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Siebentes Schriftstück

In dem Augenblick, da ich diesen Brief an Dich, meine über alles geliebte Mutter, anfange, weiß ich noch nicht, was er enthalten wird. Ich habe Dir so viel zu sagen, daß ich fürchte, ich werde heute nicht alles auf einmal niederschreiben können. Und was ich Dir zu beichten habe sind so schreckliche Dinge, daß ich in dieser Minute nicht bestimmt weiß, ob ich in der nächsten Minute noch den Mut finden werde, sie dem Papier anzuvertrauen.

Ich will Dich nicht mit langen Vorreden quälen. Ich möchte so gern gleich zu Anfang vom Wichtigsten reden. Aber dieses gerade ist so schrecklich, daß ich die Worte nicht finde. Und vielleicht vermag ich auch mich deutlicher auszusprechen, wenn ich die Ereignisse der Reihe nach erzähle.

Meine ganze Selbstbeherrschung nehme ich jetzt zusammen, um zu vergessen, daß diese schönen Tage einen so fürchterlichen Abschluß finden mußten. Ich will Dir lieber zuerst noch von dem bißchen Glück – nein, von dem überwältigend berauschenden Glück reden, das ich in Rumänien noch fand.

Zwei Tage nach unserer Rückkehr aus Campina bekam ich einen Brief von Baron Uzzicanu, dem unmenschlich reichen Petroleum-Magnaten. Ich hätte den Brief nie und nimmer erhalten, wenn der rumänische Edelmann ihn durch die Post geschickt hätte, die Postbriefe gehen an den Kapellmeister und Theatersekretär Lazureanu, der erledigt fast alles und nur das Außergewöhnlichste zeigt er dem Direktor. Und diesen Brief hätte Julius – diesen prosaischen Namen hat und verschweigt Direktor Tischler-Ruß – mir nicht gezeigt, ich habe den wackeren Julius inzwischen genau genug kennengelernt, um ihm mit Recht solch eine kleine Unterschlagung zuzutrauen. Der rumänische Baron schickte mir den Brief durch einen seiner Chauffeure, der ausschließlich deshalb nach Bukarest gekommen war und strenge Weisung hatte, das Schreiben mir persönlich zu geben sowie mit dem Auto auf meine Antwort zu warten, selbst wenn es Stunden und Tage dauern sollte. Ich hatte in Campina dem Baron erzählt, daß meine Post durch das Theatersekretariat erledigt wird. Erklärlich, daß er nun diese Vorsichtsmaßregeln gebrauchte; denn sein Brief enthielt nichts anderes als einen offiziellen Heiratsantrag in aller Form. Baron Uzzicanu war kinderloser Witwer und hatte das volle Verfügungsrecht über ein märchenhaftes Vermögen. Was tat's, daß er zweiundfünfzig Jahre alt war! Erhard König war nicht jünger und wie innig hatte ich ihn trotzdem geliebt ... Mir schwindelte als ich Uzzicanus Brief las. Das von Dir, liebe Mutter, so grausam getrennte, vagabundierende kleine Mädel Dolly Meister – Schloßherrin, Baronin, Gebieterin über Milliarden. Ich glaube, ich hätte den Heiratsantrag nicht sofort zurückgewiesen, wenn mein Bewerber nicht die Unklugheit begangen hätte, der schriftlichen Werbung seine neueste Photographie beizufügen. Es war ein Bild, bei dem der Photograph sich offenbar bemüht hatte, den Dargestellten als interessanten Mann zu zeigen, die Augen hatten etwas Faszinierendes – und gerade diese Augen erinnerten mich nun immer klarer an den fürchterlichen Mann, dem ich seit Verlassen des Vaterhauses die gräßlichste Stunde meines Lebens zu verdanken habe. Ich bin noch jung – sagte ich mir – ich kann noch andere haben! Soll ich mich in die Gefahr begeben unglücklich zu werden, indem mich jahrzehntelang diese großen Männeraugen an das schrecklichste Ereignis meines Lebens in der Fremde erinnern?

Wäre Julius dagewesen, ich hätte ihm den Brief gezeigt und hätte die Antwort mit ihm beratschlagt. Aber der Herr Direktor war in der letzten Zeit oft halbe Tage lang wegen seiner Verwaltungsgeschäfte – so nannte er's – unterwegs. So mußte ich mit mir allein ins Reine kommen. Eine Viertelstunde lang überlegte ich mir den Fall, dann entwarf ich ein paar höfliche Zeilen, worin ich unter den Ausdrücken des Bedauerns und mit dem Wunsche, mir seine Freundschaft zu erhalten, den Empfänger bat, seinen Brief als nicht geschrieben betrachten zu dürfen, weil mein Herz nicht mehr frei sei.

Das war vormittags um elf.

In den Abendblättern fand ich ein kurzes Telegramm aus Campina: der bekannte Petroleum-Magnat Baron Uzzicanu hat sich aus unbekannten Gründen heute nachmittag erschossen.

Da ich in der Zwischenzeit Julius nicht gesprochen hatte, sagte ich ihm nichts von dem Brief des Barons. Wie so vieles im Leben mußte ich auch dieses Erlebnis mit mir selbst abmachen, nur von der tröstenden Erwartung erfüllt, daß ich es Dir, meine über alles geliebte Mutter, so erzählen darf, wie es sich zugetragen hat, und daß ich mich dadurch befreien kann von dem Alpdruck, den solch ein Unheil auch über die stärkste und lebensfreudigste Natur verhängen muß.

Die nächsten Wochen brachten reiche Abwechslung, die mir so bitter nottat und die mich innerlich wieder auffrischte. Äußerlich sah ich immer gut aus, »beherrscht« wäre viel zu wenig gesagt, und so lange ich auf der Bühne stand, hatte ich alles Schlimme vergessen und konnte lachen, tanzen, zwitschern, als ob nie eine arge Stunde mein Leben getrübt hätte.

Wir machten Reisen zu öffentlichen und privaten Vorstellungen – auch nach Sinaja, wo der rumänische König sein schönstes Schloß hat, das Schloß Pelesch am Fuße des herrlichen Butetsch-Berges.

Ich hatte natürlich gedacht, daß wir vor den Majestäten spielen sollten, aber daraus wurde nichts. Die erste Reihe des großen Theatersaales, die für den Hof gekauft worden war, blieb während der Vorstellung leer. Aber sonst war es ein unbestrittener Erfolg bei Publikum und Presse. Wir besichtigten das Schloß, und das Kloster, wo ein alter, deutschsprechender Pope uns freundlichst die Herrlichkeiten wies, er hatte in Heidelberg zwei Semester studiert und fragte Julius immer wieder, ob das Heidelberger Schloß denn auch noch durch keine Renovierung verunstaltet sei und ob das deutsche Bier immer noch so trefflich schmecke. Wie sonderbar, im fernen Orient den Priester einer fremden Religion zwischen den abenteuerlichen Mauern seines Klosters zu sehen und ihn so vertraut deutsch plaudern zu hören über die deutschesten Dinge!

Eine andere Kunstreise führte uns nach Constanza – der seltsamen Großstadt, wo ich zum ersten Male das Schwarze Meer erblickte. Wenn der Eisenbahnzug sich Constanza nähert, tauchen schlanke Minarets über der weiten Stadt auf, und – hohe, ragende Lagerhäuser modernster, praktischster, nüchternster Bauart. Welch ein Gegensatz. Das Schwarze Meer ist keineswegs schwarz, der Ausdruck ist bildlich gemeint, schwarz ist die Farbe des Unglücks und die Stürme des Schwarzen Meeres bringen den Schiffen viel Unheil; als ich es zu sehen bekam, lag es in stiller, azurner Bläue vor uns, das brave Schwarze Meer. Wir blieben zwei Tage und so hatte ich Zeit, mit der Bade-Bahn nach dem Strand-Vorort, dem eleganten Seebad Mamaja zu fahren. Da ich vorher in Constanza für mich und Julius Badeanzüge gekauft hatte, konnten wir ein Bad nehmen, so daß ich mich später in Berlin werde rühmen können, meine Schönheit einmal in die Fluten des Schwarzen Meeres getaucht zu haben. In den Geschäfts-Straßen Constanzas gibt es viele türkische Läden; die Kaufleute ließen dort, als ich türkisch sprach, gern so viel von dem Preis herunter, daß ich die Badeanzüge beinahe umsonst bekam; merkwürdig! Man kann noch so viel Geld in den Fingern haben, Ware ein bißchen billiger einkaufen freut jede Frau trotzdem! Aber die rumänischen Lei-Preise darf man nie in unsere gegenwärtigen deutschen Mark-Preise umrechnen, schon bei dem leisesten Versuche dazu wird man halb wahnsinnig. Unseren Kassen-Überschuß läßt Tischler-Ruß täglich sofort in amerikanische Dollars umwechseln, die er dann in Wertbriefen nach Deutschland schickt. Dort bedeutet jeder Dollar heute ein Vermögen. Bukarest hat eine Straße, die den Basaren in Konstantinopel gleichen soll, sie heißt Calea Vacaresti, da kann man im Freien auf den breiten Auslagetischen alles erhandeln, wonach ein Frauenherz begehrt, vom einfachsten bis zum elegantesten. Du glaubst nicht, Mutter, was ich da – außer meinem Affen, dem goldigen Peterchen – alles Unnötiges zusammenkaufte, wenn es die Händler mir bloß um recht viel billiger ließen als sie anfangs gefordert hatten. Und sage Vater, Du sollst mir kein Geld mehr schicken, er soll sein Geheimratsgehalt für sich behalten, wozu schickst Du mir immer noch seine Ersparnisse? Ich wühle im Überfluß.

Sieh, in solchen Dingen verliere ich mich, in dem gleichen Briefe, der Dir so Bitteres erzählen soll! Oder wird er am Ende nur liebe kleine Freundlichkeiten enthalten und das Verkünden der Bitternis einem späteren Tage überlassen? Ich will der Reihe nach weiter berichten ... und sehen, wie weit ich komme. Habe Geduld, Mutter! Das Frohe, das ich Dir zu schreiben habe, mag Dich im voraus entschädigen für das Harte, das Du endlich auch einmal lesen mußt. So wechselt Freude und Schmerz. Unendlich viel Freude hat mir mein lustiges, glitzerndes Leben beschert. So will ich denn auch den tiefen Schmerz der um so schrecklicheren Erschütterungen tragen, und die Erinnerung an sie vermeiden, so gut ich kann.

Aber nun hab ich den Mut beisammen.

Ich bin gefaßt.

Kein Wort mehr von unseren Kunstreisen nach Giurgiu, Rustschuk, Titu, Pitesti, Ploesti und wie die rumänischen Orte alle heißen mochten. Oder vielleicht ein späteres Mal davon. Jetzt meine Beichte!

Viel geliebt habe ich; viel gelebt und viel geliebt. Aber nie, das war mein höchster Ehrgeiz, habe ich mich freiwillig einem ungeliebten Manne hingegeben. Nur einer lebt auf der Welt, bei dem es beinahe dazu gekommen wäre. Es ist der Mann, von dem ich die Mappe aus Mädchenhaar erhielt.

Daß ich sie in Hannover bei einem Antiquar erworben habe – ich glaube, so schrieb ich Dir einmal – ist eine Lüge ... und doch keine Lüge. Nur das Wort »erworben«, ach, ist vieldeutig. Ich wollte sie mit barem Gelde bezahlen, aber es sollte anders kommen. Und so habe ich sie denn nicht durch Geld erworben, sondern durch eine Niedertracht, durch den Verrat meines besten Ichs. Die Mappe lag im Fenster, ihr Glanz betäubte mich, ich fühlte: ich muß sie haben. Es war in Hannover, in einer schmalen Seitengasse, abseits der Geschäftsgegend. Das Schaufenster war leer. Nur ein Schild »Ausverkauf wegen Aufgabe von das Geschäft«. So! »von das Geschäft«. Und daneben die Mappe aus Mädchenhaar. Ich trat in den Laden. Eine blasse, hagere Verkäuferin legte mir die Mappe vor. Jetzt erst sah ich, daß sie die Zeichen D. M. trug, die Anfangsbuchstaben meines Namens. Ich mußte die Mappe haben.

Preis? Die Verkäuferin sagte, das müsse der Chef selber bestimmen. Er war nicht da. Zu ärgerlich! Heute war Schluß des Ausverkaufes, die Mappe aus Mädchenhaar war so ziemlich das einzige Stück, das übrig geblieben war. Der Ladenbesitzer sei Ausländer, erzählte das Mädchen, verlasse morgen Hannover, sie habe schon eine andere Stelle.

Wann der Chef wiederkomme? Vermutlich erst gegen Abend. Es war ja nichts mehr zu verkaufen, außer der Mappe. Und die Reise-Vorbereitungen; er fahre morgen ins Ausland. Da lag die Mappe, ich konnte sie betrachten, beschnuppern, bewundern, aber nicht kaufen.

Jede Stunde lief ich wieder in den Laden. Immer die Verkäuferin allein. Sie gibt mir die Mappe nicht. Um keinen Preis. Ich verliebe mich immer mehr in das geheimnisvolle, glänzende Stück ...

Abend. Kurz vor der Stunde des Geschäftsschlusses. Die Verkäuferin läßt die Roll-Läden herunter, macht das Licht aus, schließt mir den Laden vor der Nase zu. Ich habe die Mappe nicht. Ich gehe nach Hause, finde keine Ruhe, laufe wieder nach dem Laden zurück, sehe einen Lichtschein im Hinterzimmer des Ladens, klinke an der Tür, sie wird aufgemacht, der Laden ist dunkel. Licht nur im Hinterzimmer. Ein Mann läßt mich ein, schließt hinter mir geräuschvoll wieder zu. Ich sage ihm den Grund meines Kommens. Er knipst das Elektrische an. Wer steht vor mir? Der Eisgraue aus Eurer Bahnstraße. Aus dessen Klauen mich damals Erhard König errettet hat.

Ich komme mir vor wie eine Gefangene vor der Folterbank. Er ist alt, aber groß und kräftig. Wie komme ich mit heiler Haut aus dem Laden heraus? Und ich will die Mappe haben, um jeden Preis, um jeden Preis. Was kostet die Mappe? Er nennt eine phantastische Ziffer. Ich sage: »Soviel habe ich nicht, geben Sie mir die Mappe billiger.«

Er grinst und knurrt in seinem gebrochenen Deutsch, ich solle die Mappe umsonst haben, wenn ich ihm einen kleinen Gefallen tue.

»Der wäre??«

Etwas Greuliches antwortet er. Er habe sich schon lange gewünscht, mit einem schönen Mädchen auf einen Kirchhof zu gehen, und dort dem Mädchen die Knie zu küssen. »Auf Kirchhof will ich küssen dein Knie,« knurrt er immer wieder und scheint sich zu berauschen am Vorgeschmack dieses verdrehten Genusses.

Mir war todelend zumute. Die schlechte Luft dieses fest verschlossenen Ladenlokals. Der üble Geruch des dicken, alten eisgrauen Mannes. Die entsetzliche Zumutung, die er an mich stellte. Aber da blitzte ein Gedanke auf: wenn ich ja sage, führt er mich wenigstens aus dem Laden heraus, hinaus in die frische Luft und dann wird sich schon alles finden. »Auf Kirchhof will ich küssen dein Knie,« knurrt er immer wieder.

Ich verspreche alles, was er versprochen haben will. Er wisse den Kirchhof eines Bergwerks, der sei von hier aus im Auto in einer Stunde zu erreichen. Die Mappe nehmen wir mit, auf der Rückfahrt gehört sie mir. »Auf Bergwerkskirchhof will ich küssen dein Knie.«

»Ja, gewiß, gewiß,« haste ich.

Nur heraus hier.

Er geht an den Fernsprecher, telephoniert mit der Garage einer Automobilfabrik. Ob er den Wagen, den er heute gekauft hat, sofort zu einer Probefahrt haben kann. Man macht Schwierigkeiten. Er besteht darauf, man sagt zu. Die nächste Viertelstunde ist eine Ewigkeit. Aber endlich hört man draußen ein Auto halten, tuten. »Ist da,« sagt er, »auf Kirchhof will ich küssen dein Knie.«

Mit eisernem Griff hält seine Linke meine Rechte, während er aufschließt. Die Mappe hat er mir gegeben, ich muß sie unterm linken Arm halten. Fliehen? Mir war wie dem Kaninchen im Schlangenkäfig. Ich mußte stillhalten.

Es war ein imposanter, geschlossener Tourenwagen. So reich war der Kerl, so viel Geld hatte er sich mit seinen schmutzigen Geschäften erworben.

Warum habe ich die Mappe nicht weggeworfen und bin davongelaufen? Ich konnte nicht. Schon saß ich im Auto, er nannte dem Chauffeur das Ziel und mahnte ihn zur Schnelligkeit. Rasch lagen die Straßen Hannovers hinter uns, wir sausten durch die dunkle Nacht der Landstraße dem Bergwerk zu. Und was wird er in der Einsamkeit mit mir anfangen? »Auf Kirchhof will ich küssen dein Knie,« murmelte er wie betrunken.

Da fiel auch mir eine Gemeinheit ein. Als ich einmal mit Udo vom Tillberg im Separatzimmer eines Weinrestaurants soupierte, hörten wir durch die dünne Wand, was im nächsten Separatzimmer gesprochen wurde. Ein Weib erzählte mit rauher Stimme ein Abenteuer aus der Nacht zuvor. Ein reicher, aber ekelhafter Verehrer habe sie gestern nacht, so erzählte sie, in ein übles Quartier geführt und ihr soviel Geld gegeben, daß sie ihm dafür jedes Entgegenkommen schuldig war; trotzdem war ihr gelungen, sich vor dem äußersten zu schützen, indem sie den ekelhaften Liebhaber durch allerhand raffinierte Liebkosungen so matt machte, daß er selbst eine Pause wünschte, in der er dann ermüdet einschlief. Seinen Schlummer benutzte sie zur Flucht.

Während wir in dem nagelneuen, prächtigen geschlossenen Tourenwagen über die Chaussee dahinsausten, sagte ich mir, daß in einem ähnlichen Vorgehen meine einzige Rettung liege. Laß mich nicht viel Worte machen, teuerste Mutter, denn auch Du fühlst, wie schwer mir dieses abscheuliche Geständnis wird. Wenn Liebkosungen morden könnten – am liebsten hätt' ich ihn umgebracht mit meinen Liebkosungen. So muß der Spinne zumut sein, wenn sie im Netz die Fliegen »liebkost«. Wir hatten den Kirchhof des Bergwerks noch lange nicht erreicht, da war der durch meine Liebkosungen Ermattete in den Polstern des Wagens so fest eingeschlafen, daß ich es wagen durfte, dem Chauffeur ein Haltezeichen zu geben. Das Auto hielt. Ich nahm die Mappe, stieg aus und befahl dem Chauffeur umzukehren. Mit meiner Mappe unterm Arm, von der ich nicht lassen wollte, wanderte ich weiter, einem Lichtschein nach, der mich ins nächste Dorf führte. Ein Gasthaus nahm mich für die Nacht auf. Ich war gerettet. Und hatte die Mappe, von der ich nicht lassen mochte. Aber sie war teuer erkauft, und der Ekel, den ich gegen diese Nacht empfinde, wird mich nie loslassen. Noch keinem Menschen auf der Welt habe ich von dem Ereignis ein Wort gesagt. Dir, meine über alles geliebte Mutter, hab' ich's nun gebeichtet. Ich brauche keine Silbe hinzuzufügen, keine der Entschuldigung, keine der Erklärung: Du – Du weißt und fühlst, was diese entsetzliche Stunde für mich bedeuten mußte, für mich, deren höchster Stolz war, bis dahin noch keinen ungeliebten Mann geküßt zu haben. – – – – – –

Am 15. August sollte unsere letzte Bukarester Vorstellung stattfinden, für den 16. hatte Julius schon die Schlafwagenkarten zur Rückreise nach Berlin bestellt. Dort sollte ich der Star seiner reichshauptstädtischen Bühne werden.

Für den 13. August hatte er eine Privat-Aufführung abgeschlossen, die in der Villa eines Großgrundbesitzers bei Comana stattfinden sollte. Der 13. ist für mich nie ein guter Tag gewesen. Ich bin nicht abergläubisch, aber gegen den 13. habe ich eine Abneigung. Jedenfalls wollte ich nicht, daß wir die vielstündige Fahrt nach Comana in dem uns von dem Großgrundbesitzer angebotenen Auto machten. Ich bestand darauf, Eisenbahn zu fahren, und setzte es durch. Ich studierte den Fahrplan und fand, daß wir zurechtkämen, wenn wir am 13. sehr früh Bukarest verließen und gleich nach der Vorstellung den Nachtzug zur Rückfahrt benützten. Das Auto des Großgrundbesitzers wollten wir nur zwischen dem Bahnhof in Comana und der Villa des Gastgebers in Anspruch nehmen – so weit reichte mein Zutrauen sogar an einem Dreizehnten.

Der sympathische Gutsbesitzer und seine anmutige Gattin – Herr und Frau Branesteanu – erschienen bei unserer Ankunft selbst am Bahnhof. Wir hatten fast einen vollen Tag vor uns bis zum Spielabend. Sie wollten uns die Herrlichkeiten der Gegend zeigen. Die ausgebreitete Wirtschaft ließ ihnen selten Zeit, einen Abend in der Hauptstadt zu verbringen, sie kannte mich – so erzählte die Dame mir nachher auf einer Spazierfahrt, wo nur sie und ich im Wagen saßen; die Herren ritten – sie kannte mich nur aus Bildern der Journale und aus den Schilderungen eines alten Oheims, eines reichen Sonderlings, der ihnen meine Kunst in begeisternden Farben geschildert hatte. Jede Woche ein paarmal sei der Oheim nach Bukarest gefahren, die schöne Domina Dolorosa zu bewundern. Was um so erstaunlicher ist, als der alte Herr menschenscheu sei, sonst nie ein Theater besuche und auch im Garten des Theater Carol sich immer einen ganzen Tisch gemietet habe, wo er im Dunkel der Bäume für sich allein saß, fast unsichtbar für das andere Publikum. Der Onkel werde auch heute wohl kaum sichtbar werden, trotzdem er sich in Comana aufhalte.

»Heute hat er Geburtstag,« erzählte mir die liebenswürdige Dame, als ich im Auto neben ihr saß, »wir haben ihn ausgeforscht, welches Geschenk wir ihm machen sollen. Er erbat sich als Geburtstagsgeschenk Ihr Gastspiel.«

»Sonderbarer Schwärmer – aber äußerst schmeichelhaft, gnädige Frau,« lachte ich.

»Um so sonderbarer,« fuhr die Dame fort, »als er eigentlich Trauer hat. Vor kurzem ist sein Bruder gestorben.«

»Mein herzlichstes Beileid, gnädige Frau.«

»Danke sehr, gnädiges Fräulein. Aber uns traf es weniger, wir nennen ihn Onkel, aber eigentlich ist nicht er mit uns verwandt, sondern seine, vor vielen Jahrzehnten jung gestorbene Frau war die Tante meines Mannes. Ihr Beileid wäre nur insofern berechtigt,« fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, »als der kürzlich verstorbene Bruder des Sonderlings ein wirklich wertvoller Mensch gewesen ist, der sogar wegen seiner hohen Verdienste ums Land vom König die Baronswürde erhielt, es war der Petroleum-Magnat Baron Uzzicanu.«

Der Mann, den meine Absage in den Tod getrieben hatte! Ich war wie vom Blitz getroffen.

»Was haben Sie denn, gnädiges Fräulein?«

»O – ich kannte den Baron. Wir haben kurz vor seinem Todestag in seinem Schloß in Campina gespielt.«

»So habe ich Ihnen zu danken, gnädiges Fräulein, daß Sie halfen, seine letzten Tage freundlicher zu gestalten. Denn auch er hatte zuletzt trübe Zeiten, seit seine inniggeliebte Frau – die ihm übrigens den Aufstieg durch ihren Reichtum erleichtert hatte – nicht mehr war. Nur wenn er eine zweite, ebenso verehrungswürdige Frau gefunden hätte, wäre dem vortrefflichen Manne zu helfen gewesen.«

Ich biß mir auf die Lippen.

»Sprechen wir von anderen Dingen, gnädiges Fräulein, dieses Thema scheint Sie ernst zu stimmen. Das Auto wird jetzt gleich an dem Zigeunerdorf halten, das mein Mann Ihnen zeigen wollte. Haben Sie es nicht von der Eisenbahn aus schon bemerkt?«

»Ich sah eine Masse unförmlicher Strohdächer, aber ich konnte mir ihren Sinn nicht erklären. Die Zigeunervorstadt in Bukarest sieht anders aus.«

»Ja, mein liebes gnädiges Fräulein, das in Bukarest sind schon zivilisierte Zigeuner, Straßenhändler, Kaffeehausmusikanten. Hier bei uns sehen Sie ein waschechtes Original-Zigeunerdorf. Schauen Sie, dort drüben über den Feldweg kommt schon mein Mann geritten, mit Ihrem Herrn Direktor, die haben eine große Ecke abgeschnitten und könnten vor uns im Zigeunerdorf ankommen, aber sie halten jetzt ihre Pferde an, um die Zigeuner nicht aufzuschrecken; denn nur wenn wir zuerst da sind, können wir die braunen Herrschaften bei ihrem Familienleben überraschen.«

Mit Genugtuung stellte ich fest, daß Julius, den ich zum erstenmal hoch zu Roß sah, zu Pferde eine sehr gute Figur machte. Er hat bei den Husaren gedient und es im Krieg bis zum Oberleutnant gebracht.

»Merkwürdig,« sagte meine Begleiterin, »wir Frauen sehen beim Manne unseres Herzens Reiterkunst so gern, daß sie geradezu unsere Zuneigung zu erhöhen vermag.«

Ich hütete mich, allzu lebhaft beizustimmen, aber ich empfand ebenso. Besonders in diesem Augenblick.

Das Auto hielt. Im Sonnenglanz lag das Zigeunerdorf vor uns. Strohgedeckte runde kleine Hütten von primitivster Einfachheit, nicht allzu nahe eine bei der andern, vor jeder eine aus Steinen hergestellte Kochgelegenheit, wie sie unsere Voreltern vor zehntausend Jahren benutzt haben mögen. Nackte, wunderhübsche Kinder sprangen umher, ganz kleine, die kaum laufen konnten, bis zu etwa vierzehnjährigen, Buben, Mädel alles splitternackt, lauter edle, vorbildliche Kinderkörper, deren goldenes Braun in der goldenen Sonne bronzen glänzte. Wir schauten in die kleinen Hütten hinein. In vornehmem Nichtstun thronte dort der pfeifenrauchende Papa, während draußen am Kochherd oder auch drinnen in der Hütte die emsige Mutter mit häuslichen Verrichtungen beschäftigt war. Sehr gegen meine Vermutung bettelte niemand, kein Großer, kein Kleiner. Unsere freiwilligen Geschenke nahmen sie später mit Bereitwilligkeit entgegen. Auch zu handeln – anzubieten, meine ich – versuchten sie nicht.

»Zigeuner sind wie Geschäftsreisende, daheim tun sie nichts,« sagte Julius Tischler-Ruß, der Konfektionär a. D.

Nach dem Zigeunerdorf gab es in der Nähe von Comana noch eine andere Sehenswürdigkeit zu besichtigen. Durch einen dicken Wald bahnte sich unser Auto langsam den Weg, denn der Sturm hatte heute Nacht viele Bäume entwurzelt und manchen über die Chaussee geworfen. Unser Ziel war der Gipfel eines nahen Berges, gekrönt von einer riesigen Schloßruine. Mir schien, daß an diesem Tage das Thema ewig zu Tod und Grauen wiederkehren wollte; denn meine freundliche Begleiterin erzählte mir nun, daß ein deutscher Hauptmann, der während Rumäniens Besetzung hier in der Nähe seine Dienststelle hatte, aus dem großen Schloßhof der Burgruine einen Kriegerfriedhof für Freund und Feind geschaffen hatte.

»Wenn wir oben sind, mein liebes Fräulein,« sagte sie, »werden Sie sehen, wie dort unter Hunderten von schlichten Holzkreuzen namenlose Gegner friedlich für ewige Zeiten ruhen.«

Plötzlich hielt das offene Auto an, der Chauffeur stieg ab.

»Was gibts, Jonesku?« schien die Dame den Chauffeur zu fragen. Sie fragte auf Rumänisch, das ich noch immer nicht verstand.

Dann übersetzte sie mir die Antwort des Chauffeurs:

»Er hat dort in der vom Sturm gefällten Ulme etwas gesehen.«

»Darf man erfahren was, gnädige Frau?« Ich war nicht neugierig, wollte aber auch nicht interesselos erscheinen.

»Wenn Sie es durchaus wissen wollen, gnädiges Fräulein, er hat etwas gefunden, das wir in diesem Walde häufig finden. Hier herum haben im großen Krieg viele erbitterte Kämpfe stattgefunden. Der gefallene Baum hat ein Totengerippe freigelegt, das bis jetzt nicht zu sehen gewesen war. Wir führen für solche Fälle immer ein Leinentuch im Auto mit. Schauen Sie bitte nicht hin, das greift Sie zu sehr an, aber in dem Packen, den der Chauffeur jetzt trägt, bringt er das Gerippe. Wir nehmen es mit. Der Kastellan wird es später oben im Kriegerfriedhof bestatten, noch ist Platz genug da.«

Stumm saßen wir beiden Frauen nebeneinander im langsam bergauf fahrenden Auto.

Wieder hatten die beiden Reiter einen kürzeren Weg gewählt, sie waren vor uns auf dem Gipfel des Berges angelangt. Der Großgrundbesitzer machte über den Fund seines Chauffeurs wenig Worte. Dergleichen war hier an der Tagesordnung. Julius war durch Kriegserinnerungen gefeit gegen Schreckgefühle, wie ich sie empfand bei dem Gedanken, unfreiwillig einen Leichenzug mitzumachen. Ich hatte wenig Sinn für die Reize der Fernsicht, die der Großgrundbesitzer nun pries.

Damit wir vor dem Nachtzug noch der Mahlzeit anwohnen konnten, sollte unsere Vorstellung heute besonders früh beginnen. Während der ersten Szenen ging alles wie sonst. Aber gegen Schluß – was war das? litt ich an Gesichtstäuschungen? – während ich lachte, tanzte und trällerte, war mir als ob aus dem Dunkel der Gebüsche – wir spielten im Freien – bald da, bald dort ein gespenstisches Gesicht auftauchte, dessen unerkennbare Züge mich erschreckten. Ich sang schlechter als je, ich hatte die Hörerschaft nicht im Bann, das Schlußbild fand nur kalten Höflichkeitsbeifall, hinter den Kulissen machte mir Julius Vorwürfe. Ich antwortete gereizt. Er wurde unhöflich. Ich zog mich in das Zimmer zurück, das uns Damen zum Umkleiden zur Verfügung stand.

Ernestine Dopplinger, unsere komische Alte, und Stella Most, die Sängerin, die das Benehmen des Direktors mit angesehen hatten, reizten mich noch mehr gegen ihn auf.

»Daß Sie dem so blindes Vertrauen schenken!« sagte tadelnd die Sängerin.

Ich sah sie zweifelnd ein.

»Sie haben also wirklich keine Ahnung?« half ihr die komische Alte. »Seit er Ihnen die Villa gemietet hat, betrügt er Sie in Ihrem früheren Hotelzimmer – das hat er als Privatbureau – jeden Tag mit einer anderen. Unser Direktor wechselt ja so viele Dollars ein. Warum sollen die hübschen Rumäninnen nicht seinen hübschen Dollars nachlaufen? In Bukarest ist eben auch Inflation.«

»Julius hat mein altes Zimmer als Bureau?« wiederholte ich ungläubig. Ich dachte, nur Eifersucht spräche aus den Kolleginnen.

»Fragen Sie ihn,« sagte die Dopplinger. »Ich meine es gut mit Ihnen. Nur wenn das wahr ist, ist auch das andere wahr ...«

Ich ließ Julius rufen und stellte ihn vor den Kolleginnen zur Rede; ich glaubte, er müsse mühelos den Verdacht zurückweisen können.

Ich hatte mich in ihm geirrt! Die Kolleginnen hatten die Wahrheit gesagt, sein anfängliches Leugnen verstummte vor ihren Beweisen.

Meine Verstimmung war so groß, daß ich mich bei der Hausfrau entschuldigen ließ: ich könne wegen Kopfschmerzen nicht an der Tafel erscheinen. Die gütige Frau Branesteanu ließ mich in ein stilles Zimmer führen und sehr bald kam sie selbst, um mir für den Rest meines Aufenthalts Gesellschaft zu leisten. Ich vermochte nichts zu mir zu nehmen. Ich wollte auch Peterchen, den Affen, nicht sehen und gab ihn in Lazureanus Obhut.

Mir graute vor dem Gedanken, jetzt mit Julius in ein Auto steigen zu müssen. Das gestand ich der Hausfrau, die den Zusammenhang schon halb erraten hatte.

»Bleiben Sie bei uns über Nacht!« tröstete die gütige Dame.

Ich nahm den Vorschlag freudig an. Aber kaum waren die Kollegen ohne mich abgefahren, da tat's mir wieder leid. Ich war in meinem Leben über so vieles weggekommen, ich würde auch die Untreue dieses Freundes verwinden. Deshalb kontraktbrüchig werden? Nein. Das lohnte der Fall nicht. Ich gestand Frau Branesteanu meine Sinnesänderung und sagte, ich gäbe viel darum, wenn ich den Zug noch erreichen könnte.

»Auch da läßt sich Rat schaffen,« nickte die Dame freundlich. »Eben kurbelt mein Onkel sein Auto an, um nach seiner Villa zu fahren. Er soll Sie an die Bahn bringen.«

»Der Sonderling? Ich sah ihn gar nicht!«

»Er hat sich hinterm Gebüsch versteckt, während Ihrer Vorstellung, genau wie im Theater Carol. Aber im Chauffieren ist er zuverlässig, er bringt Sie sicher zur Bahn. Beeilen Sie sich, ich benachrichtige ihn inzwischen.«

Während Du diese Zeilen liest, ahnst Du, meine über alles geliebte Mutter, das Unheil, das nun über mich hereinbrechen sollte?

Inzwischen war es dunkel geworden, ein schwerer Regen hatte eingesetzt, meine Gastgeberin brachte mich an das Auto, der Gentleman-Chauffeur saß schon am Steuer, eingemummelt in Ledermantel und Ledermütze, die schützende Brille vor den Augen, abscheulich anzusehen. Was half's? ich mußte mich seiner Fahrkunst anvertrauen.

Der Weg zum Bahnhof hätte sieben oder acht Minuten dauern müssen. Ich sah auf die Armbanduhr, deren leuchtende Radiumziffern im Dunkeln zu erkennen waren. Wir mußten am Bahnhof sein, statt dessen – waren wir im Walde. Der Wagen hielt. Der Gentleman-Chauffeur stieg, ohne ein Wort zu sprechen, ins Innere des Autos, schaltete die elektrische Wagenbeleuchtung ein, nahm Brille und Mütze ab – es war der Antiquar aus Hannover, der Eisgraue aus Eurer Bahnstraße.

»So, Schätzchen,« grunzte er, »jetzt bezahlst du Mappe aus Mädchenhaar. In Wald Comana gibt keine Flucht. Fahr ich dich Kriegerfriedhof. Auf Kirchhof will ich küssen dein Knie!«

Entsetzlich. Bei strömendem Regen, mitten im Walde von Comana, zwischen dem Dorfe der Zigeuner und dem Friedhof der Soldaten einsam und allein der rohen Kraft eines perversen Wahnsinnigen ausgeliefert!

Er will mich wieder am Handgelenk packen, wie damals in Hannover. Ich beiße mit aller Kraft in seine Finger, er kreischt auf, läßt los, ich zum Wagen hinaus, durch den strömenden Regen durch den Chausseegraben gewatet, unter die Bäume hinein, deren nasse, schwere Zweige in mein Gesicht schlagen.

Er hinter mir her.

»In Wald Comana gibt keine Flucht!« schreit er gellend, »auf Kirchhof will ich küssen dein Knie!«

Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit, ich bin schlanker, bin jünger als er, immer tiefer laufe ich in das Dickicht hinein, er hinter mir her, aber die Entfernung wächst. Halt! ein Gedanke – jetzt bin ich weit genug von ihm entfernt: eine hohe Ulme steht vor mir, ich klettere hinauf! Die Seide meines Mantels reißt, mein Kleid kracht in allen Nähten, tut nichts, wie eine Katze klettere ich, der glitschige nasse Baumstamm ist eine Himmelsleiter für mich, mein Feind tappt unten kreuz und quer herum, er weiß nicht mehr nach welcher Richtung er weiter soll.

Da legt er sich aufs Bitten. In seinem widerlichen Kauderwelsch verspricht er mir Feenschlösser und Geschmeide, wenn ich gutwillig wieder mich melden will. Endlich ruft er immer nur noch: »Domina Dolorosa! Domina Dolorosa!«

Ich klammere mich an den nassen Baum und rühre mich nicht. Oben ist es ein wenig lichter als unten, ich kann Gegenstände unterscheiden; einen halben Meter über mir sehe ich etwas Helles, Rundes, Weißes, und in meinem wahnsinnsnahen Hirn steigt so etwas wie ein tröstender Gedanke auf: »Das ist ein Rettungsball! Ein Rettungsball in meiner Not, wenn ich den erreiche, bin ich gerettet!« Leise, lautlos, katzenhaft klimme ich an dem nassen Ulmenstamm höher. Fast kann ich das, was ich für einen Rettungsball halte, berühren. Die dünnen Kleider sind naß bis auf meine Haut. Die Zähne klappern mir vor Kälte und vor Angst. Ich beiße sie fest zusammen, ich habe Angst, das Klappern könnte dem wilden Tier da unten auf die Spur helfen. Der Eisgraue steht jetzt fast genau unter mir, aber er sieht mich nicht. Immer mehr haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Nun erkenne ich, was ich dort oben für einen »Rettungsball« gehalten habe. Es ist ein Totenschädel, der sich in diesen Ästen gespießt hat. Hat der Kopf einem Flieger gehört, den die Kugel aus den Lüften herabgeholt hat? Hat der Schädel einem Grenadier gehört, den Granaten in die Luft emporrissen? War das das Haupt eines Deutschen, Österreichers, Türken, eines Bulgaren? Hatte es ein Engländer, ein Amerikaner getragen, ein Franzose, ein Belgier, ein Italiener, ein Serbe? Die Welt der Möglichkeiten war so groß wie die Welt, die in dem großen Kriege miteinander im Kampfe gelegen hat.

Wie friedlich waren die fürchterlichen Nächte, in denen mein Herz zwischen Paul Trapp und Erhard König hin und her gezerrt wurde, verglichen mit dieser Nacht! Über mir der Schädel des toten Soldaten, unter mir das suchende, wild schnaubende Tier, so hing ich in den Ästen der hohen Ulme, der grimmige Regen des Balkans rieselte über meinen Leib. Jetzt stieß der Sucher unten gegen den Ulmenstamm. Die Äste bewegten sich, der Totenkopf kam ins Gleiten, stürzte, und fiel herab. Ein Knall, ein Schrei, unten: der fallende Kopf des Toten hatte mit aller Kraft des Anpralls den Schädel des Eisgrauen getroffen. Brüllend lief das wilde Tier davon. Ich hörte, wie bald darauf das Auto sich in Bewegung setzte, aber es entfernte sich nicht weit, an der nächsten Wegschleife machte es wieder Kehrt, fuhr immer wieder – bald nach der, bald nach jener Richtung an meiner Ulme vorüber. Und stets aufs neue gellte die entsetzliche Stimme, die da unten lockte: »Domina Dolorosa! Domina Dolorosa!«

Unmöglich zu wissen, wieviele Stunden ich unter strömendem Regen in den Zweigen hockte. Unmöglich zu sagen, ob ich immer bei Bewußtsein blieb oder es ab und zu verlor. Aber plötzlich schien es mir, als ob die Stimme, die da unten meinen Namen rief, nicht mehr die des eisgrauen Tieres war, sondern die Stimme meines Freundes, die Stimme von Julius. Ich traue meinen Sinnen nicht, prüfte sechs, achtmal, endlich wurde es Gewißheit: das war nicht mehr das geschlossene Auto des Eisgrauen, es war ein offenes, nur mit aufgeschlagenem Regenschutz. Es war nicht mehr die Stimme meines fürchterlichen Verfolgers, es war Julius Tischler-Ruß, mein Direktor, mein Freund, der mich suchte.

Ich rief ihn an.

Das Auto hielt.

Er stieg aus, folgte dem Klang meiner Stimme, sah mich oben in der Ulme hängen. Mit ein paar Worten erklärte er mir, er hatte ohne mich nicht abreisen wollen, war am Bahnhof umgekehrt, hatte mir nachgeforscht. Der Chauffeur aus Comana traute dem Eisgrauen Schlimmes zu. Mit dem elektrischen Sucher des Autos suchten sie die schlammige Chaussee nach frischen Spuren ab, kamen auf meine Fährte. Ich verstand kaum, was er sprach, mich erfüllte nur der Gedanke: Gerettet, gerettet!

Julius bat mich, von der Ulme herabzusteigen. Ich versuchte es, aber ich war zu matt, ich ließ los, glitt, stürzte, fiel ins Gras, ein wahnsinniger Schmerz zuckte blitzartig vom linken Knöchel zu meinem Hirn empor. Ich sprach noch die zwei Worte: »Fuß gebrochen«, dann wußte ich nicht mehr, was mit mir geschah.

Einmal, als ich aus schwerer, langer Dumpfheit zu halbem Wissen stieg, war mir, als läge ich in meinem Bett in unserer Bukarester Villa und es säßen Tischler-Ruß und eine Krankenschwester daneben. Aber nein, das war nicht Julius, es war der tote Baron Uzzicanu mit der Dopplinger, unserer komischen Alten, und sie saßen nicht neben meinem Bett, sondern auf den Ästen hoher Bäume und zwischen ihnen hing ich in den Zweigen einer Ulme. Aber Nacht und Regen waren gewichen, es war Tag, die Sonne lag um den Wald von Comana und ich konnte erkennen, daß auch auf den anderen Bäumen Menschen saßen. Freunde, Freunde, lauter Freunde. Der Holzhändler Paul Trapp saß auf einer unendlich hohen Kiefer, behauptete, der Stamm müsse mindestens zwanzig Festmeter messen und sei das wertvollste Bauholz, das jemals auf seinen Lagerplatz in Oberschöneweide gebracht worden sei. Auf einer ungeheuren Palme saß Professor Erhard König und malte mich, denn ich hing nackt in meiner Ulme und hatte nur grasgrüne Saffianpantöffelchen an. Frau Sebastian wollte mir vom nächsten Baumast einen Teller voll Gänsebraten herüberreichen, und das alte Faktotum, die Laura, wischte den Staub von den Blättern der Palme, auf der Erhard saß. In den Zweigen einer Erle saß der Militärarzt Satorius und trank Sekt mit der Filmgräfin, von der Karlchen durchaus einen Kuß haben wollte. Fern auf der Chaussee erblickte ich den stillen, schüchternen Bankbeamten, der mit Pralinés nach einem Totenschädel warf. Ein Flugzeug sauste über mir dahin; darin saßen der kleine Udo von Tillberg, der alle Möbel aus dem mir von ihm eingerichteten hannoverschen Zimmer auf dem Schoß hielt, neben Major Stübner, der mir ein hochgeschlossenes Kleid aus dem Flugzeug herabschleuderte, und der alte General Graf Klarau mit seinen acht Kindern, die er hinabwarf mit der Bemerkung, er brauche sie nicht mehr, er wolle sich scheiden lassen, um mich zu heiraten. Peterchen, mein goldiger Affe, saß auf einer Platane und feixte mich an, ohne mich zu erkennen.

Der Spuk verschwand für eine Weile. Als er wieder auftauchte, hatte ich mein grünes Seidenkleid an, hing noch immer an der Ulme und sah, daß jetzt die Bäume ringsum von anderen Gästen belebt waren. Da saß auf dem nächsten Zweig Ernst Frieseck, der mir zurief, er habe seine Ritterklitsche gegen das Gut des toten Barons Uzzicanu vertauscht, Leutnant Kröner saß daneben und schrie, er müsse mich ganz rasch mal küssen, er habe nur zwei Tage Urlaub aus Breslau, aber plötzlich kam Direktor Frohn vom Spreekabelwerk auf meine Ulme geklettert und versprach, er werde mich aus diesem Spielklub auslösen und unserem gemeinsamen Freunde Paul Trapp kein Wort davon sagen, und ich solle nicht hinabsehen auf die Schlacht, die unten im Walde geschlagen würde. Aber ich hatte eine gute Fernsicht von meinem Baume aus und sah, daß zwei Armeen baumlanger Soldaten aufeinander stießen, eine von Comana, eine von Bukarest her, die Bukarester Armee wurde von Erhard König angeführt, der rief: »Es lebe die blonde Dolly, man kann sich nichts Hübscheres denken als dieses Mädchen!«; die Armee aus Comana führte der eisgraue Alte, der fortwährend brüllte: »Auf Kirchhof will ich küssen dein Knie!« Aus dem Riesenflugzeug der drei hannoverschen Offiziere wurde ein Rettungsball herabgelassen, und trotzdem es ein Totenkopf war, griff ich zu und kletterte an seinem Tau hoch und immer höher, bis ich in der Luxuskabine des Flugzeugs angelangt war. Sie glich meinem Schlafzimmer in der Strada Cobalcescu. Vor dem Bett standen Sonja, das rumänische Stubenmädchen und Kascha, die Köchin. Neben mir saß eine geduldige Krankenpflegerin, im Korbsessel drüben in der Nische saß Julius, hielt eine Zeitung in der Hand, las aber nicht, sondern sah gespannt zu mir herüber.

»Guten Morgen, Julius!« rief ich ihm zu und wunderte mich wie leise meine Stimme klang.

»Gott sei dank, Herr Direktor,« sagte die Krankenschwester, »die Patientin erkennt Sie wieder.«

Vier Tage lang hatte ich nach der abenteuerlichen Waldnacht besinnungslos gelegen und meine Empfindungslosigkeit, die von einer heftigen Grippe herrührte, hatte es den Ärzten um so schwerer gemacht, den Umfang des komplizierten Knöchelbruchs an meinem linken Fuß zu prüfen.

Inzwischen waren unsere Bukarester Vorstellungen beendet, es hatten ja nach dem 13. August, meinem Unglückstage, überhaupt nur noch zwei stattgefunden. An diesen beiden Abenden war Stella Most für mich eingesprungen, während ihre eigene alte Rolle von einer rasch angeworbenen Ersatzkraft gegeben wurde. Am 16. August, gestern, war das Ensemble nach Berlin abgereist, nur Julius war bei mir in der Villa hier zurückgeblieben, weil ich nicht transportfähig war und er mich nicht allein lassen wollte.

Als ich kräftig genug war, um seine Güte zu begreifen, und ihm danken wollte, hielt er mir sanft den Mund zu und streichelte meine blassen Wangen.

Meine Wangen! O Gott, was sind sie welk und bleich geworden. Die Spiegel des Schlafzimmers sind fortgenommen, damit ich mich nicht sehen soll. Julius und die Krankenschwester gaben mir nicht einmal einen Handspiegel, der Arzt hatte es streng verboten. Und der Arzt, der brummige, tüchtige Doktor Ermelio, Theaterarzt des Theaters Carol, hatte recht! Denn wenn ich mit Kascha, der Köchin, oder Sonja, dem Stubenmädchen, einmal ausnahmsweise einen Augenblick im Schlafzimmer alleingelassen werde – die können meinen Bitten nicht widerstehen, reichen mir den Handspiegel, und ich rege mich immer von neuem darüber auf, wie entsetzlich ich aussehe. Nach einer solchen Besichtigung meiner verwelkten Reize erschien mir die Zukunft plötzlich in so düsterem Licht, daß ich einen Anfall von Schreikrampf bekam, das Fieber stieg bis über einundvierzig Grad; als Eisbeutel und kalte Kompressen mich wieder etwas beruhigt hatten, gab ich mir innerlich das Versprechen, nicht eher wieder in den Handspiegel zu blicken, als bis Doktor Ermelio es mir ausdrücklich erlauben würde.

Mein linker Fuß lag nun in einem festen Verband, Schwester Stephanie betreute mich mit Umsicht und Geduld, sie war eine Ungarin und sprach, wie fast alle Ungarn auch deutsch. Ihre weiche sanfte Stimme verstand es, leicht und schnell meine Grillen zu scheuchen; ich dachte oft, daß wegen ihrer einschmeichelnden Stimmen gerade die Ungarinnen zur Krankenpflege besonders geeignet seien, aber Schwester Stephanie sagte mir, daß sie in Bukarest keine Kollegin aus ihrem Heimatlande wisse.

Julius war sehr gut zu mir. Von allem, was Doktor Ermelio mir zu essen und zu trinken gestattete, besorgte Julius mir das beste und frischeste; meist kaufte und brachte er es mir selbst. Stundenlang saß er neben meinem Bett; kein Krankendienst war ihm lästig, wenn Julius die von mir unausgesprochene Bitte ahnte, daß er selbst ihn leisten solle. Und gegen diesen lieben braven Menschen war ich an meinem Unglücksabend, am 13. August, in Comana so hart gewesen, weil Stella Most und die Dopplinger ihn bei mir verklatscht hatten! Wer war denn nun an meinem Krankenlager geblieben und hatte treu bei mir ausgehalten? Ernestine Dopplinger und die Most? – oder der gute Tischler-Ruß, der wahrhaftig auch Wichtigeres und Nützlicheres zu tun gehabt hätte? Mochte der hübsche Junge seinen geschminkten Bukarester Verehrerinnen die Kur geschnitten haben so viel er wollte, daß er jetzt zu mir armem kranken Huhn so lieb war, das machte alles wieder gut. Dann hatte ich wieder Stunden, in denen ich es mir übel nahm, daß ich ihm so leicht verzeihen wollte. Meine Geneigtheit zur Nachsicht erschien mir als der Thermometer meiner Schönheit, bei der die Quecksilbersäule sich nach dem Nullpunkt senkte. Ich dachte an die jüngste Besichtigung im Handspiegel. »Dolly«, sprach ich zu mir, »Domina Dolorosa, es geht zu Ende mit deiner Schönheit. Die Männer betrügen dich! früher war es umgekehrt, da hast nur du die Männer betrogen!«

Da lag ich nun krank im Bett und dachte nach.

Ja, Julius war der erste, der es über sich gewonnen hatte, andere Göttinnen neben mir anzubeten.

Ich rechnete nach, mit der Gewissenhaftigkeit eines Bankbeamten, der eine spaltenlange Rechnung aufstellt, und fand keine Ausnahme von der Regel, daß jeder meiner Freunde mir treu geblieben war – bis auf Julius.

Stundenlang konnte ich darüber nachsinnen.

Der semmelblonde Ernst Friesack, der als fescher Einjähriger-Husar meine erste Liebe war, blieb mir treu, so lange ich ihn überhaupt in meinem Gesichtskreis behielt.

Leutnant Kröner und meine drei Hannoverschen Freunde Graf Klarau, Major Stübner, der kleine Udo von Tillberg – schauten überhaupt keine andere Frau an.

Erhard König und der Holzhändler Paul Trapp dachten Tag und Nacht nur an mich, gleichviel ob ich ihnen fern oder nah war, die Gefahr des Getäuschtseins war für mich – auf meiner Seite – glatt undenkbar, da kam nun der Tischler-Ruß, hatte mit jeder gepuderten Rumänin angebandelt, die ihm ein bißchen nachgelaufen war, und ich verzieh. Sogar wenn ich dachte, daß er jetzt die nicht in meinem Krankenzimmer verbrachten Stunden mit hübschen Rumäninnen verbringen würde, fühlte ich nicht die Kraft, ihm das übelzunehmen. Nie fragte ich ihn, wo er gewesen war und wo er hingehen wollte. Seinen eigenen Schlafraum hatte er nun im früheren Herrenzimmer, das von meiner Krankenstube weit genug entfernt lag, so daß sein Gehen und Kommen mich nicht störte. Wenn ich ihn fragte, wie lange ich denn nun noch liegen müsse und wie lange er es bei mir hier aushalten werde, streichelte er meine mageren Wangen und sagte:

»Nicht aufregen, Dolorosa, wird sich schon alles finden.«

Auch der brummige, tüchtige Doktor Ermelio sprach sich über die voraussichtliche Dauer meiner Genesung nur in Andeutungen aus, die zwar zu nichts verpflichteten, aber mich immerhin wissen ließen, daß ich in absehbarer Zeit wieder hergestellt sein würde.

Das bißchen Energie, das aus meinem schwachen Ich überhaupt noch herauszuholen war, nahm ich zusammen, um mich dazu zu zwingen, nicht über die Schwierigkeiten meiner Lage nachzudenken. Was geschah, wenn Tischler-Ruß durch seine Geschäfte nach Berlin gerufen wurde und mich in der Strada Cobalcescu allein zurückließ? Nicht daran denken – nicht daran denken! War durch die Krankheit nicht meine Bühnenlaufbahn gefährdet? Nicht daran denken! Würde ich mit dem gebrochenen Fuß noch tanzen können? Nicht daran denken! Konnte mein dürftiger Körper wieder so aufgefüttert werden, daß ein bühnenmäßiges Dekolleté zustande kam? Was ich zu sehen bekam, wenn die Schwester Stephanie das tägliche Abseifen und Abwaschen an mir vornahm, schaute kläglich aus; aber nicht daran denken, jetzt noch nicht daran denken!

Hinterher fiel mir ein, daß am letzten Tage des Monats August Tischler-Ruß trotz agiler Selbstbeherrschung ein seltsames Gehaben nicht verbergen konnte. Auch daß sein Gutenacht-Kuß von einer besonderen Herzlichkeit war. Aber da der Arzt und Schwester Stephanie in letzter Zeit streng darauf hielten, mich bei Tage nur wenig schlafen zu lassen, befiel mich abends immer eine so tiefe Müdigkeit, daß ich trotz des beängstigend innigen Gutenachtkusses, den mir Julius gab, rasch in festen Schlaf sank. Als ich morgens erwachte, glaubte ich zuerst, von neuen Fieberträumen befallen zu sein. Aber bald stellte sich heraus, daß ich nicht phantasierte, sondern daß es Wirklichkeit war: in dem Korbsessel, worin bis gestern mein fürsorglicher Tournee-Direktor zu sitzen pflegte, saß – – der Holzhändler Paul Trapp.

Als Paul sah, daß ich die Augen aufschlug, kam er ans Bett, küßte mir Wange und Hände, murmelte nur immer: »Nicht aufregen, Dolly, ich erkläre dir gleich!«, aber er war selbst so erregt, daß es lange dauerte, bis ich die Erklärung für sein überraschendes Erscheinen erhielt. Tischler-Ruß hatte nicht länger bleiben können, seine Direktionsgeschäfte hatten ihn gezwungen, gestern abend endlich Bukarest zu verlassen. Aber in seinem Streben, einen Nachfolger für die Pflege der Patientin zu finden, war er darauf verfallen, dem Manne, der ihm gegenüber einst halb und halb als mein Gatte sich vorgestellt hatte, brieflich so viel von dem Geschehenen mitzuteilen, daß mein guter Paul die weite Reise von Berlin zu mir tat. Paul war schon gestern angekommen; Tischler-Ruß war vorgestern ins Hotel übergesiedelt, damit Paul keinen Verdacht schöpft. Im Hotel hatten die beiden Männer dann eine lange Besprechung mit Doktor Ermelio, zu der auch Schwester Stephanie zugezogen wurde. Da es dem Doktor für die Patientin zu aufregend erschienen war, mich über den Wechsel der Persönlichkeiten schon vorher zu unterrichten, verurteilte der brummige, tüchtige Arzt meinen guten Paul dazu, mich vor dem nächsten Morgen nicht zu sehen. Paul durfte erst vor mir auftauchen, nachdem Julius abgereist war. So brachte mich ein kurzer Augenblick des Erschreckens, des freudigen Erschreckens, über die Schwierigkeit hinweg. Daß Paul Trapp, nun einmal an meinem Krankenlager angekommen, mich nicht wieder verlassen würde, erschien mir über jeden Zweifel erhaben.

Paul war glücklich, wieder bei mir sein zu können. Er beteuerte, daß ich mich nicht verändert habe. Als er damit nicht durchdrang, beharrte er darauf: wenn ich mich verändert hätte, so sei das nur zu meinem Vorteil geschehen, ich sei edler und reifer geworden. Mit größtem Interesse besichtigte er alle Siegeszeichen meiner künstlerischen Erfolge, die Bilder, Bukettschleifen, Kranzschleifen, Journale mit meinen Bildern, die Kritiken, ja, ich habe ihn sogar im Verdacht, daß er fremdsprachliche Kritiken, selbst wenn er die Sprache nicht recht kannte, Wort für Wort durchlas, um wenigstens den Namen Domina Dolorosa darin zu sehen und vielleicht ab und zu ein übersetzbares, schmeichelhaftes, internationales Lobeswort zu finden. Auch alle Geschenke wollte er sehen, die ich bekommen hatte, und war stolz, als ob er selbst sie erhalten hätte – kurz und gut: er schien in die einstige, gesunde Dolly verliebter zu sein als je, was die jetzige, elende Dolorosa aus ihrem Bukarester Krankenbett heraus schmunzelnd mit ansehen konnte. Er ließ sich von Sonja, dem Stubenmädchen, alle meine Bühnenkleider zeigen. Sonja, die oft die Vorstellung mit angesehen hatte, versuchte beim Zeigen zu beschreiben und pantomimisch nachzuahmen, was alles ich in dem gerade vorgezeigten Kleide zu tanzen oder zu agieren gehabt hatte – und Sonja machte das so komisch, daß Paul, Schwester Stephanie, die dicke Köchin und Sonja selbst laute Lachkonzerte erhoben, in die ich selber mit einstimmte, wenn ich die ins Populär-Rumänische übertragene Dolorosa-Karikatur des Stubenmädchens vor meinem Bette hopsen sah und trillern hörte. Es klingelte, die dicke Kascha ging öffnen, während die schlanke Sonja in ihren kabarettistischen Erklärungen fortfuhr. Und gerade bei einem Augenblick ausgelassenster Heiterkeit trat Doktor Ermelio ein, der für diesen Besuch einmal auf seine Brummigkeit vergessen hatte, sich an unserer Heiterkeit ausgiebig beteiligte und sehr stolz darauf war, daß er den »Austausch der Persönlichkeiten« – das Wort stammt von ihm – so geschickt geordnet habe.

Doktor Ermelio blieb an diesem Tage länger als sonst. Ich merkte, er fühlte sich gerade heute verpflichtet zur Unterhaltung beizutragen, damit ich möglichst wenig Zeit finde, dem verschwundenen Julius nachzutrauern. Der Arzt erzählte, was ihn nach Rumänien verschlagen habe. Er war von Geburt Italiener und stammte aus einer angesehenen, reichen Familie zu Bologna. Nicht des Broterwerbes wegen – den brauchte der reiche Patriziersohn nicht, – sondern aus reiner Liebe zur Menschheit habe er Medizin studiert und sich in seiner Vaterstadt niedergelassen. »Kaum hatte ich zu praktizieren begonnen,« so erzählte Doktor Ermelio, »da kam eine rührend junge Madonnenschönheit in meine Sprechstunde und weinte zum Steinerweichen, als ich ihr nicht verhehlen konnte, welche Ursache das Übelbefinden hatte, unter dem sie seit ein paar Wochen litt. Wie alle Frauen verlegte sie sich zunächst aufs Leugnen – wünschen Sie an dieser Stelle nicht im Namen Ihres ganzen Geschlechts Protest zu erheben, meine schöne Patientin?«

»Nein, ich verzichte, Herr Doktor,« gab ich zu. »Ich kann nur bestätigen, daß wir Frauen meistens so dumm sind, unseren Arzt belügen zu wollen. Glücklicherweise war ich selber noch nie in einer Situation, die das erforderte. Wer weiß, ob ich im gegebenen Augenblick für mich einstehen könnte.«

»Man darf es den Frauen nicht allzu übel nehmen, wenn sie lügen,« schaltete Paul ein. »So ritterlich das klingt, gerade die Begründung für diese Ritterlichkeit klingt wieder höchst unritterlich ... Sie heißt: die Frauen sind ja aus lauter Lügen zusammengesetzt. Der Teint der Dame ist Lüge, denn sie gibt ihn sich selbst durch Schminke und Puder. Die Gestalt der Dame ist Lüge, denn was zu viel ist, wird weggebracht und wo zu wenig scheint, wird durch Fremdkörper nachgeholfen. Das Haar der Dame ist Lüge, denn seine Farbe hält der Nachprüfung nicht stand. Wenn die Frau den Männern nicht weniger begehrenswert erscheinen will als ihre Zeitgenossinnen, ist sie zu dieser Lüge gezwungen. Wir Männer zwingen sie dazu. Dürfen wir ihr also übelnehmen, wenn sie, einmal ins Schwindeln geraten, ein wenig mehr schwindelt als unbedingt nötig wäre? Ich habe mich in den letzten Jahren glücklich dazu durchgerungen, schönen Frauen überhaupt nichts mehr übelzunehmen, sondern schlankweg alles zu verzeihen. Dabei fühle ich mich am wohlsten.«

Der Arzt fuhr in seiner Erzählung fort: »Auch ich habe meiner weinenden jungen Madonna zu Bologna nichts übelgenommen, sondern half ihr so gut ich's vermochte. Der jugendliche Student, der ohne mein Mitgefühl die besten Aussichten auf den Titel eines Vaters gehabt hätte, war Türke. Er war nach seiner Vaterstadt Konstantinopel abgereist ohne eine allzu ausführliche Adresse zu hinterlassen, und da er den türkischen Sammelnamen Mehmed führte, den in Stambul noch Tausende tragen, war mit seiner Auffindbarkeit nicht zu rechnen. Meine junge Madonna stammte aus einer Patrizierfamilie, ihr Vater saß im Rate der Stadt und war ein strenger Mann. Wer weiß, welche Katastrophe es gegeben hätte, wenn ich nicht so nachsichtig gewesen wäre, die ärztliche Kunst in einem Sinne zu handhaben, den die italienischen Gesetze nicht eben befürworten. Nur eine in Verona wohnende Tante meiner Madonna wurde ins Vertrauen gezogen. Es erfolgte von Seiten der Tante eine herzliche Einladung auf ein paar Wochen Familienbesuch, ab und zu tat auch ich einen kurzen Sprung nach Verona, und seit dem ersten Erscheinen der sechzehnjährigen Madonna in meiner Sprechstunde war noch kein Monat vergangen, da kehrte die Patientin schon rosig und gesund in das Haus des nichtsahnenden Vaters Stadtrat nach Bologna zurück.«

»Bravo, Doktor!« sagte ich und reichte ihm die Hand.

»Das sagen Sie so!« brummte er, nach einem leichten Kuß auf meine Fingerspitzen. »Aber was werden Sie antworten, wenn ich jetzt hinzufüge, daß ein Vierteljahr nach dieser wohlgelungenen Kur die schöne Tante aus Verona in meiner Sprechstunde erschien? Als wohlsituierte junge Witwe von dreißig Jahren hatte sie sich einige Freiheiten erlaubt, durch die sie nun in eine ähnliche Lage versetzt war wie ihre madonnenhafte Nichte.«

»Das ist etwas anderes,« wandte Paul ein, »die Tante hatte das Verfügungsrecht über ihre Zukunft und konnte ja nun einfach dem begünstigten Verehrer die Hand zum Lebensbund reichen.«

»O ja!« stimmte Doktor Ermelio bei. »Nicht als ob ich ihr das nicht anempfohlen hätte. Hand zum Lebensbund, sehr schön gesagt. Dem begünstigten Verehrer, auch sehr schön gesagt. Aber erstens waren es deren zwei. Und zweitens waren die beiden Verehrer schon mit Lebensbündnissen versehen, jeder von ihnen war verheiratet und Vater mehrerer Kinder.«

»Das ändert die Sachlage, nicht wahr?« lenkte ich ein.

»Was ich der Nichte an ärztlicher Kunst hatte zuteil werden lassen, konnte ich der Tante nicht versagen. Aber das Schlimmere war, die Tante hatte Freundinnen, die Freundinnen hatten wieder Freundinnen und es wird viel geküßt in den Tälern zwischen Bologna und Verona. Bald war es in meiner Sprechstunde, als ob es gegen Amors Niedertracht in Italien nur einen Spezialisten gäbe und der hieße Doktor Ermelio. Selbst Nötigungen und Erpressungen gegen mich blieben nicht aus. Auf Umwegen erfuhr auch der gestrenge Herr Stadtrat, Madonnas Papa, etwas von den Dingen. Er gründete so etwas wie einen Geheimbund gegen mich. Und wenn in Bologna dergleichen erst im Gange ist, erscheint es dem Verfolgten nützlich, die Stadt zu verlassen, so er überhaupt Wert darauf legt, fernerhin noch einige Menschen am Leben zu erhalten anstatt selber vorzeitig ins Gras zu beißen. Bald nachdem mir die Gründung jenes Geheimbundes durch eine meiner Patientinnen zu Ohren gekommen war, versah ich noch rasch ihre in meiner Obhut befindlichen Leidensgenossinnen mit den nötigen Instruktionen und Heilmitteln. Dann verließ ich das undankbare Vaterland und zog nach Bukarest, wo ich mich von ähnlicher Betätigung streng fern halte.«

»Woran Sie wohl getan haben, Herr Doktor,« sprach Paul ernst. »Ihr Vaterland hatte alle Ursache, Ihnen undankbar zu sein. Nehmen Sie meine Offenheit nicht übel. Ich bitte um Entschuldigung. Ich hätte schweigen sollen; denn Sie sind der Arzt meiner zukünftigen Frau. Aber vielleicht konnte ich gerade deshalb nicht schweigen, weil sie Zeugin unseres Gespräches ist. Ich denke ernster über diese Dinge. Dem jungen Wesen, das zur Welt drängt, darf der Weg nicht verwehrt werden.«

»Zugestanden, Domnule!« rief der Doktor. »Aber es gibt Ausnahmen. Und bei mir haben eben die Ausnahmen in Bologna den einzigen Fehler gehabt, daß sie sich zu sehr häuften.«

Als der Doktor gegangen war, mußte ich darüber nachdenken, welcher Unterschied zwischen ihm war und dem unsympathischen Mieter der Frau Sebastian, dem Militärarzt Satorius, der das gleiche Thema so oft hervorgeholt hatte und in häßlich gleichgültigen Worten von den widerlichsten Dingen mit besonderer Vorliebe zu sprechen schien. Wie würdig dagegen hatte Doktor Ermelio die Ansichten verteidigt, die ihn aus seinem Vaterland vertrieben hatten. Doktor Ermelio hatte sogar beim Erzählen, trotzdem er sehr gut deutsch spricht, ab und zu ganze Sätze auf französisch gesagt, und es nachträglich damit begründet, daß gerade diese Sprache für sehr vieles aus dem Reiche von Venus und Amor die zartesten Worte besaß.

Auch am nächsten Tage klang das Thema noch nach, und als Paul mit mir allein war, fand er einfache, verständige Worte für die Frage: wie es eigentlich komme, daß ich, die doch schon manchen recht herzlich liebgehabt hat, noch nie Aussichten hatte, Mutter zu werden. Und ich glaube, daß ich ebensolche Worte fand, als ich ihm die Erklärung gab: »Ich sehe in der Mutterschaft das höchste Glück, das mir noch bevorsteht. Aber wenn ich Mutter geworden wäre, bevor ich innerlich reif war und ohne daß ich zuvor lange, lange Zeit mit einem einzigen Mann in treuer Liebe zusammengehalten hatte, das wäre vielleicht mein und des Kindes bitterstes Unglück geworden. Deshalb sträubte sich meine Energie dagegen; so weit hielt sie immer vor, die Energie, daß nur geschah, was ich wollte.«

Da kam Paul auf etwas anderes zu sprechen, das ihm sehr am Herzen zu liegen schien. Es war sozusagen eine Berliner Angelegenheit, und ich wunderte mich, mit welcher Selbstverständlichkeit man am östlichen Ende Europas in einem Krankenzimmer beisammen ist und von einem Holzgeschäft redet, das eigentlich ins Kontor zu Wilmersdorf gehört. Ich wunderte mich auch, wie ich nun heute schon Pauls Gegenwart als selbstverständlich empfand: gestern früh war er hier aufgetaucht, ich hatte eine Minute frohen Erschreckens und fühlte mich zu lebenslänglichem Dank verpflichtet; – heute? er war eben einfach da, und damit basta. Ich war sogar schon geneigt, ihm den geringsten Mangel an Selbstbeherrschung übelzunehmen, wie ich das in Berlin stets getan hatte. Und als er nach dem Mittagessen einmal leicht gähnte, sagte ich zu ihm: »Du scheinst dich in meiner Gegenwart zu langweilen, Paul. Mich hat noch nie im Leben ein Freund gähnen sehen.«

Und er entschuldigte sich – als ob wir in Berlin wären, nicht als ob seine weite Reise ans Krankenbett mir mehr Nachsicht zur Pflicht gemacht hätte.

Aber zurück zu dem Berliner Holzgeschäft! Ein Baumeister in Charlottenburg hatte Paul darauf aufmerksam gemacht, daß in Saarow-Pieskow am Scharmützelsee der Besitzer einer, von diesem Architekten erbauten hübschen Villa neben dem Hause einen großen Garten anlegen und deshalb den hohen, alten Baumbestand abholzen und verkaufen wollte. Unter der Vermittlung des Baumeisters war ein Vertrag zustande gekommen, der die Firma Paul Trapp & Co. bevollmächtigte, das Terrain des künftigen Gartens abzuholzen. Aber es war keine bare Bezahlung gewünscht worden, sondern statt Bargeld die Lieferung von Bauholz, das der Villenbesitzer zur Aufstockung seines Berliner Geschäftshauses brauchte. Nun waren die Parteien in Streit geraten. Der Gegner behauptete, Paul habe zu viel Holz schlagen lassen, insbesondere sei durch die unberechtigte Wegnahme von vielen hohen, alten Laubbäumen, die am Seestrand einen Schutz gebildet hätten, Windbruchgefahr für die wenigen, stehen gebliebenen Bäume: geschaffen und der Wert des Grundstücks erheblich gemindert. So zitierte Paul auswendig aus den Prozeßakten. Paul war bewandert in dergleichen, denn bei großen Holzgeschäften entstehen zahlreiche Prozesse, er entwarf seine Schriftsätze fürs Gericht meistens selbst. Aber diese Saarow-Pieskower Angelegenheit war so verwickelt, daß Paul kein Ende des Prozesses absah. Jetzt hatte der Gegner die Behauptung aufgestellt, durch Pauls Vorgehen sei der Wert des Besitzes auf eine lächerlich geringe Summe gesunken, die in dem Schriftsatz genau beziffert war. Paul hatte sich in seiner Antwort bereit erklärt, für diesen Preis den Besitz zu erwerben, wenn der Gegner im übrigen auf einen gerechten Vergleich eingehen wolle. So stand der Saarow-Pieskower Fall, als Paul mir ihn an meinem Krankenbett in der Strada Cobalcescu zu Bukarest vortrug. »Und weißt, du, Dolly, was ich nun am liebsten möchte?« schloß Paul. »Wir kaufen die Villa, du ziehst mit mir hinein als meine süße kleine Frau, und in ein, zwei Jahren strampelt in dem Garten, um den heute prozessiert wird, ein kleines Paulchen oder eine kleine Dolly?«

Heiratsantrag im Krankenbett – dachte ich. Aber Paul ließ mir keine Zeit zum Besinnen.

»Soll ich dem Anwalt telegraphieren, daß er den Vergleich schließt und die Villa kauft? Vollmacht dazu hat er schon –«

Konnte ich den lieben Jungen kränken, der von Wilmersdorf nach der Strada Cobalcescu gereist war, um mein Krankenpfleger zu sein? Ich ergriff Pauls Hand, drückte sie so kräftig, als ich das noch konnte und sagte:

»Kauf die Villa, mein Paul!«

»Hurra!« schrie er da wie ein Schuljunge.

»Pst!« mahnte Schwester Stephanie, herbeigelockt durch den Lärm.

»Ich telegraphiere!« rief Paul und eilte zum Postamt.

So habe ich also jetzt die Pflicht, sobald ich gesund bin, von der Villa in der Strada Cobalcescu in Bukarest in die »Villa Dolorosa« – so soll sie heißen – nach Saarow-Pieskow am Scharmützelsee überzusiedeln.

Schon am nächsten Tag durfte ich für Stunden aufstehen. Ich konnte bis zum Schreibtisch gehen, wo ich diesen Bericht begann, der so viel Schreckliches berichten mußte, und doch so erträglich endet. Freue Dich mit mir, liebste Mutter, daß es mir wieder so gut geht!


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