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(1912)
Als der Medizinalrath eines Abends etwas früher als gewöhnlich bei seiner alten Freundin eintrat, fand er sie nicht wie sonst seiner harrend an dem kleinen Theetisch, ihre Häkelarbeit in den Händen. Das Wasser in dem silbernen Kesselchen brodelte und summte bereits, ohne daß sie darauf achtete, denn sie saß, den Rücken ihrem Gast zugekehrt, vor ihrem altmodischen Schreibsekretär aus Mahagoni, auf dessen zurückgeschlagener Platte ein Blechkasten stand voller Papiere und mit seidenen Bändern zusammengebundener Briefpackete. Einen dieser Briefe in Octavformat, mit einer flüchtigen vergilbten Schrift beschrieben, hatte die kleine Frau soeben gelesen und war im Begriff, ihn in die Kassette zurückzulegen, als sie hinter sich sagen hörte: Guten Abend, liebe Freundin! Lassen Sie sich nicht stören. Ich setze mich still auf meinen angestammten Platz und zünde mir inzwischen meine Cigarre an.
Die Professorin war aufgestanden, hatte sich zerstreut nickend zu dem alten Freunde umgewendet und sagte mit einem leichten Seufzer: Sie treffen mich in einer trüben Stimmung, theurer Freund. Alte Zeiten sind mir wieder aufgelebt, da ich in diesem Kasten etwas suchte, was ich nicht fand, und dafür fand, was ich nicht suchte, einen Brief, der sehr schmerzliche Erinnerungen geweckt hat. Und doch – auf diesem Blatt wie aus vielen andern der alten Tage weht mich ein Hauch jenes Idealismus an, dessen Schwinden Sie unsrer Zeit immer vorwerfen. In den sechsundzwanzig Jahren, seit die Geschichte, die dieser Brief erzählt, sich zugetragen, hat sich gewiß Vieles in unsrer Sitte und Gesinnung zum Schlimmeren geändert. Das Streben nach Erwerb und Genuß hat viele edleren Triebe in der Volksseele erstickt. Aber in dem, was das Mächtigste in dieser wunderlichen Welt ist, in der Liebe, hat sich Nichts verändert, trotz alles Wechsels der Kultur; die ist so blind und zugleich hellsichtig geblieben und so eigensinnig auf das Durchsetzen ihres Willens bedacht, wie je. Kommt einem doch keine Zeitung in die Hand, in der nicht eine oder ein paar »Liebestragödien« berichtet würden.
Gewiß, versetzte der alte Herr; meist aber bestätigen solche Fälle meine Meinung. Die Menschen verachten das Leben, das ihnen schwere Pflichten auferlegt, und werfen es lieber weg, als daß sie auf irgend einen Genuß verzichteten. Wie selten findet sich heute noch die reine ideale Wertherstimmung!
Das bestreite ich nicht, lieber Freund, sagte die Professorin. Es giebt aber keine Statistik, die nachwiese, wann dies Ergreifen der Ultima ratio, wie Sie's einmal genannt haben, durch feige Schwäche oder durch ein unheilbares Leiden, ein körperliches oder seelisches, verursacht wird; und wie Niemand, der diesen Brief gelesen und die Umstände, unter denen er geschrieben wurde, erfahren hat, sich eines tragischen Mitgefühls wird erwehren können, so wird es sicherlich auch heute nicht an Menschen fehlen, die, wenn sie das ersehnte Beste nicht erlangen können, alle Surrogate verschmähen. Aber ich schwatze, statt Ihnen Ihren Thee zu geben, und das Wasser im Kessel mahnt mich schon lange an meine Pflicht.
Sie ging nach dem Theetisch und begann ihr hausfrauliches Geschäft, während er sich in dem Sessel gegenüber niederließ und eine Cigarre aus seinem alten abgegriffenen Etui zog. Er trug nie ein andres bei sich, weil die Freundin ihm dies vor zwölf Jahren geschenkt hatte. Dann war wohl zehn Minuten lang eine Stille zwischen ihnen.
Endlich, nachdem sie die Tasse vor ihn hingestellt und selbst den Zucker hineingethan hatte, sagte er: Der Brief, den Sie lasen, als ich eintrat, war von einer Freundin?
Das wäre mir die Schreiberin wohl geworden, wenn wir länger beisammen geblieben wären. Denn gleich in der ersten Stunde unsrer Bekanntschaft gewann ich sie lieb, und das verstärkte sich bei jedem Wiederbegegnen. Doch, wie gesagt, wir wurden zu bald getrennt, so kam es nicht einmal zum Du zwischen uns und blieb bei einem herzlich sympathischen Verhältniß wie zwischen Ungleichaltrigen. Ich war zweiundvierzig Jahre alt, sie sechsundzwanzig, und sie nannte mich auch scherzweise ihr »Mütterchen«. Doch dergleichen war mir ja nicht neu. Ich habe, wie Sie wissen, von jeher die allerdings verantwortungsvolle Ehre gehabt, das Vertrauen junger Mädchen zu genießen. Du bist die geborene Beichtmutter, neckte mich mein Mann. Mit all ihren kleinen und großen Herzenswünschen kommen sie zu mir und sind überzeugt, ich würde rathen und helfen können. Als ob ich eine sehr bewegte Vergangenheit hinter mir hätte und große Erfahrung in Liebessachen, da ich doch wohl hoffen darf, für eine anständige Frau zu gelten.
Gewiß, liebste Freundin, warf der alte Herr lächelnd ein, aber auch für eine sehr gütige, und übrigens weiß Jeder, der Sie kennt, daß Sie kein Philister sind.
Ja, aber trotz alledem ist ein solches Seelsorgeramt eine verzweifelt schwere Sache, zumal die Meisten, die Rath brauchen, nur überhaupt ihr Herz zu erleichtern wünschen, übrigens aber schon genau wissen, was sie zu thun gedenken. Rathe mir gut, doch rathe nicht ab! und sie haben auch Recht. Am Ende weiß Niemand genau, was ein Andrer braucht, um nach seiner Façon selig oder unselig zu werden, wenn er auch des wirklich rechten Weges in seinem dunklen Drange sich nicht bewußt sein mag. Jenes liebe Mädchen zum Beispiel, wenn ich Ihnen mehr von ihr erzählen soll – aber Sie müssen keine ungewöhnliche Geschichte erwarten, vielmehr eine jener alten, die ewig neu sind – – so neu und so alt wie das ewig wahre Goethische Wort: Wer sich der Liebe ergab, hält er das Leben zu Rath?
Nun, wie gesagt, es liegt ein Menschenalter zurück. Wir verlebten den Sommer in den bayerischen Vorbergen, da mein Mann infolge von Überarbeitung sich in einem neurasthenischen Zustand befand und seine Vorlesung für das Sommersemester hatte aussetzen müssen. Eine Münchner Freundin hatte uns eine Wohnung besorgt in Miesbach, einem Marktflecken an der Bahn nach Schliersee. Der Ort hat keine besonderen Reize, vielmehr sind die unansehnlichen Häuser so nebeneinander gestellt, als ob man absichtlich jede gefällige Gruppierung hätte vermeiden wollen. Aber die Umgegend, wenn auch ohne die »romantischen« Prospecte des Hochgebirges, ist in ihrem bescheidenen idyllischen Charakter sehr anziehend. Nach gewissen Waldspaziergängen unter herrlichen Bäumen und den Hügelwegen nach der Tegernseer Seite habe ich noch heut an heißen Sommertagen ein lebhaftes Heimweh.
Auch nach dem Hause und Garten, wo wir uns eingemiethet hatten.
Es lag oberhalb des Orts, fern von dem großen Gasthof und dem Marktgetriebe auf dem Platz davor, in einer grünen Abgeschiedenheit, wo die Nerven meines Mannes die beste Erholung finden konnten. Im Erdgeschoß wohnte die Besitzerin, die Wittwe des Notars mit drei liebenswürdigen Töchtern, im oberen Stock wir mit unserm achtjährigen Luischen, da wir unsern Primaner und Untersekundaner vom Gymnasium nicht hatten fortnehmen können und sie erst in den Ferien erwarteten. Da führten wir das friedlichste Leben, mit allerlei Lectüre nichtjuristischen Inhalts, die ich endlich einmal mit meinem Mann zusammen genießen konnte, wie er denn auch zur Musik einmal wieder Zeit fand. Er hatte sein Klavierspiel trotz großer Neigung dazu nicht sehr weit gebracht und wagte sich nur an Adagios. Aber zu den Lectionen, die er unserm Kinde gab, und zum Accompagnieren unsrer Volksliedchen reichte seine Kunst aus, und wir hatten unendliches Vergnügen an unsern abendlichen Hauskoncerten, wenn wir vom weiten Herumschweifen heimkehrten. So kam es, daß wir auch andern Verkehr nicht entbehrten und mit keinem der Nachbarn Bekanntschaft machten.
Hinter dem Hause ging es über eine kleine Wiese und dann bergan, durch Buschwerk und Gehölz, zu ein paar Gehöften, die auf der Höhe lagen, und einem etwas stattlicheren Landhaus, das der Besitzer an Münchner Familien zur Sommerfrische vermiethete. Von den damaligen Bewohnern wußten wir nur, daß es ein freiherrliches Ehepaar war mit einer Nichte, die seit einigen Jahren in dem verwandten Hause lebte, da sie ihre Eltern verloren hatte.
Dies Fräulein, das nicht mehr in der ersten Jugend stand, war mir wegen seiner Schönheit und des ernsten Blicks seiner schwarzen Augen schon öfters aufgefallen, wenn sie mit der Tante frühmorgens an unserm Hause vorüber zur Messe ging oder unten im Ort ihre Verwandten begleitete.
Ihr Gesicht mit dem reichen blauschwarzen Haar hatte einen südlichen Schnitt, sie stammte ja aus Welschtirol; ihr Vater, ein Herr von Planta, saß auf einem alten Schlößchen zwischen Meran und Lana, und dort hatte der Münchner Freiherr die Schwester der Frau von Planta kennen gelernt und als seine Gattin nach München geführt. Auch diese Frau mußte in ihrer Jugend schön gewesen sein. Aber ein Ausdruck von Härte und Verbitterung unterdrückte die Spuren davon, und auch die Züge ihres Gatten waren so kalt und steinern, daß man das junge Wesen beklagen mußte, das beständig unter diesen Augen lebte.
All das erfuhren wir durch die Notarin. Bis es sich einmal fügte, daß es zu einer persönlichen Annäherung kam, wenigstens mit dem Fräulein, das den wohlklingenden Namen Olivia oder Olive von Planta führte.
Es war unten im Ort. Ich kam gegen Mittag von einem weiten Streifzug zurück, auf dem mein Kind mich begleitet hatte. Da sahen wir die junge Dame uns entgegenkommen, ohne die Gesellschaft der Ihrigen.
Sie ging, wie gewöhnlich, ohne Hut, den Kopf nur durch einen rothen Sonnenschirm gegen die Strahlen der Mittagssonne geschützt. Ein leichtes grünliches Kleid umgab ihre schlanke, doch volle Gestalt, die schönen, nicht ganz kleinen Hände waren ohne Handschuhe und gleich den Wangen von einer sanften elfenbeinernen Blässe.
Luischen, die von mir den Sinn für schöne Menschen überkommen hatte, stieß mich an, als sie die feine Gestalt sich nähern sah, und blieb stehen, sie mit Muße zu betrachten. Als sie das Fräulein dicht bei uns sah, nickte sie ihr zu, was die Andre lächelnd erwiederte. Dann blieb auch sie stehen und wandte sich freundlich zu uns, dem Kinde die Hand bietend und nach seinem Namen fragend. Sie sagte mir dann auf Französisch ein paar Worte, wie hübsch sie die Kleine finde und wie sie ihr schon früher aufgefallen sei. Dann fuhr sie auf Deutsch fort, ob ich ihr wohl erlaube, eine kleine Porträtskizze von meinem Töchterchen zu machen. Sie sei keine Malerin, habe auch nur wenig Zeichenunterricht gehabt, es mache ihr aber Vergnügen, die Gesichter von Menschen, die ihr gefielen, in ihrem Skizzenbuch zu verewigen. Es dauert nicht lange und thut nicht weh, sagte sie lächelnd zu dem Kinde, indem sie ihr das Haar streichelte. Willst du also kommen, wenn Mama es erlaubt? Du weißt ja, wo ich wohne, im Haus droben auf dem Berge.
Natürlich erlaubte ich's, und das Luischen strahlte vor Vergnügen, nun zu der schönen Dame gehen zu dürfen. So trennten wir uns diesmal rasch, und am nächsten Tage fand die Sitzung statt, von der meine Kleine hochbeglückt zu mir zurückkehrte. Sie konnte nicht genug erzählen, wie schön Alles gewesen war, wie rasch die gute Tante das Bild gezeichnet und ihr dabei so viel erzählt habe von dem Lande über den Bergen drüben und den Lauben, die voll Trauben hingen, und den süßen Feigen und Granaten und Erdbeerbäumen, und dann habe sie ihr zwei große Orangen geschenkt und eine Schachtel voll Chocolade. Auch die alte Dame sei einmal hereingekommen, habe sie allerlei gefragt, aber gar nicht freundlich ausgesehen. Tante Olive aber lasse mich grüßen und mir danken, daß ich ihr das kleine Fräulein – ja, so habe sie gesagt – hinaufgeschickt hätte.
So war denn das Eis gebrochen, und schon am nächsten Tage folgte die Fortsetzung.
Wir trafen uns wieder unten im Ort, diesmal aber holte sie mich ein, da wir denselben Weg hatten. Das Luischen war zu Hause geblieben, seine Klavierstunde beim Papa zu nehmen, also brauchte Fräulein Olive mir nicht wieder auf Französisch zu sagen, wie liebenswürdig sie das Kind gefunden habe und wie sie überzeugt sei, es werde eine Schönheit werden. Nun, diese Prophezeiung ist nicht in Erfüllung gegangen, aber mit der Liebenswürdigkeit hat es, wie Sie ja bestätigen können, seine Richtigkeit behalten.
Wir kamen nun gleich in ein so vertrautes Geplauder, als ob wir alte Bekannte gewesen wären. Ich konnte mich nicht enthalten, ihr mein Bedauern auszusprechen, daß ich sie in keiner andern Gesellschaft sähe, als der ihrer alten Angehörigen, die beide kränklich oder von irgend einem Kummer bedrückt zu sein schienen. Da erlebte ich gleich wieder meine alte Bestimmung zur Beichtmutter.
Die Augen gingen dem armen, holden Geschöpf über, als sie mir ohne Zögern gestand, wie richtig ich ihre Lage beurtheilt hätte, wie das Leben im Hause ihrer Verwandten schwer auf ihr laste, da sie auch bei der Tante, der Schwester ihrer verstorbenen Mutter, kein Verständniß für all das fände, was ihrem Herzen ein Bedürfniß sei. Diese sei selbst freudlos, seit sie die Hoffnung, Kinder zu bekommen, aufgegeben, und habe nur einen Halt gefunden in strengen Religionsübungen, während ihr Gemahl seinen Tag mit allerlei wunderlichen genealogischen Forschungen über tirolische und österreichische Familien ausfülle, da er selbst aus dem Salzburgischen stamme und seine Frau nur zufällig bei einer Reise nach Meran kennen gelernt habe. Ihre, der Olive, Eltern seien von ganz andrer Gemüthsart gewesen, der Vater leider verarmt, die Mutter vor drei Jahren bald nach ihrem Gatten gestorben, so daß es der verwaisten Tochter als eine Lebensrettung erschienen sei, im Hause des Onkels Aufnahme zu finden. Und doch – und hier konnte sie ihre Thränen kaum bezwingen –, mir wäre besser gewesen, als Magd in einem Bauernhause unterzukommen, als dies vornehm enge und dunkle Leben zu theilen, wo ich mir wie lebendig begraben vorkomme. Glauben Sie nicht, gnädige Frau, daß ich undankbar sei und verkenne, wie gut sie es mit mir meinen – auf ihre Art. Sie sorgen ja für mein Seelenheil, wenn sie mich täglich in die Kirche führen; und wenn sie mir eifrig zureden, diesen oder jenen Bewerber um meine Hand anzunehmen, gegen den ich eine tiefe Abneigung fühle, so haben sie nur mein vermeintliches Bestes im Auge. Und doch – lieber ginge ich betteln oder arbeitete im Tagelohn, als daß ich einem dieser Männer meine Hand gäbe, die ich nicht achten kann, noch weniger lieben. Sie glauben nicht, wie viel Geistes- und Herzensleere und Frivolität sich hinter guten Manieren verbirgt. Oh, verehrte Frau, was gäbe ich darum, daß ich eine bessere Erziehung gehabt, etwas gelernt hätte, womit ich jetzt mein Brod verdienen könnte! Ich weiß ja, meine Leute würden mich nie gutwillig fortlassen, aber bei Nacht und Nebel würde ich aus dem Hause fliehen, um irgendwo eine Stelle zu suchen, in irgend einem Gewerbe, als Schneiderin, Lehrerin, Kindergärtnerin, nur um auf eignen Füßen zu stehen und nicht meine Gesinnungen verläugnen zu müssen aus Rücksicht auf Die, bei denen ich das Gnadenbrod esse.
*
Wie schwer es war, auf diesen Herzenserguß etwas zu erwiedern, was nicht wie ein banaler, kaltherziger Trost klang, können Sie begreifen.
Zum Glück aber wurde ich dieser Verpflichtung überhoben, da wir während unsers Gesprächs zu einem Hause gelangt waren, das die Aufmerksamkeit meiner Begleiterin auf sich zog.
Nicht eigentlich das Haus, das so schmucklos und nüchtern dastand wie seine Nachbarn, nicht einmal einen Balkon hatte und über der Thür ein Schild trug mit der Inschrift »Schreinerei von Joseph Brandmeier«. Rechts und links standen ein paar magere, verstaubte Lindenbäume, dahinter breitete sich ein verwahrlostes Gärtchen aus. An einem offenen Fenster des Erdgeschosses aber, dessen Breite von der Tischlerwerkstatt eingenommen war, saß ein junger Mann, ganz in seine Arbeit vertieft, so daß er auch nicht aufsah, als wir auf der Straße ihm gegenüber stehen blieben.
Er mochte nicht älter als höchstens zwei- oder dreiundzwanzig sein, wenigstens hatte er über dem kräftigen rothen Munde nur ein zartes braunes Bärtchen und um das Kinn einen leichten Flaum. Das Gesicht unter dem dicken braunen Haarbusch war auffallend hübsch, die hellen Augen sehr ernsthaft, der Ausdruck der jugendlichen Züge wie von einem sinnigen Knaben, der mit einer Lieblingsarbeit beschäftigt ist. Um seine kräftigen Schultern hing ihm eine lose Jacke von grauer Leinwand, vorn offen, so daß der schlanke weiße Hals und der obere Theil der Brust frei blieben, da die heiße Sommerluft zum Fenster hereindrang. Tiefer in der Werkstatt sahen wir einen großen, grobknochigen Gesellen in Hemdärmeln an einem Brett hobeln, während ein Lehrbursche sich mit allerlei Geräth zu schaffen machte.
Der schöne junge Mensch am Fenster aber hatte ein schwarzes Kästchen vor sich stehen, offenbar nach einem Renaissancemuster geschnitzt, dem er mit einem Polierholz den letzten Glanz zu geben bemüht war. Es nahm sich sehr hübsch aus, wie sorgsam er jeder Falte des Schnitzwerks nachging und über der Arbeit Alles um sich her vergaß.
Es konnte mir nicht entgehen, daß er auf meine Begleiterin einen lebhaften Eindruck machte, und um ihr den Anblick länger zu gönnen, redete ich den jungen Künstler an, fragte, ob er die kleine Truhe selbst geschnitzt habe und überhaupt schon Meister des Handwerks sei.
Er sah zu uns auf, wie aus einem Traum aufgeweckt; ich bemerkte, daß ihm beim Anblick des schönen Fräuleins eine Röthe ins Gesicht stieg, auch zog er das Hemd über der Brust zusammen und strich sich mit der Hand das Haar von der Stirn. Dann, in ganz gewandten Worten, ohne mehr als einen leichten Anklang des Dialekts, gab er Bescheid: noch sei er nur Obergeselle, sein Vater sei vor Jahr und Tag gestorben, während er noch auf der Wanderschaft gewesen, zuletzt in Nürnberg, wo er im Germanischen Museum das schöne alte Kästchen gesehen habe, von dem dies eine Kopie sei, leider nicht wie das Original in Ebenholz, sondern nur in schwarzgebeiztem Holz, wodurch es nicht die letzte Feinheit bekommen habe. Immerhin freue es ihn, es gemacht zu haben; er sei überhaupt Kunsttischler, zu der schweren Schreinerarbeit reichten seine Kräfte nicht ganz aus, da er einen Schaden am Fuße habe. In seiner Knabenzeit sei ihm einmal ein schweres Brett daraufgefallen. Das kam so nach und nach heraus auf meine wiederholten Fragen, wobei er die Augen nur auf mich gerichtet hielt. Im Sprechen sah man seine blanken Zähne unter dem Bärtchen blitzen, was ihm sehr gut stand.
Ich wollte die Unterhaltung nun abbrechen, um ihn nicht länger zu stören, da sagte meine Begleiterin: Möchten Sie das Kästchen verkaufen, so wüßte ich Ihnen einen Abnehmer dafür. Mein Onkel, Baron Werdenfels, der oben in dem Hause auf dem Arzberg wohnt, ist in Verlegenheit, was er seiner Frau zum Geburtstag schenken soll. Ich glaube sicher, es würde ihm gefallen. Wenn Sie daher die Güte hätten, es ihm zur Ansicht hinaufzubringen –
Er besann sich einen Augenblick. Wir sahen, daß er mit sich kämpfte. Dann aber warf er das Haar zurück und sagte mit etwas stockender Stimme: Es ist mir nicht möglich, gnädiges Fräulein, Ihren Wunsch zu erfüllen. Ich kann eine Arbeit, die ich gemacht habe, nicht selbst zum Kauf anbieten und, wenn er nicht zu Stande kommt, sie wieder heimtragen. Der Herr Baron geht wohl einmal hier vorbei. Wenn er das Kästchen anzusehen wünscht, werde ich mir eine Ehre daraus machen, es ihm zu zeigen.
Die Reihe, zu erröthen, war nun an Fräulein Olive. Sie haben Recht, erwiederte sie kurz. Ich werde es meinem Onkel sagen. Adieu!
Sie wandte sich und ging weiter, und auch ich verabschiedete mich. Als ich sie eingeholt hatte, sagte ich: Er hat seinen Stolz, der junge Künstler. Das gefällt mir an ihm.
Mir auch, erwiederte sie.
Und wie gut er aussieht. Das wäre wieder ein Modell für Sie.
Sie zuckte die Achseln. Dann sprachen wir von andern Dingen.
*
Zwei Tage vergingen, ohne daß wir uns wiedersahen.
Am dritten Tage gegen Abend, als ich mich noch ein wenig für mich allein ergehen wollte – Luischen hatte Besuch von einer kleinen Spielgefährtin aus dem Orte –, stieg ich den Bergweg hinauf und dachte eben an das liebe Fräulein, das es mir sehr angethan hatte, als ich sie mir auf der halben Höhe entgegenkommen sah. Sie gestand mir mit herzlichem Ton, daß auch sie das Bedürfniß gefühlt habe, mich wiederzusehen. Sie sei nur eben nicht frei gewesen, da die Tante unpäßlich geworden und sie dann nicht losgelassen habe, um ihr aus einem geistlichen Buche vorzulesen.
So setzten wir uns wohlgemuth auf ein wackliges Bänkchen am Wege, und da ich merkte, daß sie allerlei auf dem Herzen hatte, fing ich gleich davon an, wie es mit der kleinen Truhe noch weitergegangen sei.
Sie wurde ein wenig roth. Alles sei ganz glatt gegangen, der Oheim habe gleich am andern Morgen sich nach der Schreinerwerkstatt aufgemacht, das kleine Werklein sehr nach seinem Geschmack und preiswürdig und auch an dem jungen Verfertiger Gefallen gefunden, so daß er ihn gebeten habe, doch einmal hinauszukommen, einen alten Schrank anzusehen, ob er ihn der Mühe einer Restaurierung noch werth halte. Er wolle ihm dann die Arbeit übertragen, da er das Alterthum dem Besitzer des Hauses abzukaufen und nach München mitzunehmen gedenke.
Der junge Herr Stephan – so heiße er – sei denn auch andern Tags herausgekommen, mit einiger Beschwerde, da der eine Fuß durch jenes Unglück des Knaben stark verkürzt geblieben, übrigens ganz frisch und rüstig, nur eben schweren Arbeiten nicht mehr gewachsen. Die an dem Schrank bestehe aber nur in der Ergänzung abgebrochenen Zierwerks und einer der gewundenen Säulchen, die den Giebelaufsatz tragen, und es sei dazu nicht einmal nöthig, das schwere Möbel in die Werkstatt hinunterzuschaffen, das Nöthige lasse sich leicht unten vorbereiten und droben an Ort und Stelle einsetzen.
Der Schrank steht in einem Garderobezimmer neben dem meinen, sagte Fräulein Olive. Es machte sich daher von selbst, daß ich mit ihm ins Gespräch kam, und auf meine Fragen nach seinem Leben und Treiben erzählte er mir unbefangen, daß er sich nicht sehr glücklich fühle, theils weil er aus seiner Wanderzeit an freiere Verhältnisse gewöhnt sei, vor Allem aber, weil in seinem Elternhause nun der Vater fehle, dessen zweite Frau aber, seine Stiefmutter, ihm unfreundlich gesinnt sei. Auch warte sie nur das Ende des Trauerjahrs ab, was in drei Wochen der Fall sein werde, um den bisherigen Obergesellen zu heirathen, der ihn geradezu hasse. Zwei junge Kinder seien auch noch im Haus, so daß seines Bleibens darin nicht länger sein könne.
Was er dann anzufangen gedenke?
Zunächst wolle er wieder nach Nürnberg gehen, wo ihm am wohlsten geworden sei. Selbständig ein Geschäft anzufangen, dazu fehlten ihm die Mittel. Das Haus unten sei mit Hypotheken belastet, das übrige Erbe mit andern Schulden, sein bischen Muttergut, auf das er Anspruch habe, werde ihm von der Stiefmutter vorenthalten, und er bringe es nicht übers Herz, mit ihr darum zu processieren. So werde er bei seinem Nürnberger Meister wieder eintreten und keine andern Freuden im Leben haben, als etwas zu arbeiten, was ihm wohlgefalle.
Nun wagte ich ihn zu necken, auch an den hübschen Nürnberger Mädchen werde er wohl Gefallen finden. Gewiß habe er etwas Liebes dort zurückgelassen.
Sie sind sehr im Irrthum, gnädiges Fräulein, erwiederte er und sah trübselig vor sich nieder. Ich habe nie mit Mädels etwas zu thun gehabt. Mit meinem Gebrechen hätt' ich auf Tanzböden und sonst unter flotten Gesellen eine traurige Figur gemacht, und bloß so aus Mitleiden geduldet zu werden, dazu war ich zu stolz. Glücklich zu werden ist eben nicht Jedermann bestimmt.
Das sagte der gute Mensch so entschieden, als ob er nie in einen Spiegel geschaut hätte.
Dann, nachdem er das auszubessernde Schnitzwerk in sein Buch abgezeichnet und das Maaß für das gewundene Säulchen genommen hatte, sah er zufällig durch die offene Thür in mein Zimmer hinein und erblickte das kleine Büchergestell, auf dem allerlei Bücher stehen, die ich mir für die Monate auf dem Lande mitgebracht hatte. Ob er sie ansehen dürfe? Er sei ein Büchernarr und habe von jeher alle freie Zeit aufs Lesen verwandt, zumal er nicht tanze und trinke, sagte er mit einem sehr hübschen Lächeln. Dann trat er herein, sah die Titel der Bücher durch, wobei herauskam, daß er von Schiller fast Alles gelesen hatte, und nahm zuletzt eine illustrierte Kunstgeschichte in die Hand, in die er sich förmlich vertiefte. Als ich ihm vorschlug, sie ihm zu leihen, glänzte sein Gesicht vor Freude. Er werde das Buch gewiß sauber halten und danke mir tausendmal. Er wisse schon viel von dieser Geschichte, doch nichts recht im Zusammenhang.
Dann kam die Tante herein, die er respectvoll begrüßte, doch keineswegs unterwürfig. Er fühlte sich doch immer als eine Art Künstler. Die Tante hatte ein strenges Gesicht aufgesetzt, nickte ihm herablassend zu, mir aber sagte sie auf Französisch, sie finde es sehr unpassend, daß der Tischlergesell in mein Zimmer gekommen sei. Ob der so viel Französisch verstand, weiß ich nicht, den Sinn der Worte mußte er jedenfalls der Tante an den unfreundlichen Augen ablesen, denn er empfahl sich sogleich, immer mit der freiesten Haltung und wie ein junger Mann, der stets in der besten Gesellschaft verkehrt hat. Er ist eben ein sehr eigner Mensch, wie es in seinem Stande gewiß nur wenige giebt.
*
Während sie mir das Alles erzählte, hatte ich beständig ihr Gesicht betrachtet, das ganz verändert schien gegen früher, – der etwas müde, gleichgültige Zug um den schönen Mund war verschwunden, die Augen hatten einen stillen Glanz bekommen, das ganze liebe Wesen war verjüngt. All das gab mir zu denken.
Nehmen Sie sich nur in Acht, liebes Fräulein, sagt ich scherzend, da wir aufstanden, Jedes zu den Seinigen zurückzukehren, die Sache ist gefährlich. Sie sind auf dem besten Wege, sich in den hübschen jungen Menschen, trotzdem er ein hinkender armer Teufel ist, zu verlieben. Sie kennen wohl das Volksliedchen:
War einst ein jung jung Zimmergesell,
Der hatte zu bauen ein Schloß,
Ein Schloß für den Markgrafen,
Von Gold und Marmelstein.
Nun, die Geschichte ging traurig zu Ende, darum ist es gut, sich bei Zeiten vorzusehen.
Sie lachte etwas gezwungen, das Blut schoß ihr aber ins Gesicht.
Wie können Sie denken, gnädige Frau! Ich habe Ihnen das erzählt, wie man eben ein altes Geschichtchen nach einer alten Melodie singt. Er und ich, zwei Menschen, die nicht besser daran sind, als wie zwei Vögel auf dem Zweig. Und übrigens, selbst wenn ich ein kleines Faible für ihn hätte – zu so einem unwahrscheinlichen Roman gehören Zwei, und gewiß denkt er an die erste beste Nürnbergerin mehr als an mich. Nein, gnädige Frau – aber ich bringe diese kalt-höfliche Anrede nicht mehr über die Lippen. Wollen Sie mir gütigst erlauben, Sie zu nennen, wie ich meine geliebte Mutter genannt habe, die auch die Einzige auf der Welt war, der ich Alles vertraute, was ich erlebte: Mammina –?
Statt der Antwort schloß ich sie in die Arme und küßte sie herzlich. So gingen wir für diesmal auseinander.
Wir fanden uns nun aber täglich zusammen, meist am Vormittag, wenn es meinem Manne schon zu heiß wurde, unser kühles Haus zu verlassen, und er dem Luischen Unterricht gab. Dann kam meine neue Adoptivtochter vom Berg herunter, und wir gingen zusammen den schönen Thalweg nach Agatharied, nicht ohne vor der Schreinerei dem jungen Meister einen Gruß zuzurufen. Zu einem Gespräch mit ihm ließ sie es nicht kommen. Auch hielt ich ihn nicht auf, wenn er zuweilen an unserm Hause vorbeihinkte, um oben nach seinem Schrank zu sehen und die neugeschnitzten Stücke daran zu probieren. Auch Olive sprach mir nicht von ihm. Dagegen erzählte sie mir viel von ihrer Jugend.
Sie war in ihrem zwanzigsten Jahr verlobt gewesen mit einem jungen österreichischen Offizier, der nach ihrer Schilderung in jeder Hinsicht ein Bild von einem adligen jungen Manne gewesen sein mußte. Auf einer gefährlichen Bergtour war er verunglückt. Noch jetzt konnte sie nicht davon sprechen, ohne daß Schmerz und Grauen sie überwältigten. Ich hatte ihn zu sehr geliebt, Mammina. Er war der erste Mann, der mich empfinden ließ, daß ich Weib war. Ich dachte, eine Seligkeit, wie ich sie durch seine Küsse gefühlt, werde mir nun ewig versagt sein. Wer mir später von Liebe sprach, erregte mir nur Abscheu. Ein Neffe meines Onkels hat sich in den Kopf gesetzt, mich zu seiner Frau zu machen. Lieber spränge ich in den tiefsten Abgrund, als daß ich in seine Arme sänke. Und doch, eine Sehnsucht ist in mir, glücklich zu sein und glücklich zu machen. Die Jahre gehen dahin, und ich werde alt und grau werden und das Glück nie gekannt haben. Ihnen kann ich das sagen, denn obwohl Sie schon große Söhne haben, sind Sie noch jung und werden es immer bleiben und mich nicht darum verachten, weil ich offen heraussage, was Tausende in meiner Lage in ihrer Brust verschließen, da es von der kalten Welt als unsittlich gebrandmarkt wird.
Ich hatte das herzlichste Mitleiden mit dem lieben Kinde und sah wohl, was all diesen Herzensergießungen zu Grunde lag: die immer stärker anwachsende Neigung zu dem jungen Menschen unten in der Schreinerwerkstatt, die sie nur sich selbst noch nicht eingestehen wollte. Gerade weil sie nie mehr seinen Namen nannte, erkannte ich, wie ernst die Gefahr bereits geworden war. Und doch sah ich nicht ab, was daraus werden sollte. Daß sie überdies Gelegenheit genug hatte, ihre Leidenschaft zu nähren, wenn er oben arbeitete und trotz der strengen Tante die Thür nach ihrem Zimmer offen stand, konnte ich mir nicht verhehlen.
Ich ließ es nicht an allgemeinen Trostworten fehlen, die aber nicht den geringsten Eindruck machten. Und eines Tags sollte ich erleben, daß es schon viel zu weit mit dem Fieber gekommen war, um es noch »besprechen« zu können.
*
Die Zeit, die der Onkel für seine Sommerfrische bestimmt hatte, ging zu Ende. In drei Tagen sollte in die Stadt zurückgekehrt werden. Bis dahin mußte auch die Arbeit an dem Schrank zu Ende kommen, obwohl der junge Meister alle möglichen Vorwände brauchte, sie noch hinauszuziehen.
Mir und dem Luischen war die bevorstehende Trennung sehr betrüblich. Das Kind hatte sich's nicht nehmen lassen, für die liebe Tante noch eine kleine Handarbeit zu machen, die zur Noth fertig wurde. Auch ich hatte natürlich für ein Andenken gesorgt, ein kleines Schmuckstück, das ich in dem Laden mit alterthümlichem Bauernschmuck unten gefunden hatte. Luischen trug ihr Beides hinauf und brachte mir dagegen die kleine Porträtskizze in einem einfachen Rähmchen, die natürlich kein Meisterwerk war, aber sehr ähnlich, und mir große Freude machte. Wir hatten noch einen letzten Spaziergang miteinander für den nächsten Tag verabredet. Aber am Abend vorher, als ich allein in meinem Zimmer saß, ging plötzlich die Thür auf, und meine junge Freundin trat hastig ein.
Ich sah sofort, daß sich etwas Aufregendes mit ihr ereignet hatte. Aber auf das, was geschehen war, war ich nicht gefaßt.
Gleich nachdem mein Kind sie verlassen hatte, war Stephan gekommen, sich von dem Baron zu verabschieden, der sehr mit ihm zufrieden war und ihm noch einen Auftrag für eine neue Arbeit gegeben hatte, die er ihm in die Stadt nachliefern sollte. Dann hatte er um die Erlaubniß gebeten, auch dem gnädigen Fräulein Lebewohl zu sagen, was ihm selbst die alte Baronin nicht verweigern konnte.
Darauf hatte er bei ihr angeklopft und war so schüchtern eingetreten, als überschritte er diese Schwelle zum ersten Mal. Er sei sehr blaß gewesen, habe sich nicht weit in das Zimmer hineingewagt, wo sie gleichfalls in großer Bewegung gestanden habe, und endlich sei ein verworrenes Gestammel von seinen Lippen gekommen, wie leid es ihm thue, daß die schöne Zeit nun zu Ende sei, wie viel Dank er ihr schulde für alle unverdiente Güte – und daß er sie nie vergessen werde – und hier bringe er auch das Buch zurück, das sie ihm geliehen – und dann sei er verstummt und habe ihr das Buch in hülfloser Beklommenheit hingehalten.
Sie habe sich mühsam, während er sprach, zu fassen gesucht und endlich gesagt, auch sie bedaure, nun fortgehen zu müssen, vielleicht aber komme sie im nächsten Jahr wieder – aber freilich, ihn werde sie dann wohl nicht mehr finden – das Buch aber möge er zum Andenken an sie behalten – und was sie sonst dergleichen noch vorbrachte, da ihr Herz von ganz Anderm voll gewesen sei.
Er habe sie angestarrt, als ob er ihre Worte nicht verstände, das Buch sei ihm plötzlich entfallen, doch statt es aufzuheben, habe er ihre Hand ergriffen und mit Küssen bedeckt. Sie selbst habe nicht gewußt, was sie that, sondern die Hand ihm gelassen, die andre aber ihm auf die Schulter gelegt und, wie wenn sie zu sich selbst spräche, Lieber Stephan! geflüstert. Da habe er plötzlich ihre Hand losgelassen, aber mit beiden Armen sie heftig umschlungen und ihr Gesicht, Augen, Stirn und Mund wieder und wieder geküßt, wie in einem Rausch, wo er nicht wußte, was er that.
Und das Schlimmste, Mammina, hauchte sie – oh, was werden Sie von mir denken! Ich habe mich ebenfalls vergessen und seine Küsse erwiedert!
Wir schwiegen Beide. Erst nach einiger Zeit sagte ich:
Was ich davon denken soll, theures Kind? Was ich von Anfang an gedacht habe: daß Sie an diesen jungen Mann Ihr Herz verloren haben, und daß es ein Unglück für Sie Beide sein wird, wenn Sie es nicht wieder zurückgewinnen. Aber Sie sollen ja morgen von hier fortgehen. Da ist noch Hoffnung.
Hoffnung, ihn zu vergessen? rief sie leidenschaftlich. Wie können Sie so sprechen! Zum ersten Mal seit sechs Jahren hab' ich ja wieder gefühlt, was Glück ist, und nun soll ich hoffen, die Erinnerung daran möchte mir verschwinden? Oh, nachdem er fortgestürzt war – wie in einem seligen Traum hab' ich gesessen und immer vor mich hin gesagt:
Oh, dürft' ich fassen
Und halten ihn
Und küssen ihn,
So, wie ich wollt',
An seinen Küssen
Vergehen sollt'!
Wer, der diese Worte liest oder hört, fühlt nicht mit dem armen Gretchen? Und ich sollte es für Sünde halten, so zu sprechen? Was hab' ich sonst, das es mir der Mühe werth machte, zu leben! Nein, Mammina, Sie haben ein gütiges Herz und haben mich lieb, Sie können nicht so grausam sein, mir die Seligkeit dieser Stunde zu mißgönnen!
Sie brach in Thränen aus, ich hatte Mühe, sie zu beruhigen. Dann aber, indem sie ihre Augen trocknete: Es ist noch nicht Alles, sagte sie. Es kam noch eine Scene, die mich aus meinem kurzen Rausch von Glück herausriß.
Und nun erzählte sie, daß sie sich habe entschuldigen lassen, wenn sie nicht zu Tisch komme, ihr sei nicht wohl. Gleich darauf sei der Onkel bei ihr eingetreten, der immer gütig zu ihr gewesen, trotz seiner äußeren Strenge und Härte, um sich zu erkundigen, was ihr fehle. Sie habe allerlei vorgeschützt, Kopfweh und eine schlaflose Nacht, und nur gebeten, sie ruhen zu lassen. Und da sei plötzlich angeklopft worden und der Lehrbub aus der Schreinerswerkstatt eingetreten, einen Brief in der Hand, den schicke der Herr Stephan an das gnädige Fräulein. Sie sei tödtlich erschrocken, der Onkel aber, nachdem er den Jungen fortgeschickt, habe die Stirn gerunzelt und gesagt: Stehst du mit dem Tischlergesellen in Correspondenz?
Ich war so furchtbar verwirrt, sagte sie, daß ich den Brief uneröffnet in der Hand hielt. Lies ihn nur, sagte er, ich dränge mich nicht in deine Privatangelegenheiten, wenn sie mich auch interessieren. Dabei ging er im Zimmer hin und her und stellte sich endlich ans Fenster, während ich las. Nun? sagte er endlich. Macht er dir wirklich eine Liebeserklärung? Er ist ja ein hübscher Bursche und traut sich wohl zu, sein Glück, das er bisher nur bei Dorfmädeln gehabt hat, auch einmal bei einer Baronesse versuchen zu können.
Ich war ganz ruhig geworden. Nachdem ich den Brief gelesen, in dem er erst um Verzeihung bat, dass sein Herz ihn so weit fortgerissen, sagte er, wenn ich nicht hoch über ihm stünde, würde er, so arm und ohne Aussichten er sei, sich einen Muth fassen, zu fragen, ob ich die Seine werden wolle, da er gefühlt habe, daß auch ich ihm gut sei. Zwei, drei Jahre müsse er freilich noch warten, bis er mich heimführen könne, aber er werde es erreichen um diesen hohen Preis. Jetzt aber, da wir durch die Verhältnisse für immer getrennt seien, müsse er entsagen, so sehr sein Herz dabei blute, und er nehme Abschied für ewig, und danke mir nur noch tausendmal für all die unverdiente Güte, und daß sie ihm zu Theil geworden, werde das Licht in seinem dunklen Leben sein – und andre innige Worte mehr, doch keins, das nicht jedem adligen, hochgebildeten Menschen Ehre gemacht hätte, der einem Mädchen sein innerstes Herz ausschüttet.
Du kannst den Brief lesen, Onkel, sagt' ich, wenn du den, der ihn geschrieben, kennen lernen willst, wie ich ihn kenne.
Damit gab ich ihm das Blatt, er las es langsam, es schien auch auf ihn Eindruck zu machen. Dann faltete er es wieder zusammen und sagte: Und was wirst du antworten?
Es hängt von dir ab, Onkel. Du hast mir gesagt, daß du mir eine Aussteuer geben wollest, wenn ich heirathete. Ich bin nun entschlossen, keinem andern Manne meine Hand zu reichen als Stephan. Wir sind beide ohne Vermögen. Wenn du aber dein gütiges Wort erfüllen wirst –
Liebes Kind, unterbrach er mich scheinbar ganz ruhig, du bist mündig und Herrin deiner Entschlüsse. Ist es dein Wunsch, Frau Olivia Brandmeier gebotene von Planta zu werden, so kann und werde ich dich nicht daran hindern. Aber diese Heirath durch meine Zustimmung und die Bereitstellung der nöthigen Mittel zu befördern, obwohl ich sie für eine unglaubliche Thorheit, für die Ausgeburt eines phantastischen Mädchengehirns halte, kannst du mir nicht wohl zumuthen. So! Hiermit habe ich dir meine wohlgemeinte väterliche Ansicht gesagt und wünsche sehr, nie wieder ein Wort davon zu hören. Addio und – gute Besserung!
Damit ging er aus dem Zimmer, und ich blieb in der qualvollsten Rathlosigkeit allein, den ganzen Nachmittag. Bis ich mich entschloß, zu meiner einzigen Freundin, meiner geliebten Mammina, zu flüchten. Und da bin ich nun!
*
Ja, da war sie nun, und die Mammina war so rathlos wie sie, denn ich sah wohl, daß das Unheil seinen Gang gehen würde und durch den weisesten Rath nicht aufzuhalten war. Eh ich mich aber so weit besinnen konnte, um wenigstens Worte zu finden, die das Zutrauen des armen Kindes zu meinem guten Willen nicht enttäuschten, fuhr sie fort, mir ihre Noth zu klagen.
Ich würde mich keinen Augenblick besinnen, rief sie, mich in seine Arme zu werfen und ihm mein Leben hinzugeben, wenn ich nicht denken müßte, ihm nur eine Last zu sein. Aber ich kann und habe ja Nichts, was ihm den Kampf ums Dasein erleichtern könnte, wenn ich seine Frau geworden wäre. Nichts hat man mich lernen lassen, womit ich helfen könnte, unser Brod zu verdienen, auch wenn ich mich als Magd verdingen wollte, und wer würde auch ein Fräulein von Planta, das von seiner Familie weggelaufen wäre, auch nur als Kinderwärterin annehmen! Die kleinen Ersparnisse von meinem Taschengeld wären bald verbraucht, was ich an Schmucksachen besitze, da es keine Perlen und Diamanten sind, reichte auch nicht weit, und dann müßte er über seine Kräfte arbeiten, um uns Beide vor der ärgsten Noth zu schützen. Und warten müssen, bis er irgend ein Geschäft gründen könnte, zwei, drei Jahre, wie er schrieb – das brächte ich nicht übers Herz! Daran ging' ich zu Grunde, würde alt und häßlich vor der Zeit, und er ist ja drei Jahre jünger als ich, seine Liebe würde vergehen und verwelken wie mein bischen Schönheit, und wenn wir dann zusammenkämen, wär's nur noch ein trauriger Schatten von dem Glück, das wir einst geträumt hatten!
Eine solche Verzweiflung klang aus ihren Worten, daß ich sah, es würde Alles, was ich Vernünftiges erwiedern könnte, unverstanden an ihrem Ohr vorbeigehen. Wie Manche müssen länger als zwei, drei Jahre auf die Erfüllung ihrer Herzenswünsche warten, und wenn es eine tiefe und echte Liebe ist, genießen sie auch ein verspätetes Glück in vollen Zügen und mit desto innigerem Dank. Aber ich sah wohl, das arme Geschöpf war wie eine überreife Frucht, die nicht warten konnte, bis sie behutsam abgepflückt wird, sondern vom Winde abgeschüttelt zu Boden fällt. So gab ich ihr Recht in Allem, was sie dagegen einwendete, auf eine günstige Zukunftswendung zu rechnen. Nur das mußte sie mir fest versprechen, wenigstens eine kurze Zeit noch vergehen zu lassen, eh sie einen Entschluß faßte, drei oder doch zwei Wochen. Zeit bringt Rath, theuerstes Kind, sagt' ich. Auch ich will ernstlich mit mir zu Rathe gehen, und Sie müssen mir geloben, was Sie auch beschließen, nichts zu thun, ohne mir's mitzutheilen. Im Augenblick bleibt nichts Andres, als daß Sie das Buch, das Sie ihm geschenkt, er aber bei seiner eiligen Flucht zurückgelassen hat, ihm wieder zusenden, mit einem ganz kurzen Abschiedswort und dem Versprechen, ihm von München aus zu schreiben. Darauf geben Sie mir die Hand.
Sie that es zögernd, ich sah, wie schwer es sie ankam, und fiel mir dann weinend um den Hals, bis sie den Schritt meines Mannes draußen im Vorplatz hörte, da riß sie sich los und flüchtete aus dem Zimmer und in die Nacht hinaus, die inzwischen herangekommen war.
*
Daß ich eine schlechte Nacht hatte, können Sie denken. Ich war auch vor Thau und Tage schon auf, da ich wußte, daß sie mit dem Frühzug abreisen wollten, stand auf dem Balkon, als die kleine Karawane, drei Dienstleute voran, und der Wagen mit dem Gepäck von oben herunter und an unserm Hause vorbeikam. Auch das Luischen war früher als sonst aufgewacht und hatte darauf bestanden, angekleidet zu werden, um der guten Tante Olive noch ein paar Blumen zu bringen. Ich sah, wie meine arme Freundin in Thränen ausbrach, als sie das Kind umarmte. Mit mir wechselte sie nur einen schmerzlichen Blick. Das alte Paar sah an meinem Balkon vorbei, als ob Niemand darauf stünde.
Ich begleitete sie in Gedanken nach der Bahn hinunter. Ob sie wohl bei der Schreinerei vorbeigeht, dacht' ich, und mit ihrem Freunde noch einen Blick wechselt? Ich kann nicht sagen, wie schwer die Sorge um das liebe Mädchen mir auf dem Herzen lag.
Doch vertraute ich auf ihr Versprechen, nichts ohne mein Wissen zu unternehmen, hoffte auch im Stillen, fern von ihm werde sie doch vielleicht zur Vernunft kommen und entsagen. Und so war ich ganz damit zufrieden, daß vierzehn Tage vergingen, ohne daß ich ein Lebenszeichen von ihr erhielt.
Dann aber kam ein Brief, nicht von ihr, sondern von der Baronin Tante, der mich tödtlich erschrocken machte.
Nur wenige Zeilen, sehr steif und förmlich. Da sie wisse, daß ich mit ihrer Nichte in vertraulichem Verkehr gestanden, erlaube sie sich die Anfrage, ob ich von ihrem plötzlichen Verschwinden aus dem Hause ihrer Verwandten unterrichtet sei und sagen könne, wohin sie sich gewendet. Man vermuthe, sie sei mit jenem Schreinergesellen aus Miesbach zusammen entflohen und abenteure nun in der Welt umher. Die Polizei zu Hülfe zu rufen, hätte sie nicht über sich gebracht, um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden.
Ich konnte nur antworten, ich sei im höchsten Grade überrascht, daß das Fräulein trotz ihres Versprechens, nichts ohne mein Wissen zu thun, den unheilvollen Entschluß gefaßt habe. Der junge Mann, den die Frau Baronin im Verdacht der Mitthäterschaft halte, sei von Miesbach fortgegangen, angeblich, um in Nürnberg Arbeit zu suchen.
So verhielt sich's in der That. Die Hochzeit seiner Stiefmutter hatte inzwischen stattgefunden, bei der er nicht zugegen sein wollte.
*
Ich war in größter Sorge und Unruhe, was das unglückliche Mädchen unternommen haben mochte. Ich sah sie auf dem Wege nach Amerika mit ihrem Geliebten und dort allen Nöthen und Entbehrungen preisgegeben. Dann wieder in einer Nürnberger Dachkammer, wie eine Gefangene, da sie sich nur Nachts auf die Straße getraute, aus Furcht, zufällig erkannt und zurückgebracht zu werden.
Das Räthsel löste sich aber in einer ganz anderen, viel traurigeren Weise.
Etwa drei Wochen, nachdem ich von meinem Beichtkind Abschied genommen, erhielt ich einen Brief, den ich mit Zittern öffnete, da das Couvert die Handschrift trug, die ich von kleinen Zetteln her kannte, wenn sie mir irgend etwas mitzutheilen hatte und selbst nicht kommen konnte. Wie sehr mich der Inhalt erschüttern mußte, mögen Sie selbst beurtheilen.
Die kleine Frau stand auf und ging nach dem Secretär, wo die Blechkassette noch geöffnet stand, oben auf den übrigen Papieren der Brief, in dessen Lectüre die Professorin vorhin unterbrochen worden war. Sie nahm ihn wieder und reichte ihn dem alten Freunde, setzte sich dann aus ihren Platz und schloß die Augen, sich in die Zeit zurückträumend, in der dies Blatt beschrieben worden war. Der Medizinalrath aber entfaltete den Brief und las:
»Meine theure, verehrte Freundin!
»Wenn dies Blatt in Ihre lieben Hände kommt, werden Sie der Schreiberin zunächst zürnen, daß sie ihr Versprechen nicht gehalten und über ihr Schicksal entschieden hat, ohne vorher Ihre Zustimmung zu erbitten. Da Sie diese aber niemals gegeben hätten, mein Entschluß jedoch unerschütterlich feststand, mußte ich Ihnen mein Wort brechen und hoffe, meine Mammina werde es mir verzeihen, wie alles Andere, was Sie verstehen werden, nachdem Sie mich bis zu Ende angehört haben.
Ich habe, sobald ich wieder in der Stadt war, klar erkannt, daß ein Fortleben in der alten Knechtschaft unmöglich war, ohne daß ich zu Grunde ging. Die Luft im Hause war noch eisiger und herzbeklemmender geworden, Onkel hatte der Tante nicht verschwiegen, was ich ihm selbst gestanden hatte, und die kaltherzige Frau, ohne direct davon zu reden, ließ es mich täglich und stündlich fühlen, daß ich in ihren Augen eine Verlorene, Entartete sei. Ja, auch dem Neffen, der sich wieder einfand und mich mit seiner verliebten Narrheit marterte, scheint man von meiner »Verirrung« während der Villeggiatur Andeutungen gemacht zu haben. Er neckte mich wenigstens auf die plumpste Weise mit der Eroberung, die ich am Land gemacht, was ich freilich mit äußerster Verachtung von mir abgleiten ließ, während der Ekel vor diesem rohen Wicht mir das Herz abdrückte.
Doch qualvoller als all das, was ich in der Nähe ertrug, war die Sehnsucht nach dem Fernen, die täglich wuchs und mich endlich zur Verzweiflung gebracht haben würde. Eine Wartezeit von zwei, drei Jahren, wie er geschrieben hatte? Nicht zwei, drei Monate hätte ich's ausgehalten, ohne sein Gesicht wiederzusehen, mein Herz an seiner Brust klopfen zu fühlen. Das schrieb ich ihm endlich, und daß ich mich auf Tod und Leben, auf Gnade und Ungnade zu ihm flüchten würde, obwohl ich fühlte, daß auch er vielleicht es mir als eine arge Zudringlichkeit verdenken möchte; ich sei aber eben so weit gebracht, daß ich nach keinem Gebot der Schicklichkeit mehr fragen könnte, da sich's um meine Selbsterhaltung handle.
Umgehend kam die Antwort, er sehe in meiner Erklärung nichts Andres als das Bekenntniß, wie über Alles groß und stark meine Liebe sei, er danke mir aufs Innigste und sei zu Allem bereit, was ich vorschlagen würde zu unser Beider Glück.
Ich brauchte mich nicht lange zu bedenken. Jede Hoffnung, auf irgend einem gesetzmäßigen Wege unser Ziel zu erreichen, hatte ich aufgegeben. Und doch mußte ich thun, was ich nicht lassen konnte, sollte ich nicht bis an mein Ende mir den Vorwurf machen, aus jämmerlicher Feigheit mein einziges Glück verscherzt zu haben.
Also theilte ich ihm meinen Plan mit, daß ich mit dem Nachtzuge nach Rosenheim fahren und ihn dort treffen wolle. Bei meinen Leuten gab ich vor, mit einer Freundin eine Opernvorstellung zu besuchen und nachher sie zu ihren Eltern zu begleiten, so daß ich vor Mitternacht nicht heimkehren würde. Sie sollten daher nicht auf mich warten. Werden Sie es mir als Sünde anrechnen, Mammina, daß ich ohne jedes Dankgefühl das Haus verließ, in dem ich doch drei Jahre eine Art Heimath gefunden hatte? Ach, Sie wissen nicht, wie erniedrigend es ist, Menschen Dank schuldig zu sein, die man nicht lieben kann!
Wie ich dann meinen Geliebten fand, wie sein Anblick mich Alles vergessen machte, was hinter mir lag, davon will ich Nichts sagen, da es ja unaussprechlich ist.
Wir fuhren sogleich weiter, noch in nächtlichem Dunkel, da wir noch eine Strecke vor uns hatten bis zu der Stelle, wo ich mit ihm bleiben wollte. Zwischen Rosenheim und Endorf, der nächsten Station vor dem Chiemsee, liegt ein andrer, viel kleinerer See, der Simmsee. An dem war ich bei einem Ausflug nach Salzburg mit dem Onkel zweimal vorbeigefahren, auf dem Hin- und Rückweg, und jedesmal hatte er einen fast geisterhaften Eindruck auf mich gemacht. Denn er liegt ganz in dichten Wald eingebettet, nur durch dessen Lücken glänzt hin und wieder ein Stück von der glatten Spiegelfläche heraus, weit und breit aber ist keine menschliche Spur, kein Bauernhof oder ein andres Gebäude zu erblicken, als sei die Gegend ringsum verwunschen, oder der See hauche eine giftige Luft aus, die Niemand athmen könne, ohne todt hinzusinken.
Daraufhin aber wollt' ich's wagen, wenn ich nur erst eine Stunde Glück genossen hätte. Es war uns aber freundlicher vom Himmel beschieden. Ja, wir fanden sogar ein Unterkommen weit über das, was wir zu hoffen gewagt, so daß ich etwas Lebensmittel zu den paar Unentbehrlichkeiten in meine Handtasche gesteckt hatte. Eine Mühle steht dort an dem einen Ende des Sees nahe am Ufer, daneben ein kleines Haus, darin die Müllersleute außer ihrer Wohnung und einer dürftigen Schenke ein Zimmer freihalten für unerwartete Nachtgäste. Das diente nun uns zur Unterkunft für die sieben Tage, die ich dort zuzubringen gedachte.
Oh, diese sieben Tage! Siebenmal sieben Jahre eines ruhigen Glücks, wie es Menschen erleben, die ohne Stürme in den Hafen der Ehe eingelaufen sind, können die Seligkeit nicht aufwiegen, die uns beiden armen Verirrten und Zukunftslosen beschieden war. Wie wir unter dem reinsten Himmel in diesen düsteren Wäldern uns ergingen, über deren Wipfel die Kette der hohen Berge gen Süden herübersah, unerreichbar, doch ohne unsre Sehnsucht zu erregen, da wir Alles, was unser Herz begehrte, in der Nähe hatten. Und dann lagerten wir an einer besonnten Lichtung im hohen Grase und schwiegen oder plauderten – wovon? von unsrer Liebe, oder von dem, was wir unser Leben nannten, und das doch erst den Namen verdiente, seit wir uns gefunden hatten. O Mammina, welch ein herrlicher Mensch er ist! Unschuldig und heiter wie ein Kind, und dann wieder, als verstünde er Alles wie der weiseste Mann. Sie werden lächeln, daß ich so von ihm schwärme, aber wenn Sie ihn kennten –
Und Eins noch erhöhte, wenn es dessen noch fähig war, unser Glück: der Gedanke, daß dahinter eine schwarze Hand laure, die den Becher uns von den Lippen reißen würde, eh wir ihn bis auf die Neige geleert. Das fehlte dem ersten Menschenpaar, dem wir in unserm Waldparadiese uns vergleichen konnten, da wir der Welt ringsum uns so entrückt fühlten, als sei sie überhaupt noch nicht vorhanden.
»Dann aber kam der siebente Tag, und so fest entschlossen ich war, daß er der letzte bleiben sollte – eines Schauers konnte ich mich nicht erwehren, wenn ich daran dachte, daß ich meinen Geliebten verlassen müßte.
Ich faßte mir endlich ein Herz, mit ihm davon zu sprechen. Wir kehrten von einem herrlichen Spaziergang am Seeufer in unser kleines Stübchen zurück, wo die Hausfrau unser dürftiges Nachtessen auf unsern Tisch gestellt hatte. Das ist nun unser Henkersmahl, sagt' ich. Morgen früh wachen wir zum letzten Mal mit einander auf.
Er sah mich verständnißlos an. Nun sagt' ich ihm Alles, daß ich zurückbleiben würde, wenn er morgen ins Leben hinausginge, und daß er freudig an mich denken müsse, die ich ja allem Leid des Lebens entrückt sei, und sich daran trösten, wie glücklich ich durch seine Liebe geworden, und daß alles Höchste und Beste nur eine kurze Frist dauern könne, eben weil die niederen Mächte uns darum beneideten.
Er hörte mir zu, wie wenn ich eine fremde Sprache spräche. Als er dann begriff, was ich meinte, ging ein Ausdruck von zornigem Staunen über sein edles Gesicht, und zum ersten Mal sprach er in heftigem Ton zu mir: wie ich ihn so kränken könne, zu glauben, er könne sein Schicksal je von dem meinigen trennen, auch wenn meins trostlos wäre, er aber ginge einer Zukunft entgegen, die ihm herrliche Freuden verspräche, – und solche Worte mehr, in denen ich die ganze Fülle und Stärke seiner Liebe erkannte und den Adel seiner ritterlichen Seele.
Also gab ich nach, und wir wurden noch ganz heiter mit einander, wie wenn sich's um einen lustigen Ausflug handelte, den wir nach dieser unsrer letzten glücklichen Nacht morgen früh zu machen vorhätten. Wir freuten uns darauf, in dem kleinen Boot, das uns jeden Tag ein paar Stunden lang auf dem stillen See dahingetragen hatte, nun im Morgenroth unsre letzte Fahrt zu machen und, wenn wir nicht zurückkehrten, von Niemand betrauert zu werden, da wir Beide das einzige Menschenpaar auf der öden Erde seien.
Und doch: eine Seele wußte ich, der mein Schicksal nahegehen würde – die edle, gütige, mütterliche Frau, an die ich diesen langen Brief am späten Abend schreibe. Sie weiß nun Alles von mir und wird es Niemand verrathen, auch wenn sie die fremden Menschen über mich und meine That lästern hört. Was liegt daran, wenn man mit seinem eignen Herzen einverstanden ist! Und so leb wohl, verehrte, geliebte Mammina!Küsse das Luischen und denke ohne Kummer an dein andres, aber überglückliches Kind
Olive.«
*
Der alte Herr hielt den Brief noch eine Weile in der Hand, nachdem er ihn zu Ende gelesen. Dann legte er ihn still auf den Tisch und sagte: Haben Sie Dank, liebe Freundin, daß Sie mich das lesen ließen. Von Allen, die, wie man heute sagt, in Schönheit starben, sind diese Zwei gewiß die Heldenhaftesten gewesen. Was ist dagegen das Trauerspiel von Romeo und Julie, die einem tragischen Zufall zum Opfer fielen! Und diese Beiden – in vollster Erkenntniß ihres Glücks, mit freiem Entschluß, um von ihrer Höhe nicht herabzusinken –
Die kleine Frau hatte den Brief wieder an sich genommen und in die Kassette zurückgelegt, die sie nun verschloß. Dann wandte sie sich wieder zu ihm.
Sie haben Recht, sagte sie, so empfand auch ich. Und so seltsam es klingen mag – – als am andern Tag die Zeitung die Nachricht brachte, das Liebespaar, das eine Woche lang sich verborgen am Simmsee aufgehalten habe, sei von den Müllersleuten eng umschlungen aus dem Uferschilf herausgefischt worden, auf den bleichen Gesichtern ein Ausdruck von Frieden und Glück, wie wenn sie nach einem Festtag eingeschlafen wären, – da fühlte ich keinen Schmerz und weinte keine Thräne, so nahe das holde Mädchen meinem Herzen gestanden hatte. Nur eine Stimmung, wie wenn ich eine hohe tragische Dichtung miterlebt hätte, ein Schicksal, das, wie der Dichter sagt, den Menschen zugleich vernichtet und erhebt. Sie hatten ja des Lebens Überfluß genossen, Unendliches in einer kurzen Spanne Zeit. Und sagt nicht das alte Wort: wen die Götter lieben, der stirbt jung –?
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