrn zu machen.« – »Nun?« fragte die Erlaucht nach einer Pause, da das Mädchen lächelnd, aber schweigend vor sich hinsah. – »Es ist Diana Kaufberg, Großmama,« sagte sie munter ausschauend. – »Wie denn, deine Freundin und Correspondentin, die wir im Herbst hier erwarten, Gretchen?« – »Gewiß, Großmama! Sie ist reich, schön, klug und heiter, und wie du ja weißt, in ihrer Stellung bei den alten Verwandten höchst unglücklich. O, wenn ich das erlebte!« setzte sie, in die Hände schlagend und mit einer Lustigkeit hinzu, wie man sie selten oder nie an ihr bemerkt hatte, »meine beiden liebsten Menschen vereint und mir, so nahe! Da könnte ich Tag und Nacht jubeln und necken! Wäre sie nur erst hier!« – Die alte Dame drohte mit dem Finger, lächelte aber sehr zufrieden. »Gretchen, Gretchen!« sprach sie; »muß ich dich jetzt daran mahnen, die Dehors zu wahren, und warst noch vor einer Minute der stillste Anstand von der Welt?« – »O wär' sie nur erst hier, Großmama, und hätte ich auch Hugo bei uns!« rief sie und schlang die Arme um den Nacken der Großmutter und bedeckte ihre Lippen mit heißen Küssen.

Seitdem war von alledem nicht weiter die Rede gewesen und das Leben seinen gewöhnlichen Weg gegangen. Margarethe erschien wieder heiterer, die Großmutter daher auch zufriedener als in der letzten Zeit, und da um die Mitte des October Diana endlich eintraf, schien das Leben auf Königshofen wirklich wieder ein regeres und bewegteres werden zu wollen; andere Besuche standen in Aussicht und plötzlich stellte sich auch Hugo ein, der dem Wunsche seines Vaters gemäß nach einer an Königshofen grenzenden Besitzung gegangen war, um sich zum erstenmal in einer selbständigen Verwaltung zu versuchen. Doch wie es zuweilen geht – auch diese Hoffnung auf eine erfreuliche Veränderung schien wieder fehl zu schlagen. Die Besuche blieben aus, das Wetter ward, wie in dieser Jahreszeit gewöhnlich, regnerisch und veränderlich, die wenigen Hausgenossen fanden sich auf die Zimmer beschränkt. Die Mädchen hatten, wie üblich, viel allein mit einander zu verkehren und sich nach der anderthalbjährigen Trennung aus- und einzusprechen: die Gesellschafterin der alten Dame, eine zweite, welche seit dem Frühling bei Margarethen eine ähnliche Stellung einnahm, machten den Kreis zwar größer, aber nicht belebter, und Gerhard, der einzige Hausgenosse, welcher seiner Bildung nach zeitweise dem Damenkreis sich hätte anschließen können, war in Geschäften abwesend.

Daher hatte Gräfin Charlotte, als sie dem Neffen zufällig am Walde begegnete, ihn mit aller Dringlichkeit und Herzlichkeit zu einem Besuche aufgefordert, ohne dabei an Margarethens Pläne zu denken, und ihn mit wahrhafter Freude empfangen, da er Abends wirklich erschien. Und eben daher war ihr auch Gerhards Rückkehr willkommener gewesen als jemals zu einer andern Zeit. Denn sie wußte ihn gern um sich, da sie nicht nur mit seinem Wesen und Schaffen zufrieden war, sondern ihn wahrhaft achtete und liebte, wie es der treue wackere Mann verdiente. Es gab dergleichen »bürgerliche Züge,« wie Diana es nannte, bei der alten Dame noch mehr als einen. Sie war vorurtheilsfrei wie wenige ihrer Alters- und Standesgenossen, und von dem sogenannten Adelsstolz wußte sie gar nichts. Dazu war ihre Familie zu alt, ihr Rang zu hoch, ihr Charakter zu kraftvoll und selbstbewußt. »Bildung und Charakter bestimmen den Umgang,« pflegte sie zu sagen. »Damit hat der Stand nichts zu thun. Wir können nicht alle Fürsten und Grafen sein.«

Da saßen sie denn nun zusammen die jungen Leute, und Hugo machte der Erwartung, welche man von ihm hegte, und zugleich auch seinen eigenen Verheißungen alle Ehre. Es gab mehr Lust und auch Ausgelassenheit in Königshofen als seit mancher Zeit; durch Park und See, durch Feld und Wald streifte der fröhliche Zug bald zu Fuß oder Pferd, bald im leichten Boot oder Jagdwagen umher; bald nur zum Vergnügen, bald um einen Besuch zu machen und andere Genossen herbeizuziehn, die Hugo nah und fern aufzufinden wußte. Daheim hallten die hohen Zimmer und Säle, die weiten Corridore und Treppen wieder von Musik und Gesang, von neckischen Scherzen und fröhlichem Gelächter, von Tanz und Spiel. Und wenn sich einmal ein einsamer Tag fand, wo auch die Witterung keinen Ausflug gestattete, so hatte man so viel zu plaudern und fand im engen Kreise so viel Unterhaltung, daß die Zeit rasch verging und niemand sich nach Zerstreuung sehnte. Auch dann wußte der junge Graf Herzen und Köpfe in Bewegung zu erhalten, und Gerhard half ihm dabei, soweit ihm seine Geschäfte und seine Bescheidenheit eine Einmischung erlaubten, gar getreulich.

»Woher nehmt ihr nur all die Wildheit?« fragte die alte Erlaucht zuweilen gut gelaunt. – Und Hugo versetzte lachend: »ich hab's Ihnen ja vorhergesagt, Großtantchen, Sie sollten mich nicht beschwören! Nun geht es unaufhaltsam fort! ›Ich bin der Wassermann und will – Verlocken des Dorfes Schönen!‹ Was ließt ihr mich nicht in meinem Reich?«

Es war ein grauer Tag voll dichten, feuchten Nebels, der erst nach und nach vor dem schärfer werdenden Winde wich und in kalten Regen überging; aber in den Gebüschpartieen und Baumgruppen, welche man jenseits des Rasenparterres vom Frühstückssaal aus erblickte, hing er noch in schweren trüben Massen und vermehrte den melancholischen Eindruck, den der ganze Park in seinem Hinsterben machte. Das Feuer im Kamin flackerte und glühte, aber es erwärmte das große Gemach nicht, und die Gesellschaft war fröstelnd und schweigend um den Frühstückstisch versammelt. Man war einmal wieder unter sich; die letzten Gäste hatten vor einer Stunde das Schloß verlassen und für die nächsten Tage stand kein Besuch in Aussicht. Die alte Erlaucht hatte sich heut Morgen noch nicht gezeigt; die jungen Leute saßen allein, und als nun auch Margarethens Gesellschafterin zu ihrer täglichen Musikstunde aufbrach, sagte Diana, sich fest in ihre Mantille hüllend, zu Hugo: »heut möchte man wünschen, daß Sie einmal statt aus dem Wasser, aus Feuer geboren wären, um uns zu erwärmen.«

Er lachte. »Ich sage Ihnen ja, rufen Sie meine Kräfte nicht auf!« versetzte er, »Ich möchte Sie beim Wort nehmen.« – »Und ich Sie auch,« entgegnete Diana lustig. – »Ei, an mir soll's nicht fehlen. Ich wüßte schon, was uns warm machen könnte.« – »Und das wäre?« – »Das wäre eine Besichtigung des Schlosses, aber auch von den Kellern bis unter die Dächer. Darnach bin ich schon lange lüstern gewesen, denn es gibt hier Stellen, wo, glaub' ich, nie ein Mensch hinkommt, und die ich eben so wenig kenne, wie ein Anderer. Und dazu wäre heut der Tag,« fuhr er fort. »Wenn es draußen hell und sonnig, und die Sonne in alle Ecken leuchtet – das ist nichts, oder nur für die Prunkzimmer. Aber zu den andern Räumen paßt ein graues Licht, wie das heutige. Damit wächst das rieselnde Grausen, das ahnungsvolle Beben in uns selbst, das gespenstige, dämmernde Leben und Weben in den alten Räumen.«

»Topp!« sagte Diana nach einer Pause. »Ich bin dabei, schon um den Genuß Ihrer poetischen Erklärungen und Illustrationen zu haben. Nur für die Keller danke ich. Es ist hier droben schon dunkel genug.« –»Auch ich komme mit,« bemerkte Margarethe. »Ich kenne noch manchen Raum gar nicht, obschon ich hier geboren und erzogen bin.« – »Wohlan!« rief Hugo lustig. »Die Keller schenke ich Ihnen, sonst geht's jedoch bis in die letzte Kammer! Aber eins mache ich zur Bedingung – wir bleiben unter uns mit Gerhard – denn der muß dabei sein als zweiter Ritter! – und dem Kastellan, der allein alle die Schlösser und Schlüssel kennt. Dein Fräulein, Gretchen,« setzte er lachend hinzu, »ist mir allzu zart und furchtsam. Und die Erlaucht hat zu thun.« Die Damen stimmten fröhlich zu, und die Drei eilten auseinander, um Hut und Shawl zu holen, Gerhard herbeizurufen und den alten Kastellan zu suchen. Nach einer Viertelstunde fanden sie sich in der großen Halle des Eberhards-Baus zusammen und begannen ihre Wanderung.

Das Schloß war in langen Jahren aus dem ältesten, burgartig mit Thürmen flankirten Gebäude nach zwei Seiten hin zu einer imposanten Masse herausgewachsen. Jeder der alten Reichsgrafen hatte entweder neue Anlagen gemacht oder die vom Vorgänger begonnenen fortgesetzt und ausgebaut, und die Hirschegg-Königshofen waren bei diesem Werk und in dieser Leidenschaft nicht hinter den andern hohen Familien zurückgeblieben, welche im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert wetteiferten, sich und noch ihre Nachkommen durch solche Prachtbauten zu Grunde zu richten. Königshofen verschlang unermeßliche Summen, und zwar noch bis auf den heutigen Tag, da selbst die Instandhaltung der Gebäude mehr Kosten verursachte, als das große Vermögen zu diesem Zweck eigentlich gewähren konnte.

Das Ganze zerfiel in drei Theile. Der älteste war die sogenannte ›Burg‹, im Viereck um den Lehnhof erbaut und an seinen Ecken, wie bemerkt, von ungeheuern Thürmen flankirt, von denen der eine die Schloßkapelle enthielt. Aeußerlich stammte die Burg aus dem vierzehnten Jahrhundert, war jedoch im Innern vielfach verändert worden und enthielt noch jetzt die Privat- und Wohngemächer der Familie, wie im untern Geschoß die Wohnungen der Beamten, und außerdem Bureauzimmer, Gerichtssaal, Archiv und Bibliothek. – Daran schloß sich, gegen Westen und in den Park hinaus der ›Josefsbau‹, im siebzehnten Jahrhundert vom Reichsgrafen Wolf Josef II. erbaut und ursprünglich für Gäste und zu Festen bestimmt. Seine auf der Front und an der Rückseite vorspringenden Flügel umfaßten dort und hier ein paar kleine Höfe, von denen die inneren Räume Licht und Luft erhielten. Jetzt enthielt das große Gebäude mancherlei Wirthschaftsräume, Gastzimmer, und in dem Haupttheil, der im Park lag, eine prächtige und geräumige Wohnung für den gegenwärtig regierenden Grafen Leo, wenn er einmal in Königshofen verweilte. – Von der Burg nördlich endlich erstreckte sich ein ungeheurer Bau, welcher nach seinem Erbauer, dem Grafen Wolf Eberhard, benannt und im achtzehnten Jahrhundert entstanden, aber niemals dem eigentlichen Plane gemäß vollendet war. Hier waren jetzt die Speisezimmer, die Räume für besonders vornehme Gäste und Saal an Saal für große Feste. Vom Corps de Logis aus erstreckte sich der Hauptflügel ebensoweit in den Park hinein, wie links der Josefsbau, und von der prachtvollen steinernen Terrasse, die an der ganzen Rückseite dieses Palastes entlang lief, hatte man eine wundervolle Aussicht auf die Rasenplätze, welche den Raum zwischen dem Josefsbau und dem Festflügel ausfüllten, und auf den weiter hinten sich erhebenden Park.

Hier begannen die jungen Leute ihren Weg, und nachdem sie all die Räume in ihrer jetzt öden Pracht durchwandert, den Jagdsaal mit seinen riesigen Hirschgeweihen bewundert, die Gallerie mit den Ahnenbildern durchmessen und über die prächtig frisirten steifen Herren und Damen gelacht hatten, besahen sie in den Spielzimmern die Tische von wundervoll schöner, ausgelegter Arbeit, und machten zum Entsetzen des alten Kastellans im ungeheuern Ballsaal, der den ganzen Festflügel ausfüllte, einige lustige Schwenkungen und Ronden. Dann kamen andere Gemächer an die Reihe, das Zimmer, in dem die jugendliche Marie Antoinette auf ihrer Reise nach Frankreich ein paar Stunden geruht hatte, und das unverändert geblieben war, wie es die Fürstin damals verlassen; ein anderes, das Kaiser Josef II. auf seiner Krönungsreise bewohnt; ein Schlafzimmer mit daranstoßendem Saal, in denen Napoleon einen Tag und eine Nacht lang rastete und seine Dispositionen für die bald darauf folgende Schlacht dictirte.

So waren schon ein paar Stunden vergangen, bis sie diesen Theil verließen und durch die Bibliothek, welche die Verbindung bildete, in die Burg und den nur selten noch benützten Kapellenthurm hinüberzogen. Von dort ging es dann durch die Räume, welche den Lehnhof begrenzten, an den Gemächern der alten Erlaucht vorüber nach dem Waffenthurm, wo sich alte Waffen, Rüstungen und zerrissene Banner zeigten, und dann folgten sie dem Corridor, der gewölbt und dunkel bis zu dem Vorzimmer des Lindenthurms führte, durch welchen sie in den interessantesten Theil des Gebäudes, den Josefsbau, hinübergehn wollten. Denn dort fanden sich alle die Spielereien vereinigt, welche die Neckerei und Frivolität des siebzehnten Jahrhunderts erfand – Zimmer, deren Fußboden und Scheidewand auf Drehscheiben ruhte, im Täfelwerk verborgene Thüren und geheime Treppen, Versenkungen, Wände, aus denen bei einem zufälligen Druck auf einen Knopf dem Unvorsichtigen ein Strahl Wasser ins Gesicht sprang, und was dergleichen mehr war.

Als sie in das Vorzimmer des Lindenthurms hineingehn wollten, fühlte Hugo, der sich, während der Alte aufschloß, an die Wand gelehnt hatte, plötzlich hinter sich, wo der Corridor endete, eine Thür, die bei dem Dunkel des Ganges von dem Mauerwerk kaum zu unterscheiden war. »Halloh!« rief er lustig und klopfte mit der Faust daran, daß es dumpf durch den Gang schallte, »wußte ich doch, daß wir noch allerlei Geheimnisse finden würden! Die Thür da hab' ich noch nie gesehn! Wohin führt denn die?« – Der Kastellan hatte die Pforte des Zimmers geöffnet, so daß das Tageslicht in den Corridor und grade auf die Thür fiel, welche, wie es schien, von massivem Eisen war. »Die führt in den Lindenhof, gräfliche Gnaden,« versetzte ehrerbietig der alte Mann. – »Was, in den Lindenhof?« rief Hugo verwundert. »Ist das nicht der Raum zwischen der Burg und dem Josefsbau, zu dem der enge Weg neben dem Kapellenthurm hineinführt, der aber stets verschlossen ist? Ich bin ein einzigmal als kleiner Junge dort gewesen und wurde gleich wieder hinausgejagt.« – »Auch ich habe die Hofpforte nur einmal offen gesehn und bin nie hineingekommen. Von dieser Thüre weiß ich auch nichts,« sagte Margarethe. »Wir kommen hieher nur selten, Diana. Der eigentliche Weg geht durch das Erdgeschoß in den Josefsbau hinüber.«

»Der ›Lindenhof‹ heißt nicht nur der wirkliche Hof zwischen den beiden Gebäuden,« erklärte Gerhard, »sondern man nennt nach ihm so auch die ihn umgebenden Gemächer sowohl hier in der Burg wie drüben. Früher hat, glaube ich, zeitweise Ihr Herr Großvater dort gewohnt, Comteß Margot. Ueberdies sind auch noch alte Registraturen und unwichtige Partien des Archivs darin; weiter nichts. Ich bin übrigens gleichfalls seit manchen Jahren nicht dort gewesen; in den Zimmern noch nie,« setzte er hinzu. »Sie werden nicht geöffnet.«

»Um so besser!« meinte Hugo lachend. »Wir haben einmal geschworen, alles zu sehen und sind alle neugierig. Schließ auf, Alter!« – Der Kastellan trat einen Schritt zurück. »Halten zu Gnaden, Herr Graf,« sprach er, »das darf ich nicht.« – »Das darfst du nicht? Unsinn!« rief der junge Mann ungestüm. »Wer hat das verboten?« – Und der Alte versetzte, indem er die kleine Sammtkappe von seinem schneeweißen Haar nahm, ehrfurchtsvoll, aber fest: »das hat Ihro Erlaucht, Gräfin Charlotte höchst selbst so befohlen.«

Die jungen Leute sahen bald den Alten, bald einander, halb verwundert, halb enttäuscht an. »Was ist da zu thun?« bemerkte Hugo mit komischem Verdruß. »Ich glaube, ich riskir's und gehe zur Großtante hinüber, daß sie selbst uns hilft. Denn –

»Da sprach der Herr von Anderwerth,
Stand kühn zu ihrer Seit':
»Laßt ab, laßt ab, Frau Königin,
Heut ist nicht Tanzenszeit!

»Es liegen zwei vor Eurem Schloß,
Die sind zu Tode wund;
Die hat verlockt Euer blaues Aug',
Euer Bogenter rother Mund.«

Die Andern brachen bei diesen pathetisch vorgetragenen Versen in ein helles Gelächter aus; Diana fragte: »was meinst du, Margaritta, sind wir beide die armen Verlockten?« – Und Margarethe erwiderte ebenso: »ja, die Großmutter wird sich auch bei dir für die tanzlustige Königin bedanken, Hugo!« – Der Kastellan stand noch immer mit unbedecktem Haupte, und in dem tiefen Ernst seines Gesichts allein zeigte sich keine Spur von Heiterkeit.

Nach einer Pause sagte Gerhard endlich: »Sie haben unrecht, Graf Hugo, hier zu spotten; da drinnen ist der Herr Reichsgraf, Wolf Christoph, Ihr Großonkel, vor langen Jahren eines plötzlichen Todes verblichen, und seitdem ist der Raum abgesperrt. Ich denke es aber vertreten zu können,« fuhr er fort, »wenn die Thür für die hier Anwesenden geöffnet wird. Es ist ja dein zukünftiger Gebieter, Dominik,« setzte er gegen den Alten gewendet hinzu, und deutete auf Hugo. »Ueber kurz oder lang geht er hier doch aus und ein, wie er will, und wir alle sind ja ernste, teilnehmende Menschen, Angehörige und Freunde des Hauses. Also in Gottesnamen, Dominik, schließ auf!«

Der Alte schüttelte düster das Haupt, suchte jedoch einen lange nicht gebrauchten Schlüssel aus dem Bunde hervor und steckte ihn in das Schloß. »Und heut grade!« murmelte er dabei. – »Was heut? Was ist heut passirt?« forschte Diana aufgeregt. – »Es ist heut, glaub' ich, der fünfte November, gnädige Dame,« entgegnete der Kastellan kopfschüttelnd, »und an dem Tage, anno 1806, als die Franzosen gegen Preußen marschirten, fand man drinnen Seine Erlaucht todt.« Dann zündete er seine Laterne an und drehte den Schlüssel um; die Thür sprang auf.

Ein enger Vorplatz, der gradeaus und rechts in schmale Corridore auslief und nur aus einer kleinen Seitenöffnung ein sehr gedämpftes Licht erhielt, nahm die Gesellschaft auf. Bei dem Schein der Laterne sahen sie, daß der Fußboden mit einer ebenen Decke dichten Standes bedeckt war, und in den Winkeln der Wände sich große Spinngewebe ausdehnten, die theilweise aber auch schon verwittert und zerfetzt herabhingen, denn ihre Bewohner mochten hier längst Hungers gestorben sein. Nach einigen Schritten in dem Corridor, der sich gradehinaus zog, zeigte sich rechts in der glatten Wand wieder eine Thür, und nachdem der Kastellan hier einen Schlüssel eingesteckt, blies er das Licht der Laterne aus und sagte: »dort hinter den Herrschaften, in der Ecke, war vordem die Kanzleitreppe, welche Ihro Erlaucht nachdem hat abbrechen und vermauern lassen. Daher ist es anjetzt hier auch so dunkel. Hier,« setzte er die Thüre öffnend hinzu, »war das Vorzimmer, und hier nebenan,« fuhr er fort, indem er durch das kleine Eckzimmer schritt und eine andere Thür aufstieß, »hier ist der Registratur- und Archivsaal.« Sie waren ihm gefolgt und traten ein.

Es war ein großer, hoher, gewölbter Saal, der durch die beiden breiten Fenster in tiefen Nischen ein sehr gedämpftes, nur in ihrer Nähe ein wenig helleres Licht empfing. Die Rückwand wurde ganz durch enorme, verschlossene Archivschränke eingenommen, während an der Seitenwand und zwischen den Fenstern sich andere, thürlose Kästen mit Fächern zeigten, wie man sie in Registraturen zu haben pflegt. Vor den Fenstern, so daß sie das beste Licht empfingen und nur einen schmalen Durchweg in die Nischen offen ließen, standen zwei lange Bureautische, daneben auch ein paar mit Leder überzogene Sessel. Weiter war in dem ganzen Raum nichts. Durch die tief hinabgehenden Fenster sahen sie in einen ziemlich großen, grasbewachsenen und mit dürrem Laube bestreuten Hof; links war die starre Wand des Lindenthurms, gegenüber zeigten sich erblindete, zum Josefsbau gehörende Fensterreihen: rings um den Hof lief eine Reihe hoher alter Linden, und in der Mitte ragte ein Stamm empor, wie ihn noch niemand von den Anwesenden so stark und riesenhaft gesehn. Nur weil die Baume jetzt fast ganz entlaubt waren und nur noch wenige vergelbte nasse Blätter an ihren Zweigen hatten, konnte man das alles einigermaßen erkennen. Wenn sie im vollen Laube standen, mußte jede Aussicht abgeschnitten und der Saal fast dunkel sein.

Das alles war nun todtenstill, denn in den abgeschlossenen Hof kam selbst der Wind nicht hinein, und die Linden standen regungslos mit ihren kahlen schwarzen Zweigen, wie rings das alte Gemäuer, und die Blätter bewegten sich an ihren halbgelösten Stielen nur unter dem rieselnden Regen. Und wie die jungen Leute nun dort standen in dem weiten, öden, dunklen Raum, mit seinen tiefen Winkeln und Nischen, wo der Staub so grau und still lag und unter den Stühlen und an den Schränken entlang hie und da ein kleines Häufchen des gelblichen Wurmmehls; als ihnen jeder Blick umher nur die Oede zeigte, wie lange hier kein Mensch mehr gewandelt, wie lange keine Hand mehr geschafft und geordnet – wie lange hier kein Hauch eines lebenden Wesens mehr geweht; als sie dann in den schweigenden Hofraum schauten, auf die starren Mauern und blinden Fenster, die stummen Bäume; und als sie das alles zusammenfaßten und daran dachten, daß der Letzte, der hier gewohnt, todt sei wie der Raum, – lange, lange todt, und seit man ihn hinausgetragen, war kein Leben mehr zurückgekehrt – da überkam es auch die fröhlichen Herzen mit der grenzenlosen Melancholie, mit der tiefen Trauer, die alles umher erfüllte, die beiden Männer standen tiefbewegt, Margarethens Augen waren voll großer Thränen, und Diana sagte leise, während ihren ganzen Körper ein nervöses Zittern durchflog: »ich weiß nicht – ich weiß nicht! – Aber mir ist, als sei dies einmal der Ort eines Schreckens gewesen, wie ihn der Tod allein nicht mit sich bringt. Wüßte ich, daß und wo im Hause ein Mord geschehen sein könnte – hier glaubt' ich's.« Wie leise sie gesprochen waren, die Worte klangen schreckhaft deutlich.

Im nächsten Augenblick fuhren alle erschrocken zusammen, und die beiden Mädchen schrieen hell auf, denn hinter ihnen ward das Rauschen eines Gewandes hörbar, und als sie sich umwandten, sahen sie den Kastellan tief gebückt und das Käppchen in der Hand an der Thür des Vorzimmers stehn, und mitten im Saale, dicht neben ihnen stand hoch aufgerichtet, im schwarzen Kleide und langen Schleier, die alte Erlaucht. Sie sah bleich und angegriffen aus, und ihre sonst so muntern Augen lagen tief in ihren Höhlen.

»Mein Fräulein von Kaufberg,« sprach sie mit gedämpfter Stimme, aber man konnte es wieder deutlich im ganzen Raum vernehmen, »Sie haben nur zu recht mit Ihren Worten. Ja, dies ist ein verfluchter Ort! Denn dort hinter der kleinen Thür in der Ecke fand heut vor Vierunddreißig Jahren der Leibjäger Hubert seinen Herrn und meinen Gemahl hinterlistig und elend ermordet.«

Es war wieder todtenstill umher: nur athmete dieser oder der tief auf, als wehre er sich gegen eine schwere, drückende Last, und sie sahen die alte Frau an mit starren, angstvollen Blicken, ob sie denn ihre Worte nicht zurücknähme, ob sie einen Scherz gemacht mit so furchtbarem Ernst. Denn es mußte niemand von diesem Ereigniß, und sie waren doch daheim im Schloß seit ihrer Jugend!

»Es ist nicht recht von euch, daß ihr euch hier eingedrängt und meinen alten Dominik verführt habt, gegen meinen Befehl zu handeln,« begann Gräfin Charlotte mit derselben Stimme und in der gleichen starren Haltung von neuem, »allein es sollte nun einmal so sein und – es mußte auch einmal so sein. Dir, Hugo, konnte die That doch nicht lange mehr, verborgen bleiben, auch du, Gretchen, mußt doch wissen, was deine Großeltern betroffen, und dich, Gerhard, mein Kind, geht es mehr an als alle diese. – Es ist auch gut, daß ihr davon erfahrt. – Es haben niemals viele darum gewußt – und jetzt, wenn unser himmlischer Vater dort den Dominik und Hubert abruft, die beide allgemach zu ihren Jahren kamen, und mich, die ich schon lange müde bin und sage: Herr, komme zu deiner Magd! – dann wüßte niemand mehr von der schlimmen That, als dein Vater, Hugo, und meine edle, wackere Schwiegertochter, die erlauchte Frau und Gräfin Leopoldine.«

Sie hatte das alles sehr langsam gesprochen und sehr deutlich, als ringe sie, sich auf solche Weise gewaltsam die Fassung wiederzugewinnen, die durch den Eintritt in diese Räume und Diana's Worte so heftig erschüttert worden war. Nun fuhr sie ruhiger fort. »Aber auch die sind alt,« sagte sie mit trübem Kopfschütteln, »und es ist mir nicht genug, daß die Akten bei dem Hofgericht in B. liegen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß die Sache einmal aufgeklärt wird, und ich hinterlasse sie daher meinen Nachkommen und Vettern als das theuerste Vermächtniß. Darum will ich es euch mittheilen, denn der Tag ist gekommen. Des Herrn Wege sind wunderbar! Führte er euch doch an dem Tage hier hinein, an dem die That voreinst geschehn, und erweckte er doch auch in mir den Gedanken, zum erstenmal seit dem Tode von Gretchens Mutter wieder hieher zu gehn. – Heut Abend will ich euch die Geschichte erzählen, kommt um sieben Uhr in mein Kabinet, alle, die ihr hier seid. – Aber alle, die ihr hier seid,« sprach sie die Stimme erhebend weiter und erhob auch den Kopf und ließ das Auge mit einem ernsten, fast strengen Blick über die jungen Leute gleiten, – »ihr gebt mir alle euer Wort, eure Ehre und eure Hand, daß bis zur Entdeckung des Thäters nie ein Wort von dem laut wird, was ihr hören werdet, und auch dann kein Wort mehr als nöthig ist. Denn das Geschick der Hirschegg-Königshofen soll nicht im Munde der Leute sein.«

Sie streckte ihre Hand aus und nahm unbewegt den Handschlag von jedem der erschütterten Anwesenden entgegen. Dann zog sie einen Schlüssel aus dem Gürtel, reichte ihn Hugo und sagte: »jetzt schließt die Thür dort in der Ecke auf, tretet ein und seht alles genau an, damit ihr heut Abend Bescheid wißt. Es ist Wolfs Arbeitskabinet, wo der Mord geschah.« Man that nach ihrem Willen.

Das Zimmer war klein und, da es nur ein Fenster hatte, nicht Heller als der Saal. Neben dem Fenster, in der Mitte der Vorderwand und ins Zimmer hinein stand ein großer Schreibtisch von dunklem Holz mit vielen Schubladen und Fächern, davor ein seitwärts gerückter einfacher Lehnstuhl. An der Rückwand, hinter dem Schreibtisch, so daß dazwischen nur ein schmaler Weg zu einer weitern, eisenbeschlagenen Thür führte, war ein hohes, leeres Repositorium, und an der Seitenwand endlich ein niedriges Feldbett. Weiter zeigte sich in dem Gemache nichts von Möbeln, und auch kein anderer Ausweg als die eisenbeschlagene Thür, welche in ein jetzt ganz leeres kleines Kassenzimmer führte. Da dasselbe in einem Anbau gelegen war, so waren ringsum nur die massiven Wände. Aus dem Fenster sah man hier wie in den übrigen Räumen, beinah dreißig Fuß tief in den Hof hinab.

War einmal der Staub im Kabinet fortgewischt worden, oder hatte er sich dort überhaupt weniger angesammelt – er lag nur in dünner Decke, und auf der mit Leder bezogenen Platte des Schreibtisches und auf dem Fußboden vor demselben erkannte man deutlich ein paar große Blutflecke. – An der obern Gallerie des Schreibtisches endlich lehnte ein kleines, sehr gut gemaltes Oelbild in schmucklos schwarzem Rahmen, das sich wunderbar frisch erhalten hatte. Es zeigte einen Mann in gewöhnlichem, einfachem und dunklem Jagdanzuge mit Flinte und Jagdtasche; auf dem schlichten braunen Haar trug er eine Kappe von Pelzwerk. Das Gesicht war von dunkler Färbung, aber schön und bedeutend, und die Augen blickten selbst hier im Bilde so kraftvoll und kühn, wie der Mann im Leben gewesen sein mochte.

»Das ist dein Vater, Gerhard,« sagte die alte Gräfin, die den Andern gefolgt war, mit ernster Stimme. »Er war der beste Freund meines seligen Herrn.«


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