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Es war um Pfingsten, gerade vor einem Jahr, da führte sie ihr Vater zur Firmelung nach Sölden; dorthin kam der Bischof alle zwei Jahre, weil bis Sölden ein Fahrweg ging. Sie schämte sich ein wenig, weil sie schon sechzehn Jahre und so groß war. Der Vater hatte sie nicht früher firmeln lassen wollen, er hatte gemeint, dann ginge gleich das Liebeln und Brautwerben los – und dazu wär's noch lang' Zeit! Nun hatte sie Angst, die andern würden sie auslachen. Aber niemand achtete auf sie. Das ganze Dorf war in Aufregung, als sie hinkamen, denn es hieß, der Joseph Hagenbach von Sölden habe den Bären erlegt, der sich drüben im Vintschgau gezeigt und dem die Buben aus allen Ortschaften vergebens nachgestellt. Da sei denn der Joseph aufgebrochen und hinübergegangen, und letzten Freitag habe er ihn schon gehabt. Der Schnalserbot hatte früh die Nachricht gebracht, und der Joseph werde ihm bald nachkommen. Die Söldener Bauern, die vor der Kirche warteten, waren gar stolz, daß es ein Söldener war, der das Wagstück vollbracht, und sprachen von nichts anderem als von dem Joseph, der ganz unstreitig der stärkste und sauberste Bua im ganzen Gebirg war und ein Schütz, wie's keinen zweiten gab. Die Madeln hörten bewunderungsvoll zu, was für Heldenstücke von dem Joseph erzählt wurden, wie ihm kein Berg zu steil und kein Weg zu weit, keine Kluft zu breit und keine Gefahr zu groß sei. Und als eine bleiche, kränklich aussehende Frau über den Rasen daherschritt, stürzten alle auf sie zu und wünschten ihr Glück, daß ihr Sohn soviel Ehre eingelegt habe.
»Des is einer, dei Joseph«, sagten die Männer wohlmeinend, »an dem kann sich jeder a Beispiel nehme!« »Wenn es dei Mann seliger noch erlebt hätt', wie hätt' der sich g'freut!« sagten die Weiber.
»Nein, ma sollt's nit glauben«, rief einer artig, »ma sollt's nit glauben, daß der Prachtkerl dei Sohn is – wenn man dich so anschaut.«
Die Frau lächelte geschmeichelt: »Ja, 's is a stattlicher Bursch und a braver Sohn, wie's kein'n bessern geben kann. Aber ös könnt's glauben, i komm schon gar aus die Ängsten um den Waghals nit 'raus, 's is kei Tag, wo i nit denk, heut bringen s' mir'n mit zerschlagene Glieder heim! Des is a Kreuz!«
Jetzt erschien die hohe Geistlichkeit auf dem Platz und machte dem Gespräch ein Ende. Die Leute drängten mit den weißbeschürzten, buntbekränzten Firmelkindern in die kleine Kirche, und die heilige Handlung begann.
Aber Wally konnte die ganze Zeit an nichts anderes als an den Bärentöter Joseph denken und an alle Wunderdinge, die er sollte verrichtet haben – und wie prächtig das sei, wenn einer so stark und beherzt sei und in so großem Ansehen bei allen Leuten stehe, daß ihm keiner was anhaben könnte. – Wenn er nur noch kam, solange sie in Sölden war, daß sie ihn doch auch sehen könnte; sie brannte ordentlich darauf!
Endlich war die heilige Handlung vorüber, und die Kinder empfingen den Segen; da erscholl draußen auf dem Platze vor der Kirche wildes Hurrageschrei. »Er hat ihn, er hat den Bären!« Kaum daß der Geistliche noch den Segensspruch beenden konnte, stürzte alles hinaus und umringte jubelnd einen jungen Gemsjäger, der, geleitet von einer Schar stattlicher Burschen aus dem Schnalsertal und dem Vintschgau, über den Rasen schritt. Aber wie stattlich auch die Schnalser und Vintschgauer waren, keiner kam ihm gleich. Er überragte sie alle an Größe, und so sauber war er, so bildsauber! Es war fast, als leuchte er schon von weitem. Er sah aus wie der Sankt Georg in der Kirche. Über der Schulter trug er ein Bärenfell, dessen grimme Tatzen auf seiner breiten Brust herumbaumelten. Er ging so stolz einher wie der Kaiser und tat immer nur einen Schritt, bis die andern zwei taten, aber er war ihnen doch voraus. Und sie machten ein Aufhebens mit ihm, als wäre er wirklich der Kaiser, der sich in einen Gemsjäger verkleidet habe. Der eine trug ihm die Flinte, der andere die Joppe, und alle hatten Räusche und schrien und johlten, nur er war nüchtern und ruhig. Er ging gar bescheiden auf die Geistlichen zu, die aus der Kirche ihm entgegentraten, und zog den bekränzten Hut vor ihnen ab. Der fremde Bischof machte das Zeichen des Kreuzes über ihn und sagte: »Der Herr war stark in dir, mein Sohn! Du hast mit seiner Hilfe vollbracht, was keinem gelungen. Die Menschen müssen dir danken – du aber danke dem Herrn!«
Alle Weiber weinten vor Rührung, und auch Wally wurden die Augen naß; es war, als käme jetzt erst die Andacht über sie, die sie in der Kirche versäumt, als sie den stattlichen Jäger das stolze Haupt unter der segnenden Hand des Priesters beugen sah. Darauf zog sich die Geistlichkeit zurück. Josephs erste Frage war aber nun: »Wo is denn mei Muater? Is sie nit da?«
»Doch!« antwortete diese und fiel dem Sohn in die Arme: »Da bin i scho!«
Joseph drückte sie fest an sich und sagte: »Schau, Müaterl, um dich hätt' mir's leid 'tan, wenn i nimmer wiederkommen wär' – du lieb's Müaterl, du hätt'st ja nit g'wußt, was d' anfangen sollst ohne mich, und i wär au nit gern g'storben, ohne daß dir noch a Busserl geb'n hätt'!«
Ah, das war so schön, wie er das sagte; Wally hatte ein ganz eigenes Gefühl, ein Gefühl, als beneide sie die Mutter, die so gut in der liebevollen Umarmung des Sohnes ruhte und sich so zärtlich an die mächtige Gestalt schmiegte. Aller Augen ruhten mit Wohlgefallen auf der Gruppe – Wally war es dabei ganz unbeschreiblich ums Herz!
»Aber jetzt erzähl, wie's gangen is!« drangen die Bauern in ihn.
»Ja, ja, i will's erzählen«, lachte er und warf das Bärenfell zur Erde, daß alle es besehen konnten. Und sie bildeten einen Kreis um ihn, und der Wirt ließ ein Faß vom Besten auf den Platz schleppen und anzapfen, denn nach der Kirche mußte getrunken werden und bei so einer Extragelegenheit erst recht, und die kleine Wirtsstube hätte ja nicht die ungewöhnliche Zahl Menschen alle gefaßt. Die Männer und Weiber drängten sich natürlich um den Erzähler, und die G'firmten stiegen auf Bänke und Bäume, um über sie hinwegzusehen. Wally war die allererste auf einer Fichte und konnte ihm gerade ins Gesicht sehen, die andern aber neideten ihr den Platz, und weil sie sich ihn nicht nehmen ließ, gab es Streit und Lärm. Da schaute der Sankt Georg herauf zu ihnen, und seine funkelnden Augen trafen gerade Wallys Gesicht und blieben eine Weile lächelnd darauf haften. Da war es Wally, als stiege ihr alles Blut zu Kopf, und sie erschrak so heftig, daß sie ihr Herz schlagen hörte bis in die Ohren hinein. In ihrem ganzen Leben war sie nicht so erschrocken, und sie wußte nicht einmal warum! Sie hörte nur halb, was Joseph erzählte, es sauste ihr in den Ohren, sie konnte nichts denken als: »Wenn er wieder heraufschaute?!« Und sie wußte nicht, wünschte sie's oder fürchtete sie's? Als es aber während des Erzählens doch noch einmal geschah – da blickte sie schnell weg und schämte sich, als sei sie auf etwas Unrechtem ertappt worden. War es denn ein Unrecht, daß sie ihn so angesehen hatte? Es mußte wohl so sein. Und sie konnte es doch nicht lassen, obgleich sie beständig zitterte, er könnte es merken. Aber er merkte es nicht, was kümmerte ihn das »Firmelkind« da oben auf dem Baume. Er hatte es ein paarmal angeschaut, wie man auch nach einem Eichkätzchen sieht, weiter nichts. Das sagte sie sich selbst, und ein wunderliches Weh beschlich sie dabei. So, wie heute, war ihr noch nie zumute gewesen – sie war nur froh, daß sie unterwegs keinen Wein getrunken; sie hätte sonst gemeint, sie sei berauscht. Sie spielte in ihrer Bangigkeit mit ihrem Rosenkranz. Es war ein schöner neuer, mit roten Korallen, mit einem echt silbernen Kreuz von getriebener Arbeit. Sie hatte ihn zur Firmelung von ihrem Vater bekommen. Da plötzlich, wie sie ihn so drehte und wickelte, zerriß die Schnur, und wie Blutstropfen rieselten die roten Perlen vom Baume nieder. »Des is a schlechtes Zeichen«, raunte ihr eine innere Stimme zu; »die Luckard hat's nit gern, wenn was reißt, während ma an was denkt!«
»An was denkt!« – Ja, an was dachte sie denn? Sie sann darüber nach – sie konnte es nicht finden. Sie hatte eigentlich an nichts Bestimmtes gedacht. Warum tat es ihr nur so leid, daß gerade in dem Augenblicke die Schnur zerriß? Es war ihr, als wäre plötzlich die Sonne bleich geworden, und ein kalter Wind striche über sie hin. Aber doch regte sich kein Halm, und die eisstarrende Welt in der Runde glänzte in strahlendem Licht.
Ein Wolkenschatten war vorübergezogen – ob in ihr – außer ihr? Was wußte sie? Joseph hatte indessen sein Abenteuer mit dem Bären auserzählt und den Beutel mit den vierzig Gulden herumgezeigt, die von der Tiroler Regierung als Schußgeld für einen Bären ausbezahlt werden, und es war des Lobens und Händeschüttelns kein Ende. Nur Wallys Vater hielt sich mürrisch fern. Es ärgerte ihn, wenn einer ein großes Heldenstück vollbrachte; es sollte niemand stark sein in der Welt, als er und seine Tochter. Durch dreißig Jahre hatte er unbestritten für den stärksten Mann im Gebirg gegolten, und nun konnte er es nicht ertragen, daß er alt wurde und dem jungen Nachwuchs den Platz räumen mußte. Als aber gar einer in seiner Freude zu Joseph sagte, es sei ja kein Wunder, daß er so ein G'waltskerl geworden – er habe das von seinem Vater, der sei auch der beste Schütz und der beste Raufer in der ganzen Gegend gewesen –, da hielt sich der Alte nicht mehr und fuhr mit einem donnernden »Oho – begrabt's ein'n nur nit scho, ehvor ma tot is!« dazwischen.
Alle wichen auseinander vor der drohenden Stimme und sagten fast erschrocken: »Der Stromminger!«
»Ja, der Stromminger is au noch da und hat nie nix davon g'wußt, daß der Hagenbach der beste Raufer war! Mit 'm Maul ja – aber mit sonst nix!«
Da drehte sich Joseph um wie eine angeschossene Wildkatze und schaute Stromminger mit funkelnden Augen an: »Wer sagt, daß mei Vater a Maulheld war?«
»I sag's, der Höchstbauer von der Sonneplatten, und i weiß, was i red', denn i hab ihn maler zehne hing'legt, wie 'n Sack.«
»Des is nit wahr!« schrie Joseph. »I lass' mir mein' Vater nit anschwärzen!«
»Joseph, sei staad, 's is der Höchstbauer, mit dem mußt nit anbinden«, flüsterten ihm die Leute zu.
»Was, Höchstbauer hin und Höchstbauer her – und wann unser Herrgott vom Himmel runter käm' und wollt' mir mein' Vater schlecht machen – i tät's nit leiden. Ich weiß scho, der Stromminger und mei Vater hab'n 's immer mitanand' g'habt, weil mei Vater der einzige war, der's mit 'm Stromminger aufnehme könnt hat. Und er hat den Stromminger g'rad so oft g'worfen, wie der ihn!«
»Nit wahr is 's!« schrie Stromminger. »Dei Vater war a Tropf gegen mich. Wenn einer von euch Alten Ehr im Leib hat, soll er's sagen – und wenn du's nachher noch nit glaubst, so will i dir's einbleuen!« Joseph war bei dem Wort »Tropf« wie rasend auf Stromminger zugesprungen: »Du, nimm das Wort z'ruck oder –«
»Jesus Maria«, kreischten die Weiber; »laß ab, Joseph«, begütigte die Mutter, »'s is an alter Mann, an dem darfst dich nit vergreifen!«
»Oho!« schrie Stromminger, rot vor Zorn. »Wollt 's mich zu'n alten Troddel machen? So altersschwach is der Stromminger noch nit, daß er's nit noch aufnehmen könnt' mit so 'n Gelbschnabel! Geh nur her – i will dir's scho zeigen, daß i noch Mark in die Knochen hab, dich fürcht i noch lang nit, und wenn d' noch zehn Bären g'jagt hätt'st.«
Und wie ein wütender Stier drang der stämmige Mann auf den jungen Jäger ein, daß dieser unwillkürlich zurückwich unter dem wuchtigen Anprall. Aber nur einen Augenblick währte das Schwanken, denn Josephs schlanke Gestalt war so muskelzähe, so elastisch biegsam – und wenn gebogen – wieder aufschnellend wie die hohen Fichten jener Gegend, die wie mit Eisendrähten in dem nackten Gestein wurzeln, sich von den vier Winden zausen lassen und gegen Bergeslasten von Schnee stemmen müssen. Stromminger hätte ebensogut einen Baum ausreißen, als Joseph vom Boden aufbringen können. Und nach einem kurzen Ringen schlangen sich Josephs Arme fest um Stromminger und schnürten sich zu, immer fester bis zum Ersticken, daß ein lautes Stöhnen aus Strommingers gepreßter Brust drang und er keine Hand mehr frei machen konnte. Und nun begann der junge Riese an dem alten Mann zu rütteln und zu lüpfen, herüber, hinüber, langsam, mählich, aber gründlich, ihm bald den einen, bald den andern Fuß unter dem Leibe wegdrängend, als wollte er ihn ruckweise lockern. Die Umstehenden wagten kaum zu atmen ob des seltenen Schauspiels, es war ihnen fast, als dürften sie nicht hinsehen, wenn so ein alter Baum zum Sturz käme. Jetzt – jetzt hatte Stromminger den Boden unter den Füßen verloren – jetzt mußte er stürzen – aber nein – Joseph hielt ihn auf, schleppte ihn in seinen starken Armen zur nächsten Bank und setzte ihn darauf nieder. Dann zog er ruhig sein Tuch und trocknete Stromminger den perlenden Schweiß von der Stirn: »Seht, Höchstbauer, i hab Euch 'zwunge, i hätt Euch könne werfen, aber da sei Gott davor, daß i a 'm alten Mann die Schand antät! Und jetzt woll'n wir wieder gut Freund sein – nix für ungut, Stromminger!«
Er hielt gutmütig lachend dem Stromminger die Hand hin – aber dieser schlug sie mit einem bitterbösen Blick zurück: »Der Teufel soll dir's eintränken, du Schandbub!« schrie er ihn an. »Und ös alle, ös Söldener, die a Freud d'ran g'habt habt's, wie der Stromminger zum Kinderspott word'n is, ös sollt's scho noch erfahren, wer der Stromminger is. Jetzt wird kei G'schäft mehr mit euch g'macht und nix mehr g'stundet, und wenn halb Sölden verhungern müßt'!« Er ging zu dem Baum, auf dem Wally noch wie in einem Fiebertraum saß, und riß sie am Kleid: »Komm runter du! 's wird nimmer da Mittag g'macht. Von mir soll kei Söldener mehr 'n Kreuzer sehen.« Aber Wally, die mehr vom Baume gefallen als gestiegen war, stand da wie gebannt, und ihre Augen hafteten fast bittend auf Joseph. Sie meinte, er müsse es spüren, wie leid es ihr tat, daß sie fort solle; ihr war, als müsse er ihre Hand fassen und sagen: »Bleib nur bei mir – du gehörst ja zu mir und i zu dir und zu niemand sonst!« Aber er stand mitten in einem Knäuel von Männern, die verblüfft zusammen flüsterten, denn viele im Dorfe waren dem Stromminger verschuldet, dessen Reichtum in den Lebensadern der ganzen Gegend kreiste.
»No – wird's?« stieß Stromminger das Mädchen an, und sie mußte wohl oder übel folgen, aber ihre Lippen zuckten, ihre Brust arbeitete krampfhaft, ein Blitz ohnmächtigen Zornes traf ihren Vater. Wie ein Kalb trieb er sie vor sich her. So gingen sie ein paar Schritte, da kamen Leute ihnen nach, und als sie sich umsahen, da stand der Joseph mit noch ein paar Bauern hinter ihnen und sagte: »Höchstbauer, seid's doch nit so grandig! Ös könnt's doch nit mit dem Dirndl un'gessen den weiten Weg auf die Sonneplatten laufen.«
Und er stand dicht neben Wally, und sein Atem umwehte sie, wie er so sprach, und sein Auge ruhte auf ihr – seine Hand legte sich mitleidig auf ihre Schulter, sie wußte nicht, wie ihr geschah – er war so gut, so lieb, und dennoch war ihr zumute wie damals, als ihr beim Ausnehmen des Geiernestes plötzlich die Fittiche des Geiers um die Ohren rauschten, daß ihr Hören und Sehen verging! So etwas Übermächtiges lag für das junge Herz in seiner Nähe, seiner Berührung. Sie hatte nicht gezittert, als das mächtige Tier auf sie niederstieß und ihr mit den breiten Schwingen die Sonne verdunkelte, sie hatte sich tapfer und besonnen gewehrt, aber jetzt zitterte sie am ganzen Leibe und stand verwirrt und verlegen da.
»Hebt's Euch weg!« schrie der Höchstbauer und ballte die Faust gegen Joseph. »I schlag dir ins G'sicht, wenn d' mi nit auslaß't, und wann's mi mei Leb'n kost'!«
»No, wenn ös nit wollt's – so laßt's bleib'n – ös seid's a Narr, Höchstbauer!« sagte Joseph gelassen, drehte sich um und ging mit den andern wieder zurück. Nun hielt sie niemand mehr auf, sie schritten unbehelligt weiter – immer weiter von Joseph weg. Wally sah sich um, sie sah noch eine Weile seinen Kopf über die andern hervorragen, sie hörte die vielerlei Stimmen und das Lachen auf dem Platz vor der Kirche. Sie konnte es immer noch nicht glauben, daß sie wirklich fort sollte und den Joseph nicht mehr sehen – vielleicht nie mehr. Jetzt bogen sie um eine Felsenecke, und jetzt war alles verschwunden, der Platz mit den vielen Menschen und der Joseph – und alles, alles vorbei. Und nun plötzlich kam es über sie wie eine Ahnung eines großen Glücks, das ihr gewinkt und das ihr nun unwiederbringlich verloren sei. Sie schaute sich um, wie um Hilfe flehend in ihrer Herzensnot, in dem neuen, nie gekannten Weh. Aber da war keiner, der ihr gesagt hätte: »Sei ruhig – es wird schon besser werden.«
Tot und starr das Geklüft und Gestein ringsumher, tot und starr schauten die Ferner sie an; was kümmerte sie, die Welten kommen und vergehen gesehen, dies arme, kleine zuckende Menschenherz? Ihr Vater ging so stumm neben ihr her, als wäre er ein wandelnder Felsblock. Und er war ja an allem schuld. Er war ein böser, harter, erbarmungsloser Mann, sie hatte keinen Menschen auf der Welt, der sich ihrer annahm. Und während sie so dachte und mit sich selbst rang, schritt sie mechanisch weiter, immer weiter dem Vater voraus, bergauf – bergab, als wollte sie sich ihren Schmerz verlaufen. Die Sonne stach und brütete auf der kahlen Felswand, ihre Brust rang nach Atem, die Zunge klebte ihr am Gaumen, alle Adern schlugen ihr. Plötzlich vergingen ihr die Sinne, sie warf sich zur Erde und brach in ein lautes Schluchzen aus.
»Oho, was stellt denn dös vor?« sagte Stromminger aufs höchste überrascht, denn er hatte seine Tochter seit ihrer Kindheit nicht mehr weinen sehen. »Bist närrisch?«
Wally antwortete nicht, sie überließ sich ganz dem wilden Ausbruch ihres Herzeleids.
»Jetzt red!« herrschte Stromminger sie an: »Was soll das Getu's heißen? Tu's Maul auf – oder –!« Da brach sie heraus aus dem ungestümen pochenden Herzen, wie der Bergstrom aus dem gelockerten Geklüft hervorbricht, die ganze volle Wahrheit, und überschüttete den Alten mit dem brausenden Gischt ihres Zornes. Sie sagte alles, denn sie war immer wahrhaftig gewesen und nicht geübt, zu lügen. Sie sagte, daß ihr der Joseph gefallen und sie ihn liebgewonnen habe, so lieb wie keinen Menschen auf der Welt, und daß sie sich so darauf gefreut, mit dem Joseph zu reden, und wenn der Joseph gehört hätte, daß sie so ein starkes Mädel sei und auch schon allerlei Kraftstücke verübt hätt', da hätt' er nachher auch gewiß mit ihr getanzt, und dann hätt' er sie gewiß auch liebgewonnen, und um das alles habe ihr Vater sie nun gebracht, da er wie ein Unsinniger über den Joseph hergefallen sei und sie dann von der Firmelung habe weglaufen müssen mit Spott und Schand, daß der Joseph sie sein Lebtag nicht mehr anschauen werd'! Aber so sei der Vater immer, bös und wild gegen alle Leute, deshalb heiße er auch überall der schieche Stromminger, und sie müsse das nun büßen.
Da plötzlich schrie der Stromminger: »Jetzt hab i's g'nug!« Es sauste über ihr durch die Luft, und ein Streich schmetterte von des Vaters Stock auf sie nieder, daß sie meinte, das Rückgrat sei ihr abgebrochen und sie erbleichend das Haupt neigte. Es war Hagel, der auf die kaum erschlossene Blüte der Seele fiel. Einen Augenblick war ihr so übel, daß sie sich nicht regen konnte. Schwere Tropfen quollen aus den geschwollenen Lidern hervor wie der Saft aus dem gebrochenen Zweig, sonst war alles tot und stumm in ihr. Stromminger stand leise fluchend neben ihr und wartete, wie der Treiber bei einem Stück Vieh wartet, das unter seinen Schlägen zusammengefallen ist und nicht weiterkann.
Ringsumher war alles so still und einsam. Keines Vogels Stimme, kein Rauschen in den Bäumen unterbrach das Schweigen. Auf dem schmalen Felssteig, der Vater und Tochter trug, grünte kein Baum, nistete kein Vogel. Vor Jahrtausenden mochte es hier getost haben im furchtbaren Kampf der Elemente, und soweit das Auge reichte, sah es nur die Riesentrümmer einer wilden Umwälzung. Aber jetzt waren die Feuer ausgebrannt, die den Boden gesprengt hatten, und die Wasser verlaufen, die im rasenden Schwall die Festen der Erde mit sich fortgerissen. Da lagen sie übereinander hingeschleudert, die regungslosen Kolosse; die Gewalten, die sie zu bewegen vermochten, waren entschlummert, Kirchhofsruhe nistete dazwischen, wie zwischen Grabdenkmälern – und keusch und starr wie der himmelanstrebende Gedanke ragten die weißen Gletscherfirnen hoch darüber hinaus. Nur der Mensch, der ewig ruhelose, setzte auch hier den nie rastenden Kampf fort und störte den erhabenen Frieden der Natur mit seiner Qual!
Endlich schlug Wally die Augen auf und sammelte ihre Kraft, um weiterzugehen. Keine Klage kam mehr über ihre Lippen, sie schaute den Vater so fremd an, als habe sie ihn nie gesehen; ihre Tränen waren versiegt.
»Du hast's jetzt g'spürt, wie's dir geht, wenn du dir noch amal 'n Gedanken an den Schandbuab'n beikommen laß't, der den Stromminger zum Kinderspott g'macht hat«, sagte er und hielt sie am Arm, »denn daß du's nur weißt, eher werf i dich von der Sonneplatten 'nunter, eh dich der Joseph kriegen soll!«
»'s is recht!« sagte Wally mit einem Ausdruck, der selbst den Stromminger stutzen machte, ein so unbeugsamer Trotz lag in dem einen Wort, in dem Ton, mit dem sie's sagte, in dem Blick unversöhnlicher Feindschaft, mit dem sie ihren Vater dabei ansah.
»Du bist a böses, böses Ding, du!« murmelte er zwischen den Zähnen.
»I hab's nit g'stohlen!« erwiderte sie ebenso.
»Aber wart nur, i will dir's austreiben!« knirschte er.
»Ja, ja!« nickte sie, als wollte sie sagen: »versuch's nur.«
Dann sprachen sie nichts mehr miteinander auf dem ganzen Heimweg.
Als sie heimkamen und Wally in ihre Kammer ging, um ihren Feiertagsstaat abzulegen, steckte die alte Luckard, die schon bei ihrer Mutter und Großmutter gewesen und Wally an Mutterstatt aufgezogen, den Kopf zur Tür herein und flüsterte: »Wally, hast d' geweint?«
»Warum?« fragte das Mädchen mit ungewöhnlich herbem Tone.
»In die Karten stehen Tränen! I hab dir heut an dein'm Firmeltag die Karten g'legt; du bist zwischen zwei Buab'n g'fallen und der Schrecken dazu: und so nah war alles, als wär's heut passiert und alles übern klein'n Weg.«
»So?« sagte das Mädchen gleichgültig und packte den schönen Rock ihrer seligen Mutter in die große Holztruhe.
»Is dir was, Kind?« fragte die Luckard, »du schaust so schlecht aus und bist auch so fruah heimkomme. Hast nit 'tanzt?«
»'tanzt?« Das Mädchen schlug eine Lache auf, hart und gellend, wie wenn man mit einem Hammer auf eine Laute geschlagen hätte, daß die Saiten klirrend und klagend nachdröhnten. »Mir war's zum Tanzen!«
»Dir is was g'schehen, Kind! Sag's mir – i kann dir vielleicht helfe.«
»Mir kann niemand helfen!« sagte Wally und warf den Deckel ihrer Truhe zu, als wolle sie alles, was sie drückte, darunter begraben. Es war, als habe sie den Sargdeckel über all ihren jugendlichen Hoffnungen geschlossen. »Geh jetzt«, sagte sie herrisch, wie sie nie zuvor gesprochen, »i will mich a bissel ausruhen!«
»Jesus Maria«, kreischte die Luckard, »da liegt ja dei Rosenkranz zerrissen. Wo hast die K'rallen?«
»Verloren!«
»O Jesus, Jesus, das Unglück, nur das Kreuz'l hast b'halten und die leere Schnur – am Firmeltag den Rosenkranz zerrissen und die Tränenkart dazu! O mei Gott und Vater, was wird da g'schehen!«
So jammernd, halb von Wally hinausgeschoben, ging die Alte, und Wally schloß hinter ihr den Riegel. Sie warf sich auf ihr Bett und starrte regungslos zu dem Muttergottesbild auf und dem Kruzifix, das darüber an der Wand hing. Sollte sie diesen ihr Leid klagen? Nein! Die Muttergottes meinte es nicht gut mit ihr, sonst hätte sie ihr nicht gerade den Firmelungstag so verderben lassen. Sie wußte ja auch nicht, wie so ein Liebesweh tue, denn sie hatte ja nur den Schmerz um ihren Sohn gekannt, und das war doch etwas ganz anderes als das Herzeleid, das Wally fühlte. Und der Herr Jesus Christus! – Der kümmerte sich erst recht nicht um Liebesgeschichten – dem durfte man gar nicht mit so etwas kommen. Der wollte nur, daß man immer nach dem Himmelreich streben solle. Ach! und ihr ganzes junges, hochklopfendes Herz sehnte und drängte mit jedem Pulsschlag nach dem lieben, herzlieben Mann hier unten auf der Erde, und das Himmelreich war so weit weg und so fremd; wie konnte sie's danach verlangen in einem Augenblick, wo die allgewaltige Natur in ihr zum erstenmal gebieterisch ihr Recht forderte! Mit bitterem Trotz blickte sie zu den Gestalten der Mutter und des Sohnes auf, die mit so ganz anderen Schmerzen zu tun hatten und nur Unmögliches von ihr verlangten. Sie gönnte ihnen kein gutes Wort mehr, sie grollte ihnen, wie ein Kind den Eltern grollt, die ihm ungerechterweise eine Freude versagen.
Lange lag sie so, die Augen vorwurfsvoll auf die Heiligen geheftet, aber bald war es nur das liebe, schöne Gesicht Josephs, das sie noch vor sich sah, und sie griff sich unwillkürlich mit der Hand nach der Schulter, die er berührt, als wolle sie seine Berührung darauf festhalten. Und dann war wieder seine Mutter da, auf die sie so eifersüchtig war, und die lag wieder in seinen Armen, und Joseph liebkoste sie so süß, und da schob Wally die Mutter weg und legte sich statt ihrer dem Joseph ans Herz, und er hielt sie umfangen, und sie schaute ihm tief in die schwarzen, flammenden Augen – und sie suchte sich vorzustellen, was er wohl sagen würde – aber sie wußte nichts anderes als etwa: »du lieb's Dirndl!« wie er zur Mutter »du lieb's Müaterl« gesagt. Und das war so überalles g'schmach und lieb! Ach, was konnte das Himmelreich, in das die dort oben sie haben wollten, gegen die Seligkeit sein, die sie nur bei dem Gedanken an Joseph empfand, und wie mußte erst die Wirklichkeit sein?
Es klopfte an ihr Fenster, sie fuhr auf, wie aus einem Traume. Es war der Lämmergeier, den sie vor zwei Jahren aus dem Nest genommen, und der ihr treu anhing wie ein Hund. Sie konnte ihn frei herumlaufen lassen, er tat niemand was und flog ihr mit seinen gestutzten Flügeln nach, so gut es ging. Sie öffnete das kleine Fenster, er schlüpfte herein und schaute sie mit seinen gelben Augen zutraulich an. Sie kraulte ihm den Hals und spielte mit seinen starken Schwingen, sie bald entfaltend, bald zusammenlegend. Ein kühler Luftzug ging durch das offene Fenster.
Die Sonne stand schon tief hinter den Bergen, der enge Fensterrahmen umschloß das friedliche Bild der in blauen Duft gehüllten Bergeshäupter.
Auch in ihr wurde es ruhiger. Die Abendluft belebte ihren Mut; sie nahm den Vogel auf die Schulter: »Komm, Hansl«, sagte sie, »wir tun, als gäb's kei Arbeit auf der Welt!«
Das treue Tier hatte eine wunderliche Tröstung über sie gebracht. Sie hatte sich's geholt, da wo kein Mensch sich hinwagt, vom schroffen Felsen, sie hatte es seiner Mutter auf Leben und Tod abgekämpft und hatte es gezähmt, und es gehörte ihr nun ganz! »Und er wird dir auch einmal gehören!« sagte ihr eine innere Stimme, als sie den Vogel an sich drückte.