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(1899)
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In dem vertrauten Freundeskreise, der an allen Sonntagabenden zusammenkam, hatte man lange hin und her gestritten, was von der sogenannten »Stimme des Bluts« zu halten sei. Einige, zumal die Frauen, wollten es sich nicht nehmen lassen, daß hier ein tiefgegründetes Naturgesetz walte. Andere behaupteten, die scheinbare Macht des Bluts sei aus keiner tieferen Quelle als der Gewohnheit herzuleiten, während ein Humorist die geheimnisvolle Spürkraft für alles leiblich oder seelisch Verwandte wie jener Stuttgarter »Seelenriecher« nur in der Nase finden wollte. Wie anders wäre die rührende Wiedererkennung des Odysseus durch seinen blinden Hund zu erklären, durch die er sich den zärtlichsten Menschen, der Gattin des edlen Dulders und der alten Pflegerin Eurykleia überlegen gezeigt habe. So erkenne auch die Mutter ihr Kind an dem »Seelenduft«, der von ihm ausgehe, und was der krausen Scherze mehr waren.
Die Besonnensten enthielten sich des Urteils und behaupteten, hier, wie in allem Sittlich-Sinnlichen, sei eine durchwaltende Regel nicht anzunehmen, da Fällen, wo die Stimme des Bluts sich auf völlig wunderbare Weise habe vernehmen lassen, andere gegenüberstünden, in denen sie ebenso rätselhaft stumm geblieben sei.
Einer der Anwesenden, ein berühmter Professor der Physiologie, hatte dem lebhaften Austausch der Meinungen schweigend zugehört. Nun wandte sich seine Nachbarin an ihn und forderte ihn auf, endlich auch sein Votum abzugeben, da er mehr als sie alle sachverständig sei, als ein Erforscher der geheimnisvollen Gesetze, die das Blut vom Herzen durch die Adern treiben. So müsse er am besten Bescheid davon wissen, ob das Blut zu reden anfange, wenn verwandtes Blut in seine Nähe kommt.
Sachverständig – ich? erwiderte der Angerufene mit einem nachdenklichen Lächeln. Sie vergessen, daß ich ein Mensch ohne angeborene Familie bin. Meine Eltern starben, da ich ein ganz junger Knabe war, Geschwister habe ich nie besessen und meine eigenen Kinder früh verloren. So habe ich an mir selbst keine Erfahrungen machen können, und was ich an anderen beobachten konnte, lieferte kein wissenschaftliches Ergebnis. Daß Blut ein ganz besonderer Saft ist – wer wäre weniger geneigt dies zu leugnen, als wer beständig mit den Rätseln zu tun hat, die dieser Herrscher im Reich des Lebens uns aufgibt. Ich hüte mich daher vor allen voreiligen Meinungen, auch in Betreff der Frage, die eben diskutiert worden ist.
Nur zahlreiche und sorgfältige Experimente, ohne die ja kein Zweig der Naturwissenschaft zu sicheren Ergebnissen kommen kann, würden auch in diesem dunklen Gebiet ein wenig Licht verbreiten. Aber wie schwierig wären sie anzustellen! Wie soll man dahinterkommen, ob eine Mutter, die ihr Kind nach sechs oder auch nur drei Jahren im Findelhaus wieder aufsucht, ohne äußere Abzeichen unter all den gleichalterigen kleinen Geschöpfen das ihrige herausfindet, bloß durch die Stimme des Blutes gelenkt? Oder Geschwister, die früh getrennt worden sind und erst nach Jahren sich wiedersehen, ist es wahrscheinlich, daß sie sich als Kinder einer Mutter erkennen, ohne etwa durch auffallende Ähnlichkeit dazu geführt zu werden? Neben hundert merkwürdigen Fällen, wo dies geschieht, stehen die tausend im Gewühl des Lebens unerkannt aneinander vorbeigehenden Blutsverwandten, und es ist undenkbar, daß irgend eine Statistik dazu gelangen könnte, das Verhältnis festzustellen, in welchem Zufall und Gesetz hier zueinander stehen. Nur im allgemeinen wird man sagen können, wie vorhin schon behauptet worden ist, daß zur innigen Verknüpfung und Festigung der Bande des Bluts die Macht der Gewohnheit das gute Beste beiträgt. Denn je höher entwickelt, je geistiger begabt ein Naturwesen ist, desto mehr lös't es sich von dem dunklen Untergrunde ab, der auf den niedrigeren Stufen das gleiche Geschlecht beherrscht, desto freier entscheidet es über sein Geschick und emanzipiert sich von der Vormundschaft bloß physischer Triebe und Instinkte, die in der Tierwelt sämtliche Glieder einer Familie unter das gleiche Gesetz zwingt. Erst wo die Seele sich individueller entwickelt und zu wählen anfängt was ihr gemäß ist, abzuweisen was ihr widerstrebt, tritt die Macht des Blutes gegen die Selbstherrlichkeit des Gemütes zurück. Wie oft sehen wir Kinder desselben Elternpaars in ausgesprochener Abneigung gegeneinander oder selbst feindseliger Stimmung gegen Vater oder Mutter heranwachsen? Entscheiden doch im Menschenleben sittliche Rücksichten über Liebe und Haß, vereinigen Naturen, die sich ihrer Wahlverwandtschaft bewußt werden, oder trennen andere, deren Blutsverwandtschaft sie über die Unversöhnbarkeit der Charaktere nicht zu täuschen vermag.
So viel kann sich jeder Beobachter des bunten Lebens sagen, auch wenn er nicht an sich selbst den Segen oder Unsegen der Bande des Bluts erfahren hat. Wenn mir dies aber versagt war, so bin ich reichlich dafür entschädigt worden durch Herzensbande, die schon in jungen Jahren das Gefühl der Verlassenheit nicht in mir aufkommen ließen. Ich rede nicht von der verliebten Liebe. Lange eh' ich die Frau nach meinem Herzen fand, die mit mir durchs Leben zu gehen sich entschloß – was sie hoffentlich auch heute noch nicht bereut –, hat mich das Schicksal, das mich all meiner blutsverwandten Angehörigen beraubte, vor der Vereinsamung meines Herzens bewahrt, indem es mich eine Familie finden ließ, mit der ich mich so innig und unzerreißbar verbunden fühlte, als wäre das Blut in mir aus derselben elementaren Quelle geflossen, aus der sonst ein leiblicher Sohn und Bruder dasselbe zu schöpfen pflegt.
Sie sehen mich fragend an. Einige unter Ihnen wissen, welche Menschen ich damit meine. Aber die näheren Umstände, unter denen sich das seltsame Finden und Aneinanderfesthalten zutrug, kennt wohl nur meine Frau. Wenn Sie dies Kapitel aus meinen sonst sehr einfachen Lebenserinnerungen hören wollen –
Alle drangen in den verehrten Mann, nicht damit zurückzuhalten. Er saß eine Weile schweigend in sich versunken, dann sagte er: Ich muß leider ein wenig weit ausholen. Wie Sie mich hier vor sich sehen, als einen behäbigen, schon etwas schwerfälligen Mann mit einem grauen Philosophenbart, werden Sie sich schwerlich den schlanken dreiundzwanzigjährigen Studenten vorstellen können, als der ich vor dreißig Jahren mit schwermütigen Augen in die Welt sah. Noch seltsamer wird es Ihnen vorkommen, daß ich damals Tag und Nacht in einem Buche las, das die heutige Jugend nur dem Namen nach kennt oder nach den ersten Seiten als ungenießbar wegwirft, Goethes »Werther«, während ich die Warnung des Dichters: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach!« durchaus nicht zu beherzigen gesonnen war. Und da ich keinen Freund hatte, von dem ich »zu einer vorhabenden Reise« ein paar Pistolen hätte borgen können, entschloß ich mich kurz, einen Revolver zu kaufen, den ich, eh' ich eine Pfingstwanderung durch den Thüringer Wald antrat, mit wollüstigem Grauen in mein Ranzel steckte.
Daß mir so wertherisch zu Mute war, hatte seinen guten Grund: ich war verliebt gewesen, sogar verlobt, und meine Liebste hatte einen anderen heiraten müssen.
Daß sie es nicht gern getan, sondern sich nur dem Willen ihrer Eltern gefügt hatte, schärfte nur noch den Stachel, der mir ins Herz getrieben war. Wäre sie mir einfach untreu geworden, so hätte ich den Wankelmut ihres Geschlechts anklagen und mich damit trösten können, früher oder später hätte ich eingesehen, daß ich meine Liebe an eine Unwürdige verschwendet und froh sein müsse, noch beizeiten über meine Verirrung aufgeklärt worden zu sein. So aber sah ich in dem geliebten Wesen beständig ein armes wehrloses Opfer, das einem Ungeheuer ausgeliefert worden wäre, obwohl ich es bei einiger Vernunft dem Papa nicht hätte verdenken können, daß ihm ein wohlstehender Kaufmann und Hausbesitzer zum Schwiegersohn erwünschter war als ein blutjunger Student, der gerade so viel Vermögen hatte, um sorgenfrei studieren zu können, doch lange nicht genug zur Gründung eines Hausstandes mit einer Frau, die nur ihr bißchen Aussteuer und ihr schönes Gesicht mit in die Ehe brachte. Nun hatte ich freilich, um heiraten zu können, mein Lieblingsstudium aufgegeben und, seit ich das Jawort meiner Liebsten erhalten, auf einen praktischen Beruf als Chemiker in einer Fabrik losstudiert. Doch stand uns immer noch eine Wartezeit von drei, vier Jahren bevor. Dazu kam, wie ein dunkles Gerücht wissen wollte, daß der Papa, ein kleiner Rentbeamter, sich allerlei Unregelmäßigkeiten im Dienst hatte zu Schulden kommen lassen, die zu vertuschen ein wohlhabender Eidam zur rechten Zeit sich einstellte.
Der Schlag hätte mich wohl nicht so schwer getroffen, wenn es nicht meine erste Liebe gewesen wäre. Dazu hatte ich im Rausch des Glücks den Kopf ziemlich hoch getragen, da ich das Herz des liebenswürdigsten Mädchens, dem die ganze Studentenschaft zu Füßen lag, erobert hatte, und umso bitterer war nun die Beschämung, als abgedankter Freier herumgehen zu müssen. Auch daß ich einem früheren Rivalen, der die Frechheit hatte, mit einer höhnischen Beileidsphrase mir zu kondolieren, eine breite Tiefquart durch seine schnöde Fratze zog, schaffte mir nur äußerlich Ruhe. Wäre ich auch nur ein Stück von einem Poeten gewesen, so hätte ich wie Heinrich Heine aus meinen großen Schmerzen kleine Lieder gemacht und meinen Liebesgram lyrisch verduften lassen.
Auch die Tröstungsversuche meines besten Freundes fruchteten nicht.
Daß ich der erste nicht sei, dem diese alte Geschichte passiere, daß es eine Narrheit wäre, sich das Herz darüber entzweibrechen zu lassen, ja daß ich vielleicht noch einmal froh sein würde, auf diese unsanfte Art vor einem vorzeitigen Philistertum bewahrt worden zu sein – all das machte nicht den geringsten Eindruck auf mich.
Ich fühlte nur, daß es so nicht fortgehen könne. An Arbeiten war nicht zu denken, und da die Pfingstferien herankamen, bestand mein Freund darauf, ich müsse eine Wanderung antreten, die würde mir das schwere Geblüt erfrischen und mir das Leben wieder erträglich machen.
Den Gedanken, eine Fußreise zu unternehmen, faßte ich begierig auf, aber in ganz anderem Sinne. Ich wollte das Experiment machen, ob es mir vielleicht möglich wäre, die Tragikomödie des Daseins weiterzuspielen, wenn ich neue Kulissen um mich sähe. So viel, fühlte ich, war ich mir schuldig, um nicht als ein feiger Schwächling vor mir selbst dazustehen. Sollte ich am Ende von zehn Tagen noch nicht weiter sein als an ihrem Anfang, so hätte ich mir den Beweis geliefert, daß ich ein gutes Recht hätte, eine Welt zu verlassen, in der für einen an allen Hoffnungen und Illusionen bankrott gewordenen Träumer kein Platz mehr wäre.
Mein Freund wollte mich durchaus begleiten. Ich hatte Mühe es ihm auszureden unter dem Vorwand, daß ich mich von jedem Gesicht trennen müsse, das mich an die Verlorene erinnern könnte. Der Gute ahnte nicht, daß ich seiner Gesellschaft jenen Freund aus dem Gewehrladen vorzog, der mir am Ende meiner Prüfungszeit, wenn alles umsonst wäre, den sichersten Liebesdienst leisten und einen völlig traumlosen Schlaf bescheren sollte.
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Daß ich die Sache in bitterem Ernst so tragisch nahm und nicht im mindesten posierte, dafür kann ich zum Beweise anführen, daß mir von dieser Pfingstwanderung durch den schönen Thüringer Wald in der holdesten Frühlingszeit nicht die leiseste Erinnerung an einzelnes geblieben ist. Ich weiß nur, daß ich allen Orten, wo ich Menschen witterte, aus dem Wege ging, die halben Tage unter irgend einem Schuppen oder Baumwipfel verschlief und die halben Nächte stumpfsinnig, ohne jeden klaren Gedanken durch Täler und Höhen strich.
Nur ihr Bild schwebte mir beständig vor, alle süßen Stunden, die ich mit ihr erlebt, rief ich mir zurück, meine Phantasie war unerschöpflich, sie mir jetzt vorzustellen, wie sie sich wund rüttelte an den Eisenstangen ihres Kerkers, und zuweilen wurde der Schmerz so brennend, daß ich in glühende Thränen ausbrach und wie zu Tode entkräftet, wo's gerade war, auf offener Landstraße hinfiel.
Daß ein so unseliger Mensch, ein solcher Ritter von der traurigen Gestalt, nichts Gescheiteres tun könne, als sich Gesunden und Glücklichen aus dem Wege zu räumen, stand mir unanfechtbar fest. Und so sah ich dem letzten, zehnten Tag, bis zu dem ich hatte warten wollen, ohne alles Bangen mit Ungeduld entgegen.
Es war gerade einer der zauberhaftesten Juniabende, als ich todmüde bei einem kleinen Badeort anlangte. Seitdem ist freilich auch er in die Mode gekommen und hat sich von der Kultur belecken lassen. Damals bestand er aus einer einzigen, von bescheidenen Häuschen gebildeten Straße, die aber, obwohl die Gasbeleuchtung noch sehr unvollkommen war, doch einen festlichen Anstrich hatte. Ich erfuhr, daß der sechzigste Geburtstag des Badearztes gefeiert wurde durch ein Souper mit nachfolgendem Ball im »Kurhaus«, dem man freilich seine Würde nicht angesehen hätte ohne die vielen Lichter hinter den Fenstern.
Auf der Straße war's lebendig von hin und her wandelnden Ortsbürgern, die das Fest nur von außen mitfeierten, und allem Dienstpersonal der Logierhäuser, das in die hellen Fenster hineinspähte. Dazu die lärmende Blechmusik, die aus dem Saal herabtönte – für einen Selbstmord die denkbar unpassendste Umgebung, auch wenn es mir nicht unsittlich erschienen wäre, diese harmlosen Sterblichen mitten in ihren Freuden durch einen Revolverschuß zu erschrecken.
Also beeilte ich mich, aus dem Ort hinauszukommen, zumal ich um mein Nachtlager nicht in Sorgen war. Ich hatte beschlossen, die Mitternacht nicht zu überleben. Irgendwo an einer einsamen Stelle des Waldes würde ich bis dahin ein stilles Sterbebette finden.
Ich weiß noch, daß ich die Katastrophe mit völliger Gemütsruhe sich nähern sah. Mein Zustand während dieser Wanderung war so peinlich, öde und aufgeregt zugleich gewesen, daß der Gedanke, damit ein Ende zu machen, eher etwas Verführerisches hatte. Auch die Schönheit der Nacht, die mich und mein Schicksal so mütterlich mit ihrem weiten Mantel einhüllte, konnte mich nicht zum Bleiben überreden. Wenn sie vergangen wäre, würde ich wieder dem kaltherzigen Tage ins Gesicht sehen müssen. Dennoch genoß ich den Zauber dieser irdischen Welt noch einmal mit vollen Zügen. Und es war auch märchenhaft, so neben dem geräuschlos hinwallenden Flusse auf der mondhellen Landstraße ins Blaue hineinzuwandern, zur Rechten den leise rauschenden Wald, aus dessen Zweigen nur hin und wieder ein schlafender Vogel aus dem Traum zu girren anfing, dazwischen die Waldwiesen, auf denen der Heimchengesang schwirrte. Zuweilen stand ich still und überlegte: hier solltest du bleiben; in dem weichen Grase würde sich's gut ruhen und die Glieder zum letzten Schlaf sich bequem ausstrecken lassen. Immer aber ging ich weiter. Der Grund wird Ihnen sehr prosaisch scheinen: ich hatte seit Mittag um zwölf, wo ich in einer Dorfschenke ein Glas Bier getrunken und einen Bissen Brot gegessen hatte, nichts zu mir genommen, und mit leerem Magen in die Ewigkeit einzugehen, widerstrebte mir.
Ein Liebespaar, das mir begegnete, hatte ich befragt, ob irgendwo hier am Wege eine Herberge zu finden wäre. Ich hätte nur noch eine Viertelstunde zu gehen, wurde mir geantwortet, da träf' ich den Gasthof der Frau Harscher »Zum Waldhorn«, ein Haus, das für die Kurgäste im Sommer ein beliebtes Ziel ihrer Nachmittagsspaziergänge sei, dort Kaffee zu trinken, oder bei einem einfachen Abendessen den Mondaufgang zu erwarten. Ausnahmsweise nehme die Wirtin auch Logiergäste auf, ein paar Zimmer ständen immer bereit für solche Besucher, die etwa des Guten zu viel getan hätten und es vorzögen, ihren Rausch an Ort und Stelle auszuschlafen.
Bald sah ich denn auch das Haus am Waldsaum vor mir liegen, die letzte Station vor der Reise in das unbekannte Land.
Es war ein langgestrecktes einstöckiges Gebäude, mit einer im Schweizerstil gehaltenen Galerie, die oben herumlief; an der einen Seite ein großer Baumgarten mit Tischen und Bänken, an jenem Abend dunkel und leer, wie auch meine beiden Liebesleute die letzten Gäste gewesen zu sein schienen.
Ich weiß nicht, wie es kam, daß dies stille Haus am Walde beim ersten Anblick mich so anheimelte, daß ich einen Augenblick dachte, selbst für einen wie ich, der mit dem Leben abgerechnet, müsse es ganz lieblich sein, hier noch die üblichen drei Tage vor der eigenhändigen Hinrichtung zu verträumen. Sofort aber sagte ich mir, daß ja dies Asyl nur bei Nacht eine so tröstliche Stille und Dunkelheit gewähre, am Tage aber ein Weltflüchtling hier erst recht seines Lebens nicht sicher sei, wenn man diesen unpassenden Ausdruck auf jemand anwenden konnte, der selbst der ärgste Feind seines Lebens war.
Als ich nun aber bei dem Hause angekommen war, sah ich eine schlanke Mädchengestalt auf der obersten Stufe der Treppe stehen, die in die offene Tür führte. Sie war so vertieft in irgendwelche Gedanken und blickte so unverwandt nach der anderen Seite, wo, etwa zweihundert Schritt entfernt, die dunkeln Umrisse einer Sägemühle sich gegen die silberne Luft abhoben, daß ich ganz dicht an sie herankommen konnte, ehe sie mich bemerkte. Nun wandte sie freilich den Kopf nach mir um, aber ihre Gedanken schienen noch in der Ferne zu weilen.
Es war ein sehr schönes Mädchen, dunkeläugig, mit einem seltsam ernsten Ausdruck in den feinen Zügen, offenbar keine Kellnerin oder geringe Magd. Ich fragte, ob ich ein Zimmer für die Nacht bekommen könne, worauf sie nur mit einem stummen Nicken antwortete und dann mir voran ins Haus ging.
Wir durchschritten einen breiten Korridor, der das Erdgeschoß in zwei Hälften teilte, links die Räume für die Gäste, rechts Küche und Wirtschaftsgelasse. Der Gang war durch ein paar Hängelampen erhellt, ich konnte den zarten Wuchs meiner Führerin betrachten, die nicht über siebzehn Jahre zu sein schien. Ihr versonnenes Betragen aber verriet eine größere Reife.
Da ist jemand, Mutter, der ein Zimmer wünscht, sagte sie auf der Schwelle der Küche. Darauf, ohne sich weiter nach mir umzusehen, trat sie wieder zurück und machte mir Platz, um sich dann wieder nach der Haustür zu wenden.
Ich war in die Küche getreten, die sehr groß und mit einer Menge blanker Kupfergeschirre geschmückt war. Auch sonst so peinlich sauber, daß es eine Augenweide war. Am Herd aber stand eine stattliche Frau mit dichtem blondem Haar über einer sehr weißen Stirn, die Figur matronenhaft und alle Bewegungen ruhig und kraftvoll, in dem runden Gesicht dieselben schwarzen Augen, die mich schon aus dem Mädchenkopf angeblickt hatten, nur ohne jenen leidvoll gespannten Ausdruck, sondern in sicherer Klarheit, wie nur besonders gute und gescheite Menschen aus den Augen zu schauen pflegen.
Ich weiß nicht, wie es kam, daß mich der stille Blick, den die Frau auf mich richtete, in eine seltsame Verwirrung brachte. Als sähe sie mich durch und durch und läse mir meine bedenklichsten Geheimnisse aus der Brust. Mit etwas beklommener Stimme wiederholte ich den Wunsch, ein Zimmer angewiesen zu bekommen, worauf auch die Mutter, gerade wie die Tochter, nur mit einem Nicken antwortete.
Dann aber wandte sie sich zu einer ältlichen Magd, die neben ihr in der Küche hantierte, und befahl ihr, mir Nummer 2 aufzuschließen. Eh' ich aber die Küche verließ, fragte sie, ob ich noch etwas zu essen wünsche. Ich bejahte das und sagte, es sei mir gleichgültig, was sie im Vorrat habe oder mir noch bereiten könne. Ich würde wieder hinunterkommen und meine Mahlzeit am liebsten im Garten halten.
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Die Magd führte mich in den obern Stock hinauf, der ebenfalls durch einen Korridor der ganzen Tiefe nach durchschnitten wurde. Auf der einen Seite schienen die Dienstleute zu wohnen und einige Kammern zu Garderobe- und Vorratsräumen bestimmt zu sein; gegenüber lagen offenbar die Zimmer, in denen die Wirtin mit ihrer Tochter wohnte, dann kamen die Räume, die für Touristen bestimmt waren.
Meine Nummer 2 war ein einfenstriges, aber geräumiges Gemach, einfach möbliert, ein Bett von der äußersten Sauberkeit, an den Wänden ein paar Riedingersche Tierstücke in glatten braunen Holzrahmen.
Als ich allein geblieben war und mir den Wanderstaub abgespült hatte, packte ich langsam, ohne recht zu wissen, warum, nur weil ich's jeden Abend so gehalten hatte, mein Ränzel aus, das ich ja nicht wieder einpacken sollte. Den »Werther« legte ich auf das Nachtkästchen, den Revolver darauf. Dann trat ich ans Fenster, öffnete es und schaute in die stille Nacht hinaus. Das Fenster ging auf den freien Platz neben dem Hause, drüben eingesäumt durch den dichten Wald. Es regte sich kein Laut ringsum. Hinter dem Wirtshaus aber schlug laut und unermüdlich eine Nachtigall, deren sehnsüchtige Stimme mir fast an jedem meiner Wanderabende alle meine Schmerzen wieder aufgerührt hatte.
Ich trat endlich vom Fenster zurück und nahm meinen »Werther« in die Hand, aus dem ich mir laut vorzulesen begann, wie ein anderer armer Sünder, wenn die Stunde seiner Justifizierung heranrückt, die Gebete hersagt, die er in der Kinderschule gelernt hat. Ich war so hochgestimmt in dieser Stunde, daß auch alles irdische Bedürfnis mir fern trat und ich sehr unwirsch aufblickte, als die Magd anklopfte und mich zum Essen hinunterrief.
Ich löschte aber doch das Licht und ging hinab. Wie wunderlich hätte es ausgesehen, wenn ich erklärt hätte, ich wolle nun doch lieber ungegessen zu Bette gehen.
In dem Wirtsgarten unten fand ich einen der kleineren Tische sauber gedeckt, ein Licht in einer Glasglocke stand in der Mitte, ringsumher die dämmrige Nacht unter den Ahornwipfeln, durch die sich das Mondlicht herabstahl. Ich setzte mich zu meiner Henkersmahlzeit und ließ mir eine Flasche Hochheimer bringen, nicht sowohl um das letzte Lebensfest mit einem edlen Trunk zu begehen, als, wie ich mir freilich nicht eingestand, weil es mir zweckmäßig schien, zu der unheimlichen letzten Reise, die bevorstand, durch einen feurigen Stegreiftrunk mir Mut zu machen, wenn ich auch in meinem Entschluß nicht einen Augenblick wankend gemacht wurde. Auch eine letzte Zigarre zündete ich mir an, wie eine Friedenspfeife nach dem Kampf des Lebens, der mich so viel Herzblut gekostet hatte.
Eben überlegte ich, ob ich oben auf meinem Zimmer oder im Walde drüben ein Ende mit mir machen sollte, da sah ich durch die Reihe der Tische die Wirtin daherkommen, mit einem freundlichen Nicken und der Frage, ob es mir geschmeckt und ob ich noch etwas anderes wünsche. Sie blieb, da ich das Essen und den Wein lobte, mir gegenüber am Tische stehen und bemerkte, es möchte wohl besser sein, mich jetzt ins Haus zurückzuziehen, es sei hier doch kühl und feucht unter den Bäumen zu dieser frühen Jahreszeit, und zumal für einen Kranken –
Ich unterbrach sie mit der Erklärung, ich sei ganz gesund. Wie sie auf den Gedanken komme?
O, schon auf den ersten Blick habe sie erkannt, wie's mit mir stehe, und auch die alte Kathrin habe gleich gesagt, der junge Herr komme wohl eben von einer schweren Krankheit her oder laufe ihr entgegen. Nun, wenn sie sich darin geirrt hätten – so viel sei jedenfalls wahr, daß ich einen großen Kummer haben müsse, der mich so elend aus den Augen schauen mache. Sie glaube auch den Grund erraten zu haben: es sei Liebesgram, und zwar ein sehr heftiger. Denn sonst würde mir's doch nicht einfallen, mich totschießen zu wollen.
Ich fuhr zusammen, als ich so ganz unerwartet mein Geheimnis enthüllt sah. Ohne geradezu zu leugnen, fragte ich nun, woher sie das vermute.
O, sagte sie sehr ruhig, es sei ihre Gewohnheit, wenn jemand in ihrem Hause übernachte, in seinem Zimmer selbst nachzusehen, ob es auch an nichts fehle. Selbst auf ihre alte Kathrin sei nicht immer Verlaß. Da habe sie denn auf meinem Tische das Buch gefunden, »Werthers Leiden«, und daneben den Revolver. Es sei nicht schwer gewesen, auf diese zwei Dinge im Zusammenhang mit meiner blassen Leidensmiene sich einen Vers zu machen. Sie aber müsse sich's verbitten, daß man etwa ihr friedliches Haus in den Ruf brächte, eine bequeme Herberge für Selbstmörder zu sein, und so werde sie mich jetzt nicht eher aus den Augen lassen, als bis ich ihr mein Ehrenwort gegeben habe, wenigstens solange ich ihr Gast sei, keine solchen Dummheiten zu machen.
Sie hatte sich, während sie sprach, mir gegenübergesetzt, und ich konnte ihr hübsches, charaktervolles Gesicht mit dem Doppelkinn und den frischen vollen Lippen recht gründlich studieren. Ein Zug von ernster Güte umspielte ihren Mund, zugleich ein überlegenes Mitleid, wie gegenüber einem törichten Kinde, das nicht ganz zurechnungsfähig ist.
Das reizte mich endlich, ihr zu beweisen, es handle sich um keine Kinderei; niemand könne mir's als Leichtsinn auslegen, wenn ich die übermäßige Last, die mir aufgeladen, nicht länger tragen wolle. Und so erzählte ich ihr meine ganze trübselige Geschichte, und als letzten Trumpf spielte ich den nagenden Schmerz aus, die Geliebte unglücklich zu wissen und ihr nicht helfen zu können.
Sie hatte mich ruhig angehört, mit keiner Miene verraten, daß sie über meine Erlebnisse und ihre Wirkung auf mein Gemüt anders denke, als ich voraussetzte. Auch als ich jetzt das Bild meiner Liebsten, das ich natürlich bei mir trug, aus der Brieftasche nahm und ihr hinhielt, mit der Frage, ob es zu denken sei, daß man den Verlust eines solchen Wesens je verschmerzen könne, betrachtete sie das Kärtchen eine Weile schweigend und gab es dann zurück mit den Worten: Ein hübsches Kind. Aber glauben Sie, daß dies gute Wesen lebenslang Ihnen nachtrauern werde?
Nein, fuhr sie fort, als ich eben den letzten Brief meiner verlorenen Braut hervorziehen und damit den Beweis liefern wollte, wie sehr sie an mir gehangen – nein, ich bezweifle gar nicht, daß Sie beide jetzt kreuzunglücklich sind. Aber das Leben, lieber Herr, hat allerlei Heilmittel in seiner Apotheke. In zehn Jahren vielleicht, wenn anders der Mann, der sie Ihnen weggefischt hat, kein schlimmer Geselle ist – und das behaupten Sie ja selbst nicht –, hat sich das liebe Frauchen, das inzwischen ein paar Kinder bekommen hat, über das Unglück seiner ersten Liebe gewiß getröstet. Mein Gott, wenn man nicht bekommt, was man liebt, muß man lieben, was man bekommt. Und auch Sie – haben Sie denn nicht auch allerlei Trostmittel, die sicher anschlagen werden, wenn Sie sie nur mit gutem Willen gebrauchen wollen? Bei jedem Unglück soll ja immer ein Glück sein. Nun, Sie haben, wie Sie mir gesagt, um früher heiraten zu können, Ihr Lieblingsstudium aufgegeben. Können Sie nun nicht zu dem zurückkehren? Und wenn Ihnen die Luft von Jena verleidet ist, steht Ihnen nicht jede andere Universität offen? Schämen Sie sich, lieber junger Herr, daß Sie die Flinte gleich ins Korn werfen wollten! Und an das Herzeleid, das Sie Ihrer guten Mutter gemacht hätten, haben Sie gar nicht gedacht?
Ich sagte ihr, daß ich keine Eltern mehr hätte, und niemand, außer ein paar Kameraden, mir sonderlich nachtrauern würde.
Nun, sagte sie, da irren Sie sehr. Ich zum Beispiel würde es lange nicht verwinden, wenn ich nicht im stande gewesen wäre, Sie beim Schlafittchen zurückzuhalten, als Sie den Sprung ins Dunkle machen wollten. Sie müssen nicht denken, ich sei eine so empfindsame, weichliche Seele, die vor dem Todesgedanken schaudert, so daß ich alle Lebensnöte, auch die entehrendsten, lieber ertragen würde, als, wie Hamlet sagt, mich in Ruhstand zu setzen mit einer Nadel bloß.
Ich sah sie groß an. Wie kam die einfache Frau, die Waldhornwirtin, zu diesem klassischen Zitat?
Ja, fuhr sie fort, ich hüte mich zwar, unserm Pastor dergleichen ins Gesicht zu sagen; man hat zu verschiedene Ansichten von Gott und Welt. Ihnen aber mache ich kein Hehl daraus, daß ich keine Todsünde darin sehe, wenn ein armer Mensch, dem die Lebensqual über den Kopf wächst und der keinerlei Nächstenpflichten dadurch verletzt, sich aus der Welt schafft. Nur ist das denn doch eine so ernste Sache, daß man sich's dreimal überlegen muß, ob es wirklich so desperat steht und nicht noch aus irgend einem Winkel Hilfe kommen kann und Heilung für ein Leiden, das einen zu erdrücken schien.
Gewiß, sagte ich. Aber das Urteil hierüber steht jedem allein zu. Zum Beispiel in meinem Fall –
O Sie Kind! unterbrach sie mich. Wieviel haben Sie denn schon vom Leben erfahren, um sich ein ganz sicheres Urteil darüber zuzutrauen, was Ihnen noch an Hilfsmitteln zu Gebote stünde, wenn Sie sich noch eine Weile gedulden! Sehen Sie, ich war auch einmal in Ihrem Falle, ja noch ein gut Stück älter, und glaubte auch, ich sei da angelangt, wo meine Welt mit Brettern vernagelt sei. Wenn sich da nicht ein Zufall meiner erbarmt und mich von dem letzten Schritt zurückgerissen hätte, säße ich jetzt nicht hier Ihnen gegenüber und könnte Ihren Schutzengel machen. Ja und was hätte ich nicht alles an Glück und Freude verscherzt, was doch wahrhaftig der Mühe wert war erlebt zu werden!
Nun, ich will's Ihnen erzählen, zum abschreckenden Exempel, obwohl ich Ihnen nicht im besten Lichte erscheinen werde. Aber daß ich einmal eine große Dummheit begangen habe, die strenge Richter sogar eine Sünde nennen, habe ich überhaupt nie zu verstecken gesucht; auch wissen ja die lieben Freunde und Nachbarn alle darum, und die meisten denken darum nicht schlechter von mir. Hab' ich als ein kopfloses junges Ding gefehlt, nun, so hab' ich das meinige getan, es in zwanzig Jahren wieder gutzumachen.
Und nun erzählte sie mir ihre Geschichte. Sie war die einzige Tochter eines bayerischen Majors, dem die Frau früh gestorben war. So hatte sie der Vater, ein schroffer, kaltherziger Mann, nicht von sich lassen wollen, um sein Hauswesen nicht in fremde Hände zu geben. Von allen Leutnants, mit denen sie getanzt, hatte auch keiner sie ernstlich umworben, so schön sie gewesen sein mußte. Sie besaß nur ein sehr kleines mütterliches Vermögen; der Vater war auf seinen Sold angewiesen.
Dann, als sie schon die Dreißig erreicht hatte, war ein Münchener Maler nach Würzburg, wo sie damals lebte, gekommen, der hatte sich in sie verliebt und sie so für sich einzunehmen gewußt, daß sie seinen Schwüren traute und ihm nichts mehr versagte. Der Bräutigam, für den sie ihn gehalten, war aber plötzlich zu seiner sterbenden Mutter gerufen worden, hatte seitdem auf alle ihre Briefe nur mit der gedruckten Todesanzeige geantwortet, und von einem seiner Bekannten hatte sie gehört, er sei nach Italien gereist.
Sie schilderte mir nicht ausführlicher ihren Zustand und ihre Gefühle. Nur daß der Vater sie verstoßen habe und sie zu einer Schulfreundin habe flüchten wollen, die in Berlin verheiratet war. Unterwegs, in einem Gasthof, wo sie eine Woche krank gelegen, hatte man ihr die sechs- bis siebenhundert Taler in Staatspapieren, die sie besaß, aus dem Koffer gestohlen. Sie war zu stolz, zu borgen oder zu betteln, und dachte die Reise zu Fuß fortzusetzen. Da sie aber, um mit ihren paar Pfennigen zu reichen, nur wenig Nahrung zu sich nahm, brach sie am dritten Tage ihrer Wanderung zu Tode erschöpft an der Landstraße zusammen.
Es sei ein trüber, regnerischer Tag gewesen. Je länger sie auf dem nassen Steinhaufen gesessen, desto erbärmlicher sei ihr zu Mute geworden. Was sollte aus ihr werden? Wie würde sie im stande sein, in der fremden Stadt sich und das Ungeborene zu erhalten, ohne anderen zur Last zu fallen? Und zu welchem Schicksal würde sie das arme Wesen in die Welt setzen?
Sie werden zugeben, sagte sie, von allen Fällen, in denen ein armes Menschenkind von seinem schweren Herzen in den dunkeln Abgrund der Vernichtung hinabgezogen wird, war meiner einer der verzweifeltsten. Unglück, Verrat durch den Menschen, der mir der Teuerste gewesen war, Armut und Schande und eine völlig dunkle Zukunft – je mehr ich das alles überdachte, desto deutlicher hörte ich die Stimme in mir: Mach ein Ende! Rette dich und das Kind und zeige, daß du ein Soldatenkind bist und dem Tode fest ins Auge sehen kannst!
Die Gelegenheit war ja auch so günstig.
Nur hundert Schritte von der Landstraße, wo ich saß, entfernt, floß die Saale unter Erlen und Weidenbüschen. Ich sah, da ich aufstand, die klare Welle, die ein so reinliches Sterbebett sein mußte. Weit und breit kein Mensch, und da ich auch den einzigen, dem ich etwas schuldig war, meinen Vater, durch diesen hastigen Abschied von der Welt nicht sehr betrüben, eher sein enges Gemüt erleichtern würde, wenn das Wasser der Saale den Schandfleck von seinem Ehrenschilde wegwüsche, warum sollte ich mich länger besinnen?
Und doch, die fünf Minuten, die ich mich noch besann, brachten einen Wechsel meines Schicksals, wie ich ihn nicht im Traum hätte hoffen können.
Ein offenes Wägelchen rollte heran, da ich eben die paar Schritte nach dem Flusse zu tun wollte. Als es mich erreicht hatte, hielt es an. Unter dem Vordach sah ein gutes, kräftiges Männergesicht nach mir hin, und ich hörte eine freundliche Stimme fragen, ob ich nicht vorzöge, einzusteigen und mitzufahren, wenn ich in derselben Richtung weiter wollte.
Der Mann, der das fragte, war der Besitzer des Gasthofs »Zum Waldhorn«. Er hatte in der Nachbarschaft ein Geschäft gehabt und kehrte nun nach seinem Hause zurück. Sein Betragen war so gütig und ritterlich, daß er mir Einsamen, die schon mit dem Leben abgeschlossen hatte, das Herz öffnete. Ich verschwieg ihm nichts von meiner Geschichte, ich hatte den Gedanken an den Tod ja noch nicht aufgegeben; was ich ihm erzählte, war wie eine Beichte auf dem Sterbebett.
Er aber redete mir diesen sündhaften Gedanken mit freundlichem Ernste aus, und was er ferner an mir tat, ließ mich auch nie darauf zurückkommen. Ich blieb fürs erste in seinem Hause. Als ich dann mein Kind geboren und das Wochenbett überstanden hatte, trat ich eines Morgens vor ihn hin und wollte Abschied nehmen. Denn ich dachte noch immer, da die Berliner Freundin mich dringend zu sich eingeladen hatte, mich dort nach einer Tätigkeit umzusehen. Er aber ließ mich nicht fort. Er war seit anderthalb Jahren verwitwet und hatte zwei Knaben, von sechs und vier Jahren, die sich, während ich im Hause war, sehr an mich angeschlossen hatten. Ob ich denen die Mutter und ihm die Frau ersetzen wolle? fragte er mich. Meine Tochter solle wie sein leibliches Kind gehalten werden.
Nicht einen Augenblick in den vierzehn Jahren meiner Ehe habe ich es zu bereuen gehabt, daß ich dies hochherzige Anerbieten annahm. Meine kleine Marie hat wirklich einen Vater an dem lieben, trefflichen Manne gehabt und Brüder an seinen Söhnen. Der Älteste ist jetzt in einem Hamburger Hause angestellt, der Jüngere, etwa von Ihrem Alter und auch sonst Ihnen merkwürdig ähnlich – meine alte Kathrin bemerkte es auch – der Fritz also ist noch auf der Forstwirtschaftlichen Hochschule in Aschaffenburg. Was ich an meiner Tochter habe, seit ich den Mann verloren, kann ich niemand sagen; das beste Glück wäre gerade gut genug für sie, all ihre hilfreiche Liebe zu belohnen. Und so bin ich, wie Sie sehen, eine glückliche Frau, nun gerade so vom Schicksal begünstigt, wie es mich an jenem grauen Tage zu mißhandeln schien. Und Sie, lieber junger Freund, nur weil Sie Ihren ersten Liebestraum nicht in Erfüllung gehen sahen – Sie wollten der Vorsehung vorgreifen, die vielleicht auch Ihnen noch die schönste Zukunft zugedacht hat? Schämen Sie sich, oder nein, sehen Sie mir frei und mutig ins Gesicht und versprechen Sie mir, sich an meine Geschichte zu erinnern, wenn Sie einmal wieder schwarze Gedanken haben sollten. Sie haben keine Mutter gehabt. Lassen Sie mich Mutterstelle an Ihnen vertreten und geloben Sie mir, ein guter und gehorsamer Sohn zu sein, an dem ich noch Freude und Ehre erleben werde.
*
Damit stand die liebe Frau auf, trat dicht an mich heran und streckte mir beide Hände entgegen. Ich war so bewegt durch die einfache Güte und Herzenswärme, die von ihr ausstrahlte, daß ich nur schweigend ihre Hände ergreifen und einen heißen Kuß darauf drücken konnte. Sie aber faßte meinen Kopf, zog mich zu sich empor und küßte mich auf die Stirn. Da übermannte mich mein Gefühl und ich brach in Thränen aus.
Gutes Kind! sagte sie, mir das Haar streichelnd, weinen Sie nur! Ich verlange keine andere Antwort von Ihnen und nehme diese Thränen für ein stillschweigendes Gelübde, daß Sie mir folgen und sich ins Leben wieder zurückfinden wollen. Um Ihnen dabei zu helfen, bitte ich Sie, mir die Photographie Ihrer Geliebten auszuliefern, damit ich sie Ihnen aufhebe, bis der Anblick des schönen Gesichts keine Gefahr mehr für Sie hat. Den Revolver fordere ich Ihnen nicht ab. Der ist nun unschädlich, und auch im »Werther« werden Sie heute nacht nicht mehr lesen. Und nun wünsche ich Ihnen wohl zu schlafen, lieber Sohn, und morgen früh müssen Sie mir durch ein ganz heiteres Gesicht beweisen, daß die Worte Ihrer neuen Mutter eine gute Statt bei Ihnen gefunden haben.
Noch einmal strich sie mir mit ihrer festen, warmen Hand das Haar aus der Stirn, nickte mir herzlich zu und ließ mich unter den mondbeglänzten Ahornwipfeln allein.
Mir war ungefähr so zu Mute, wie dem Propheten Jonas, nachdem ihn der Walfisch wieder ausgespieen hatte.
Aber nicht allein, daß ich mich nach dem langen dunkeln Hinbrüten im Vorhof des Todes dem Leben wiedergegeben fühlte; die Art, wie das geschehen war, das Gefühl, nun eine mütterliche Seele mein zu nennen, die mein verwaistes Schicksal in ihre festen, ruhigen Hände genommen hatte – das erschien mir fast wie ein Traum, der vielleicht am Morgenlicht wieder verschwinden würde.
Einstweilen aber fühlte ich's als Wirklichkeit und gab mich con amore dem Genuß dieser wundersamen Stunde hin. Endlich aber hatte ich die Flasche geleert und die Zigarre ausgeraucht. So mußte ich mich wohl entschließen, zu Bett zu gehen.
Ich holte mir ein Licht in der Küche, wo mir die Kathrin mit einer teilnahmvollen Miene »Gute Nacht« sagte. Als ich aber oben auf dem Gange an den Zimmern vorbeikam, die von der Herrin des Hauses und ihrer Tochter bewohnt wurden, hörte ich seltsame Töne, die mich unwillkürlich vor der Tür festhielten: gedämpftes Weinen und Jammern einer jungen Stimme, das von der wohlbekannten meiner neugewonnenen Mutter beschwichtigt werden sollte, ohne daß es gelang. Ich gehörte nun doch noch nicht genug zur Familie, um ein Recht zu haben, in ihre intimen Geheimnisse einzudringen. So gern ich gewußt hätte, ob ich in nichts dazu beitragen könnte, dem anmutigen Mädchen, das ich nur im Fluge gesehen, brüderlich beizustehen – ich mußte die beiden Frauen sich selbst überlassen und mein Zimmer aufsuchen.
Da stand ich freilich noch lange am offenen Fenster, jetzt in ganz anderem Entzücken über die hellgestirnte Nacht, den säuselnden Wald und das Liebesschluchzen der Nachtigall. Ein Poet an meiner Stelle hätte sein Herz in Verse ausgeströmt. Daß ich dessen nicht fähig war, erhöhte vielleicht noch die stille Macht meiner Empfindungen.
Dann, nachdem ich den Revolver zuunterst in meinem Ränzel eingepackt hatte, da mir sein Anblick jetzt als ein blanker Hohn vorkam, schlief ich die Nacht wie ein neugeborenes Kind und wachte erst auf, als die Sonne drüben auf den Fichtenzweigen schimmerte. Ich ging eilig hinunter zu meinem Frühstück. Ich hatte mir so vieles ausgedacht, was ich meiner Lebensretterin sagen wollte, nachdem ich ihr gestern nur mit Thränen gedankt hatte. Als sie mir aber unten in dem geräumigen Wirtszimmer begegnete, schien sie mir so völlig verwandelt, daß ich nichts von allem, was ich sagen wollte, über die Lippen brachte.
Nicht, daß sie sich unfreundlich mir entzogen hätte. Sie sprach aber kaum ein Wort, stellte mir das Frühstück auf den Tisch, ohne mich anzusehen, und wollte wieder hinausgehen. Da faßte ich mir ein Herz und sagte: Sie haben etwas Unangenehmes erlebt, seit wir uns »Gute Nacht« gesagt haben, gestehen Sie es, liebe Frau Mutter! Da Sie mir einmal Sohnespflichten auferlegt haben, nehme ich auch mein Sohnes recht in Anspruch, von allem Kummer, der Ihr Mutterherz bedrückt, meinen Pflichtteil zu fordern. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und sagen Sie mir, was Sie um Ihre heitere Ruhe gebracht hat.
Sie ließ sich denn nicht lange bitten, und so erfuhr ich, was die Ursache des nächtlichen Aufruhrs gewesen war.
Der Sohn des Ehepaars, das die Sägemühle drüben besaß, war mit der um fünf Jahre jüngeren Tochter der Frau Harscher aufgewachsen, in einer munteren Spielgenossenschaft, bei der niemand etwas Anstößiges gefunden hatte. Sein Vater hatte ihn dann auf eine Realschule getan, darauf in einem Polytechnikum sich zum Ingenieur ausbilden lassen, so daß er späterhin immer nur in kurzen Ferienzeiten in die Heimat und zu seiner Jugendgespielin zurückkehrte. Beide aber hingen so fest aneinander, daß jedermann sie seit lange für ein heimlich verlobtes Paar angesehen hatte, und da der junge Mann ein sehr wackerer, ganz unbescholtener Bewerber war, hatte ihn auch die Mutter des Mädchens im stillen als ihren künftigen Schwiegersohn betrachtet, obwohl noch kein bindendes Wort gesprochen worden war.
Nun aber, da er in dieser Pfingstzeit wieder erschienen war, bei einer großen Eisenbahngesellschaft fest angestellt und somit im stande, eine Frau heimzuführen, sollte endlich von beiden Seiten die Sache richtig gemacht werden. Der heimlich Verlobte hatte seiner Liebsten versprochen, gestern abend, nachdem er die Einwilligung seiner Eltern erbeten, noch herüberzukommen und ihr Bescheid zu bringen. So ganz sicher freilich war er seiner Sache nicht, denn seine Mutter, obwohl sie gegen die Marie immer nur eine kühle Freundlichkeit gezeigt hatte, verhielt sich schroff abweisend gegen die Waldhornwirtin, offenbar aus einer tiefgewurzelten Eifersucht, da die liebenswürdige Frau bei allen, den eigenen Mann der Sägemüllerin nicht ausgenommen, sich der größten Beliebtheit erfreute, während sie selbst als eine enge, herrschsüchtige Seele niemand zum Freunde hatte.
Ihr Gatte fürchtete sie so sehr wie ihr Sohn, und so hatte der Vater dem Bunde der beiden seinen Segen nur mit Vorbehalt gegeben. Die Mutter verweigerte ihn rundweg. Sie hatte nur ein leidenschaftlich warmes Gefühl: die Liebe zu ihrem Sohn. Daß der die Tochter einer ihr verhaßten Frau heimführen, nicht höher hinaus wollte, als der Schwiegersohn einer Gastwirtin zu werden, brachte sie in helle Wut. Auf die Frage des Sohnes, warum sie doch ohne Widerspruch geduldet habe, daß er seine ganze Jugend mit diesem lieben Mädchen zusammen verleben konnte, erwiderte sie in höchster Bosheit, sie habe sich nicht vorstellen können, daß es ihm mit seinen Gefühlen für das Mädchen jemals Ernst sein könne und er sich nicht scheuen würde, seiner ehrbaren Mutter ein uneheliches Kind als Schwiegertochter zuzuführen.
Als ich am gestrigen Abend die Marie vor der Tür hatte stehen und nach der Schneidemühle hinüberschauen sehen, hatte sie die Antwort der Eltern erwartet, schon in banger Ahnung, daß sie nicht nach ihren Wünschen ausfallen würde. Dann war ihr Liebster gekommen, in heller Verzweiflung; den entscheidenden Grund der Weigerung hatte er ihr verschwiegen, nur im allgemeinen von der Abneigung seiner Mutter gegen die ihre gesprochen. Die kluge Frau aber hatte sofort die Wahrheit erkannt. Sie hat schon sonst jenen einen Fehltritt meiner dummen Jugend zu allerlei Stachelreden benutzt, sagte sie. Jetzt ist er ihr ein willkommener Vorwand, ihr gehässiges Herz gegen mich der Welt gegenüber zu beschönigen. Kann ich dafür, daß die Menschen mir ein freundlicheres Gesicht zeigen als dieser unguten, kaltherzigen Seele, die keinem Menschen sein bißchen Lebensfreude gönnt? Auch wäre mir's ganz gleichgültig, wie sie zu mir gesinnt ist, wenn mein armes Kind nicht darunter leiden müßte. Denn ich kenne meine Marie. Sie hat ein stilles, aber nachhaltiges Gemüt. Wenn sie diesen guten jungen Menschen nicht bekommt, den sie lieb gehabt hat, solange sie denken kann, wird sie nie wieder lachen, und kein anderer wird ihr jemals begegnen, der sein Bild aus ihrem Herzen verdrängen wird. Sie ist ja in unserer Waldeinsamkeit aufgewachsen, da haben die paar Gefühle ihres jungen Herzens Zeit gehabt, sich tief in ihr einzuwurzeln. Es ist ein großer Jammer! Und gestern war ich noch so blind, mich meines Glücks gegen Sie zu rühmen!
Ich kann nicht sagen, wie sehr mir der Kummer der trefflichen Frau zu Herzen ging. Was hätt' ich nicht darum gegeben, die Dankesschuld, die ich ihr gegenüber fühlte, jetzt, da sie selbst rat- und hilflos war, irgendwie abtragen zu können. Ich erging mich in allerlei fruchtlosen Exklamationen, besonders gegen die unterwürfige Schwachherzigkeit des jungen Menschen, der ja volljährig war und sein Brot sich selbst verdiente und dennoch von der bösen Mutter sich gängeln ließ. Da nahm sie ihn aber in Schutz. Die Mutter werde sowohl von ihm als von ihrem Manne schonend behandelt, da sie, wenn sie in einen ihrer Wutanfälle gerate, Gefahr laufe, durch einen Herzkrampf plötzlich hingerafft zu werden.
Die Bemerkung, die mir auf der Zunge lag, das wäre nun auch kein Schade, unterdrückte ich mühsam. Auch wurde die gute Frau, die ich heute früh noch inniger liebte und verehrte als gestern, zu einem häuslichen Geschäft abgerufen. Mich duldete es dann auch nicht länger im Hause. Ich ging in den Wald hinaus, beständig darüber nachsinnend, wie dem lieben Mädchen zu helfen wäre, zu dem ich, obwohl ich es nur einmal flüchtig gesehen, als zu dem Kinde meiner mütterlichen Lebensretterin ein ordentlich brüderliches Gefühl hegte.
Ein unbewußter Drang trieb mich in die Gegend der Schneidemühle, die bereits wieder in vollem Gange war. Das scharfe, eintönige Zischen der Säge klang mir so widrig, als tönte darin die feindselige, schroffe Stimme der bösen Frau. Wenn ich ihr nur einmal zufällig begegnete, da sollte sie's zu hören kriegen! Es war aber rings um den Mühlenschuppen und das saubere Wohnhaus herum keine Menschenseele zu erblicken, als der Aufseher beim Sägewerk, und schon überlegte ich, ob ich diesen nach dem jungen Herrn fragen sollte, als auf der Straße, die durch den Föhrenwald lief, ein Jüngling daherkam, in dem ich schon an der Art, wie er den Kopf hängen ließ, den unglücklichen Bräutigam erkannte.
Er gefiel mir soweit ganz gut, bis auf eine etwas schlaffe, trübsinnige Manier, sich zu bewegen, die ihm ein unmännliches Ansehen gab. Ich war freilich nicht berechtigt, mich deshalb über ihn erhaben zu dünken. Wer weiß, wie ich selbst noch gestern den Menschen, die mir begegneten, erschienen war! Also näherte ich mich ihm, gab mich als einen Freund der Waldhornfamilie zu erkennen und erklärte, ich sei gekommen, um zu hören, ob mit dem gestrigen Bescheide alles aus und nichts mehr zu hoffen sei. Ich wenigstens begriffe nicht, warum die Mutter mit ihrem Starrsinn recht behalten solle.
Er antwortete sehr niedergeschlagen, als ein guter Sohn, mit demselben Argument, das schon die Mutter der Marie für ihn angeführt hatte, und als ich erklärte, ich könne mich dabei nicht beruhigen, wolle erst noch mit seinem Vater sprechen, erwiderte er ordentlich erschrocken, der Vater sei heut früh abgereist, er habe es nicht mitansehen können, wie seine Frau sich auf ihrem Widerspruch versteife und den eigenen einzigen Sohn unglücklich mache, und doch sei fürs erste nichts zu tun, als zu warten und auf eine günstige Wendung von ungeahnter Seite zu hoffen.
Nun, vielleicht wäre ich im stande, diese günstige Wendung herbeizuführen, sagt' ich und trat, ohne auf die bestürzte Miene des Herrn Ingenieurs zu achten, ins Haus. Eine Inschrift an der Tür rechts sagte mir, daß hier das Geschäftszimmer sei. Auf mein Klopfen wurde von einer harten Altstimme »Herein« gerufen, und als ich eintrat, sah ich mich einer kleinen grauhaarigen Frau gegenüber, die an einem großen Bureau saß und allerlei Papiere um sich her durchzusehen schien.
Sogleich verglich ich sie im stillen mit meiner gestern gewonnenen Mutter und sagte mir, wie gut es mein Stern mit mir gemeint, daß er mich zu einem solchen Prachtexemplar des Geschlechts geführt hatte, während ich ein Weib, wie das da vor mir, auch wenn es mein Leben gerettet hätte, nie würde lieben können.
Die Abneigung war auch diesmal, wie gewöhnlich, gegenseitig. Die Frau sah mich mit einem bösen Blicke an und fragte mit einer Stimme scharf wie die Säge draußen nach meinem Begehr. Sie bot mir nicht einmal einen Stuhl an. Ich aber war so frei, mich dennoch ohne weiteres niederzulassen, und fing ganz höflich an, ich sei nur gekommen, um zu fragen, ob es wirklich ihr Ernst sei, was ich gehört, daß sie nämlich ihrem Sohn die Erlaubnis nicht geben wolle, Fräulein Marie Harscher, seine Jugendgeliebte, zu heiraten.
Es war fast drollig, die Wirkung dieser plötzlich abgefeuerten Bombe zu beobachten. Mir aber war die Sache viel zu ernst, und heimlich klopfte mir das Herz bei dem Gedanken, durch mein Eingreifen am Ende noch das Übel ärger zu machen.
Als die Frau sich von der ersten sprachlosen Verblüffung erholt hatte, fragte sie in einem spitzen, eisigen Ton, wie ich mich unterstehen könne, mich in eine Familienangelegenheit zu mischen, die mich nichts anginge.
Oho! sagte ich, da sind Sie sehr im Irrtum, Madame! Meine Mutter hat mir selbst diese Mitteilung gemacht, und so habe ich doch wohl das brüderliche Recht und die Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß meine liebe Schwester so glücklich werde, wie sie es verdient.
Ihre liebe Schwester? höhnte die gereizte Dame ganz giftig. Ich habe bis heute nicht gewußt, daß die Waldhornwirtin außer den beiden Stiefsöhnen noch einen eigenen Sohn hat. Aber freilich, auf die Art, wie sie zu ihrer Tochter gekommen ist –
Das machte mich wild. Um jeden Preis mußte der tugendstolze Hochmut dieser boshaften Person geduckt werden, selbst wenn es damit nicht ohne eine massive Flunkerei abging. Zum Glück fiel mir wieder ein, daß ich mit dem jüngeren der beiden Brüder, dem Forstakademiker, eine auffallende Ähnlichkeit haben sollte. Ich besann mich also nicht, ganz keck zu erwidern: Es tut mir leid, Madame, daß Sie kein besseres Gedächtnis haben, so daß ich mich Ihnen ganz von neuem vorstellen muß: Fritz Harscher – jetzt entsinnen Sie sich vielleicht. Ich bin Ihnen allerdings ein paar Jahr aus den Augen gekommen – Sie hatten für die Kinder meiner Mutter nie viel übrig – und auch bei diesem Ferienbesuch hätte ich mich Ihnen gewiß nicht aufgedrängt, aber die Pflicht gegen meine Schwester macht es zu meinem Bedauern nötig.
Ich war nicht ganz sicher, daß ich jeden Zweifel in ihr erstickt hatte. Darum stand ich auf und sagte: Es ist Ihre Geschäftsstunde, und ich will nicht länger stören. Auch wäre es überflüssig, hin und her zu streiten über die Gründe, die Sie zu Ihrer feindseligen Haltung bestimmen. Ich erkläre Ihnen nur, daß ich nicht gesonnen bin, meine unschuldige Schwester unter Ihrer ganz unberechtigten Abneigung leiden zu sehen. Wie ich sie kenne, wird dies zerstörte Liebesglück nie von ihr verschmerzt werden und die Ursache ihres frühen Todes sein. Dies gedenke ich, soviel an mir liegt, zu verhindern, und da ich Ihnen gegenüber, als einer Frau, waffenlos bin, werden Sie es begreiflich finden, daß ich mich an Ihren Sohn halte, der charakterlos genug ist, sein feierlich gegebenes Wort nicht zu halten, aus Furcht vor einer eigenwilligen und verblendeten Mutter.
Ich sah, wie sie bei dieser letzten Drohung die Farbe wechselte.
Sie wollen meinen Sohn zum Duell herausfordern? stammelte sie.
So töricht bin ich nicht, versetzte ich ganz gelassen. Das Duell ist kein Gottesgericht. Es wäre möglich, daß Ihr Herr Sohn mich erschösse, so daß meine Schwester dann nicht bloß den Bräutigam, sondern auch den Bruder verlöre. Nein, werte Frau, ich habe vor, ihn einfach über den Haufen zu schießen, wo ich ihn treffe. Sehen Sie, solange er lebt, würde meine Schwester sich nicht darüber beruhigen, daß sie nicht seine Frau hat werden können. Ist er einmal tot, so verblaßt mit der Zeit sein Bild, und sie ist im stande, sich mit einer neuen Liebe zu trösten. Ich aber – glauben Sie nicht, es könnte Eindruck auf mich machen, wenn Sie mich einen Mörder nennten. Ich würde, ließe ich den Abtrünnigen leben, eine mir viel teurere Person einem gewissen Tode überliefern. Auch die Furcht vor der Strafe schreckt mich nicht. Ehe die Tat ruchbar wird, bin ich über alle Berge und über das große Wasser, und da ich etwas gelernt habe, was mir überall mein Brot schaffen wird –
Mit diesen Worten zog ich den Revolver aus der Tasche, den ich eingesteckt hatte, um ihn im Freien loszuschießen. Jetzt kam er mir höchst gelegen, meiner abenteuerlichen Drohung Nachdruck zu verleihen.
Ich weidete mich schadenfroh an der Erschütterung, in die mein kaltblütiges Benehmen die Frau versetzt hatte. Ihre Hände wühlten fieberhaft in den Papieren auf ihrem Tische, sie rückte auf dem Stuhl hin und her, warf einen scheuen Blick auf die Waffe, mit der ich auf meinem Knie spielte, und sagte endlich: Das werden Sie nicht tun. Sie werden eine Mutter nicht ihres einzigen Sohnes berauben!
Warum nicht? bemerkte ich ruhig. Wenn Sie sich nicht bedenken, meine Mutter ihrer einzigen Tochter zu berauben? Aber wie Sie wollen. Ich kann Ihnen nicht vorschreiben, was Sie tun oder lassen sollen. Wenn Sie aber an der Festigkeit meines Entschlusses zweifeln, sind Sie sehr im Irrtum. Ich liebe meine Mutter viel zu innig, um nicht alles, was in meiner Macht steht, zu tun, ihr Kummer zu ersparen. Daher bleibt es bei dem, was ich gesagt habe. Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen.
Ich stand auf und steckte den Revolver wieder in die Brusttasche.
Sie überfallen mich wie ein Räuber am Weg, stammelte die ganz verwirrte Frau. Man entscheidet sich über dergleichen Lebensfragen doch nicht im Handumdrehen. Wenigstens drei Tage geben Sie mir Zeit, zu bedenken –
Ich zog die Uhr heraus.
Es ist jetzt neun, sagte ich. Drei Stunden Bedenkzeit will ich Ihnen gewähren. Wenn Sie um zwölf sich nicht herbeigelassen haben, das Haus meiner Mutter zu betreten und um die Hand ihrer Tochter für Ihren Sohn anzuhalten, so geschieht, was Sie ewig gereuen wird. Darauf können Sie sich heilig verlassen. Guten Morgen!
*
Kaum war ich draußen, mit dem triumphierenden Gefühl, meine Rolle gut gespielt zu haben, so tauchte um die Ecke des Hauses die melancholische Figur des Sohnes wieder auf.
Er ahnte natürlich nichts von der gelungenen Kriegslist. Er war zu streng erzogen, um unter dem offenen Fenster zu horchen, was ich mit der Mama verhandeln mochte, sondern sah mich fragend mit so hoffnungslosen Augen an, daß ich fast lachen mußte, obwohl er mich herzlich dauerte. Ich hielt mich aber nicht lange bei ihm auf. Seien Sie gutes Muts! raunte ich ihm zu. Es geht alles vortrefflich. Nur noch eine kleine Geduld. Aber hören Sie, wenn Ihre Mama fragen sollte, ob Sie den Fritz, den Bruder Ihrer Marie, gesehen hätten, so leugnen Sie entschieden. Übrigens würde es mich freuen, wenn Sie heute mittag im »Waldhorn« mit mir essen wollten. Also auf Wiedersehen zu Mittag!
Es war lustig anzusehen, mit wie großen Augen er mich anstarrte. Ich machte mich aber eilig davon, und nur, als mir die Mühle schon aus dem Gesicht war, blieb ich stehen und feuerte den Revolver in die blaue Luft ab.
Der Schuß hatte zweierlei Zwecke. Einmal war's ein Freudenschuß, da ich nicht zweifelte, zwei jungen Menschen zu ihrem Glück verholfen zu haben. Dann aber sollte er als Schreckschuß dienen, um die hartherzige Frau zu überzeugen, daß die Waffe wirklich geladen und es mir mit meiner Drohung Ernst gewesen war.
Im »Waldhorn« wieder angekommen, fand ich meine Frau Mutter wieder in der Küche, doch nicht am Herde beschäftigt, wo nur die Kathrin wirtschaftete, sondern auf einem Schemel sitzend, die Hände auf die Kniee gestützt und in tiefer Bekümmernis vor sich hin sinnend. Liebe Mutter, sagte ich, seien Sie nicht so verzweifelt. Ich komme eben von der Sägemühle und kann Ihnen sagen, es wird noch alles gut werden. Sorgen Sie nur für ein besonders gutes Mittagessen, ich habe mir einen Gast geladen.
Sie blickte erstaunt auf. Ich ließ mich aber auf nichts weiter ein, sondern ging hinauf in mein Zimmer. Hier postierte ich mich ans Fenster, von wo aus ich den freien Platz zwischen der Sägemühle und dem »Waldhorn« überblicken konnte. Ich vertraute fest auf den glücklichen Erfolg meiner diplomatischen Vermittlung. Doch wurde ich noch auf eine lange Geduldsprobe gestellt. Denn von den drei Stunden meines Ultimatums verstrichen zwei und eine halbe, ohne daß der Feind Anstalten machte zu kapitulieren.
Endlich aber, da meine Zuversicht eben ins Wanken kommen wollte, erschien drüben das ersehnte Paar, voran die kleine magere Gestalt der Mutter in einem schwarzen Seidenkleide, einen Hut mit hohen Federn auf dem grauen Starrkopf, einen Sonnenschirm in der Hand, die in einem weißen Handschuh steckte. So schwer ihr der Entschluß geworden sein mochte, jetzt wollte sie zeigen, daß sie gewußt, welche Toilette sich für eine so feierliche Gelegenheit schickte. Der Sohn ging einen Schritt hinter ihr, mit der Miene eines Menschen, der nicht recht weiß, ob er wache oder träume. Keins von beiden bemerkte mich oben auf meinem Lauerposten, der Sohn, weil er zur Erde blickte, die Mutter, weil sie unentwegt geradeaus sah wie ein Soldat, der auf eine feindliche Batterie losmarschiert.
Ich genoß nun das Vergnügen, mir die Szene drüben im Wohnzimmer auszumalen. Leider war ich zu diskret, mich auf den Gang hinauszuschleichen und durch die Tür die Verhandlung, die ich doch selbst angestiftet, zu belauschen. Ich hatte aber nicht lange zu warten, so wurde es lebhaft auf dem Korridor, die Frau Nachbarin und künftige Schwiegermama empfahl sich, nicht allzu zärtlich, wie ich hören konnte, aber der Not gehorchend in aller Höflichkeit, und verbat sich so entschieden, daß irgend jemand sich damit bemühe, sie die Treppe hinabzubegleiten, daß die andern drei denn auch nachgeben und oben zurückbleiben mußten.
Kaum aber sah ich die kleine schwarze Dame auf dem Rückweg nach ihrem Hause begriffen – wohl nie war Schadenfreude über eine Niederlage berechtigter, als die ich empfand – so verließ ich meinen Versteck und klopfte drüben an der Tür meiner neuen Familie an.
Ich fand sie in einer wunderlichen Aufregung von Freude, Überraschung und Rührung, und sowie ich mich zeigte, liefen alle drei auf mich zu und bestürmten mich, ihnen zu erklären, wie ich das Wunder zu stande gebracht hätte. Liebe Mutter, sagte ich, Sie haben gestern abend die Hoffnung ausgesprochen, daß ich Ihnen ein guter Sohn sein würde, an dem Sie noch Ehre und Freude erleben möchten. Sie können mir nun wohl nachfühlen, daß ich nur Ihren Kummer wie den einer leiblichen Mutter zu Herzen nehmen mußte, und nichts konnte mich glücklicher machen, als daß es mir gelang, alles, was Ihrem Herzenswunsch im Wege stand, zu beseitigen. Und nun erzählte ich, was ich drüben in der Sägemühle ausgerichtet hatte. Eine List war's freilich, schloß ich, aber keine Lüge, wenn ich von meiner brüderlichen Pflicht sprach, da ich die Tochter meiner teuren Mutter doch gewiß Schwester nennen darf. Und wenn der Herr Bräutigam nichts dagegen hat, möchte ich mir sofort erlauben, in aller Form mit ihr Brüderschaft zu machen, wie es unter uns Studenten Sitte ist.
Man hatte dem Besuch Wein vorgesetzt, von den vollgeschenkten Gläsern war aber nur genippt worden. Nun ergriff ich eines, brachte es dem lieben Mädchen, dessen schöne Augen beständig in feuchtem Glanz schimmerten, und meinen Arm mit dem ihren verschränkend schmollierte ich fröhlich und feierlich mit ihr, worauf wir unsere Gläser leerten und uns herzlich umarmten.
Ich ging dann von ihrem Arm in den der Mutter und des Bräutigams, und die Verlobung wurde so ausführlich bei einem guten Essen und einigen Flaschen Schaumwein gefeiert, daß die anderen Gäste, die aus dem Kurort Nachmittags herauskamen, zum erstenmal das Gesicht der Waldhornwirtin nicht zu sehen bekamen, sondern mit der Kathrin vorlieb nehmen mußten.
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Seit jenem Tage sind viele Jahre vergangen. Aber jedes hat dazu beigetragen, das Herzensband, das mich mit diesen trefflichen Menschen verknüpft, fest und fester zu schlingen, als bestände zwischen uns ein geheimnisvoller Zwang des Blutes, da doch nur ein wundersamer Zufall in weniger als vierundzwanzig Stunden uns vereinigt hatte. Zu der Hochzeit, die im Herbst stattfand, kam ich natürlich neben den anderen Söhnen, mit denen ich mich brüderlich befreundete. Die Mutter des Bräutigams war durch einen Fall im Mühlenschuppen ans Bett gefesselt, so daß der überzählige Fritz ihr nicht vor Augen zu kommen brauchte. Ein Jahr darauf hob ich das älteste Nichtchen aus der Taufe. Doch auch wenn keine so festlichen Anlässe meine Gegenwart erheischten – ein Jahr, in dem ich nicht wenigstens drei, vier Wochen bei meiner geliebten Wahlmutter zugebracht hätte, wäre mir als ein verlorenes erschienen.
Wollte ich anfangen, von dieser seltenen Frau ausführlicher zu reden, wo fände ich da ein Ende! Nur das will ich sagen, daß ich sie in allem als ein Muster edelster Weiblichkeit verehrte und stolz darauf war, daß sie meine Braut, als ich sie ihr nach etlichen Jahren zuführte, mit warmer Zärtlichkeit ins Herz schloß.
Wir sollten sie dann nicht mehr lange behalten. Unser ältester Knabe war eben zur Welt gekommen, als mir von Schwester Marie die telegraphische Nachricht zukam, die Mutter sei gestern abend ohne jede Krankheit durch einen Herzschlag ihnen entrissen worden.
Ich kam noch zeitig genug, sie auf der Bahre zu sehen. Daß diese klaren, gütigen Augen mich nie mehr mütterlich anblicken sollten, war mir ein so bitterer Schmerz – ich zweifle, ob die Stimme des Bluts in ihrer leiblichen Tochter sich stärker vernehmen ließ als die Trauer in mir, der ich nur durch Herzensbande mit der teuren Toten verbunden war.
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