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(1896.)
Vor Jahren, auf einer sommerlichen Wanderung durchs Gebirge, überfiel mich nach einem schwülen Tage ein Ungewitter, da ich noch eine halbe Stunde von meinem Nachtquartier entfernt war. Das jäh herausstürmende schwarze Gewölk entlud sich über mir mit solcher Gewalt, daß mein leichter Schirm mir keinen Schutz gewährte, so wenig wie die dünnen, schwankenden Wipfel der Ebereschenbäumchen zu beiden Seiten der Landstraße, auf der nach wenigen Minuten helle Bäche dahinschossen. Zum Glück aber stand auf der Wiese jenseit des Straßengrabens ein Heustadel, unter dessen weit vorspringendem Dach ich eine Zuflucht vor den herabstürzenden himmlischen Fluten fand.
Auf die Länge freilich blieb ich auch in diesem Schlupfwinkel nicht ganz im Trocknen, da der Sturm die schweren nassen Strahlen schräg zu mir heranpeitschte. Immerhin ließ sich das Toben und Wüthen hoch über den Bergen von hier aus mit so viel Seelenruhe betrachten, wie ein Seesturm vom Leuchtthurm aus, zu dem die Brandung hoch hinaufschäumt. Und da nicht abzusehen war, wann das Unwesen ein Ende nehmen würde, ließ ich meine Gedanken herumschweifen wie junge Füllen auf der Weide und fand die Rast, zu der ich unfreiwillig gelangt war, ja sogar die Nässe des Grases, die mir in die Schuhe drang, ganz behaglich.
Niemals werde ich im Freien von einem Gewitterregen überrascht, daß mir nicht das Gedicht des alten Anakreontikers Johann Georg Jacobi »an Chloën« einfiele, das ich dann andächtig herzusagen pflege:
Das letzte Roth vom Himmel wich,
Da ging ich, liebevoll, im Grünen.
Ich ging und lobte Gott für dich
Und für die Sterne, welche schienen.
Und plötzlich kam ein Wolkenheer
Und riß hinweg die goldnen Sterne.
Gelinde Lüfte wurden schwer,
Und Donner rollten aus der Ferne.
Die Stürme heulten auf mich zu,
Die Donner wollten mich erschrecken;
Ich aber ließ in frommer Ruh'
Mich einen Lorbeerbaum bedecken.
Da saß ich in der tiefen Nacht
Und lobte durch die Finsternisse
Den Gott, der jenen Blitz gemacht
Und dieses Herz und deine Küsse.
Das Gedicht ist vergessen, wie sein Dichter, obwohl dieser zu seiner Zeit bei schönen Seelen sehr in Gnaden stand und selbst die Ehre erfuhr, daß ein viel Größerer, kein Geringerer, als der junge Goethe selbst, eines seiner tändelnden Liebesliedchen sich so lange vorsagte, bis er des festen Glaubens war, er habe es selbst gedichtet, und es unbedenklich, wie er in diesem Punkt auch sonst noch verfuhr, in seine Gedichte aufnahm.
Während ich diesen lyrischen Wettersegen recitire, hat die ärgste Wuth des Unwetters ausgetobt. Vom steinbeschwerten Schindeldach meines Heuschuppens rieselt es nur noch mäßig herab, die triefenden Halme des Grases richten sich allmählich auf, und schon fliegen einzelne Krähen wieder auf die Wipfel der Vogelbeerbäumchen und schütteln ihre Flügel. Der letzte Donnerhall verklingt grollend, wie die Stimme eines Besiegten, der sich widerwillig zurückzieht, hoch zwischen den kahlen Zacken des Berggipfels mir gegenüber, und zwischen den davonjagenden Sturmwolken leuchtet ein scharfes rothes Licht der Abendsonne, die sich nun wieder des feuchtverklärten Himmels bemächtigt.
Ich stand eben auf, um die kurze Strecke durch die zum Sumpf gewordene Wiese mit ein paar großen Sätzen zurückzulegen, als ich auf der Landstraße, von der Seite, von der auch ich gekommen war, zwei Männer daherschreiten sah mit so gleichmüthigen Schritten, wie Menschen, die es längst als überflüssig erkannt haben, sich zu beeilen, da selbst der heftigste Wolkenbruch einen Wanderer nicht stärker zu durchnässen vermag als bis auf die Haut.
Von dieser gleichmäßigen Ergebung in ihr Schicksal abgesehen, erschienen die beiden triefenden Gestalten einander so unähnlich, wie irgend denkbar war.
Einer von ihnen, der Größere, war mir bekannt, ein Münchener Maler, den die Collegen Simson nannten seines üppigen Haarwuchses wegen und weil er im Stande war, einen Stuhl, auf dem ein ausgewachsener Mensch saß, mit ausgestrecktem Arm aufzuheben. Mit dem Pinsel verrichtete er nicht ebenso gewaltige Wunder, wenn er auch ganz hübsche Landschäftchen zu Stande brachte, die dem Publikum des Kunstvereins mehr zusagten als die damals eben auftauchenden Böcklins. Er dachte aber selbst nicht allzu stolz von seinem Talent, sondern behauptete, seine eigentliche Stärke bestehe in der Fähigkeit, die Natur zu sehen, nicht sie nachzustümpern. Und da er in der That ein feines Auge hatte, was er als Kritiker bei Anderen bestens bewährte, übrigens ein harmloser, leichtlebiger Riese war, der den letzten Gulden mit einem bedürftigen Kameraden theilte, so war er überall wohlgelitten.
Mir selbst war er nur hin und wieder am dritten Ort begegnet, freilich niemals in so waldursprünglichem Aufzug wie heute, ungefähr wie ein Holzknecht, der eben einen reißenden Strom durchschwommen hat. Er trug die übliche Gebirgstracht, den Kopf durch das Loch eines groben Kotzen gesteckt und mit einem verschossenen grünen Spitzhütchen bedeckt, nackte Kniee, Wadenstrümpfe und derbe Schuhe, den Rucksack auf dem Rücken, in der linken Hand einen kleinen Malkasten, in der rechten einen zusammengelegten rothen Regenschirm, den er geschultert hatte, da er ihm offenbar keinen Schutz mehr gewährte, sondern mit seiner Traufe nur den Nebenmann belästigt haben würde.
Dieser, eine schlanke, schmächtige Figur in einem städtischen Sommerkostüm, hatte ein schwarzes Regenschirmchen über seinem Strohhut aufgespannt, von dessen Zacken immer noch große Tropfen rieselten, und suchte sorgsam den ärgsten Pfützen auf der Straße auszuweichen, als ob an seinem dünnen, ganz durchweichten Schuhwerk noch etwas zu schonen gewesen wäre. Ein feines, bleiches Gesicht mit wenigem Bart, schöne, etwas melancholische Augen, deren besondere Helle mir schon auf zwanzig Schritt Entfernung auffiel und an den Blick eines weitsichtigen Jagdhunds erinnerte. Er hinkte ein wenig, was ihn aber nicht hinderte, mit dem weit ausgreifenden Gefährten Schritt zu halten. Ueber die eine Schulter hatte er eine kleine Reisetasche gehängt, deren Leder, vom Regen blank gewaschen, in der grell hervortretenden Sonne blitzte.
Die Beiden sprachen nicht miteinander, wie es schien, in jenem verbissenen Stumpfsinn, der in solchen Lagen die Muntersten überschleicht, nachdem sie genug auf das Unwetter geschimpft und sich zuletzt in ihr Schicksal ergeben haben. Als aber der Riese mich jenseit des Grabens erblickte, blieb er stehen, schwenkte den rothen Schirm und rief mir mit seiner dröhnenden Stimme einen Guten Abend! zu.
Ich war rasch durch die Wiese gestapft und schüttelte die mir dargebotene große Hand, die sich feucht anfühlte.
Erlauben Sie mir, Sie mit meinem Freunde bekannt zu machen, sagte der Maler: Herr Marcanton, seines Zeichens Kupferstecher, Grabstichler, Radirer, Schwarzkünstler, Aquafortiste oder wie man seine jetzt ziemlich brodlosen Künste sonst noch bezeichnen mag. In trockenem Zustande ein sehr angenehmer Mann, jetzt durch das nasse Abenteuer auf der ersten Bergpartie, zu der er sich hat verführen lassen, einigermaßen verstimmt. Wenn wir ihn aber an einem warmen Herd eine Stunde lang aufgehängt haben, wird seine natürliche Liebenswürdigkeit wieder zum Vorschein kommen. Also corragio e avanti!
Er setzte sich wieder in Bewegung, und sein Freund, der die seltsame Schilderung seiner Person mit einem stillen Achselzucken hingenommen hatte, als wollte er sagen: man kann dem übermüthigen Gesellen Nichts übelnehmen, ließ mir die Mitte zwischen ihnen und fuhr fort, zwischen den schmutzigen Lachen sich hüpfend durchzuschlängeln.
Simson führte fast allein das Wort, und es war lehrreich, ihm zuzuhören, wie er seine malerischen Beobachtungen während des Regensturzes zum Besten gab, nur bedauernd, daß man die wilde Farbenscala von fahlem Grau, Kupferroth, Orange und Ultramarin bis zur Purpurschwärze am Gewitterhimmel nicht auf eine Leinwand bringen könne. Glauben Sie nur nicht, sagte er, daß ich das rothe Schirmchen zu einem anderen Zweck mitnehme, als um mir als coloristische Stimmgabel zu dienen wie ein überlebensgroßer Schwammerling. Ich lasse mich mit Wonne durchwaschen. Eigentlich hasse ich das Hochgebirge, als Maler. Diese plumpen Klötze, die nur durch ihre Massenhaftigkeit imponiren, haben für Unsereinen nur Werth, weil der Philister sie in seinem Salon zu haben wünscht, um sich daran zu erinnern, daß er sie in natura gesehen hat, und wenn man ihm gar die Sennhütte hinmalt, wo er mit dem Weibe seines Herzens eine gestöckelte Milch gelöffelt hat, ist ihm das Bild hundert Mark mehr werth. Erst bei Regenwetter, oder wenn der Nebel die brutalen Massen umschleiert, kommt so was wie Stimmung in die Sache, und mit den klobigen Ungeheuern ist was anzufangen. Freund Marcanton hat auch dafür keinen Sinn gehabt. Was wollen Sie? So ein farbenblinder Schwarzseher! Und der noch dazu ein Stück von diesen verwünschten Felskolossen im Schuh mitschleppt!
Ich sehe, daß Sie im Gehen behindert sind, sagte ich. Wir wollen doch anhalten, damit Sie erst das Steinchen aus Ihrem Schuh entfernen können.
Der Kupferstecher schüttelte mit einem resignirten Lächeln, das ihm gut stand, den Kopf.
Bis zu dem Dorf da unten, das nur noch eine Viertelstunde entfernt sein kann, halt' ich es noch aus. Ich merkte, daß mir's in den Schuh gekommen war, als das Wetter eben losbrach. Die Straße war aber gleich so überschwemmt, daß ich nicht dran denken konnte, mich niederzusetzen, um den Schuh auszuziehen, zumal die Schnüre sich verknotet hatten. Nun geht's eben in Einem hin. Ich begreife nur nicht, wie ein so großer Kiesel eindringen konnte, zumal wir über keine Geröllhalde gekommen sind.
Seine Stimme hatte einen etwas verschüchterten, aber angenehmen Klang. Doch bekam ich sie nicht mehr zu hören, bis wir das Wirthshaus in dem anmuthigen Bergdorf erreicht hatten, wo auch die beiden Künstler die Nacht zuzubringen gedachten.
*
Man hatte sie in einem Zimmer mit zwei Betten untergebracht, mir eine schmale Kammer angewiesen, die gerade Raum genug bot, mein Fußwerk zu wechseln, und nachdem ich von dem kleinen nackten Tischchen neben dem Fenster das Waschbecken und den Wasserkrug entfernt hatte, konnte ich sogar einen Brief schreiben, der morgen früh mir voran nach Hause reisen sollte.
Ueber dieser Beschäftigung brach die Dunkelheit herein, obwohl es noch nicht spät am Tage war. Aber die »groben Klötze«, die übrigens durch ihre kühn geschwungenen Conturen einen freundlicheren Namen verdienten, schoben sich breit zwischen die niedersinkende Sonne und das tiefe Thal, so daß nur an den obersten Zacken ein röthlicher Schimmer noch eine Weile fortglomm.
Ich schloß meinen Brief und ging in die Gaststube hinunter, wo ich nur ein Häuflein trinkender und qualmender Bauern fand. Die Herren säßen draußen im »Salettl«, beschied mich die Kellnerin.
Unter dem Salettl verstand sie eine nach den Bergen offene hölzerne Halle, in welcher weißangestrichene Tische standen. Ich sah nur an einem derselben zwei bäuerlich gekleidete Männer und wollte eben enttäuscht wieder ins Haus zurück, als ich meine beiden Wandergefährten in ihnen erkannte. Der Kupferstecher hatte seine völlig durchweichte Kleidung mit einem Anzug aus dem Schrank des Wirths vertauschen müssen, während Simson nur den durchnäßten Kotzen und die eigene Joppe ausgezogen und eine mit vielen Silberknöpfen verzierte Jacke lose umgehängt hatte, da sie für seine mächtigen Schultern zu eng war, um ordentlich angezogen zu werden
Ich rückte einen Stuhl an ihren Tisch heran, und Simson ließ seiner unverwüstlichen guten Laune die Zügel schießen, indem er zur Zielscheibe seiner Stachelreden mit Vorliebe Freund Marcanton zu machen fortfuhr. Er setzte ihm ganz ernsthaft auseinander, daß der Mensch im Allgemeinen und der bildende Künstler im Besonderen das richtige Verhältniß zur Natur erst gewinnen könne, wenn er sie mit nackten Knieen durchwandere. Der langbehos'te Kunstjünger fühle sich wohl auch zuweilen zur Anbetung ihrer Wunder getrieben, scheue sich aber, vor ihr niederzuknieen, um seine Beinkleider nicht zu beschmutzen, und so komme er nie zu der rechten mystischen Inbrunst. Von heute an datire auch in Marcanton's Leben eine neue Epoche, da er zum ersten Mal Kniehosen und Wadenstrümpfe trage. Seine kleinen radirten Landschaften würden bald ein ganz anderes Gesicht kriegen.
Diese und ähnliche unsinnige Reden ließ der blasse Freund mit seiner sinnigen Ruhe über sich ergehen, indem er den Rauch einer Cigarrette langsam vor sich hin blies und den in der Luft verschwebenden blauen Rauchwölkchen heiter nachsah. Er sowohl wie Simson hatten schon gegessen, Letzterer war bereits beim zweiten Kruge Bier, während der Kupferstecher den Rest eines rothen Tirolers aus einem offenen Fläschchen in sein Glas goß.
Am Himmel über der hohen Bergwand trat jetzt die Mondsichel hervor, und da die Dunkelheit rasch zunahm, dauerte es nicht lange, daß auch die Sterne zu leuchten begannen. Nach dem Gewitter, das die Luft von allen Dünsten gereinigt hatte, war der Himmelsglanz um so zauberhafter, und selbst Simson's geschwätziger Humor verstummte, während aus seiner kurzen Pfeife ein mächtiges Gewölk gegen die Decke des Salettls stieg.
Lange aber konnte er es doch nicht aushalten, schweigend zum Sternenhimmel aufzuschauen. Und jetzt mußte ich ihm zum Stichblatt seiner Neckereien dienen.
Nehmen Sie mir's nicht übel, sagte er, aber auch die Herren Dichter könnten nur Vortheil davon haben, wenn sie's mal mit nackten Knieen probirten. Ich lese sehr viel, Romane, Novellen, sogar lyrische Gedichte. Wenn ich aber auf Naturbeschreibungen stoße, überspringe ich regelmäßig die Stelle, um mich nicht zu ärgern. Seit dreitausend Jahren behelfen sich die Herren Dichter mit einem ganz winzigen Vorrath von Bezeichnungen, die natürlich nicht auf jeden Himmelsstrich passen, und wenn mal einer einen aparten Einfall hat, einen Ausdruck sich eigens zurechtschnitzt, den vor ihm nicht schon Tausende abgegriffen haben, ist es gewöhnlich was ganz Verkehrtes. So zum Beispiel – Sie kennen ohne Zweifel ein berühmtes Gedicht des Grafen Platen – (beiläufig: ich habe bemerkt, daß Jeder, der Platen als Dichter nicht sonderlich verehrt, ihm seinen Grafentitel giebt) – ich meine das Gedicht, das anfängt: »Wie rafft' ich mich auf in der Nacht, in der Nacht« –. Na, die zweite Strophe, in der heißt es:
Es drehte sich oben unzählig entfacht
Melodischer Wandel der Sterne.
Nun bitte ich Sie, betrachten Sie gefälligst da oben den Sternenhimmel. Finden Sie, daß sich da Etwas dreht? Alles schwebt in tiefster Ruhe in dem unermeßlichen Luftraum, und ohne unser bischen Kenntniß von der Bewegung der Himmelskörper würde es keinem Menschen, nicht einmal einem Poeten einfallen, von »Sichdrehen« zu reden. So wenig wie von einem »melodischen Wandel«, ohne die Erinnerung an die angebliche Harmonie der Sphären. Ob es hübsch ist, zu sagen, ein melodischer Wandel dreht sich, will ich nicht untersuchen. Vielleicht verstehe ich nicht genug von der Dichtersprache. Aber was das am Schluß derselben Strophe sagen will:
Sie funkelten sacht
In der Nacht, in der Nacht
Durch täuschend entlegene Ferne –
das sollen Sie mir einmal erklären. Wen täuscht diese »entlegene Ferne«? Den, der sie für nicht so entlegen hält, oder Den, der sie sich immer noch nicht fern genug vorstellen kann?
Ich mußte lachen über den fast erbitterten Ernst, mit dem er seine kritischen Bemerkungen vorbrachte.
Sie verlangen zu viel von mir, sagt' ich. Ich könnte einfach erwidern: soll ich meines Bruders Hüter sein? und jede Verantwortung für den trefflichen Platen ablehnen. Aber leider haben Sie wohl Recht, wenn ich auch zweifle, daß die alte Unzulänglichkeit meiner Collegen und meine eigene gegenüber der Natur durch Ihr Allheilmittel – die nackten Kniee – gebessert werden würde. Bei Platen jedenfalls hätte es schwerlich geholfen. Er hatte wenig unmittelbaren, sondern nur einen literarischen Natursinn, und außer der Kunst war er nur durch schöne Menschennatur dichterisch anzuregen. So berauschte er sich auch in diesem Nachtliede am Klange seiner eigenen Melodie – »in der Nacht, in der Nacht« –, und es ist sehr möglich, daß er die Verse am hellen Mittag gedichtet hat. Indessen – welcher Poet wäre überhaupt je im Stande gewesen, von dem überwältigenden Eindruck des Sternenhimmels nur einen Hauch in Worte zu fassen? Der alte Klopstock dachte Wunder, was er sagte, als er die Erde »den Tropfen am Eimer« nannte, das Erhabenste mit einem so Geringen verglich, wobei er, um das Bild fortzusetzen, die Menschheit mit einem Infusorienhaufen in dem Tropfen am Eimer hätte vergleichen können. Nein, lieber Freund, was über alle Sinne hinausgeht, soll man nicht mit sinnlichen Bildern auszudrücken suchen, oder man kommt höchstens dazu, aus dem Gott des Himmels und der Erden einen guten alten Mann zu machen. Auch ihr Maler, selbst die Größten unter euch, habt es ja nicht weiter gebracht, mit allem Respect vor Michelangelo's Gottvater an der Decke der Sistina. Allem Ewigen und Unendlichen gegenüber ziemt nur Schauen und Schweigen, oder man sage mit Leopardi: Und süß ist mir's, in diesem Meer zu scheitern!
Hierauf erwiderte der Maler Nichts, sondern vertiefte seinen bärtigen Mund in den Maßkrug, so daß es unentschieden blieb, ob er einverstanden war, oder nur Zeit gewinnen wollte, sich auf neue Bosheiten gegen die Poeten zu besinnen.
Der Kupferstecher aber, der meine Rede mit stillem Kopfnicken begleitet hatte, warf jetzt den Rest seiner Cigarrette auf das Gebüsch vor dem Salettl und sagte: Ihr Leopardi war ein weiser Mann. Ja wohl, in das Meer des Unendlichen sich stürzen, daß einem die Besinnung vergeht, das ist die höchste Wollust und die einzige Rettung vor der Angst, die einen überkommt, wenn man von dem unendlich Kleinen gemartert wird. Muß man sich nicht wie verrückt vorkommen, wenn man da oben die unermeßlichen Welten schweben sieht und denkt, daß vielleicht der kleinste Stern, der uns kaum noch sichtbar ist wegen der ungeheuren Entfernung, tausendmal so groß ist wie unser bischen Erde und vielleicht von millionenmal mehr lebendigen Wesen bewohnt wird, und hier unten – so ein erbärmliches Atom von einem Erdenwurm hält sich so wichtig, daß es den Schöpfer für sein Zahn- oder Herzweh verantwortlich macht? Gegen solch eine Verblendung hilft nur eins: sich kopfüber in das unergründliche Meer des Alls zu stürzen, daß einem Hören und Sehen vergeht!
Hört, hört! rief Simson mit seinem fröhlichsten Lachen. Wie schön kann er predigen! Wie gut weiß er Bescheid, was zu seinem Seelenheil frommt! Wenn's aber zum Klappen kommt, wenn er seinen eigenen weisen Rath befolgen und sich um die elenden kleinen Tücken des täglichen Lebens den Teufel scheren sollte – wo bleibt da die schöne astronomische Erkenntniß von der Thorheit, das eigene werthe Atom und seine Leiden und Freuden so wichtig zu nehmen? Ein Sandkorn im Schuh kann ihm den Spaß an dem schönsten Spaziergang verderben – da, dieses hier! Er nahm aus seinem Portemonnaie ein Stückchen Papier, in welchem ein winziges Steinchen, nicht viel größer als ein großer Stecknadelknopf, eingewickelt war. Da haben Sie das Ungethüm! sagte er, immer lachend. Ich hab' es aufgehoben, um es dem Sterngucker zu zeigen, wenn er mir wieder einmal aus einer Mücke, die ihn sticht, einen Elephanten macht.
Der Andere war leicht erröthet, zuckte aber nur stumm die Achseln, da er in seiner Verlegenheit nicht gleich Etwas zu erwidern fand.
Ich eilte, ihm zu Hülfe zu kommen.
Sie vergessen, lieber Simson, sagt' ich, daß es das Vorrecht adliger Naturen ist, eine feinere Haut zu haben als die gewöhnlichen Sterblichen. Ich erinnere Sie an die Prinzessin auf Erbsen. Ein Stein im Schuh, der einen Bauern nicht im Mindesten genirt, weil seine Haut durch das Barfußgehen von Kind an unempfindlich geworden ist, kann Unsereinen bis aufs Blut peinigen. Ist es nicht ebenso im Moralischen? Giebt es nicht Menschen, die auch ihrem Gewissen eine so grobe Haut angegerbt haben, daß sie nicht einmal die stärksten Bisse spüren, während andere, zarter Besaitete von der Reue über die geringfügigste Verletzung ihrer Pflicht Tag und Nacht verfolgt werden?
Der Kupferstecher warf mir einen dankbaren Blick zu und sagte: So ist es, und ist nicht minder wahr, weil es wunderbar scheint. Denn gehört nicht auch das unendlich Kleine zur Schöpfung, die selbst die winzigsten Lebewesen so gewissenhaft organisirt, wie sie den Lauf der ungeheuren Weltkörper regelt? Das Alles geht freilich über unsern beschränkten Menschenverstand, aber eben darum, da wir nun einmal nicht klug daraus werden können – was bleibt uns übrig, als uns an das Einzige zu halten, was eine Gewißheit für uns ist, an das Gewissen, und es mit unsern armseligen Eintagsgeschäften ganz so genau zu nehmen wie die Natur, wenn sie eine Mücke hervorbringt! Was kannst du dagegen einwenden, Simson?
Der Riese lachte wieder in den Bart hinein.
Dagegen einwenden? Nichts Anderes, als daß sich all diese schöne Philosophie ganz herrlich ausnimmt, wenn man, wie wir, sich ins Trockene gebracht hat und sich die Sterne in den Maßkrug scheinen läßt. Aber wenn einem schlechtes Wetter über den Hals kommt, wie das nicht nur beim Bergkraxeln, sondern, figürlich gesprochen, im Leben überhaupt manchmal zu geschehen pflegt, so ist's gescheidter, man härtet sein Gewissen ein bischen ab, daß es fünf gerade sein läßt, statt bei jedem kleinen Biß zusammenzuzucken. Man gehört dann freilich nicht zu dem zartbesaiteten Menschenadel, sondern zum ordinären Durchschnitt, braucht darum aber noch kein verhärteter Mörder oder Brandstifter zu sein, nicht einmal ein Bauernkerl, wenn man seine Nacht durchschläft, ohne von der Erbse unter der Matratze etwas zu spüren.
Verzeihen Sie, wenn ich etwas hitziger geworden bin, als sich für so eine philosophische Unterhaltung schickt, sagte er, zu mir gewendet. Es ist aber ein alter Span zwischen mir und Freund Marcanton. Wie oft habe ich schon auf das gescholten, was ein Mediciner unserer Bekanntschaft seine Hypertrophie des Gewissens nennt, da er mein alter Freund ist und mir das Herz blutet, wenn ich sehen muß, wie schlimme Folgen diese seine chronische Schwäche für ihn hat. Sei ruhig, Alter. Ich werde dem Herrn Doctor keine biographischen Anekdoten von dir zum Besten geben. Und übrigens ist ja jetzt Aussicht, daß du gründlich kurirt wirst.
Wir sahen ihn fragend an. Er lachte wieder mit einem schlauen Zwinkern seiner treuherzigen Augen in sich hinein.
Nämlich, fuhr er fort, ich habe die Ehre, Ihnen hier einen glücklichen Bräutigam vorzustellen. Das Wort glücklich betone ich ausdrücklich, da es nicht bloß die herkömmliche Gemüthsverfassung eines Menschen in diesem Zustande bezeichnet, sondern wie man sagt: ich bin nun »glücklich« so und so weit. Nach mehrfachen Anläufen, so weit zu kommen, die nie zum Ziele führten, da ihm auf halbem Wege immer ein gewissenhaftes Steinchen in den Schuh flog, hat er jetzt endlich Diejenige gefunden, gegen die selbst ein so scharfsichtiger Kritiker, wie er, Nichts einzuwenden weiß, und in vierzehn Tagen soll gehochzeitet werden. Nun, Sie werden mir zugeben, wenn irgend Etwas einen Meister in der Selbstquälerei von seinem Gewissensfieber curiren kann, so ist es eine gute Frau, eine halbwegs glückliche Ehe, ein Haus voll Kinder. Im besten Hausstand geht's manchmal drunter und drüber, und der Hausherr muß sich seine Junggesellen-Gewohnheiten, alles Peinliche und Kleinliche abgewöhnen, wenn er nicht manchmal aus der Haut fahren soll. Und daß er das im Stande ist, dazu hilft Nichts besser als eine richtige Verliebtheit, oder sagen wir Liebe, deren seine Erkorene – ich kenne sie einstweilen nur nach ihrem Bilde und seinen Schilderungen – in jeder Hinsicht würdig zu sein scheint. Höre, Alter, du könntest dem Herrn Doctor doch auch die Photographie deiner Herzallerliebsten zeigen, die du natürlich als richtiger Bräutigam überall in der Brusttasche mit dir herumträgst.
Der Kupferstecher stand auf. Er war dunkelroth geworden und schien zu überlegen, wie er die indiscrete Zumuthung abwehren sollte.
Ich habe die Karte oben im Zimmer gelassen, brachte er stockend hervor, als ich aus meinem durchweichten Rock Alles herausnahm, ehe ich ihn dem Mädchen zum Trocknen übergab. Ich fürchte, sie ist verdorben, da die Nässe auch in die Brusttasche drang. Aber ich will einmal nachsehen.
Damit schob er seinen Stuhl zurück und verließ das Gartenhaus.
*
Wollen Sie wetten, daß er nicht wiederkommt? sagte der Maler, als die Tritte gegen das Haus hin verklangen. Es war eine Dummheit von mir, von der Verlobung zu reden. Obwohl er sie in der Zeitung angezeigt hat, behandelt er die Sache doch selbst mir, seinem ältesten Freunde, gegenüber mit einer so curiosen Scheu, wie wenn er sich was vorzuwerfen hätte, oder das Mädchen nicht den besten Ruf hätte. Nun ist sie aber die Tochter sehr braver, angesehener und auch wohlhabender Bürgersleute, der Vater ein kleiner Beamter, der's aber nicht nöthig hätte, das Mädel achtzehn Jahr alt und in dem besten Institut zu München erzogen. Auf dem Bilde sieht man sie freilich nur im Profil, aber Sie würden zugeben, daß man sich nichts Reizenderes und dabei Gutartigeres denken kann, als dies junge, unschuldige Gesicht mit dem sanften Stumpfnäschen und dem gesunden zarten Oval, dabei eine Pracht von Haaren, eine Blondine, die Tizian und Paul Veronese entzückt hätte. Er hat sehr geheim mit ihr gethan, nicht einmal ich durfte ihn bei einem seiner täglichen Abendbesuche begleiten, obwohl von Eifersucht natürlich keine Rede sein kann. Denn als hartgesottener Vagabund bin ich ein für allemal davor sicher, mich unter ein Ehejoch zu ducken, und zur Abhärtung des Gewissens – er lachte wieder mit seinem tiefen Baß – nun, ohne mich für einen schlechten Kerl zu verleumden, das Leben auf die leichte Achsel zu nehmen verstehe ich auch ohne die strenge Schule an einem häuslichen Herd, wo das Hauskreuz einem beständig vor Augen schwebt, wenn's einem auch nicht den Rücken beschwert.
Er schwieg und horchte nach dem Hause hin.
Sehen Sie wohl, er kommt nicht wieder, sagte er. Ich kenne ihn, er weicht allen kritischen Bemerkungen, selbst den wohlwollendsten, über sein Glück sorgfältig aus. Wenn ich am Ende doch ein Stäubchen daran entdeckte – denkt er. Sie haben keine Vorstellung, was für ein närrischer Kauz er ist. Kupferstecher müssen ja immer einen Sparren haben, das gehört zum Metier. Wie könnte sich sonst ein Mensch, und obenein ein künstlerisch beanlagter, entschließen, zwei, drei, sogar vier Jahre über einer großen blanken Metallplatte gebeugt zu hocken und einen festen Strich neben dem anderen einzugraben! Dazu gehört eine Art Fanatismus, der an Irrsinn grenzt. Aber wenn Andere seiner Zunft einen Sparren haben, so hat er mindestens anderthalb.
Ich will Ihnen denn doch – er hört uns ja nicht – ein Geschichtchen erzählen, das Ihnen seinen Charakter auf einmal offenbaren wird,
Sie müssen wissen, er heißt eigentlich Schmidt, Anton Schmidt. In unserer Kameradschaft aber hat fast Jeder seinen Spitznamen, der ihm so fest anwächst wie eine zweite Haut, daß man sich kaum noch erinnert, einen anderen zu führen. So muß ich mich ordentlich erst besinnen, wenn mich Jemand anders anredet als Simson, und an ihn schreibt sogar sein Schneider nicht »Herrn Anton Schmidt, Hochwohlgeboren«, sondern »Herrn Marcanton«.
Daß er dabei immer noch nicht so berühmt geworden ist wie sein famoser italienischer Namensvetter, obwohl er ein so vorzüglicher Meister ist, geht trotzdem mit rechten Dingen zu.
Er ist nämlich vom Vollkommenheitsdämon besessen, während wir doch allzumal Sünder sind und mangeln des Ruhms, den wir vor der heiligen Kunst haben sollen. Darum hat er jahrelang gearbeitet und nur selten Etwas fertig gebracht. Denn immer mitten im besten Schaffen glaubte er zu bemerken, daß er die Sache nicht beim rechten Zipfel angegriffen oder »sich verhauen« hätte. Und dann ließ er das Angefangene liegen. Wenn man ihn darüber zur Rede stellte, verwies er auf Michelangelo, der bekanntlich auch eine Menge hoffnungsvoller Marmorsachen nicht fertig gemacht hat, Gott weiß warum. Na, er hat dafür sehr viel Anderes ganz gewaltig zu Ende geführt.
Unser Vollkommenheitsfex aber hat sich eine Mappe angelegt mit lauter halbfertigen Sachen, die er zuweilen zu seiner eigenen Buße und Zerknirschung durchblättert, ehe er an etwas Neues geht. Er konnte sich diesen Luxus erlauben, da er von Haus aus zu leben hatte. Wie oft sagt' ich ihm: ich wollte, deine Kunst müßte nach Brod gehen, mein Alter, dann würdest du schon lernen, mit dir selbst vorlieb zu nehmen, wie wir anderen armen Teufel, meine Wenigkeit zum Beispiel, der ich nicht lange fragen darf, ob man eins meiner Kitschbildchen in einer Galerie neben einen Ruysdael hängen könnte, ohne daß das Kremser Weiß zinnoberroth anliefe vor Scham. Denn Noth lehrt nicht bloß beten, sondern auch Kunstvereinsbilder malen.
Na, das ging so eine Weile, und er blieb ewig der »talentvolle junge Mann«, von dem die Kunsthändler Nichts wußten. Aber da verfiel er plötzlich auf die Idee, nach Rom zu reisen und einen großen Stich nach der Madonna di Fuligno zu machen. Er kam mit einer stupenden Kreidezeichnung nach dem Original zurück, in das er sich förmlich verliebt hatte, und ging mit solchem Feuereifer an die Arbeit, daß er oft Essen und Trinken vergaß und so abmagerte wie der Johannes der Täufer auf dem Bilde. Zeigte aber seine Platte und die unterschiedlichen Probedrücke keiner Menschenseele, bis er fertig war und einen Verleger gefunden hatte, der ihm ein groß Stück Geld bezahlte für das alleinige Recht der Vervielfältigung,
Ich war einige Monate, während er die letzte Hand anlegte, auf einem Studienbummel abwesend und hörte nur aus Briefen der Freunde, Marcanton habe endlich einen großen Wurf gethan. Mein erster Gang nach der Rückkehr war in sein Atelier.
Er kam mir mit einem strahlenden Gesicht entgegen, ein ganz verwandelter Mensch. Mitten im Zimmer auf einer Staffelei stand ein avant la lettre seines Stichs, vor den ich mich gleich hinpflanzte. Ich hatte eine unbändige Freude. Denn wirklich, es war ein herrliches Werk, das ihn auf einen Schlag berühmt machen mußte. So viel Kraft und Zartheit, ein so echt raffaelischer nobler Ausdruck in den Köpfen, Nichts versüßlicht und verflaut, wie's die eleganten Franzosen zu machen pflegen, zum Beispiel Richomme, – so heißt ja wohl der Sünder – bei dem Triumph der Galatea: ich bekam einen ungeheuren Respect vor ihm und drückte ihm ohne viel Geschwätz die Hand. Immer wieder bewunderte ich die Freiheit und Zartheit, die Farbigkeit der Taillen und kam nicht los von dem Blatt, das Einzige, was einen wirklichen Künstler freut, daß man nämlich seine Arbeit studirt, statt nach einem flüchtigen Anstarren ihr mit enthusiastischen Komplimenten den Rücken zu wenden.
Nun erinnern Sie sich vielleicht: unten, zu Füßen der auf Wolken thronenden Madonna, steht ein kleiner Engel, der ein Täfelchen hält und zu ihr hinaufschaut. An den kam ich bei meinem Studium zuletzt, und es fiel mir auf, wie weit seine großen Augen auseinanderstanden. Da ich nun gewohnt bin, Nichts, was mir durch den Kopf fährt, bei mir zu behalten, platzte ich damit heraus: Curios, was dieser Raffael manchmal sich erlaubt hat! Bei jedem Anderen würde man hier von einer Verzeichnung reden, denn das rechte Auge des Putto steht um zwei Linien weiter als das andere von der Nasenwurzel ab. Du hast aber ganz recht gethan, das nicht zu corrigiren, wie alle deine Collegen mit dem Geigenspieler im Palazzo Sciarra sich's erlaubt haben. Es ist ein Trost für uns arme Pfuscher, daß auch den größten Meistern zuweilen etwas Menschliches begegnen konnte.
Kaum war mir das Wort entschlüpft, so bereute ich es, denn ich sah, wie mein Marcanton sich plötzlich verfärbte. Er schob mich ohne Umstände von der Staffelei weg und trat dicht davor, bückte sich und bohrte seine etwas kurzsichtigen Augen wohl zehn Minuten lang in das Gesicht des Engels. Dann that er einen Schritt zurück und sagte langsam und mit etwas zitternder Stimme:
Wem hier etwas Menschliches begegnet ist, das ist nicht der große Meister, sondern sein kleiner Nachtreter gewesen. Im Original stehen die Augen ganz richtig. Nur ich – Gott weiß, welcher Teufel mich geblendet hat – auch auf meiner Zeichnung, denk' ich, ist Alles in Ordnung – nur hier – es ist, um mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen! – Er ging mit mühsamen Schritten nach der Mappe, in der er die Kreidezeichnung aufbewahrte. Sieh nur, sagte er, sie mir hinhaltend, hier ist Alles, wie es sein soll. Und auf dem Stich –
Er starrte wieder hin, seine Augen gingen von dem Stich zu der Zeichnung und wieder zurück, und so eine ganze Weile.
Ich war zu Tode erschrocken, da ich ihn ja kannte. Nun, sagte ich, und bemühte mich, ein Lachen hervorzubringen, das mir aber selbst nicht recht heiter klang, was ist denn dabei? Minima non curat prætor, das Blatt bleibt darum doch, was es ist, und wird dich auf einen Schlag berühmt machen. Und wenn du es gar so genau nimmst, du schauderhafter Tüftler, so kannst du's ja auf der Platte noch corrigiren. Die ganze Auflage wird doch noch nicht gedruckt sein.
Erst dreihundert sind abgezogen worden, sagte er, jetzt ganz ruhig, dann hat der Tölpel von Drucker die Platte zerbrochen. Der Verleger war nicht einmal unglücklich darüber. Jetzt könne er einen unsinnigen Preis für den einzelnen von den dreihundert Abdrücken machen. Aber du siehst, zu corrigiren ist da Nichts,
Er legte beide Blätter in die Mappe und stellte sie gegen die Wand. Dann ließ er sich wie in tödtlicher Erschöpfung auf einen Stuhl sinken. Kein Wunder. Die Arbeit von drei langen Jahren! Ich warf mir im Stillen einen Esel nach dem anderen an den Kopf.
Hat das noch irgend Jemand außer mir bemerkt? fragte ich endlich. Ich wette, Niemand sonst hat so verwünscht scharfe Augen. Was liegt also daran?
Was daran liegt? sagte er, wieder mit seiner gewöhnlichen Stimme. Wenn auch du es nicht gesehen hättest, nur ich selbst wäre früher oder später dahintergekommen – aber es ist überflüssig, weiter davon zu reden. Ich danke dir, Simson, ich danke dir aufrichtig. Besser, ich weiß gleich jetzt, woran ich bin, als wenn das Uebel nicht mehr zu verhüten wäre.
Nicht mehr zu verhüten? Aber du sagst ja selbst, die Platte –
Ja, die ist nun verloren. Aber, was ist da zu machen? Höre, mein Alter, es wäre mir lieb, wenn du mich jetzt allein ließest. Es ist mir denn doch ein bischen in die Glieder gefahren, und ich muß mit mir zu Rathe gehen, wie ich's am Besten überwinde.
Er streckte mir eine Hand hin, die ganz kalt war, stand auch nicht auf, mich hinauszubegleiten, was er sonst nie unterließ, und ich schlich wie ein armer Sünder, ein Brandstifter, der eben ein schönes neugebautes Haus angezündet hat, aus dem Atelier. Ich hätte mich prügeln mögen. Die ganze Nacht that ich kein Auge zu.
Am anderen Morgen in aller Frühe klopfte ich wieder an seine Thür. Er war schon ausgegangen. Den ganzen Tag kriegte ich ihn nicht zu sehen.
Erst am Tage darauf. Da trat er bei mir ein mit einem zwar nicht heiteren, aber ganz gelassenen Gesicht und erzählte mir, was er inzwischen gethan hatte. Werden Sie's glauben? Jene dreihundert Blätter – nur wenige waren schon in die Welt gegangen – hatte er für sein hohes Honorar zurückgekauft und obenein noch eine riesige Summe, die er mir nicht nennen wollte, als Reugeld oder Entschädigung für den muthmaßlichen Gewinn dem Verleger ausgezahlt, so was wie den vierten Theil seines Vermögens. Dann hatte er sich den ganzen schweren Pack in seine Wohnung tragen lassen und in der Nacht ein Autodafé angestellt, dem kein einziges Blatt entrinnen durfte.
Es überlief mich kalt, wie er mir das so gemächlich mittheilte, als wenn er einen Haufen alter Zeitungen verbrannt hätte.
Nun ist mir wieder ganz leicht, mein Alter, sagte er, und ein rührendes Lächeln, wie nur ein Heiliger oder Verrückter lächeln kann, glänzte auf seinem Gesicht. Das Unheil ist aus der Welt geschafft, kein Flecken mehr auf meiner Künstlerehre, und die paar verkauften Abdrücke werde ich mit List oder Gewalt auch noch zurückzuholen wissen. Sprechen wir nicht mehr davon! Ich hätte Lust, einen Spaziergang nach Großhesselohe zu machen, mein Kopf ist ein bischen wüst, die frische Luft wird mir gut thun.
*
Da haben Sie diesen wunderlichen Heiligen in Lebensgröße, sagte der Maler und stand auf. Seitdem hat er nichts Großes mehr unternommen, aber ich rechne sicher darauf, daß er als Ehemann zur Raison kommen wird. Wer nur für sich allein zu sorgen hat, mag immerhin so kostspielige Späße treiben; selbst ein bischen Hungern thut dann nicht so weh. Aber ein Hausvater – Sie werden sehen, sein Philippinchen bringt ihn im Umsehen unter den Pantoffel und nimmt den Schlüssel zum Geldkasten in Verwahrung. Da darf die Arbeit von drei Jahren nicht mehr in Rauch aufgehen.
Wir trennten uns droben vor seinem Zimmer. Er öffnete sacht die Thür, steckte den Kopf hinein und nickte mir dann noch eine gute Nacht zu. Er schläft wirklich schon den Schlaf des Gerechten, flüsterte er. Kein Wunder, nach den Strapazen, die er wegen des Steinchens im Schuh ausgestanden hat!
Auch mich hatte der Tag, obwohl der Schuh mich nicht gedrückt, müde gemacht. So schlief ich ziemlich lang in den Morgen hinein, und als ich dann in die Gaststube hinunterkam, fand ich die beiden Künstler nicht mehr vor. Sie waren schon vor zwei Stunden aufgebrochen, die Kellnerin übergab mir ein Blatt, das aus einem Skizzenbuch ausgerissen war; Simson hatte mit raschen Strichen sich selbst und den Freund drollig carikirend darauf hingezeichnet und darunter geschrieben: Einen guten Morgen wünschen der Holzknecht und die Prinzessin auf Erbsen.
Bald nach ihnen kam auch ich in der Stadt wieder an. Ich hatte mir vorgenommen, der Einladung des Malers, ihn in seinem Atelier zu besuchen, bald zu folgen. Doch über eine Woche verging, ehe ich mich dazu anschickte, und dann kam er selbst mir zuvor, indem er eines Nachmittags bei mir eintrat.
Beim ersten Anblick hatte ich Mühe, ein helles Lachen zu unterdrücken. Er trug einen ganz neuen schwarzen Anzug, der ihm drollig genug zu Gesicht stand: einen Bratenrock, weit ausgeschnittene Weste, Beinkleider, die um seine mächtigen Kniee ungeschickte Falten schlugen, und lackirte Stiefel an den großen Füßen. Nur das noch ungestutzte Haar und der flatternde Bart erinnerten an den früheren Waldteufel. Aber Simson als geschniegelten Spießbürger zu sehen – es war unglaublich komisch.
Die Lachlust verging mir jedoch, als ich sein ganz verstörtes Gesicht bemerkte. Was in aller Welt ist Ihnen zugestoßen, rief ich, daß Sie so eine Trauermiene machen? Und auch Ihr feierlicher Anzug – kommen Sie etwa von einem Begräbniß?
O, sagte er und zog die starken Brauen zusammen, es läuft so ziemlich auf dasselbe hinaus. Einen, der mir sehr nahe stand, habe ich aus der Liste der Lebendigen streichen müssen, wer weiß, ob nicht für immer. Und um so eine elende Bagatelle! 's ist zum Teufelholen! Geben Sie mir eine Cigarre und ein Glas Wasser, wenn ich bitten darf. Ich bin innerlich wie ausgebrannt, so hat es in mir gekocht vor Grimm und Aerger!
Er warf sich auf das Sopha und athmete schwer, seinen Bart mit den großen Fingern zerzausend. Erst nachdem er ein paar Züge aus der Cigarre gethan und ein Glas Wasser hinuntergestürzt hatte, war er so weit wieder beruhigt, daß er zu sprechen vermochte.
Was werden Sie sagen! knurrte er und rollte finster die Augen. Was ich heute erlebt habe, würde kaum das Gehirn eines Tollhäuslers ausbrüten. Denken Sie, ich stehe ganz gemüthlich in meinem Atelier – heut Vormittag so gegen Zwölf – der Schneider hatte mir eben meine Hochzeitstoilette gebracht, diese hier, und ich hatte die niederträchtige Philister-Uniform anprobirt, in der ich mir vorkam wie ein Schuster am Feiertag, da kommt unser Bräutigam herein – übermorgen sollte die Hochzeit sein – und ohne mich vom Spiegel nach ihm umzudrehen, sage ich: du kommst gerade recht, Alter, dein Urtheil abzugeben, ob ich mich wirklich in diesem Leichenbitteraufzug an deinen Hochzeitstisch setzen kann, ohne daß dein Schampus vor Schrecken umsteht und das Moussiren verlernt! Hättest du nur meinen Vorschlag angenommen und das Beilager im Gebirg gehalten, da könnte man doch in der malerischen Landestracht –
Aber weiter kam ich nicht. Denn jetzt drehte ich mich nach ihm um und erschrak, wie ich sein ganz fahles, ja wirklich ins Grünliche spielende Gesicht sah. Himmelherrgottsacra! entfuhr mir. Was ist denn geschehen? Wieder ein Steinchen im Schuh, das dir wie ein erratischer Block vorkommt?
Er sah still zum Fenster hinaus, hustete verlegen, und erst nach einer Weile sagte er ganz leise: Ich komme nur, um dir mitzutheilen, daß die Hochzeit nicht stattfinden wird.
Nun wissen Sie ja, er hat mich schon manche Tollheit erleben lassen, das aber ging mir denn doch über die Hutschnur.
Ich starrte ihn sprachlos an, immer noch in der Hoffnung, es handle sich etwa um einen Aufschub, ein Sandkorn sei ihm in den Weg gerollt, über das sein hypertrophisches Gewissen sich nicht hinwegsetzen könne. Aber nein, es war weit schlimmer. Hören Sie nur!
Er könne das Mädchen nicht zu seiner Frau machen, erklärte er. Es würde sein und ihr Unglück sein. Denn jetzt müsse er mir sagen, weshalb er's immer hintertrieben habe, daß ich sie zu sehen bekäme vor der Hochzeit. Sie habe etwas im Gesicht, was ihn beständig irritire, wenn es auch anderen Menschen ganz geringfügig erscheinen möchte. Auch er habe Anfangs sich Nichts daraus gemacht. Sie sei sonst in Allem ein so vorzügliches Wesen, viel zu gut für ihn, ja der Beste sei eben nur gut genug für sie, aber dies Eine – nein, es gehe nicht. Es sei wie eine Behexung, daß er, wenn er bei ihr sei, immer nur darauf hinstieren müsse, bis ihm alle Nerven in Aufruhr kämen, und das ein Leben lang auszuhalten, fühle er nicht die Kraft. Lieber gleich verzichten, so weh es auch thue, so bitter es ihm auch sei, diesem Engel sein Wort nicht halten zu können.
Damit sank er auf meinen Divan nieder und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
Ich war wüthend. Mir ahnte gleich, daß sich's um eine lächerliche Schrulle handelte, für die man ihn hätte mit kalten Douchen behandeln müssen, bis man ihn vor den Traualtar geschleppt hätte. Aber ich hielt an mich und sagte ganz höflich: Willst du vielleicht endlich die Güte haben, mir dies ganz neue Ehehinderniß mitzutheilen?
Da kam es denn heraus – nein, Sie würden's in hundert Jahren nicht errathen: das gute Mädel hatte, da's noch in die Schule ging, von einer Kameradin einen Stich mit einer Scheere bekommen, der in das rechte Nasenloch fuhr und den feinen Nasenflügel aufschlitzte. Das war damals von einem ungeschickten Chirurgen schlecht geflickt worden, so daß noch jetzt eine rothe Narbe das Näschen schimpfirte, nur von der einen Seite sichtbar, und darum hatte ich auf der Photographie, die nur das linke Profil zeigte, Nichts davon sehen können. Es sei herzbrechend, betheuerte er, ein so holdseliges Gesicht für immer entstellt zu sehen, Andere würden sich auch vielleicht daran gewöhnen können, er aber – wie gesagt, er könne nicht darüber hinaus. Mitten in seiner Verliebtheit, wenn sie so recht lieb und unschuldig ihn anlache, müsse er immer die böse Stelle anschauen, und es sei dann, als streiche ihm eine kalte Hand übers Herz, daß alle Zärtlichkeit darin erstarre. Wenn er von ihr träume, erscheine sie ihm immer verzerrt, mit einer riesigen flammenrothen Narbe über die ganze rechte Wange; er wache dann in Schweiß gebadet auf, und darum sei er endlich zu dem Entschluß gelangt, und so weiter –
Zum Binden toll, nicht wahr?
Ich blieb auch lange sprachlos. Wie kann man einem Unzurechnungsfähigen Vernunft predigen wollen! Aber in diesem Augenblicke haßte ich ihn förmlich, oder vielmehr, mir graute vor ihm, und ich begriff nicht, daß ich so viele Jahre gute Freundschaft mit ihm gehalten hatte.
Du Ungeheuer! brachte ich endlich hervor. Du Unmensch! Hast du wirklich kein anderes Gewissen als in den Augen? Kannst du es verantworten, das gute Kind zwei Tage vor der Hochzeit sitzen zu lassen, daß sie sich die Augen ausweint und sich in den Grundserdboden hineinschämt, mit einem so schurkischen Narren sich jemals eingelassen zu haben? Du verdienst ja –
Na, und was ich ihm in meiner Wuth sonst noch alles an den Kopf warf.
Er blieb aber ganz ruhig.
Schimpf nur zu, sagte er, mit einer so traurigen Stimme, daß er meinen Zorn fast entwaffnete, du hast in Allem Recht, aber Niemand kann aus seiner Haut. Ich weiß, daß ich dir und allen guten Menschen als eine moralische Mißgeburt erscheinen muß. Aber sage selbst, würde ich, so wie ich nun einmal bin, diesen Engel von einem Weibe glücklich machen können? Ist es nicht besser, ich bleibe für mich allein, wo ich doch nur mir selbst zur Last falle, als daß ich ein unschuldiges Wesen an mich kette, das vielleicht am Ende ins Wasser spränge, um nur nicht in einem Bett mit einem Wahnsinnigen schlafen zu müssen? Jetzt ist noch Zeit, das Aergste zu verhüten. Und sie ist eine so gesunde Natur, sie wird es bald verwinden, zumal ich überzeugt bin, sie hat mich nicht halb so lieb, wie ich sie. Und die Eltern –
Nun sagte er mir, was er gethan hatte, um in deren Augen wenigstens halbwegs als ein honetter Mensch dazustehen. Den wahren Grund hatte er ihnen freilich nicht verrathen, den würden sie nicht verstanden und nur geglaubt haben, er suche nach einem Vorwand, zurückzutreten, und der unwahrscheinlichste erste beste sei ihm gut genug für sie. Er hatte ihnen bloß geschrieben, er fühle, daß er ihrer Tochter nicht werth sei, er sei ein kranker Mensch und könne es nicht verantworten, unschuldigen Kindern sein ungesundes Blut zu vererben. Sie möchten ihm verzeihen, er nehme alle Schuld auf sich und ermächtige sie, dies all ihren Bekannten zu erklären. Und zum Schluß theilte er ihnen mit, daß er die Hälfte seines Vermögens bei seinem Notar deponirt habe nebst der Schenkungsurkunde für seine geliebte Philippine.
Diesen Brief hast du hoffentlich nicht abgeschickt? fragte ich.
Vor einer Stunde hat ihn ein Dienstmann zu den guten Leuten gebracht, sagte er. Ich habe dann nur noch meinen Koffer zugeschlossen, da ich von dir aus zur Bahn gehe. Ich weiß noch nicht, wohin ich mich zunächst wende. Sobald ich mich irgendwo fest angesiedelt habe, schreibe ich dir's, und du bist dann so gut und packst all meine Siebensachen zusammen und schickst sie mir nach. Habe Dank für diesen letzten Freundschaftsdienst wie für alle früheren. Und jetzt – lebe wohl! Gott helfe mir, ich kann nicht anders.
*
Sie können sich denken, in welcher Stimmung ich zurückblieb.
Ein paar Stunden lang zermarterte ich mir das Gehirn, etwas zu ersinnen, was doch noch Alles zu einem guten Ende führen möchte. Ich vergaß darüber das Mittagessen, sogar die schnöde Verkleidung, in der ich mich noch immer befand und die jetzt ein trauriger Hohn auf die veränderten Umstände war. Zuletzt entschloß ich mich, der verlassenen Braut eine Visite zu machen, um zu sehen, wie die Familie die Nachricht aufgenommen hatte.
Ich fand die wackeren Alten, zumal den Papa, in einer Art Betäubung, wie nach einem Elementarereigniß, für das kein Mensch kann. Nur die Mutter ließ zuweilen ein Wort hören, das nach einer Anklage und innerer Empörung klang, aber auch nur wie man mit seinem lieben Herrgott grollt, wenn einem die Ernte verhagelt ist. Der Vater schüttelte nur beständig den grauen Kopf. Also krank sei der arme junge Mann? Ob ich etwas Näheres darüber wisse. Er habe freilich zuweilen ein Gesicht gemacht, wie sonst ein glücklicher Bräutigam nicht zu machen pflege. Am Ende gar – und er deutete nach der Stirn. Dann sei es freilich besser – denn so was auf Kinder zu übertragen –! Nur sein Mädel thue ihm leid. So ein braves, liebes Kind, das ihnen nie eine böse Stunde gemacht habe –
Hier brach die Mutter in Thränen aus und verwünschte die Stunde, wo der leichtsinnige Mensch ins Haus gekommen. Der Vater aber nahm ihn sofort in Schutz. Leichtsinnig? wenn er auf sein Glück verzichte, um sie nicht unglücklich zu machen? Und sei es nicht sehr nobel von ihm, das Angebot seines halben Vermögens? Natürlich könne das nicht angenommen werden, sie seien nur einfache Bürgersleute, aber aus dem Unglück ihres Kindes ein Geschäft zu machen – nie und nimmermehr!
Die Mutter schien nicht ganz diese vornehme Gesinnung zu theilen, wenigstens murmelte sie so etwas von gerechter Buße und Schmerzensgeld, worauf der kleine dicke Gatte eben in geärgertem Ton erwidern wollte, als die Thür sich öffnete und die Tochter eintrat. Sie hatte den Brief des Flüchtlings augenscheinlich eben wieder gelesen, wer weiß zum wievielten Mal, denn sie trug ihn noch in der Hand, und ihre vom Weinen gerötheten Augen thauten noch immer sacht über. Ich nannte meinen Namen und stammelte ein paar unbeholfene Worte. Sie nickte und verneigt sich leicht, setzte sich dann und bat mich, auch Platz zu nehmen, und dann erzählte sie mir mit einer rührend weichen Stimme, wie eine kranke Nachtigall, sie habe längst bemerkt, daß Etwas in ihm vorgehe, was ihn traurig und unruhig mache; auf ihre besorgten Fragen habe er aber nie geantwortet. Das freilich, was jetzt eingetreten, habe sie nie für möglich gehalten, und doch, sie begreife es, bei seinem edlen Charakter, sie könne ihm nicht gram sein, so weh es ihr thue, sie wünsche nur eins, daß er noch einen Arzt finde, der ihn zu heilen im Stande wäre, wenn auch sie selbst –
Da konnte sie nicht weiter, weil die Thränen ihr zu heftig aus den Augen brachen.
Gutes, holdes Herz! dacht' ich, wenn du dieser Arzt nicht hast sein können – wo soll er zu finden sein? Denn daß ich's Ihnen nur gestehe, ich begriff, wie er sich in dies Mädel Hals über Kopf hatte verlieben können, aber nicht, wie dieser kleine Fehler – denn das hübsche Näschen war freilich nur von links gesehen photographirbar; aber führt man denn nicht seine Frau am rechten Arm spazieren? Der unselige Narr! Wo mag er jetzt in der öden Fremde herumfahren und an seinem Herzen den Wurm nagen fühlen! Sie werden es etwas pharisäisch finden, daß ich das Haus der entlobten Braut mit dem Stoßseufzer verließ: Gott sei Dank, daß ich nicht zu dem erbsenspürenden Adel der Menschheit gehöre, sondern eine grobe Durchschnittshaut habe! Denn man brauchte mir nicht lange zuzureden, so nähme ich, trotz meiner Ehescheu, das verlassene Mädel in die Arme und drückte ihr einen derben Kuß auf den geschlitzten Nasenflügel – wenn sie mich notabene haben wollte.
*
Ob es hierzu im Laufe der Zeit noch gekommen ist, habe ich leider nicht erfahren, da ich die Spur des großen Simson verlor, der einen Ruf nach einer entfernten Akademie als Lehrer der Landschaftsmalerei annahm.
Von Marcanton hörte ich nur noch ein einziges Mal, Er hatte sich in einem kleinen holländischen Nest versteckt und einige Jahre dort fleißig radirt, vor seinem frühen Tode aber seine sämmtlichen Arbeiten der Madonna di Fuligno nachgeschickt.