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Die Alpenrose

Tief unten durchs Ötztal zog ein fremder Wanderer. Oben in Adlershöhe über ihm am schwindelnden Abhang stand eine Mädchengestalt, von der Tiefe heraufgesehen nicht größer als eine Alpenrose, aber doch scharf sich abzeichnend vom lichtblauen Himmel und den leuchtenden Eisspitzen der Ferner. Fest und ruhig stand sie da, wie auch der Höhenwind an ihr riß und zerrte, und schaute nieder schwindellos in die Tiefe, wo die Ache brausend durch die Schlucht stürzte und ein schräger Sonnenstrahl in ihrem feinen Sprühregen schimmernde Prismen an die Felswand malte. Auch sie sah winzig klein den Wanderer und seinen Führer dahinziehen über den schmalen Steg, der in Turmeshöhe über die Ache führte und von da oben einem Strohhalm glich. Sie hörte nicht, was die beiden sprachen, denn aus der Tiefe drang kein Laut herauf als das donnernde Brausen des Wassers. Sie wurde nicht gewahr, daß der Führer, ein schmucker Gemsjäger, drohend den Arm erhob, zu ihr hinauf deutete und zu dem Fremden sagte: »Das is g'wiß die Geier-Wally, die dort oben steht, denn auf den schmalen Vorsprung, so nah an n' Abgrund, traut sich kei andres Madel; schauen's, ma meint, der Wind müßt' sie 'runterwehen, aber die tut immer's Gegenteil von dem, was jeder vernünftige Christenmensch tut.«

Jetzt traten sie in einen dunkeln, feuchtkalten Fichtenwald ein. Noch einmal blieb der Führer stehen und schaute hinauf mit Falkenblick, wo das Mädchen stand und das Dörfchen sich lieblich hinbreitete auf der schmalen Bergplatte im vollen Glanz der Morgensonne, die noch kaum verstohlen hereinschielen durfte in die enge, grabesdüstre Schlucht da unten. »Schau nur nit so trotzig 'runter, da 'nauf gibt's a noch'n Weg!« murmelte er und verschwand mit dem Fremden. Wie zum Hohn auf die Drohung stieß das Mädchen einen Juchzer aus, so gellend von allen Wänden widerhallend, daß ein beflügeltes Echo den Ton bis in die tiefe Stille des Fichtenwaldes hineintrug, geisterhaft verklingend wie der herausfordernde Ruf der den Gemsjäger feindlichen Feen des Ötztals.

»Ja, schrei nur – i will dir's scho austreiben!« drohte er wieder, und sich stark hintenüberlegend, das Genick mit beiden Händen stemmend, schmetterte er hell und grell wie ein Posthorn ein Spott- und Trutzlied an der Bergwand empor.

»Ob sie's hört?«

»Warum nennst du das Mädchen dort oben die Geier-Wally?« fragte der Fremde unten im dunkeln, feuchtrauschenden Wald.

»Herr, weil sie als Kind scho a Geiernest ausg'nommen und mit dem alten Geier g'hakelt hat«, sagte der Tiroler, »'s is das schönste und stärkste Mädel in ganz Tirol und furchtbar reich, und die Buab'n lassen sich von ihr heimjagen, daß a wahre Schand is. Keiner hat die Schneid, daß er ihr amal 'n Meister zeigen tät! Spröd sei sie wie a wilde Katz und so stark, daß die Buab'n behaupten, 's könn' sie keiner zwinge – wenn ihr einer z' nah kommt, schlagt s' ihn nieder. No – wann i emal 'nauf käm, i wollt' sie zwinge, oder i riß mer selber 'n Gamsbart und d' Feder vom Huat!«

»Warum hast du nicht schon dein Glück bei ihr versucht, wenn sie doch so reich ist und schön?« fragte der Fremde.

»Ach wissen S' i mag so Madeln nit – die halbe Buab'n sind. Freili kann sie nix dafür: der Alte – Stromminger heißt er – ist gar a schiecher, böser Mensch. Er war vorzeiten der beste Hackler und Robler im Gebirg, und des geht ihm heut noch nach. Das Madel hat er lasterhaft viel g'schlagen und aufzog'n wie 'n Buab'n; kei Muater hat's nit g'habt, weil's so a groß's stark's Kind war, daß es die Frau kaum auf d' Welt bringen könnt hat und glei g'storben is. Da is das Madel halt au so wild und g'walttätig word'n.« – So erzählte der Tiroler unten in der Schlucht dem Fremden, und er hatte sich nicht getäuscht. Die Mädchengestalt, die dort oben über dem Abgrund ragte, war die Walburga Strommingerin, des gewaltigen »Höchstbauern« Kind, auch Geier-Wally genannt, und er sprach wahr, sie verdiente diesen Namen. Schrankenlos war ihr Mut und ihre Kraft, als hätte sie Adlersfittiche, schroff und unzugänglich ihr Sinn, wie die scharfkantigen Felsspitzen, an denen die Geier nisten und die Wolken des Himmels zerreißen.

Wo es was Gefährliches zu vollbringen gab, da war von Kindheit auf die Wally dabei gewesen und hatte die Buben beschämt. Schon als Kind war sie wild und ungestüm wie die jungen Stiere des Vaters, die sie bändigte. Als sie kaum vierzehn Jahre alt war, hatte ein Bauer an einer schroffen Felswand das Nest eines Lämmergeiers mit einem Jungen entdeckt, aber keiner im Dorfe mochte es wagen, das Nest auszunehmen. Da erklärte der Höchstbauer zum Hohn für die mannhafte Jugend des Orts, er werde es seine Walburga tun lassen. Und richtig, die Wally war dazu bereit, zum Entsetzen der Weiber und zum Verdruß der »Buab'n«. »Höchstbauer, das heißt Gott versuchen«, sagten die Männer. Aber der Stromminger mußte seinen Spaß haben, alle Welt mußte es erfahren, daß das Strommingersche Geschlecht bis auf Kind und Kindeskind herab seinesgleichen suche.

»Ihr sollt's sehen, daß ein Madel vom Stromminger mehr is, als zehn Buab'n von euch!« rief er lachend den Bauern zu, die zusammenströmten, um das Unglaubliche mit anzusehen. Viele dauerte das schöne, stattliche junge Blut, das einer boshaften Prahlerei des Vaters vielleicht zum Opfer fallen würde. Aber sehen wollten sie's doch alle. Da die Felsenwand fast lotrecht gerade war, an der das Nest hing, und kein menschlicher Fuß sie betreten konnte, wurde Wally ein Strick um den Leib gebunden. Vier Männer, zuvörderst ihr Vater, hielten ihn zwar, aber den Zuschauern war es doch grausig zu sehen, wie das beherzte Kind, nur mit einem Messer bewaffnet, bis an den Rand des Plateaus vortrat und sich nun mit einem raschen Sprung in die Tiefe hinabließ. Wenn der Knoten des Seiles aufging, wenn der Geier sie zerfleischte, oder wenn sie sich beim Heraufziehen an einem unbemerkten Vorsprung den Schädel einstieß? Es war ein gottsträfliches Beginnen vom Stromminger, so das Leben des eigenen Kindes auszusetzen. Indessen durchschiffte die Wally unerschrocken das Luftmeer bis zur Mitte des Abgrundes, wo sie mit Jubel den kleinen Geier begrüßte, der dem fremdartigen Besuch die flaumigen Federn entgegensträubte und piepsend den unförmigen Schnabel gegen sie aufriß. Ohne langes Besinnen packte sie mit der Linken den jungen Vogel, der nun ein jämmerliches Geschrei anhob, und nahm ihn unter den Arm. Da rauschte es durch die Lüfte, und in demselben Augenblick war es dunkel um sie her und wie in Sturm und Hagelwetter schlug und brauste es ihr um den Kopf. Ihr einziger Gedanke war: »Die Augen, rette die Augen!« und das Gesicht dicht an die Felswand drückend, focht sie mit dem Messer in ihrer Rechten blindlings gegen das wütende Tier, das mit dem scharfen Schnabel, mit Klauen und Fittichen auf sie eindrang. Indessen zogen oben die Männer rasch an. Noch eine Weile dauerte während der Auffahrt der Kampf in der Luft – da plötzlich neigte sich der Geier und schoß in die Tiefe; Wallys Messer mußte ihn verwundet haben. Wally aber kam mit dem Kleinen im Arm, das sie um keinen Preis losgelassen hätte, blutend und mit vom Fels zerschundenem Gesicht oben an.

»Aber Wally«, schrien ihr die Leute entgegen, »warum hast denn das Junge nit fahren g'lass't, dann wärst ja den Geier losg'west!« »Oh«, sagte sie einfach, »das arm' Dierl kann ja noch nit fliegen, wenn i's losg'lass't hätt', wär's in den Abgrund g'stürzt und hätt' sich zu Tod g'fallen.«

Hier war es zum ersten und einzige Male in ihrem ganzen Leben, daß der Vater ihr einen Kuß gab; nicht weil ihn das großmütige Mitleid Wallys mit dem hilflosen Tier gerührt hätte, sondern weil sie ein Heldenstück verübt hatte, das dem erlauchten Roblergeschlecht der Stromminger Ehre machte.

Das war das Mädchen, das da draußen stand auf dem kaum fußbreiten Felsvorsprung und träumerisch hinabsah in den Abgrund, über dem sie schwebte, denn es kam manchmal wundersam über sie bei all ihrem Ungestüm, daß es stille in ihr ward und sie wehmütig vor sich hinschaute, als sähe sie etwas, wonach sie sich sehnte und was sie doch nicht erreichen konnte. Es war ein Bild, das sich immer gleichblieb, sie mochte es sehen in grauer Morgendämmerung oder in goldener Mittagsglut, im Abendrot oder im bleichen Mondlicht, und es ging mit ihr seit einem Jahr überall, wo sie ging und stand, hinab ins Tal und hinauf auf die Berge, und wenn sie so allein draußen war, und ihre großen, wildscheuen Gemsenaugen hinüberschweiften zu dem weißleuchtenden Gletschermeer, oder hinunter in die schattige Schlucht, wo die Ache donnerte, dann suchten sie den, welchem das Bild glich, und wenn dann und wann ein Wanderer da unten winzig klein vorüberglitt, so dachte sie, das könnte er sein, und eine seltsame Freude kam über sie bei dem Gedanken, daß sie ihn gesehen, wenn sie auch nichts erkennen konnte als eine menschliche Gestalt, nicht größer als ein bewegliches Figürchen im Guckkasten. Und als jetzt die beiden Wanderer vorüberzogen, von denen der Fremde sie bewunderte, der Tiroler ihr drohte, da dachte sie wieder, er sei's. Da ward ihr's so eng in der Brust, sie öffnete die Lippen, und wie eine befreite Lerche schwang sich die Freude in einem schmetternden Jodler daraus empor. Und wie der Jäger unten im stillen Wald ein verschwindendes Echo davon gehört, so erreichte auch sie ein Widerhall seiner Antwort, und sie lauschte dem verwehten Klang mit trunkenem Ohr – es konnte ja seine Stimme sein! Und über das wilde, trotzige Gesicht verbreitete sich der rosige Widerschein eines warm aufwallenden Gefühls. Sie hatte ja nicht gehört, daß das Lied ein Spott- und Trutzlied war. Hätte sie's gehört, sie hätte wohl die nervige Faust geballt und die Kraft ihres Armes geprüft, und über ihr Gesicht wären finstere Schatten gezogen, daß es erbleicht wäre wie die Gletscher nach Sonnenuntergang. Und sie setzte sich nieder auf den Stein, der sie trug, und schaukelte mit den Füßen, die nun frei über dem Abgrund hingen, stützte den schlanken Kopf in die Hände und ließ alles an ihrer Seele vorüberziehen, wie das so wunderbar gewesen, als sie ihn zum erstenmal gesehen.


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