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1. Dann sah ich in der Mitte an der leuchtenden Gebäudemauer einen eisenfarbenen Turm stehen, der von außen auf die Mauer aufgesetzt war. Seine Breite betrug 4 Ellen und die Höhe 7 Ellen. Oben darauf gewahrte ich fünf einzelne Gestalten, die auf einem turmartigen Kegel standen. Die erste Gestalt blickte nach Osten, die zweite nach Westen, die dritte nach Norden und die vierte zur Säule des Wortes Gottes, an deren Fuß der Patriarch Abraham saß. Die fünfte Gestalt hatte ihren Blick zum Turm der Kirche und auf jene Menschen gerichtet, die im Gebäude eilends auseinanderliefen. Sie trugen ähnliche Kleidung bis auf die fünfte, die ganz bewaffnet schien. Die vier übrigen waren mit seidenen Gewändern und weißen Schuhen versehen. Die Kopfbekleidung indes war ungleich. Die erste Gestalt trug eine Bischofsmütze und hatte ihre weißen Haare ungeordnet; sie war mit einem weißen Mantel bekleidet, der innen zweifach purpurn zusammengewebt war. In der rechten Hand hielt sie Lilien und andere Blumen, in der linken aber eine Palme. Die Gestalt sagte: »O wonnevolles Leben und süße Umarmung ewigen Lebens, o beseligendes Glück, in welchem ewige Belohnungen verborgen sind; du bist immer von wahren Freuden erfüllt, von denen ich niemals ganz erfüllt, noch ganz gesättigt werden kann, von jenen geistigen Freuden, die in meinem Gott sind.« Die zweite Gestalt hatte ein purpurnes Unterkleid an; sie war ein Jüngling, der noch nicht zum vollen Mannesalter herangereift war, und dennoch trug sie sich voller Würde. Auch sie sprach: »Nicht kann mich der furchtbare Feind erschrecken, der Teufel, noch der Feind Mensch, noch die Welt unter Gottes Leitung, weil ich stets in den göttlichen Anblick versunken bin.« Die dritte Gestalt bedeckte ihr Angesicht mit dem weißen Ärmel ihrer rechten Hand und sprach: »O schmutzige Unreinheit dieser Welt, verbirg dich und fliehe vor meinen Augen, denn mein Geliebter wurde aus der reinen Jungfrau Maria geboren.« Die vierte Gestalt trug ihr Haupt nach Frauenart mit einem weißen Schleier verhüllt und trug einen Mantel aus safrangelbem Stoff. Auf ihrer Brust war das Zeichen Jesu Christi zu sehen, um welches im Kreise herum auf ihrer Brust geschrieben stand: »Durch innigstes Erbarmen unseres Gottes, in welchem uns der Aufgang aus der Höhe heimsuchte.« Und sie sprach: »Ich strecke meine Hände immer nach den Fremdlingen und Darbenden, nach den Armen und Klagenden und Schwachen aus.« Die fünfte Gestalt war völlig bewaffnet und trug sogar auf ihrem Haupte einen Helm. Sie trug auch einen Panzer und Beinschienen und Handschuhe. An der linken Seite hing ein Schild herunter und in der rechten Hand hielt sie Schwert und Lanze. Zu ihren Füßen aber lag ein Löwe, dessen Maul weit auseinander klaffte; die Zunge hing weit aus dem Maule heraus. Die Gestalt sprach: »Ich besiege den starken Teufel, Haß und Neid und dich, Unreinheit, die du mit frechem Truge spielst.« Zwei andere Gestalten sah ich zum Turme hingewendet stehen, von denen die eine auf dem Estrich des Gebäudes zu stehen schien, als befände sie sich in einem feuerglänzenden Bogen, der mit verschiedenen Bildern böser Geister innen ausgemalt war und sich gegen den genannten Turm lagerte. Die andere Gestalt stand seitlich davon, aber in keinem Bogen; beide schauten bisweilen zu dem Turm und zu den Menschen, die aus dem Gebäude ein und ausgingen. Beide waren in seidene Kleider gehüllt und trugen ihr Haupt nach Frauenart mit einem weißen Schleier verhüllt, hatten keine Mäntel, wohl aber weiße Schuhe an den Füßen. Die erstgenannte hatte auf ihrem Haupte eine dreifache rote Krone, die wie eine rote Hyazinthe leuchtete; die Falten ihres schneeweißen Untergewandes waren grün. Sie sagte: »Ich siege im Osten mit dem stärksten Sohne Gottes, der vom Vater ausging und für die Erlösung der Menschen in die Welt kam und wieder zum Vater zurückkehrte, nachdem er in größter Bitternis am Kreuze starb, von den Toten auferstand und zum Himmel auffuhr. Daher werde ich nicht zuschanden, weil ich das Elend und die Schmerzen dieser Welt fliehe.« Die zweite Gestalt trug ein weißes Untergewand, das sogar bleich erschien. In ihrer Rechten trug sie ein Kreuz mit dem Bilde des Heilandes Jesu Christi, über den sie ihr Haupt neigte und sprach: »Dieses Kind erlitt viel Elend in dieser Welt, und daher will ich, daß man immer trauert und wehklagt wegen der Freude ewigen Lebens, in das die guten Schafe durch den edlen Gottessohn eingeführt werden müssen.« Darauf sprach jener zu mir, der mir vom Throne aus dies alles zeigte: »Durch die Stärke und Beständigkeit göttlichen Willens keimten die göttlichen Tugenden schnell auf im Alten Testament; aber dort wurden sie, weil sie der Unwissenheit dienten, noch nicht vollkommen der Süße inne und die Fehlenden zu scharf durch Gesetzesstrenge gezüchtigt. Denen aber, die im neuen Gesetz durch Gottes Gnade viele Frucht brachten und nach dem Himmel dürsteten, wurde die vollkommene Speise, die die größte Wonne in sich begreift, dargereicht, denn das dunkle Zeichen ist ein Bild des Zukünftigen.«
2. Der Turm, den du in der Mitte der leuchtenden Gebäudemauer stehen siehst, ist ein Bild des vorbereitenden göttlichen Willens. In der Beschneidung und auf vielerlei andere Weise hat er sich geoffenbart, weil Gott im Zeichen der Beschneidung das Gesetz kundtat und durch das Gesetz die Gnade des Evangeliums; denn im Glauben des gläubigen Abraham erhob sich auch die Beschneidung unter mystischem Vorbild. Durch göttliche Macht unterwiesen sich die starken Tugenden, welche in Abraham anfingen, gleichsam wie in der Mitte des schauenden Wissens um die beiden Wege des menschlichen Verlangens unter dem Schutz der kräftigsten Güte des himmlischen Vaters; nachdem durch Gottes Willen offenbar geworden war, daß sie jenes im Bilde bedeuteten, was Gott tun wollte, bevor er es im Werke zeigte. Der der äußeren Mauer aufgesetzte Teil scheint von eiserner Farbe zu sein; sie bedeutet Gottes Stärke und unbesiegliche Gerechtigkeit, die sich in schauendem Wissen nach außen hin durch die Beschneidung kundgibt, welche lieblicher Art war, vereint mit den glückbringenden Tugenden in den geistigen Menschen einer geistigen Mauer, die Gott in den Menschen aufrichtet.
3. Der Turm ist vier Ellen lang, weil nach göttlichem Willen die Tugenden im Menschen wirken; in ihm, der im Bereich der vier Elemente steht, mit Hilfe derer er sein leibliches Leben führt. Der Turm scheint sieben Ellen hoch zu sein, weil in der Erhabenheit der sieben Gaben des hl. Geistes eine solche Festigkeit besteht, die mit einem starken Turm verglichen werden kann, aus welchem die Kirche durch die Menschwerdung meines Sohnes ihren Ursprung nahm, nachdem sie schon in der Beschneidung des Alten Testamentes vorgebildet war.«
4. Du siehst auf dem Turme fünf Gestalten für sich stehen; sie erheben sich in Wölbungen, die einen turmähnlichen Kegel über sich hatten. Dies bedeutet, daß im Turm der Beschneidung fünf starke Tugenden enthalten waren, weil nicht jede für sich lebensvoll ist, sondern nur eine leuchtende Sphäre, die von Gott ihr Licht erhält und im Dienste des Menschen aufstrahlt. Die fünf Tugenden sind in Angleichung an die fünf Sinne des Menschen in diesem Turm, weil die Menschen eifrig die Beschneidung sich zu eigen machten, wie auch die fünf Sinne des Menschen von der Kirche durch die hochheilige Taufe beschnitten werden. Die erste Gestalt schaut nach Osten, weil die ihr entsprechende Tugend mit Liebestrauen zu Gottes Sohn blickt. Die zweite Gestalt ist nordwärts gerichtet, denn sie betrachtet den östlichen und nördlichen Teil; sie schaut mit großer Zucht zu Gott, dem sich Erhebenden, und verschmäht leichtfertige Zügellosigkeit. Sie verachtet – was dem Norden entspricht – nicht das Gesetz Gottes. Die dritte Gestalt blickt nach Süden, weil sie die in Übermaß vorhandene Unzucht kraftvoll ablehnt und sich davor durch ordnungsmäßige Einrichtung zu schützen sucht. Die vierte Gestalt aber wendet sich der Säule des Wortes Gottes zu: an ihrem Fuße hat sich der Patriarch Abraham niedergelassen, weil er ein Bekenner der göttlichen Menschwerdung war. Die fünfte Gestalt blickt zum Turm der Kirche und zu jenen Menschen, die im Gebäude eilends umherlaufen. Denn sie hat siegreich alle Ungerechtigkeit, die in Adam ihren Anfang nahm, zunichte gemacht, indem sie zur Kraftquelle der katholischen Kirche sich hinwandte, um unablässig gegen die teuflischen Laster anzukämpfen und die in sie verstrickten Menschen.
5. Eine gewisse Ähnlichkeit ist ihnen gemeinsam, weil sie Gott mit gleicher Hingabe in den Werken der Menschen verehren. Jede von ihnen war mit einem seidenen Gewand bekleidet, weil jede Tugend in sich süße Wonne hat, mit der sie weder belästigt noch fesselt; sondern wie der Balsam lind aus dem Strauche träufelt, so arbeitet auch die Wonne des himmlischen Reiches in den menschlichen Gemütern ohne Niedrigkeit und starre Gerechtigkeit. An ihren Füßen tragen die Gestalten weiße Schuhe, denn sie folgen auf geradem Wege der Gerechtigkeit in der Helle des Himmelreiches. Nur die fünfte Gestalt erscheint ganz bewaffnet, weil sie auf die Kirche gerichtet ist, in der die größten Kämpfe gegen die teuflischen Laster zur Vollendung kommen. Die zweite und dritte Gestalt ist barhäuptig, hat aufgelöstes weißes Haar, weil sie sich keine Mühe, weder durch Reichtum noch durch Begierde, auferlegen aus Liebe zu mir. Unbedeckten Hauptes: weil sie mit offenem Gewissen mir das Verborgene anzeigen, immer in Liebesglut brennen und deshalb Verwirrung und schändliche Fleischeslust von sich werfen. Die weißen Haare versinnbilden die geistige Klarheit, die nach guten Werken sich sehnt. Sie haben kein Obergewand, weil sie heidnische Sitten von sich abschütteln, nämlich weltliches Gebaren mit der Unkeuschheit und dem Schmutz des Teufels. Die erste, dritte und vierte Gestalt tragen weiße Untergewänder, was das Ergreifen der Unschuld, die die Menschwerdung meines göttlichen Sohnes mit der Süßigkeit der Keuschheit vorbildete, bedeutet. Dieser hat den Menschen vom Tode frei gemacht und ihn mit dem Heile zum Leben bekleidet. Ein Unterschied ist insofern in ihnen, als ihre Kraft sich gegenseitig im hl. Geiste ergänzt. Aber dasselbe Verlangen, in Gott zu sein, haben sie alle.
6. Die erste Gestalt bedeutet die himmlische Liebe, weil sie in erster Linie der menschlichen Seele innewohnen muß. Auf ihrem Haupte trägt sie eine Bischofsmütze, und ihre weißen Haare sind ausgebreitet, weil sie ganz schön gekrönt ist im höchsten Priester Jesus Christus und mit den Hohenpriestern des Alten Testamentes.
7. Die zweite Gestalt bedeutet die Zucht, weil der glühenden Liebe zum himmlischen Leben die Bezähmung fleischlicher Begierden in großer Zerknirschung folgt. Sie ist mit einem purpurnen Gewand bekleidet, weil mein Gesetz und die Abtötung des menschlichen Fleisches sie umgibt.
8. Die dritte Gestalt versinnbildet die Schamhaftigkeit, weil auf die Zurechtweisung schamhafte Scheu folgt, die die verwirrende Sünde von sich tut. Deshalb berührt sie auch ihr Antlitz mit dem weißen Ärmel ihrer rechten Hand, denn sie beschirmt das innerliche Gewissen wie das Antlitz ihrer Seele, flieht vor Unzucht und teuflischer Befleckung, indem sie sich mit dem Gewande der Unschuld und der Keuschheit verteidigt.
9. Die vierte Gestalt bedeutet das Erbarmen, weil nach der Schamhaftigkeit sich die Tugend der Barmherzigkeit gegen die Notleidenden erhebt, wie auch im Herzen des ewigen Vaters das wahre Erbarmen seiner Gnade wohnt. Das Erbarmen erscheint in weiblicher Gestalt als die beglückendste Mutter verlorener Seelen; denn wie das Weib sein Haupt verhüllt, so unterdrückt das Erbarmen den Tod der Seelen. Wie das Weib sanfter ist als der Mann, so ist auch die Barmherzigkeit gütiger als sinnlose Wut.
10. Die fünfte Gestalt versinnbildet den Sieg, denn nachdem ich meine Barmherzigkeit in der Beschneidung zeigte, wollte ich meinen Sohn in die Welt senden; der Sieg ging schon aus der Beschneidung hervor und machte größeren Fortschritt bis zu meinem Sohne und in Verbindung mit ihm bis auf den jüngsten Tag.
11. In dem Gebäude selbst stehen zwei andere Gestalten dem Turme zugewendet. Im Werke des himmlischen Vaters, das er durch seinen Sohn wirkte und offen durch die Beschneidung zeigte, erhoben sich zwei Tugenden wie ein Schatten, nämlich das Beispiel Christi und seine Nachfolge. Die beiden zum Turme hinblickenden Tugenden stehen ohne Überdeckung in einer Wölbung, um anzudeuten, daß sie frei sind von der Macht dieser Welt und ohne Heimlichkeit das Kreuz Christi tragen. Denn sie sind die Vorläufer des göttlichen Willens und voll des Vorbildes und betrachten ihren Ursprung in der Beschneidung des Alten Testamentes. Dennoch sind sie größer in ihrem Anfang als die Beschneidung, weil das strahlende Werk den Beginn der Lehre überragt. Bisweilen blicken sie auch auf die Menschen, die im Gebäude ein- und ausgehen.
12. Die erstere Gestalt bezeichnet die Geduld und erhebt sich in Abrahams Kraft; bei ihm begann der Gehorsam gegen Gott in der Beschneidung zuerst nach Adams Fall; er ging dem wirkenden Gehorsam in wahren Worten, nämlich im Sohne Gottes, voraus, wie der Ton dem Wort vorauseilt.
13. Die andere Gestalt seufzt, erhebt in meinen Auserwählten die klagende Erinnerung an das Leben und zugleich aber auch meine Mahnung. Mein Volk trug im Alten Testament und trägt im Neuen diese Erinnerung mit sich, die wie ein Seufzen mit ihrem klagenden Schutz für den Schuldigen ist; sie ist die wahre Zerknirschung des Herzens.