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Ein Abenteuer.

 

(1872)

 

—————

Eine große Philisterherberge, eine solide Bürgerrettungsanstalt und Versicherungsgesellschaft gegen poetische Feuersbrünste und phantastische Hagelschläge ist diese moderne Welt, und die sogenannte gemäßigte Zone, die sich für die Beletage darin ausgiebt, zumal unser theures deutsches Vaterland, hat es in der berufsmäßigen Langenweile am weitesten gebracht! Da sitzen wir so friedlich beisammen, das heißt, ein Jeglicher in seiner numerirten Einzelzelle, den Schafspelz der Geduld und Wachsamkeit, mit Patriotismus und Dienstpflicht gefüttert, über die Ohren gezogen, heirathen, sobald wir eine Frau und ihren Schneider ernähren können, und erzählen in einer pädagogisch angeregten Stimmung unseren heranwachsenden Söhnen mit sittlicher Würde von den dummen Streichen unserer eigenen Jugend – zum warnenden Exempel! Und das mit Recht. Denn wenn wirklich statt der Milch der frommen Denkart, die wir an der Mutterbrust der modernen Civilisation einsaugen, ein feuriges Blut durch die Adern des guten Jungen rollte, das gern über die Stränge schlüge, wozu sollte es führen? Die Zeit der Abenteuer ist vorbei. An jeder Straßenecke erwartet den sonderbaren Schwärmer, der in harmloser Ungebundenheit über die ausgetretenen Alltags-Geleise schweift, ein Schutzengel in Uniform. Will er sein Mädchen entführen, das ihm hartherzige Eltern nicht ohne Amt und Auskommen gönnen, so erreicht er höchstens die nächste Telegraphenstation. Brennt irgendwo das Haus eines reichen Juden und er wünscht die schöne Recha hinauszutragen, auf die Gefahr, sich den Zipfel seines Mantels und ein Stück Herz zu versengen, so kommt ihm die städtische Feuerwehr mit rasselnden Spritzen zuvor, und eh' er sich's versieht, sind auch die Flammen in seinem ritterlichen Busen gelöscht. Wer kann auch nur auf einer Fußreise sich verirren, seit überall, statt wild durcheinander wachsender Wälder, zahme Baumschulen eingeführt sind, und auf den Wegweisern Ortho- und Geographie einander die Hand reichen? O dieses tintenklecksende Säculum! Ja, wenn noch »die Sonne lieblich schiene, wie in Welschland lau und blau, ging' ich mit der Mandoline durch die überglänzte Au!« Aber dieser nichtswürdige Winter, der alle Unternehmungen voll Mark und Nachdruck im Keim erstickt! Und dabei thun wir noch groß mit unserem Menschenverstande, statt uns vor den Thieren zu schämen, die so vernünftig sind, sich ihren Winterschlaf nicht nehmen zu lassen, bis das Wetter danach wird, daß man wieder unverfroren auf Abenteuer ausgehen kann!

O, wer auf Barcelona's Gasse
Mein andalusisch Mädchen sah,
Wer sah sie stehn auf der Terrasse?
's ist meine Löwin, meine blasse –

Ein eisiger Windstoß, der eine schwere Schneewolke von den Dächern wirbelte, brachte plötzlich diesen halblaut hingemurmelten Monolog und die Romanze Alfred de Musset's ins Stocken. Der einsame Spaziergänger, dem so unsanft das Wort entzogen wurde, trat einen Augenblick unter das schützende Vordach eines Juwelierladens und betrachtete tiefsinnig die blanken Ringe und Ketten, Armbänder und Ohrgehänge, die im Schaufenster ausgestellt waren. Vor seiner Phantasie stand das Bild eines reizenden jungen Mädchens, dem er beim Carneval in Rom einen viel zierlicheren Ring, als alle diese, an einen Camellienstrauß geheftet ins Fenster geworfen hatte. Er sah wieder die blitzenden, geheimnißvollen Augen, die halb schalkhaft, halb schwermüthig sich zu ihm neigten, als ob sie ihm sagen wollten: Du bist ein Narr, guter Freund, dich den Spaß so viel kosten zu lassen; aber du bist dennoch ein allerliebster Mensch, und es thut mir schrecklich leid, daß mit Aschermittwoch Alles zwischen uns zu Ende sein muß. – Mag es denn zu Ende gehn, wie alles Irdische, wenn es nur überhaupt einmal da war! Und ist das nicht gerade das Beste an manchen Dingen, daß sie zu Ende gehen? Muß ein Ring immer ein Symbol der Ewigkeit sein! Freilich, in unserer gebildeten Gesellschaft, die so ungeheuer bedächtig und bedenklich ist, muß man sich bei Allem und Jedem etwas ganz Bestimmtes denken können, um sich überhaupt damit befassen zu dürfen!

Der Monolog war, wie man sieht, wieder im besten Gange. Um aber nicht den Helden dieser wahrhaftigen Geschichte immer mehr in den Verdacht eines verbrannten Gehirns oder überspannter Lyrik zu bringen, wollen wir in der Kürze mittheilen, daß er nichts Schlimmeres war, als ein etwas aus der Art geschlagener Jurist, der sich eben zum Staatsexamen rüstete. Eine reiche alte Tante, die ihn wie ihren eigenen Sohn verzogen und einige Jahre in Frankreich, Spanien und Italien hatte reisen lassen, war plötzlich, der Himmel weiß, durch welche sachkundigen Einflüsterungen bewogen, mit der festen Erklärung herausgerückt, dieses geistreiche Herumvagiren müsse endlich ein Ende haben; sie erwarte, daß ihr Neffe Leonhard in diesem Winter Alles nachholen werde, um im nächsten Sommer durch ein glänzendes Examen Diejenigen zu beschämen, die der Tante ins Gesicht sagten, es werde nie etwas Gescheites aus ihm werden, und sie verschwende ihre Güte an einen Unwürdigen. So hatte der Neffe, der die gute alte Dame herzlich liebte und ihr gern Ehre gemacht hätte, sich kurz entschlossen, für diesen Winter all seine geselligen Verbindungen abzubrechen und in einem stillen Stübchen der Vorstadt, wohin sich auch von seinen Freunden nur selten einer verlor, einen hohen Wall von Büchern zwischen sich und der Welt aufzuthürmen.

Er hielt hier auch tapfer aus, zu nicht geringer Verwunderung seiner Hauswirthin und ihrer eben so häßlichen als tugendhaften Tochter, die seine kleine Wirtschaft besorgte. Mit einem gewissen Eigensinn, der seiner sonst lenksamen und gutartigen Natur dann und wann nur um so hartnäckiger sich bemächtigte, hatte er sich in seine Studien verbissen und ihnen dabei so viel Geschmack abgewonnen, daß ihn von Allem, was er sonst geliebt: Gesellschaften, Theater, den schönen Stunden im Concertsaal, nichts mehr von seinen Büchern und Heften weglocken konnte. Und heute Nachmittag, als er sich durch ein langes Brüten über einer Controversstelle übermüdet hatte und zur Erholung nach irgend einem Poeten griff, war ihm ein Büchlein in die Hände gerathen, das zwar auch von einem Juristen verfaßt worden ist, aber von einem, der gesungen hat:

»Aktenstöße Nachts verschlingen,
Schwatzen nach der Welt Gebrauch
Und das große Tretrad schwingen,
Wie ein Ochs, das kann ich auch.

Aber glauben, daß der Plunder
Eben nicht der Plunder wär',
Sondern ein hochwichtig Wunder,
Das gelang mir nimmermehr.«

Es war Eichendorff's Taugenichts, der ihn auf all seinen Reisen begleitet hatte, gleichsam wie eine Stimmgabel, die er in verdrießlichen Stunden, wie sie unterwegs in kalten Gasthöfen oder bei schlechtem Wetter sich einstellen, immer angeschlagen hatte, um den verlorenen reinen Grundton wiederzufinden. Keine Rosen von Pästum oder der Alhambra, keine Veilchen von den Boulevards lagen zwischen den zerlesenen Blättern des unscheinbaren Buchs. Aber jede Seite duftete, außer von ihrem eigenen Jugendfrühling, von tausend Erinnerungen. Seine Brust dehnte sich, wie er über die Seiten hinlas, die er fast auswendig wußte; die Last von Gelehrsamkeit, die er seit Monaten sich aufgeladen, fiel von ihm ab, und wie eine verschüttete Quelle sprudelte plötzlich die munterste Lebenslust in ihm auf. Er warf seinen Mantel um und eilte ins Freie, um ein paar Straßen auf und ab zu rennen und sein Blut zu kühlen.

Der Schnee fiel in weichen spärlichen Flocken, und die Laternen brannten roth und schläfrig blinzelnd, wie überwachte Augen, durch den silbergrauen Duft. Plötzlich war ihm hier mitten in seiner Vaterstadt zu Muth, wie so oft in der Fremde, wo es seine größte Wonne gewesen war, Abends durch die unbekannten Straßen zu schlendern, in die hellen Fenster zu spähen, fremde Menschen anzureden oder gar, unter dem Vorwande, er sei ein Maler und möchte dies oder jenes Gesicht gern in sein Skizzenbuch eintragen, in das erste beste Haus zu treten und eine lustige Bekanntschaft vom Zaun zu brechen. Sein offenes Gesicht und der herzliche Klang seiner Stimme hatten ihm dabei geholfen, auch die Fremdesten zutraulich zu machen und für manche Ungebundenheit, zumal von Seiten der Mädchen und Frauen, Absolution zu erhalten, so daß er an die Zeit seiner »Abenteuer« mit leichtem Herzen zurückdenken konnte. Denn auch die Liebeshändel, in die der Uebermuth ihn verstrickt hatte, waren alle zu rechter Zeit, öfter durch einen glücklichen Zufall als durch seinen besonnenen Entschluß, wieder gelös't worden, so daß sein Herz, wie ein Lamm an der Dornenhecke, nur etwas Flaum verloren oder höchstens die Haut geritzt hatte.

Vor anderen Abenteuern, wie sie in großen Städten einsamen Nachtschwärmern über den Weg laufen, hatte ihn seine gute Natur ohne Mühe bewahrt. So würdigte er auch jetzt die im Schnee- und Laternenzwielicht vorbeihuschenden vermummten Gestalten keines Blickes, so manches vielsagende Lächeln, durch bereifte Schleier hindurch, ihn auch streifte. Nachgerade war er lange genug herumgelaufen, um die philisterhafte Ruhe an seinem Arbeitstisch wieder schätzen zu können. Und so war er schon im Begriff, umzukehren und für heute sich aller Taugenichtsgedanken zu entschlagen, als plötzlich gerade unter einer Laterne eine weibliche Gestalt mit lautlosen, raschen Schritten an ihm vorbeiging, die sein Kennerauge sofort als eine ungewöhnliche Erscheinung von allen übrigen unterschied.

Es war ein junges Mädchen von hoher schlanker Gestalt, dicht in einen dunklen Shawl gewickelt, das Gesicht von einem schleierlosen, nicht sehr modischen schwarzen Sammethütchen eingerahmt, unter dem ein paar kunstlose Locken sich vorstahlen. Die feinen Züge, die Leonhard nur im Profil sah, waren trotz der Winterkälte völlig bleich, und die halbgeöffneten Lippen schimmerten roth, aber ein seltsamer Zug eines düsteren, fast wilden Schmerzes schien darin versteinert zu sein. Er beschleunigte seinen Schritt, um der auffallenden Figur zur Seite zu bleiben. Sie schien aber auf nichts zu achten, was neben ihr lag. Ihr fester, ruhiger Blick war wie auf etwas gerichtet, das weit über das Erreichbare hinaus sich in Nacht und Nebel verbarg.

In der Art, wie sie dahinschritt, den kleinen Kopf unbeweglich auf den schlanken Schultern und gegen Wind und Wetter unempfindlich, lag etwas so Vornehmes und Absonderliches, daß mancher Vorübergehende stehen blieb, um ihr nachzublicken. Es wagte aber selbst von den leichtsinnigsten Nachtvögeln keiner, sie anzureden, bis auf Einen, der ein Glas zu viel im Kopfe haben mochte und ihr zudringlich den Weg vertrat. Leonhard hörte nicht, daß sie ihm etwas erwiederte. Aber im nächsten Augenblick trat der Mensch so betroffen von ihr zurück, als hätte er in der einsamen Dame die regierende Fürstin erkannt, die den Einfall gehabt, incognito einen Spaziergang im Schnee zu machen. Er stammelte eine Entschuldigung, die aber die Fremde – denn das schien sie nach manchen Anzeichen zu sein – nicht mehr des Anhörens würdigte.

Sie setzte eine Weile ihren raschen leisen Gang schnurgerade fort, als müsse sie sich sputen, zu einer bestimmten Zeit ein Ziel zu erreichen, blieb aber bei der nächsten Ecke stehen und las im Laternenlicht den Namen der Straße. Dann bog sie in die breite Hauptstraße ein, um deren hohe Häuser es stiller und menschenleerer war. Hier blieb sie, nachdem sie sorgfältig die Nummern über den Hausthüren gezählt hatte, vor einem alten ehemaligen Palast stehen, der Leonhard wohlbekannt war. Sie machte aber, obwohl beide Thorflügel weit offen standen, keine Miene, hineinzugehen, sondern trat ohne den tiefen Schnee zu achten auf den Fahrweg hinüber und blickte von dort wohl zehn Minuten lang, ganz regungslos wie eine Bildsäule, nach einem Fenster des ersten Stockwerks hinauf, das allein in der ganzen Reihe erleuchtet war.

Leonhard, der in einiger Entfernung hinter einem vorspringenden Portal zurückgeblieben war, strengte sich vergebens an, den Ausdruck ihres Gesichtes zu erspähen. Er sah nur, daß sie einmal mit der Hand nach den Augen fuhr. Dann rollte ein Wagen heran und hielt vor dem Nebenhause; das schien die dunkle Bildsäule plötzlich zu beleben. Als sie aber jetzt ihren Platz im hohen Schnee verließ, auf den Bürgersteig zurücktrat und an Leonhard vorbeikam, bemerkte er, daß sie nicht mehr so hastige Schritte machte, sondern, wie ein sehr ermatteter Mensch, mühsam und schwankend ihres Weges ging. Er sah auch, daß es feucht auf ihren Wangen schimmerte, obwohl das Gesicht so starr wie zuvor und die Augen weit geöffnet waren.

Sie merkte es auch jetzt nicht, daß ihr Jemand nachging, so völlig war sie in ihre Gedanken verloren. Als sie aber auf einen Platz kam, auf dem verschiedene Straßen zusammenliefen, schien sie endlich doch um ihren Weg besorgt zu werden. Sie redete ein altes Mütterchen an, das aber nur den Kopf schüttelte und auf sein Ohr deutete, als wollte es sagen: Gieb dir keine Mühe; das da hört nichts mehr. – Eine flinke Magd, an die sie sich dann wendete, hatte es zu eilig, um ihr ausführlich Rede zu stehen. Eben wollte sie einen dritten Versuch machen, als Leonhard, der auf einen schicklichen Augenblick gewartet hatte, zu ihr trat und mit aller Unbefangenheit, die sein Herzklopfen erlaubte, den beschneiten Hut lüftete.

Verzeihen Sie, mein Fräulein, sagte er, ich höre an Ihren Fragen, daß Sie hier fremd sind und in Verlegenheit, Ihren Weg zu finden. Die Straße, die Sie suchen, ist noch ziemlich entfernt und die Leute bei dem Wetter nicht die gefälligsten. Wollen Sie mir erlauben, Ihnen meine Dienste anzubieten?

Sie sah ihm einen Augenblick prüfend ins Gesicht. Mochte es nun ihre Stimmung sein, die ihr über kleine Bedenken weghalf, oder nur der Ausdruck seines ehrlichen Gesichts, genug, sie sagte ohne alle zurückweisende Schroffheit:

Ich danke Ihnen, mein Herr. Aber ich möchte Sie nicht bemühen. Wenn Sie mir nur die nächste Straße angeben wollen, so frage ich mich schon weiter.

Ihre Stimme war sehr wohlklingend, ein wenig umflort, wie nach unterdrücktem Weinen, ihre Art, sich auszudrücken, einfach und unverlegen und durch einen leisen Anklang an die fränkische Mundart noch anziehender. Und wie Leonhard ihr jetzt voll ins Gesicht sah, kam sie ihm viel jünger und reizender vor, zumal die Augen von einem so feuchten Glanz, daß er Mühe hatte, eine plötzliche Verwirrung zu verbergen. Er bat, indem er sich von ihr abwendete und mit der Hand die Richtung andeutete, sie möge sich doch nur seine Begleitung gefallen lassen; der Weg sei leicht zu verfehlen und vieles Fragen in dieser späten Stunde nicht rathsam, da sie leicht an den Unrechten kommen und von zudringlicher Neugier verfolgt werden könne. Er wußte so viel ritterliche Ehrerbietung in Miene und Stimme zu legen, daß sie nach kurzem Zureden mit höflichem Dank seine Begleitung annahm. Nun besann er sich, daß er einen Schirm bei sich trug, den er zu ihrem Schutz gegen den dichter fallenden Schnee aufspannte. Sie ließ es ruhig geschehen, lehnte aber seinen Arm ab und beschleunigte wieder ihre Schritte.

Er triumphirte heimlich, daß sein altes Abenteuerglück ihm noch immer treu war, und mußte sich zusammennehmen, die Aufregung, in der er sich an der Seite der räthselhaften Fremden befand, mit keinem Laut zu verrathen. Darüber wurde er immer einsilbiger, und sie beschränkte sich ebenfalls auf die kürzesten Antworten. Er war ihr ohne Zweifel ganz uninteressant, und obwohl das Zusammengehen unter einem Schirm ein junges Paar sonst auf allerlei liebliche oder verfängliche Gedanken bringt, schien ihrer Seele doch nichts ferner zu liegen, als was sie etwa auf ihren Begleiter für einen Eindruck mache, oder mit welchen Nebengedanken er selbst sich dieser traulichen Gemeinschaft erfreue.

So war eine Weile nichts Anderes zwischen ihnen verhandelt worden, als das alltägliche Wetter-Kapitel, und daß der Weg im Winter schlechter zu sein pflege, als im Sommer; da ertrug er es nicht länger und faßte sich ein Herz, auf alle Gefahr ihrem Geheimniß näherzurücken.

Ich habe Sie vorhin ein Haus betrachten sehen, mein Fräulein, warf er mit möglichst harmlosem Tone hin, das Ihnen wohl durch seine alterthümliche Façade auffiel. Es ist eines der wenigen Palais aus der Zopfzeit, denen man ihre Physiognomie noch gelassen hat. Ich selbst habe Gelegenheit genug gehabt, mir all diese Schnörkel, Stuccaturen und Engelsfigürchen anzusehen, da früher einer meiner Universitätsfreunde dort gewohnt hat.

Sie war bei den ersten Worten stehen geblieben, als stocke ihr der Athem. Ein rascher Blick aus ihren traurigen Augen traf plötzlich sein Gesicht.

Einer Ihrer Freunde? sagte sie.

Was man auf der Universität Freunde nennt, eine Bekanntschaft so wenig intimer Art, daß ich diesen Franz v. L., der schon Jahr und Tag nicht mehr in dem alten Hause wohnt, in seinem neuen Quartier noch nicht aufgesucht habe. Aber ich bitte um Verzeihung; ich unterhalte Sie mit Erinnerungen, die Ihnen sehr gleichgültig sein müssen.

Sie hatte die Augen wieder zu Boden gesenkt; über den schön geschwungenen Brauen lag eine finstere Wolke.

Sehr gleichgültig, allerdings, wiederholte sie tonlos. Ich bitte, lassen Sie uns etwas rascher gehen. Ist es noch weit?

Er verneinte, schlug aber geflissentlich einen Weg ein, der von der kürzesten Linie ablenkte. Es schien ihm unmöglich, sich so bald von dem seltsam anziehenden Wesen zu trennen. Doch wagte er nicht, den zerrissenen Faden des Gesprächs wieder anzuknüpfen.

Sie selbst that es plötzlich.

Wie wunderbar sich das trifft! sagte sie mit einem Ton, der nachlässig sein sollte und doch eine heftige Bewegung verrieth. Sie nannten eben einen Namen, mein Herr, – den ich selbst früher oft habe nennen hören. Eine Freundin von mir – gleichviel – jener Ihr Bekannter hat vor einigen Jahren in Würzburg sich aufgehalten. Seitdem hat sich Manches verändert, er mag denn auch wohl ausgezogen sein – ich weiß nichts weiter von ihm, als daß er vor mehreren Wochen oder Monaten sich verlobt haben soll. – Wissen Sie etwas Genaueres? Kennen Sie etwa die Braut?

In der That, sagte er, ich las es in der Zeitung. Ich selbst bin wenig unter die Leute gekommen, und meine Beziehungen zu Franz, die ohnehin lose genug waren, haben seit meinen Reisen ganz aufgehört. Er hat, wie ich hörte, die Juristerei an den Nagel gehängt, um das Gut seines Vaters zu übernehmen, und deßhalb vorher einen summarischen Cursus auf der landwirthschaftlichen Akademie durchzumachen. So wird man sich allmählich fremd, obwohl man in derselben Stadt lebt.

Sie war wieder stehen geblieben und sah ihn an.

Also kennen Sie die Braut nicht?

Nur dem Namen nach; eine junge Baronesse; möglich auch, daß ich sie vor Jahren einmal auf einem Ball gesehen habe. Sie wird gewiß hübsch sein. Franz hatte einen guten Geschmack, und auch an Glück hat es ihm nicht gefehlt.

In diesem Augenblick mochte ihr Fuß auf dem glatten Boden ausgeglitten sein, wenigstens wankte sie und griff mechanisch nach seinem Arm. Als er ihr dabei ins Gesicht sah, erschrak er vor der Todtenblässe, die ihren Mund entfärbt hatte, und eine Ahnung dämmerte in ihm auf, daß er mit seiner leichten Rede an das Geheimniß eines schweren Schicksals gerührt hatte.

Sie scheinen Antheil an dieser Verlobung zu nehmen, sagte er endlich in seiner Verwirrung. Kennen Sie vielleicht die Braut? Oder ist sie mit jener Freundin, von der Sie sagten, verwandt?

Er schwieg, denn er merkte, daß er es mit diesen Fragen nur schlimmer gemacht hatte. Aber sie schien es nicht einmal zu empfinden.

Ich kenne die Braut nicht, erwiederte sie, aber allerdings habe ich ein Interesse daran, sie kennen zu lernen. Jene Freundin, von der ich Ihnen gesagt, möchte gern Näheres von ihr wissen; da wollte ich ihr den Gefallen doch thun.

Sie werden ohne Zweifel Bekannte haben, die Sie bei den Eltern der Baronesse einführen können?

Ich? O nein. Ich bin ganz ohne Bekanntschaften hier, bis auf eine Pathe, eine Professorswittwe, die mich früher schon oft eingeladen hat, sie zu besuchen. Aber ich war immer zu Hause nöthiger. Nun ist meine jüngere Schwester, die eine Zeitlang abwesend war, zu der Mutter zurückgekehrt, da konnte ich abkommen. Ich denke aber nicht lange zu bleiben; ich bin sehr ans Haus gewöhnt, und so freundlich die Pathe ist, – sie ist alt und ich bin jung, da hat man so verschiedene Gewohnheiten. Gleich heute z. B. – zu Mittag bin ich angekommen und wollte, da mir der Kopf von der Reise weh that, noch in der Dämmerung ein paar Straßen auf und ab gehen; glauben Sie, daß die gute Frau dazu zu bringen war, mich zu begleiten? Sie ist kerngesund, aber es ist gegen ihre Gewohnheit. Da bin ich denn allein gegangen. Man ist freilich in manchen Stücken kleinstädtischer in der großen Stadt, als in unserem Nest.

Sie leben nicht in Würzburg?

Nein, in F., nicht gar weit davon, da hatte meine Freundin – die Studenten kommen im Sommer oft herüber – und auch im Winter zu Schlitten – da hat sie ihn kennen gelernt. Sie haben ganz Recht, er hat Glück bei den Mädchen – es dauerte nicht lange, so hatte sie keinen Gedanken als ihn, und er – er sagte wenigstens, daß er sich kein anderes Glück wünschen und überhaupt denken könne, als was er bei ihr finde. Sie hat es ihm geglaubt – die Mutter, eine Beamtenwittwe, gab ihre Zustimmung, da Franz auch sie rasch gewonnen hatte und sie ihr Kind nie besser versorgen zu können glaubte – so verlobte sie sich, noch ganz in der Stille, kurz ehe er von Würzburg wegging.

Er verlobte sich mit – mit jener Freundin? Aber ums Himmelswillen, mein Fräulein, davon weiß ja Niemand ein Sterbenswort! –

Ob er seinen früheren guten Geschmack dabei bewiesen, weiß ich nicht! fuhr sie mit leise bebender Stimme fort. Aber ohne ihr zu schmeicheln – seiner war sie wohl werth, wenn man mit einem Herzen voll Lieb' und Treue und einem unbescholtenen Namen ein so wankelmüthiges Herz verdient. Das erkannte er auch – eine Zeitlang. Seine Briefe flossen davon über. Plötzlich entdeckte sein Vater das heimliche Verhältniß. Ohne das Mädchen zu kennen, bloß weil sie nur die Tochter eines geringen Beamten war, riß er das Band entzwei, und Ihr Freund – dachte niedrig und feig genug, sich wie ein Knabe hinter seinem Gehorsam zu verschanzen und – nach wenigen Monaten schon – sein elend gebrochenes Wort einer Andern zu geben!

Abscheulich! rief Leonhard mit auflodernder Empörung. Und das Alles so in der Stille, daß Keiner hier – auch von seinen näheren Bekannten –

Er war klug genug gewesen, sich nicht zu verrathen, und sie – die Verlassene – glauben Sie, daß bei uns zu Lande die Mädchen sich so weit herabwürdigen, einem Treulosen nachzulaufen, ihm den Ring, den er seiner Braut zurückschickt, an den Finger zu zwingen, und wenn das nicht gelingt, mit Jammern und Klagen die Welt um Mitleid anzubetteln? O nein, wir schlagen das Kreuz über ihn, wie über einen Todten, wir geben uns Mühe, die Liebe aus dem Herzen zu reißen mit all ihren Wurzeln, wenn auch Stücke vom Herzen selbst daran hängen bleiben!

Indem sie das sagte, überwältigte sie ihr Gefühl; sie hatte noch Fassung genug, sich abzuwenden und einige Schritte die Straße hinunter zu thun, aber sie konnte ihr Schluchzen nicht ganz ersticken, das plötzlich wie ein Krampf aus ihrer Brust hervorbrach.

Er war im Augenblick wieder an ihrer Seite.

Mein theures Fräulein, wagte er mit dem herzlichsten Ton ihr zuzusprechen, fürchten Sie keine aufdringliche Annäherung. Ich bin Ihnen völlig fremd; ein Zufall, den ich wahrhaftig in keiner Weise mißbrauchen werde, hat mich Ihnen in den Weg geführt. Ich ehre den Schleier, in den Sie Ihre Person und Ihre Verhältnisse einhüllen. Aber lassen Sie mich, da wir bald an Ihrem Hause sein werden, das noch sagen, daß ich mich Ihnen in jeder Weise, zu jedem Dienst zur Verfügung stelle. Es ist gewiß keine leere Galanterie, wenn ich Ihnen gestehe, daß Ihr Wesen, Ihre Stimme, jedes Wort, das ich von Ihnen gehört, den aufrichtigsten Antheil in mir erweckt hat. Stellen Sie mich auf die Probe, und Sie werden sehen, daß Sie es mit einem ehrlichen Menschen zu thun haben.

Während dieses lebhaft herausgestotterten Bekenntnisses hatte die Fremde Zeit gefunden, sich zu sammeln. Sie ging jetzt wieder langsamer, wie um die Frist ihres Beisammenseins nicht selbst abzukürzen, und sagte mit leidlich gelassenem Ton:

Ich danke Ihnen, mein Herr. Ich glaube Ihnen auch, daß Sie nur sagen, was Sie fühlen. Hätte ich nicht gleich aus Ihrem ganzen Betragen Zutrauen geschöpft, so würde ich Ihre Begleitung nicht angenommen haben. Aber mehr als das können wir nicht zu theilen haben. Ich will Ihnen, zum Beweis, daß ich Ihnen für Ihr ritterliches Anerbieten aufrichtig dankbar bin, offen gestehen, was Ihnen meine Thränen doch schon verrathen haben: ja, ich selbst bin die verschmähte Braut. Mögen Sie davon denken, was Sie wollen – ich bin nur deßhalb hieher gereist, um meine Nachfolgerin zu sehen; aber glauben Sie darum ja nicht, daß ich nur den entferntesten Wunsch hätte, sie und ihn in ihrem Glück zu stören. Es ist nur so eine Laune, die Sie schwerlich begreifen werden. Wenn man Alles, was man gethan und gelassen, gedacht und geträumt hat, seine ganze Zukunft bis an den Tod auf Einen Menschen bezogen hat, ist es unerträglich, sich nun sein Glück auf einmal entwinden zu lassen, wie einen unabgewickelten Knäuel, der einem vom Schooße rollt und in irgend einen bodenlosen Brunnen fällt. Ich muß wenigstens sehen, wie das gekommen ist, wie sie aussieht, ob ein Herz und Geist und irgend was, das der Mühe werth wäre, ihr aus den Augen blickt, und wenn sie ihn mehr verdient, als ich – aber das kann ein Mann unmöglich verstehen. Oft verstehe ich mich selbst nicht. Ich habe diese unbezwingliche Neugier lange genug mir selbst übel genommen und wollte sie mit meinem Stolz ersticken. Es ging nicht. Da hab' ich ihr endlich nachgegeben und bin nun hier; aber das können Sie glauben: wenn mein Wunsch erfüllt ist und ich meine Nachfolgerin gesehen habe – nichts wird mich hier zurückhalten! Ich kehre wieder zurück in mein stilles Mädchenleben, und Niemand soll mir ansehen, ob das Verlorene mir nachgeht oder nicht.

Sie waren darüber zu dem Hause der Pathe gekommen, das sie ihm schon vorhin bezeichnet hatte. Es schien ihm unmöglich, daß dies das letzte Wort zwischen ihnen sein sollte. Aber während er noch herumsann, wie er die Bitte, sie wiedersehen zu dürfen, auf bescheidene Weise vorbringen sollte, schnitt sie selbst ihm jede Hoffnung ab.

Leben Sie wohl, sagte sie, ihm eine Hand reichend, die trotz Handschuh und Muff sich kalt anfühlte. Hier wohn' ich und danke Ihnen nochmals für Ihre Begleitung. Aber versprechen Sie mir, Alles, was ich Ihnen gesagt, und meine ganze unbedeutende Person zu vergessen. Ich selbst bemühe mich, es zu thun, und begreife schon nicht mehr, wie ich so schwach sein konnte, die alte Geschichte Ihnen, einem ganz Fremden – aber es war, weil mich der Anblick seiner alten Wohnung, aus der er mir manchen Brief geschrieben, so aufgeregt hatte, und dann – so fremd Sie mir sind – mit manchen Menschen leben wir Jahrelang und lernen sie doch nicht kennen, und andere werden uns fast Freunde in der ersten Stunde! Gute Nacht! – Vergessen Sie Alles – Sie versprechen mir's, nicht wahr?

Eh' er noch etwas Vernehmliches darauf erwiedern konnte, war sie in die Thüre getreten, und er stand nun draußen im Schneegestöber allein. Er wußte, daß er hier nichts mehr zu suchen hatte, daß er eine lächerliche oder gar zweideutige Figur spielen würde, wenn er jetzt oben anläutete und erklärte, er habe in zehn Minuten eine so intime Freundschaft mit dem Fräulein geschlossen, daß er nothwendig auch die Bekanntschaft ihrer Frau Pathe machen müsse. Indem er aber zurücktrat, um nach den hellen Fenstern hinaufzusehen, ob dort ihre Gestalt etwa hinter der Gardine sich zeige, sah er etwas Dunkles auf dem Schnee liegen und hob ein seidenes Halstuch auf, das sie verloren haben mußte. Der Gedanke, daran ein Pfand zu haben, daß das wunderliche Abenteuer nicht mit dem Einen Auftritt im Schneegestöber zu Ende sei, beruhigte ihn ungemein, und das Tuch sorgfältig einsteckend, ging er nach Hause.

Seine kleine Studirlampe brannte auf dem Pult zwischen den Büchern, die Kohlen knisterten im Ofen, ein frugales Nachtessen war sauber auf dem Tisch vor dem Sopha aufgetragen, und die alte Wirthin empfing ihn mit ihrem mütterlichsten Gesicht. Aber seine Sinne und Gedanken waren zu unstät, um sich's in dieser behaglichen Enge wohl sein zu lassen. Die Bücher ekelten ihn an, er riß das Fenster auf, um die dumpfe Stubenwärme hinauszujagen und seine heiße Stirn wieder den Schneeflocken preiszugeben. – Sein Abenteuer hatte er nun gefunden, aber es war ihm schlecht bekommen. Statt einer wohlthätigen Erfrischung hatte es ihm ein Fieber eingetragen, das alle Hausmittel nur noch zu verschlimmern drohten.

Was war es eigentlich, das ihn so tief aufregte? Ein fremdes Mädchen hatte ihm die sehr alltägliche Geschichte ihrer unglücklichen Liebe erzählt. Wie die Dinge standen, war nichts zu helfen noch zu ändern. Vielleicht schon morgen reiste sie wieder ab, nachdem sie ihre seltsame Neugier gebüßt hatte, und wer weiß, ob nicht schon auf der Heimreise, oder doch wenn der Schnee geschmolzen, ein Ersatz, ein anderes und treueres Glück – lieber Gott, wenn die erste Liebe immer die letzte sein müßte –!

Aber in demselben Augenblick hörte er ihre Stimme und sah ihren feuchten Blick, mit jenem eigenthümlichen Ausdruck von Tiefsinn, den ein großer Schmerz verleiht, und sagte sich: sie ist nicht wie Andere. So viel Stärke in einem so zerschmetterten Herzen, so viel Stolz, der von aller Kälte frei ist – Himmel! von einem solchen Mädchen geliebt zu werden, der einzige Gedanke einer so tiefen Seele zu sein – –! Wie er nur weiterleben kann, nachdem er das besessen und es selbst von sich gestoßen hat!

Ein Haß auf seinen alten Bekannten, der ihm nie etwas zu Leid gethan, stieg in ihm auf, so bitter und persönlich, als wäre das verlassene fremde Mädchen seine eigene Schwester. Er stellte sich dem Treulosen in Gedanken gegenüber und sagte ihm die beleidigendsten Sachen, wobei es seinen Grimm bis zur Wuth steigerte, daß der Angeklagte natürlich sich nicht vertheidigte, sondern mit dem ruhigen, nur etwas spöttischen Gesicht aus alter Studentenzeit den Bußprediger ansah. Endlich ward er müde, nachdem er das Thema gründlich erschöpft hatte, warf sich auf das Sopha, nahm das Halstuch in die Hand und überließ sich seinen Träumen. Das lieblich finstere Gesicht des Mädchens stand ihm so deutlich vor Augen, daß er es hätte zeichnen können. Ob man es schön nennen konnte, wußte er selbst nicht; er wußte aber, daß er nie ein Mädchengesicht gesehen hatte, das ihm beseelter, ausdrucksvoller und selbst in den Ausbrüchen des Zornes und Hasses liebenswürdiger erschienen war.

Eine Stunde mochte er so gelegen haben, ohne zur Ruhe zu kommen. Er sprang endlich auf, warf den Mantel um und ging, zu großer Verwunderung seiner Wirthin, noch einmal in die Nacht hinaus. Die häßliche Tochter schüttelte tugendhaft den Kopf und machte böse halblaute Anmerkungen über diesen ganz ungewohnten nächtlichen Ausgang. Sie hatte bisher für jeden »Zimmerherrn« ihrer Mutter eine hoffnungslose Liebe gefühlt. Leonhard war der Erste, von dem sie sich verstanden glaubte. Und nun sah sie auch ihn auf schlechten Wegen! Vor Kummer und Eifersucht schlief sie nicht eher ein, als bis der Verlorene – es war weit über Mitternacht – nach Hause kam, aus einem stillen, menschenleeren Weinstübchen, wo er, im Winkel hinter Zeitungen sitzend, das Fieber in seinem Blut durch das flüssige Feuer einer Flasche Burgunder zu betäuben gesucht hatte.

Aber das Mittel verhalf ihm nur zu einer schlechteren Nacht. Als er sich am andern Morgen im Spiegel sah, fand er, daß sein so unschuldiges Abenteuer stärkere Spuren in seinem Gesicht zurückgelassen hatte, als alle Nachtwachen über Staats- und Kirchenrecht.

Auch in seiner Seele war das Erlebte tiefer eingegraben, als irgend eine Novelle der Pandekten. Mit Ungeduld wartete er die schickliche Besuchsstunde heran und verwandte indessen eine längst entwöhnte Sorgfalt auf seinen Anzug. Als es elf Uhr schlug, steckte er das seidene Tuch, sauber zusammengelegt, zu sich und ging in die helle Wintersonne hinaus.

Er hatte sich Alles zehnmal überlegt, was er sagen wollte, wenn sie allein wäre oder mit ihrer Pathe. Und doch, wie er die schmale Treppe des alten Hauses hinaufstieg, klopfte ihm das Herz, als ginge er den unerhörtesten und feierlichsten Auftritten entgegen.

Ein Mädchen öffnete ihm auf sein hastiges Klingeln und sah ihn befremdet an, da er nach dem Fräulein fragte, das hier wohne, ohne einen Namen zu nennen. Die gnädige Frau sei in die Messe gegangen, das Fräulein bald darauf allein in die Stadt. Schon war er im Begriff, auf eine Karte zu schreiben, daß er am Nachmittag wiederkommen werde, um etwas Verlorenes zurückzubringen, als unten auf der Treppe Jemand heraufkam.

Da ist das Fräulein! sagte die Magd und trat in den Vorplatz der Wohnung zurück.

Und richtig tauchte unten das schwarze Sammethütchen auf, der große Shawl und der Pelzmuff; das Gesicht aber war heute dicht verschleiert.

Sie sind es? rief sie ihm schon auf der Treppe entgegen.

Er stammelte etwas von dem Anlaß, der ihn hergeführt, und zog zur Beglaubigung das Tüchlein hervor. Sie achtete aber gar nicht darauf, sondern stieg langsam, als wäre sie sehr erschöpft, die Stufen vollends hinauf, nickte ihm wie einem alten Bekannten zerstreut zu und ging, ohne ihn abzuweisen oder einzuladen, hastig ins Zimmer.

Er folgte ihr verwundert und sah, daß sie, sobald sie in dem niedrigen, altmodisch eingerichteten Zimmer allein waren, ohne Hut und Mantel abzunehmen, in einen Lehnstuhl sank.

Was ist Ihnen begegnet? rief er, vor ihr stehen bleibend, indem er sich vergebens bemühte, ihre Züge durch den Schleier zu erkennen. Sie sind nicht wohl, bestes Fräulein. Soll ich wieder gehen?

Sie gab keine Antwort, schlug jetzt den Schleier zurück und zeigte ihm ein ganz bleiches, entgeistertes Gesicht, das mit der äußersten Willenskraft zu lächeln versuchte.

Es ist schon vorbei, hauchte sie. Nur der heftige Schrecken – und dann das beschwerliche Gehen auf dem glatten Schnee – es hat mich angegriffen; aber das ist auch hoffentlich das Letzte!

Sie versuchte aufzustehen, wie um etwas abzuschütteln, das sie niederdrücken wollte, knüpfte hastig die Hutbänder los und warf den Shawl ab. Dann sank sie wieder in den Sessel zurück und verbarg das Gesicht in die kleinen Hände, daß ihr die aufgelös'ten Locken über Stirn und Wangen fielen.

Liebes Fräulein, sagte er, ich wage kaum zu bitten, daß Sie mir auch heute Ihr Vertrauen schenken. Sie sind in einer Stimmung, wo einem jedes Wort zu viel ist. Ich will lieber gehen, wenn sie mir nur erlauben, zu einer gelegneren Stunde –

Sie sah plötzlich auf, mit denselben verstörten Augen, die ihm gestern schon das Herz beklemmt hatten.

Warum wollen Sie gehen? sagte sie rasch. Warum soll ich mir die einzige Wohlthat nicht gönnen, Alles herauszusagen, was mir so bitter auf der Zunge liegt? Ich kenne Sie freilich erst seit gestern, aber es ist mir nicht gleichgültig, wie Sie von mir denken, da Sie doch einmal der Zufall – oder die Vorsehung – in meinen Weg geführt hat. Ich bin auch überzeugt, Sie werden mein Vertrauen nicht mißbrauchen – und da Sie den Anfang wissen – was kann es schaden, wenn Sie auch das Ende erfahren? Die Pathe ist ausgegangen – die freilich würde mich nicht verstehen – die hat für alles Leiden ihr Universalmittel: Singen und Beten. Aber Sie – Sie haben mich ja gestern ausreden lassen und nicht gesucht, mich zu trösten – es giebt auch nichts Abgeschmackteres, als was die Menschen Trost nennen; – die Rose mag man besprechen und einem Kinde zureden, dem seine Puppe zerbrochen ist, aber einem erwachsenen Menschen, der sein zerbrochenes Leben in beide Hände nimmt, daß die Stücke nicht auseinander fallen – dem einreden, es gebe einen Kitt für Alles, daß man die Fugen nicht mehr sähe – das will Trost sein, und ist eine Schmach, eine Beleidigung für den armen Menschen, als ob er so dumm und kindisch, oder so leichtsinnig wäre, zu glauben, das Leben sei ein Kinderspiel und der himmlische Vater, der uns mit der Ruthe züchtiget, habe immer gleich einen Kuchen in der Tasche, unsere Thränen zu trocknen!

Die Leidenschaft ihres Schmerzes riß sie in die Höhe. Sie ging, die Hände vor sich hingerungen, hastig durch das Zimmer, während er ihre schöne, schmiegsame Gestalt, die schlanken Schultern, über die ihre braunen Locken hinabrollten, den Reiz jeder ihrer Bewegungen, jetzt zum ersten Mal ohne winterliche Vermummung, mit seinen Blicken verschlang.

Sie haben ihn wiedergesehen? wagte er schüchtern zu fragen. Haben Sie mit ihm gesprochen?

Mit ihm? rief sie. Nie wieder ein Wort mit ihm! Was denken Sie von mir? Habe ich Ihnen nicht gesagt, ich stürbe eher, als daß ich's ihn merken ließe, wie weh er mir gethan hat? Gesehen habe ich ihn wohl. Er ist so dicht an mir vorbeigegangen, wie Sie jetzt neben mir stehen. Aber da ich den Schleier trug und seine Gedanken hundert Meilen weit von mir weg waren, hat er nicht geahnt, wer ihm so nahe war. Und wenn auch, es hätte nichts geändert. Er hätte sich auf dem Absatze herumgedreht und mich stehen lassen, oder vielleicht höflich den Hut gezogen, wie vor einer alten Bekanntschaft. Er! Er ist ein Mann!

Sie thun uns doch wohl Unrecht, wagte er einzuwerfen, nur um etwas zu sagen.

Mag sein! erwiederte sie. Aber ihm nicht, ihm hab' ich bis heute Unrecht gethan; ich hab' ihn für einen Andern gehalten, als er ist, gemeint, er habe sich nur geirrt, da er glaubte, er könne mit mir glücklich werden; nun sei er erst der Rechten begegnet und klar darüber geworden, wie eine echte und rechte Liebe beschaffen sein soll, und da hab' er mir nicht lügen wollen und mir den Ring zurückgeschickt. Sehen Sie, das hab' ich von ihm gedacht, und darin hab' ich ihm bitter Unrecht gethan. Zum Lieben muß man doch ein Herz haben, nicht wahr? – und er – er hat gar keins, er hat nie eins gehabt, weder für mich, noch für die neue Braut. – Das ist mir jetzt so klar wie die Sonne!

Sie trat näher zu ihm heran und sagte, indem sie an ihm vorbei unbeweglich auf die Blumen der alten bunten Tapete starrte:

Sie müssen nämlich wissen, ich hab' mir heute früh ihre Wohnung sagen lassen und bin hingegangen. Wenn es der Zufall nicht gefügt hätte, daß ich sie zu sehen bekam, wollt' ich geradewegs zu ihr hinein; ich hatte schon einen Vorwand in Bereitschaft, und Sie können mir glauben, meine Kaltblütigkeit hätte mich keinen Augenblick verlassen. Warum auch? Sie kann ich ja weder lieben noch hassen, sie weiß sicher nicht ein Sterbenswort von mir – er wird sich gehütet haben! Und wenn ich gefunden hätte, daß sie schöner, reizender oder liebenswürdiger sei, als ich – reicher und vornehmer ist sie ja ohnehin – so wäre ich weggegangen und hätte mir gesagt: es ist kein Wunder, mich um Die zu vergessen; wenn ich auch dabei zu Grunde gehe: besser gleich, als hernach, wenn er mein Mann gewesen wäre und so eine Zauberin hätte es ihm dann angethan. Ich bin gar nicht so ungerecht, wie Sie denken; aber ich bin's auch nicht gegen mich selbst. Denn nun hab' ich sie gesehen; ich war noch keine halbe Stunde langsam die Straße hin und her gegangen, weil ein Wagen vor der Thüre wartete, und ich dachte, wenn sie ausfahren sollte, so kann ich sie einsteigen sehen. Und richtig, ein Bedienter in Livree öffnet den Schlag und der Portier die Hausthür, und da kommt sie heraus, er neben ihr; er hatte ihr einen Morgenbesuch gemacht und begleitet sie an den Wagen, steigt aber nicht mit ein, sondern, nachdem er sie hineingehoben und ihr noch den Handschuh geküßt, winkt er dem Kutscher, abzufahren, und geht. Und da konnte ich sie beobachten, das dünne, dürftige, hochmüthige Gesicht, nicht gerade garstig, aber der herzloseste Puppenkopf, der mir je vorgekommen, und kein Funken von Liebe und Glück in den Augen, die sich doch eben erst in seinen gespiegelt hatten, und gleich darauf so gelangweilt in den Schnee starren konnten, als wären sie froh, nun keine Zärtlichkeit mehr heucheln zu müssen! – Nein, ich will nicht übertreiben. Es ist ja möglich und kann kaum anders sein, daß sie ihn liebt, so viel ein Herz unter einer engen Brust eben hergeben kann. Es ist nicht umsonst, daß er Glück hat bei den Frauen; Niemand ahnt, daß diese Augen so falsch sind. Aber er – daß er sie liebt, sich auch nur eine Stunde je hat einreden können, sie zu lieben – halten Sie mich, wofür Sie wollen, aber es ist unmöglich; ich weiß auch, was ich werth bin, und ich mag ihm nun verleidet sein oder ganz aus dem Gedächtniß: damals, als ich glücklich war durch ihn, durch den Traum von seiner Liebe, da war ich auch liebenswürdig, liebenswürdiger als all diese geschnürten und frisirten Baronessen, und wer mich um diese Wachsfigur verschmähen konnte, dem ist es überhaupt nie Ernst gewesen, der hat nur mit mir gespielt, und das eben ist es, was mich so tief beleidigt!

Liebes Fräulein, sagte er, obwohl ich die Braut nicht kenne, bin ich der Letzte, der es bezweifeln möchte, daß er einen kläglichen Tausch gemacht hat. Ich begreife überhaupt nicht, wie Jemand, der Sie gesehen, dem Sie Ihre Liebe geschenkt haben – an eine Andere denken kann. Es würde Sie wenig interessiren, wenn ich Ihnen erzählen wollte, wie mir seit gestern Abend zu Muthe war, mit welchem Herzklopfen ich die Treppe zu Ihrer Wohnung hinaufgestiegen bin. Aber eben deßhalb: wie Sie sich sein Benehmen erklären, kann ich es mir nicht zusammenreimen. Mit Ihnen soll es ihm nicht Ernst gewesen sein? Sie schätzen ihn doch wohl zu gering. Ich – im Gegentheil – ich glaube, Sie sind seine einzige ernsthafte Leidenschaft gewesen. Aber freilich, es giebt mancherlei Ernst, und Herzen, die nicht lange mit etwas Ernst machen können. – Sein Vater mag allerlei väterliche Trümpfe ausgespielt haben, die er mit Cœur-Dame nicht zu stechen wußte. Und für wankelmüthig hat er immer gegolten. Aber daß Sie die Männer nun alle für Einen verdammen –

Er stockte, das Herz wollte ihm über die Lippen springen, aber er ward noch zur rechten Zeit durch den ganz verdüsterten Ausdruck ihres Gesichts daran erinnert, wie schlecht die Stunde und ihre Laune zu Zärtlichkeiten geschaffen seien. Sie saß in der Sophaecke und zog mechanisch die Handschuhe aus, ein bitteres Hohnlächeln um die jugendlichen Lippen.

Die Männer! sagte sie. Was gehn mich die Männer an? Ich kenne nur diesen Einen, und den besser, als mir lieb ist. O, daß man so etwas hinnehmen muß und keine schneidigere Waffe dagegen hat, als seinen Mädchenstolz, keine, die ihm weher thut! Ich hatte ihm verziehen. Seine Flamme, dacht' ich, war verraucht; eine stärkere hat ihn ganz ausgefüllt. Schlimm genug, daß du ihn nicht hast fesseln können. Nun aber – so bloß von einem kalten, lieblosen Selbstsüchtigen zum Zeitvertreib herumgezogen und genarrt zu sein, der dann hingeht und mit derselben herzlosen Geläufigkeit um eine Geringere wirbt, bloß des erbärmlichen Vortheils wegen – das, das ist nicht zu vergeben, noch zu vergessen, und ich müßte mich selbst verachten, wenn ich es hinnähme ohne die bitterste Empörung!

Sie sprang bei diesen heftig hervorbrechenden Worten wieder auf, warf die Locken mit einer trotzigen Geberde zurück und fuhr fort, während sie das Zimmer durchschritt:

O, wenn ich ein Mann wäre! oder einen Bruder hätte! – Gott weiß es, es dürfte nicht so hingehen, als wenn sich Alles von selbst verstünde! Mir freilich, mir könnte es nicht mehr helfen und die todte Liebe und das zertretene Glück nicht wieder lebendig machen. Aber es wäre doch eine Genugthuung, zu denken, daß man sich nicht geduldig wie ein Wurm hat in den Staub drücken lassen, daß es noch eine Gerechtigkeit, eine Nothwehr von Mann zu Mann giebt, wo sonst keine Geschwornen Recht sprechen und ein armes Mädchen, das nichts hat als seinen Stolz, nicht klagen kann auf gebrochene Eide. Statt dessen nun heimreisen und auf dem ganzen langen Wege und hernach in dem ganzen langen Leben seinen kalten Blick sehen, mit dem er heute an mir vorbeiging, und ihre einfältige Hoffahrtsmiene, und sich sagen zu müssen: an solch einen Menschen hast du deine schönsten Jugendgefühle verschwendet und er hat sie dir vor die Füße geworfen um solch eine Larve, die nie etwas gefühlt hat!

Der Klang ihrer heftigen dunklen Stimme hatte ihn ganz überwältigt. Als sie jetzt schwieg, fuhr er wie aus einem Traume auf, der ihn mit geheimnißvollem Zauber wie an tiefen Seen und dämmernden Abgründen hingeführt hatte.

Sie haben Recht, sagte er. So darf es nicht ausgehen. Zum Bruder zwar kann ich mich Ihnen nicht anbieten; was ich für Sie fühle, ist mehr als brüderlich. Aber fürchten Sie nicht, daß mich der Eigennutz bewegt, mich Ihnen mit Leib und Seele zur Verfügung zu stellen. Es ist rein das Bedürfniß, einer himmelschreienden Beleidigung, an einer Wehrlosen verübt, nicht mit gekreuzten Armen zuzusehen, sondern unser Geschlecht wieder zu Ehren zu bringen, indem ich den Einen züchtige, der ihm ganz besonders Schande gemacht hat. Vertrauen Sie mir; Sie sollen nicht lange auf Genugthuung warten.

Er war aufgestanden und griff nach seinem Hut.

Was wollen Sie thun? rief sie mit einem plötzlich verwandelten Ausdruck.

Schmerz und Zorn waren aus ihren Mienen gewichen und nur ein bestürztes Staunen darin zurückgeblieben.

Ich will auf der Stelle zu ihm gehen und ihm sagen, was ich von seiner Handlungsweise denke.

Sie werden ihm doch nicht – Sie dürfen ihm nicht sagen, daß ich hier bin, daß ich Sie habe in mein Herz blicken lassen! Er würde denken, ich suchte einen Weg, mich wieder in seine Erinnerung einzuschleichen – o und das – das wäre von allen Erniedrigungen die schmachvollste, die unerträglichste!

Seien Sie ganz unbesorgt, sagte er, indem er ihre Hand ergriff und mit einer Wärme drückte, die ihr mehr als alle Worte sagen mußte, wie es um ihn stand. Ihr Stolz kann Ihnen nicht heiliger sein, als mir. Können Sie denken, daß nach Allem, was geschehen ist, ich Sie ihm gönnen, ich etwas thun würde, was ihn zu Ihnen zurückführte? So sehr würde ich bei aller Selbstlosigkeit nicht mein eigener Feind sein. Und freilich, es wäre sehr umsonst, wenn ich es Ihnen verhehlen wollte, daß ich ganz in der Ferne eine Hoffnung schimmern sehe – erschrecken Sie nicht, ich verpflichte Sie zu gar nichts – ich habe nur auch ein eigenes Interesse dabei, wenn ich Ihnen beweise, daß nicht alle Männer von seinem Schlage sind. –

Sie sah in Schrecken und Verwirrung zu ihm auf und begegnete seinen treuherzigen Augen, die von Muth und Liebe leuchteten. Die Wärme seiner schüchternen und doch so lebhaften Huldigung drang ihr wohlthuend an das Herz, das in den letzten Stunden so schmerzlich von Frost und Glut gelitten hatte. Und zugleich that es ihr leid, daß sie nicht das Mindeste für ihn empfand. Sie betrachtete ihn jetzt eigentlich zum ersten Mal mit einiger Aufmerksamkeit. Bisher war er ihr nichts gewesen, als ein alter Bekannter ihres ungetreuen Geliebten, der nichts für sich selbst bedeutete. Jetzt erhob er den Anspruch, auch etwas für sich zu gelten, und es beklemmte sie, daß er ihr dadurch wieder völlig fremd wurde. In der Verlegenheit über diese Entdeckung, die sie sich fast als Undankbarkeit auslegte, antwortete sie ihm herzlicher, als ihr zu Muth war.

Sie sind ein edler Mensch, sagte sie und erwiederte den Druck seiner Hand, während er die ihre an die Lippen drückte. Thun Sie, was Ihr Gefühl Ihnen eingiebt; es kann nichts Unrechtes sein. Ich werde es Ihnen ewig danken, daß Sie sich der Fremden, der ganz Freundlosen so ritterlich angenommen haben. Es giebt Freundschaftsbeweise, die man nicht mit Worten, nur mit der Empfindung vergelten kann. Und wahrhaftig, wer das an mir thut, mich erlös't von dem vernichtenden Gefühl der Ohnmacht gegen die empörendste Mißhandlung – der kann erwarten, daß ich an die Wahrheit und Zuverlässigkeit seiner Freundschaft glaube! Ich fühle es, mein einziger Freund, Sie retten mir das Leben!

Sie hatte kaum diese Worte in halber Bewußtlosigkeit vor sich hingestammelt, als sie sie schon bereute. Ein Ausdruck von Freude flog über sein Gesicht – er haschte von Neuem nach ihrer Hand – sie war eben im Begriff, die Unterhaltung wieder auf einen minder vertraulichen Ton herabzustimmen – da hörten sie die Schritte der Magd draußen sich nähern. Der Augenblick war nicht dazu angethan, sich näher zu erklären und jede Mißdeutung abzuschneiden. Er trat rasch von ihr zurück und näherte sich der Thür.

Sie lassen mich erfahren, was Sie thun, und was er etwa für Erklärungen giebt! rief sie ihm nach, da er schon auf der Schwelle war. Denken Sie, mit welcher Ungeduld ich auf Nachricht warte. Und nochmals –

Es bedarf keines Wortes mehr! rief er zurück. Sie können mir blindlings vertrauen. Adieu, und auf Wiedersehen!

Damit verließ er sie eilig, als fürchte er, daß sie die Vollmacht, die ihn beglückte, zurücknehmen oder beschränken könnte. Und seine Furcht war nicht unbegründet. Denn kaum hatte sie ihn aus den Augen verloren, als eine entsetzliche Angst sie überkam. Sie hätte Viel darum gegeben, wenn sie ihrer ersten Empfindung gefolgt und gleich nach dem Zusammentreffen mit ihrer Nachfolgerin abgereis't wäre. Nun war es zu spät; sie kannte ja weder Namen noch Wohnung ihres neuen Freundes. In der unseligsten Stimmung warf sie sich auf das Sopha und war endlich froh, in krampfhaften Thränen ihr gepreßtes Herz erleichtern zu können.

Indessen war er, ohne umzublicken, ohne von den Bekannten, die ihm begegneten, einen zu grüßen, des Weges gegangen, der zu der Wohnung seines alten Studiengenossen führte. Er rief sich mancherlei Scenen aus ihrem früheren Verkehr zurück und kam plötzlich zu der Ueberzeugung, daß Franz ihm eigentlich stets fatal gewesen sei, obwohl, oder vielleicht gerade weil sie nie ernstlich an einander gerathen waren. Ihre Naturen hatten nichts mit einander gemein, weder im Guten noch im Bösen. Seine vornehme Kälte, seine kluge Selbstsucht, daß er weder ein Renommist noch ein warmblütiger Schwärmer, sondern schon als junger Mensch ein überlegener und überlegender Politiker war, der, wie es schien, immer wußte, was er konnte und wollte – das hatte Leonhard schon damals von ihm fern gehalten, und er war jetzt froh darüber. Denn nun stand keine alte Freundschaft zwischen ihnen, über deren Schatten man erst hinweg mußte, ehe man sich beleidigen konnte.

So kam er in der besten Stimmung eines ganz unparteiischen Sendboten der himmlischen Gerechtigkeit nach dem Hause, wo Franz v. L. wohnte, einem eleganten Hotel garni, da sein Vater die Stadtwohnung aufgegeben hatte, um ganz auf dem Gute zu leben, und der Sohn, so kurz vor der Hochzeit, sich nicht eine eigene Junggesellenwirthschaft einrichten wollte. Leonhard hatte ihn hier nur einmal flüchtig besucht, einem Buch nachzufragen, das Franz ihm vor Jahren abgeliehen. Damals dachte er nicht, daß er in solchen Angelegenheiten wiederkommen würde. –

Er fand ihn auch diesmal zu Hause, und zwar vor einem großen Spiegel stehend, in eifriger Berathung mit seinem Schneider über einen neuen Frack. Als Leonhard eintrat, wandte er, ohne sich stören zu lassen, den Kopf nach ihm um, nickte ihm so vertraulich zu, als ob sie sich gestern zuletzt gesehen hätten, und sagte:

Guten Tag, Leonhard! Du triffst mich gerade in einem denkwürdigen Augenblick, wo man alte Freunde um stilles Beileid bitten muß. Ich probire meinen Hochzeitsfrack und finde die neue Mode etwas unbequem. Je nun, auch der neue Mensch, den ich nächstens anziehen soll, ist unbequemer, als der alte und am Ende gewöhnen sich selbst die Krebse ans Rothwerden. Nimm eine Cigarre, Leonhard; und da liegen Schopenhauer's Parerga. Das Kapitel über die Weiber ist gerade aufgeschlagen, eine Lectüre für Junggesellen und Solche, die es bleiben wollen. Obwohl es nicht immer hilft, wie Figura zeigt. Findest du nicht auch, daß es für Leute, die dumme Streiche machen, nichts Angenehmeres giebt, als das Studium der Philosophie? Man fühlt sich dann recht in seiner ganzen Stärke, wenn man die Weisheit mit Händen greifen kann und sie doch standhaft verschmäht, um nach wie vor der Thorheit treu zu bleiben. – Herrgott, welch eine lächerliche Vogelscheuche für alle Liebesgötter ist so ein Bräutigam!

Er sprach das Alles in seinem gewöhnlichen leichten Ton, aber Leonhard glaubte doch eine fieberhafte Aufregung in der Stimme zittern zu hören, ein geheimes Schuldbewußtsein, das diese gezwungenen Scherze ersticken sollten. Auch fiel ihm auf, daß das Gesicht im Spiegel sehr bleich und die Augen trübe und unstät waren, wie eines Menschen, in dessen Blut eine Krankheit sich vorbereitet. Zugleich machte er jetzt zum ersten Male die Bemerkung, daß bei den kältesten und höhnischsten Sachen, die Franz so hinplauderte, ein Wohlklang, eine einschmeichelnde Kraft in seiner Stimme war, die selbst ihn, den Boten der heiligen Vehme, zu entwaffnen drohte.

Als der Schneider gegangen war, sagte er, ohne Franz anzusehen, indem er scheinbar zerstreut im Lehnstuhl ausgestreckt mit einer Feder spielte:

Wir haben uns lange nicht gesehen, Franz. Inzwischen ist Mancherlei vorgefallen.

Ja wohl, erwiederte Jener mit einem halben Seufzer. Aber wer ist Schuld, wenn man auseinander kommt? Wer hockt in seinem Dachsbau und verphilistert immer heilloser? Freilich ist der Weg von mir zu dir nicht weiter, als von dir zu mir. Mit mir aber muß man nicht rechnen. Ich bin jetzt einer der weißen Sklaven, die nur ihre Kette brechen, um sich einen Fußblock auf Lebenszeit dafür anschmieden zu lassen. Bester Freund, laß mich dein warnendes Beispiel sein, und wenn du je heirathen mußt, verlobe dich wenigstens erst drei Tage vor der Hochzeit. Diese Frohne! Diese candirte Langeweile! Indessen – Alles hat ein Ende.

Und dann?

Und dann? Ja freilich »und dann!« Aber davon wollen wir schweigen. Hängen und Heirathen ist ein Schicksal, und da nicht Jeder, wie er möchte, seines Glückes Schmied ist – höre, bist du schon auf der Ausstellung gewesen? Aber so nimm doch eine Cigarre. Sie sind nicht übel; mein Schwiegervater hat sie mir geschenkt, und da dies einer der wenigen Artikel ist, von denen er etwas versteht –

Noch immer sah Leonhard vor sich hin und balancirte, wie wenn er ein tiefsinniges Problem damit zu lösen hätte, die Feder auf seinem Zeigefinger.

Ich gratulire dir zu diesem Schwiegervater, sagte er endlich mit aller Gelassenheit, deren er fähig war. Aber sag doch einmal, ist es wahr, was ich habe erzählen hören: du warst vorher schon einmal verlobt?

Franz blieb vor ihm stehen, die Arme über der Brust gekreuzt.

Wie kommst du darauf? fragte er und sah ihm scharf ins Gesicht. Allerdings war ich verlobt. Es ist eine recht trübselige Geschichte. Aber ich dachte nicht – da es ganz unter uns geblieben war – in der That, es interessirt mich, zu wissen, wer davon gesprochen haben kann. Sie selbst gewiß nicht – sie ist nicht sehr plauderhaft; und außer ihr – bis jetzt wenigstens –

Es ist Nichts so fein gesponnen, erwiederte Leonhard und ließ die Feder der Reihe nach von einem Finger auf den andern überspringen. Uebrigens ist das auch gleichgiltig. Wichtiger ist, ob das Mädchen dir irgend Anlaß gegeben hat, mit ihr zu brechen, oder ob – Alles nur von deiner Seite –

Ich weiß nicht, wie du mir vorkommst, Leonhard. Wen geht diese unglückliche Geschichte etwas an, als mich und die Nächstbetheiligte? Reden wir von etwas Anderem. Ich gestehe dir, daß diese Erinnerungen nur zu oft sich melden und mir den ohnehin nicht sehr beneidenswerthen Beruf eines glücklichen Bräutigams erheblich erschweren.

Ich finde das sehr begreiflich, erwiederte Leonhard und seine Stimme verrieth die Gewalt, die er sich anthun mußte, um noch den Gleichgültigen zu spielen. Zwar bin ich selbst, wie du weißt, ein ziemlich philiströser Mensch und habe dich immer um die leichte Manier beneidet, mit der du von Abenteuer zu Abenteuer sprangst, wie man sich eine neue Cigarre an der verglimmenden alten anzündet. Aber es muß doch Fälle geben – etwa so ein unschuldiges, liebenswürdiges, gutes Geschöpf – so eine leichtsinnig vom Strauch gebrochene und in den Staub geworfene Rose –

Er schleuderte bei diesen Worten die Feder mitten ins Zimmer hinein und stand plötzlich auf. Seine Blicke, die leidenschaftlich flammten, begegneten den erstaunten Augen des Gegners, der ihn sprachlos anstarrte.

Erlaube mir, dir zu bemerken, Leonhard, sagte er endlich, daß ich dein Betragen – du verzeihst den commentwidrigen Ausdruck – sehr sonderbar finde. Du verschaffst mir über Jahr und Tag weder die Ehre noch das Vergnügen deines Besuches und trittst dann eines schönen Tages bei mir ein, bloß um mir in einer unbegreiflichen moralischen Hitze allerlei lyrische Phrasen ins Gesicht zu werfen, von Rosen, die ich gebrochen u. s. w. Was Teufel gehen dich meine Verhältnisse an? Ich bin bisher noch immer ohne Beichtvater fertig geworden und habe meine Handlungen vor mir selbst vertreten. Also wünsche ich auch in Zukunft –

– Deine noblen Passionen fortzutreiben, ohne daß dir Jemand darein redet; sehr natürlich, und ich bin sonst der Letzte, der sich in Gewissensfragen mischt. Nur giebt es freilich Fälle, wo auch die Interessen Anderer ins Spiel kommen, und da wirst du es eben so natürlich finden, wenn man es dennoch wagt, deine olympische Ruhe zu stören – vorläufig nur mit einer kleinen, ganz bescheidenen Frage.

Er hielt einen Augenblick inne. Beide sahen sich mit feindseliger Kälte dicht in die Augen.

Eine Frage? Ich hoffe, daß sie wirklich bescheiden ist – sonst

Gewiß. Es handelt sich nur darum, wie ich schon angedeutet, ob jenes Mädchen dir irgend einen Grund gegeben hat, dich von ihr zurückzuziehen, ob nur der leiseste Schatten einer Schuld von ihrer Seite –

Nein! unterbrach ihn Franz mit seltsamer Heftigkeit, indem er sich, düster zu Boden blickend, von Leonhard abwandle. Ich ahne nun ungefähr, weßhalb all diese Reden, dies ganze peinliche Verhör, das ich mir wahrhaftig verbitten würde, wenn ich es ihr nicht schuldig wäre, keinen falschen Verdacht auf ihr ruhen zu lassen. Ich will nichts weiter wissen, nicht, wie du zu deiner Inquisitor-Rolle kommst, noch, wie du etwa selbst zu dem armen Kinde stehst. Gegen mich hat sie nichts verbrochen, als etwa, daß sie mich zu sehr geliebt hat – mehr als ich gewohnt bin, mehr als ich verdiene und ertragen kann. Eine tiefe und starke Seele, sag' ich dir, wie es nicht viele giebt, etwas excentrisch, unberechenbar, zuweilen eine Art Inspiration, daß einem dann vor dem sibyllinischen Gesicht fast bange werden könnte, wenn es dabei nicht immer reizend und weiblich bliebe. Aber es hat nicht sein sollen. Es riß mich hin, obwohl ich meinen sehr eigensinnigen Herrn Papa kannte und wußte, wie er über Mesalliancen denkt. Indessen, man redet sich gern was vor, wenn man verliebt ist. Wie ich dann den alten Mann wiedersah – du kennst weder ihn, noch meine ganze Familie, lauter sehr kaltblütige Standesherren, die nur Standesgefühle in der Brust herbergen – ich allein bin etwas aus der Art geschlagen – nun denn, es war eben kein Halten mehr. Die Güter sind Fideicommiß und wahrhaftig kein Pappenstiel. Und die andere Partie schon so weit abgekartet – es hätte einen Heidenlärm gegeben, und das Ende vom Liede wäre ein armseliges Leben für mich und sie gewesen. Je mehr ich mich selbst prüfte, desto mehr ward es mir klar, daß ich nicht der rechte Mann war, dieses vielbedürftige Herz glücklich zu machen, am wenigsten in der Misère. Ich werde überhaupt und unter allen Umständen einen recht wenig musterhaften Ehemann abgeben; darum ist die conventionellste Ehe die beste für mich – viel chic, Häuslichkeit en coquille und mit Trüffelsauce, aber möglichst wenig Liebe, am wenigsten Leidenschaft. Und dieses geliebte Kind – ich will nicht davon reden, aber wahrhaftig, sie war zu gut für mich – ich hätte sie kreuzunglücklich gemacht, und meinen Vater dazu. Jeder Mensch besitzt doch am Ende nur Einen Vater, und der meine hat überdies auch noch Mutterstelle bei mir vertreten – ich bin so zu sagen seine einzige Lebensfreude, außer der Landwirthschaft und dem Gothaischen genealogischen Kalender. Wenn du den alten Mann gesehen und gehört hättest –

Unnöthig! unterbrach ihn Leonhard scharf. Ich sehe und höre dich und bewundere die feigen Sophistereien, mit denen du die Blöße dieses ehrlosen Benehmens –

Leonhard! – du vergissest, wo du bist und zu wem du sprichst!

Ich weiß es leider nur zu gut.

So weißt du auch, was für eine Antwort darauf gebührt. Ich denke, wir ersparen uns weitere Bekenntnisse unserer schönen Seelen. Sei so gut, deinen Hut zu nehmen und deinen echauffirten Kopf ins Freie zu tragen. Ich bleibe bis Nachmittags fünf Uhr zu Hause. Du wohnst doch noch in deinem alten Quartier?

Leonhard nickte, nahm mechanisch seinen Hut und entfernte sich rasch.

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Sobald er nach Hause gekommen war, schrieb er die folgenden Zeilen:

»Theures Fräulein!

Ich eile, Ihnen, meinem Versprechen gemäß, Bericht abzustatten.

Ich komme so eben von ihm. Sie können ganz ruhig sein: er hat keine Ahnung, daß Sie hier sind, daß Sie ihn und seine Braut gesehen haben. Auch was mich veranlaßt hat, mich plötzlich so lebhaft für sein erstes Verlöbniß zu interessiren, hat er nicht erfahren. Die Art, wie er von Ihnen sprach und Ihren Werth anerkannte, hätte mich fast milder gegen ihn stimmen können. Dann aber bedachte ich, daß es seine Schuld nur vergrößert, wenn er genau wußte, welch seltenem Wesen er sein Wort brach, und bin meiner Mission treu geblieben.

Nein, mein theures Fräulein, er ist Ihrer nicht werth; – er war es nie. Diese selbstsüchtige Ueberlegenheit, diese frivole Kälte – ich begreife wohl, wie er damit Ihrem Geschlecht gefährlich werden konnte, das so oft den herzlosesten Egoismus mit männlichem Stolz verwechselt. Aber verlassen Sie sich darauf, theures Fräulein, diesmal wenigstens soll ihm seine eherne Ruhe nichts helfen. Ich, obwohl ich meine Kaltblütigkeit schwer behaupten kann, sobald ich an die Ihnen zugefügte Beleidigung denke –

Aber ich breche ab; ich müßte sonst meinem Vorsatz untreu werden, von mir selbst nicht eher zu Ihnen zu sprechen, als bis ich Ihnen durch mein Handeln bewiesen habe, daß Sie keinen ergebneren Freund besitzen, als Ihren

L.«

Er überlas den Brief und war ganz wohl mit ihm zufrieden. Nur als er ihn schon eingesiegelt hatte, wollte ihm nachträglich die Stelle über den Charakter seines Gegners nicht recht gefallen. Es war freilich nur seine ehrlichste Meinung, aber der moralisirende Ton, zumal über einen ehemaligen Kameraden – gleichviel! Es schien ihm, da es überdies nur das Echo ihrer eigenen Aeußerungen war, nicht der Mühe werth, den Brief noch einmal zu schreiben. Er gab ihn dem nächsten Dienstmanne, den er auf der Straße fand, sagte ihm, da er noch immer nicht den Namen seines Schützlings wußte, sorgfältig Bescheid und kehrte dann mit sehr erleichtertem Herzen in sein Zimmer zurück.

Freilich nicht um zu arbeiten, aber auch nicht um zu thun, was sonst in solcher Lage üblich ist: sein Haus zu bestellen, Abschiedsbriefe für den schlimmsten Fall zu schreiben und seine Rechnung mit dem Himmel zu machen. Das romantische Fieber, das ihm seit gestern Abend im Blute steckte, war noch so stark, daß er so wenig an einen möglichen üblen Ausgang dieses Handels dachte, wie ein Paladin aus der Ritterzeit, der für Ehre und Unschuld seiner Dame im Gottesgericht eine Lanze brechen sollte. Nachdem er seinen Secundanten benachrichtigt und dieser mit dem Secundanten des Gegners die nöthigen Verabredungen getroffen hatte, war sogar der Gedanke an das, was morgen früh bevorstand, der allerletzte, der ihn beschäftigte. Denn er hatte an viel wichtigere und liebere Dinge zu denken: an jedes Wort, das sie zu ihm gesprochen, zumal kurz vor ihrem letzten Abschied, an alles Verheißende, was in ihrem Blick, ihrem Händedruck gelegen, und was sie ihm nun sagen, wie sie ihn nun anblicken würde, wenn er, nachdem er den Treulosen gebührend gezüchtigt, vor sie hinträte und ihr sagte, daß sie ihn nicht umsonst »ihren einzigen Freund« genannt habe.

Wie er sich das so recht lebhaft ausmalte, die Rührung und Genugthuung in ihren schönen Augen, und daß er ihre Hand fassen, das holde Wesen wohl gar in der ersten Trunkenheit an sein Herz drücken würde, – es schwindelte ihm vor ungeahnter Wonne. So war es ihm nie zu Muth gewesen, bei keinem seiner früheren Abenteuer, in denen sich's um ein reizendes Mädchen gehandelt hatte. Zum ersten Mal glaubte er eine Leidenschaft fürs ganze Leben zu fühlen, und das Wunderbare, daß er gestern um diese Zeit noch ein ganz freies Herz gehabt hatte und heute in hellen Flammen stand, erhöhte nur den Reiz dieser Empfindung.

Er nahm seinen geliebten »Taugenichts« zur Hand und streichelte das kleine Buch mit einer gewissen dankbaren Zärtlichkeit, da es die ganze Geschichte doch eigentlich angestiftet hatte. Aber darin zu lesen, wollte ihm nicht glücken. Was waren all diese bunten Abenteuer gegen sein erlebtes! Zum ersten Mal erschienen ihm die Farben matt und der Ton hie und da gekünstelt. Er legte das Buch wieder aus der Hand und überließ sich, im Zimmer auf und ab gehend, seinen rosigen Träumen.

So verging ihm der Tag wie in einem festlichen Rausch, aus dem er keinen Augenblick zu nüchternem Bewußtsein erwachte. Seine Wirthin, die ihn nie so gesehen, wagte nicht zu fragen, was ihn denn so lustig stimme. Sie sprach mit ihrer Tochter darüber, der die Sache nicht minder räthselhaft vorkam, so daß sie sich endlich ein Geschäft auf seinem Zimmer machte. Es dauerte wohl eine Viertelstunde, bis sie wieder herauskam. Ein Abglanz von der sonnigen Stimmung, in der sich ihr Miether befand, schien an dem sehr reizlosen Gesicht der tugendhaften Jungfrau hängen geblieben zu sein. Doch behauptete sie, auch jetzt noch nicht genau zu wissen, was eigentlich vorgefallen sei. Er habe sich lange und freundlicher als je mit ihr unterhalten, und als sie zufällig einen broncenen Briefbeschwerer betrachtet, habe er sie gefragt: ob sie den wohl zum Andenken an ihn bewahren wolle? – und dann trotz ihrer Weigerung darauf bestanden, daß sie ihn mitnahm. Es waren zwei kleine Hände, die sich gefaßt hielten, auf einem alabasternen Kissen.

Mutter –! hauchte die Verschämte – wenn ich mich nicht getäuscht hätte, – wenn er der Erste wäre, der mich verstünde – –!

Doch schien es mit dem Verständniß noch nicht ganz richtig zu sein. Vielmehr, als sie ihm eine Stunde später das Essen auftrug, war er so in seine Gedanken vertieft, daß er sich nicht einmal nach ihr umsah; dann blieb er freilich auch den Rest des Tages zu Haus, aber nicht ihretwegen. Mit einer heimlichen Schadenfreude dachte er daran, daß, wenn sie etwa andern Sinnes würde und aus Großmuth ihm befehlen möchte, den Beleidiger zu schonen, sie weder seinen Namen noch seine Wohnung wußte und daher nichts mehr von dem, was er für sie zu thun vorhatte, zu hindern im Stande war. Darum wollte er auch jedem Zufall vorbeugen, der sie auf der Straße vielleicht wieder mit ihm zusammengeführt hätte. – Wozu sollte er auch ausgehen? Die Welt draußen war ihm ganz gleichgültig; bessere Gesellschaft, als er sie in der Einsamkeit genoß, konnte er draußen doch nicht finden.

Er setzte sich an seinen Tisch und fing an, Verse »an die Geliebte« zu dichten. Es floß ihm wie noch nie aus der Feder. – Dazu rauchte er eine nach der andern von seinen besten Cigarren, bis ihm endlich die Gedanken ermatteten. Da legte er sich zu Bett, nachdem er vorher wohl dreimal seiner Wirthin eingeschärft hatte, ihn morgen pünktlich um sechs Uhr zu wecken.

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Der Morgen war bitter kalt, und die falbe Sonnenscheibe schwamm wie ein blasser Mond durch den grauen Nebel, der sich nur langsam lichtete. Es schlug eben neun Uhr, als vor dem Hause, wo die Professorin wohnte, eine Droschke hielt und unser ritterlicher Freund, wohlbehalten und mit einem Gesicht, das von freudiger Hoffnung strahlte, heraussprang, um die Treppe zu seiner Dame im Fluge hinaufzustürmen. Es schien, daß man ihn erwartet hatte. Denn ehe er droben noch die Hand an den Glockenzug legen konnte, öffnete sich schon die Thür und sie selbst trat über die Schwelle.

Sie sind es? rief sie ihm in leidenschaftlicher Aufregung entgegen, indem sie mit schwankendem Schritt ins Zimmer zurücktrat und ihn folgen ließ. Wir sind allein! Reden Sie! Was bringen Sie mir? O mein Gott, was werde ich hören!

Er wollte ihre Hand ergreifen; sie that, als verstünde sie es nicht. –

Rasch, rasch! drängte sie. Sagen Sie mir, was geschehen ist – Sie sehen so vergnügt aus – mein Gott, wenn Sie wüßten, wie mir zu Muth ist, was ich ausgestanden habe seit Ihrem Briefe, wie verzweifelt ich war, daß ich weder Ihre Wohnung noch Ihren Namen wußte! – So schwer bestraft zu werden für das unbedachte Vertrauen, das ich einem ganz Fremden geschenkt hatte! Aber reden Sie doch! Haben Sie –? Ist er –?

Liebste Freundin, sagte er, lassen Sie mich denn zu Worte kommen? Wenn ich vergnügt aussehe, so hat das freilich seinen guten Grund. Man pflegt so auszusehen, wenn man seine Schuldigkeit gethan hat.

Ihre – Schuldigkeit?

Und zwar, Gott sei Dank, ganz in der rechten Weise, nicht zu wenig, nicht zu viel. Er ist daran erinnert worden, daß selbst ein so eleganter Egoist, wie er, nicht ungestraft einen schlechten Streich begehen kann, daß es noch Männer giebt, die einem beleidigten Mädchen –

Sie haben sich mit ihm geschlagen? Sie haben – ihn verwundet? oder gar –

Nur einen kleinen Denkzettel, wie gesagt, eine sehr unschuldige Kugel in die rechte Schulter. Ein paar Wochen Zimmerarrest, eine interessante Blässe und die Unmöglichkeit, in diesem Winter seiner Tänzerin den Arm zu kräftig um die Taille zu legen – nichts weiter. Der Arzt hat mir auf das Bestimmteste versichert, daß von Gefahr keine Rede sei. Uebrigens muß ich ihm das Zeugniß geben: er hat sich auch bei dieser Geschichte als einen vollendeten Gentleman gezeigt. Ich habe sogar, als er schon in den Wagen gebracht war, einen ganz kameradschaftlichen Händedruck von ihm bekommen, von einem Seufzer begleitet, der vielleicht an eine andere Adresse gehörte. Nun aber, da Alles so glücklich abgelaufen ist –

Er näherte sich ihr mit aufgeregter Zutraulichkeit; war doch der Augenblick gekommen, den er sich hundertmal mit den leuchtendsten Farben ausgemalt hatte, wo er den Lohn für seine aufopfernde Treue ernten, den Dank seiner Dame davontragen sollte.

Sie haben mir noch immer keine Hand gegeben! bat er, indem er Miene machte, sich eines der weißen kleinen Händchen zu bemächtigen, mit denen sich die schöne Verlassene auf die Lehne des Sophas stützte. Aber wie wenn ein Räuber sie überfallen wollte, fuhr sie zurück und flüchtete hinter den Tisch am Sopha.

Eine Hand? rief sie. Ihnen eine Hand? Sie muthen mir zu, die Hand zu drücken, die eben sein Leben bedroht, die sein Blut vergossen hat? Sind Sie von Sinnen, mein Herr, oder glauben Sie, daß ich den Verstand verloren habe? Sie kommen mit triumphirendem Gesicht zu mir, mir zu erzählen, daß Sie einen Streit vom Zaun gebrochen haben, um ihn blutig auszufechten; und zum Dank für diese herrliche That erwarten Sie wohl gar – Aber Sie haben sich verrechnet! Ich bin nicht verantwortlich für dieses Verbrechen, für diese unglückselige That, und wenn das Aergste eintrifft, wenn der Arzt sich geirrt hat und die Wunde – nein, nein, ich darf nicht daran denken! – Das aber erkläre ich Ihnen: wie es auch werden mag, von mir hoffen Sie nicht auf Dank; es ist schon viel, wenn ich Ihnen je verzeihen kann, so eigenmächtig in meinem Namen gehandelt zu haben, und jetzt – jetzt verlassen Sie mich, und auf Nimmerwiedersehen!

Er stand ihr gegenüber und starrte sie eine Weile an, als wisse er nicht, ob er seinen eigenen Ohren trauen dürfe.

Verzeihen Sie, mein Fräulein, sagte er dann mit plötzlich ernüchterter Stimme, – wenn ich nicht irre, war es auf dieser selben Stelle, wo ich gestern das gerade Entgegengesetzte von Ihnen zu hören bekam. Sie entsinnen sich vielleicht noch, daß Sie mich hier Ihren Freund nannten, von ewiger Dankbarkeit, von Rettung Ihres Lebens sprachen. Bei Ihrem lebhaften Naturell ist es begreiflich, wenn Ihnen Ihre eigenen Worte rascher entfallen, als einem Freunde, dem Ihre geringsten Aeußerungen wichtig sind. Aber wenn Sie die Güte haben wollen, sich den gestrigen Tag zurückzurufen –

Müssen Sie mich noch daran erinnern? rief sie, in fassungslosen Schmerz ausbrechend, während ihr die Thränen in die Augen traten. Ja wohl, ich war von Sinnen gestern, ich wußte nicht, was ich that und sprach, ich hatte ihn eben wiedergesehen, o, und das bittere Gefühl, ihn verloren zu haben, hatte mich um mich selbst gebracht. Wenn Sie ein Freund gewesen wären, so hätten Sie mich zu mir selbst und zur Vernunft zurückgeführt, statt meine verzweifelte Stimmung zu mißbrauchen, meine Worte, die ich in der blinden Verworrenheit herausstieß, zu Ihren Gunsten zu deuten – einen Auftrag herauszuhören, der nie und nimmer mein Ernst sein konnte. Ich haßte ihn gestern, ja! Ich hätte vielleicht mit einer gewissen Genugthuung gehört, daß ihn der Blitz getroffen habe, daß nun auch keine Andere die Seine werden könne. Aber ihm einen Mörder zu dingen und diesem, wenn er »seine Schuldigkeit gethan«, zum Dank für das vergossene Blut meine Freundschaft oder gar mehr zu schenken – haben Sie sich wirklich einbilden können, daß ich das über meinen Stolz gewinnen könnte, oder gar über mein Herz? Wer sind Sie mir denn? Ich kenne Sie ja kaum, und nach dem, wie Sie sich gegen mich betragen haben – Aber mein Gott, ich kann hier stehen und schwatzen, während er – was muß er von mir denken? In welchem Lichte muß ich ihm erscheinen! Nein, nein, das darf ich nicht dulden – ich muß ihn sehen und sprechen – um jeden Preis muß ich ihn darüber aufklären, wie frevelhaft man mit mir gespielt – meine unglückselige Verlassenheit und Rathlosigkeit mißbraucht hat. Halten Sie mich nicht auf, mein Herr! – Ich will zu ihm! – Wo find' ich ihn? Wo hat man den Aermsten hingebracht?

Er hatte sie ruhig bis dahin angehört. Jetzt aber überkam ihn das Bewußtsein seiner unaussprechlich tragikomischen Lage, des Gegensatzes seiner Träume und der erbarmungslosen Wirklichkeit mit solcher Gewalt, daß er in ein lautes Lachen ausbrach.

Das schien sie doch endlich stutzig zu machen. Sie trocknete mit einer raschen Bewegung ihre Augen und sah ihn erstaunt und fragend an.

Mein Fräulein, sagte er, indem er plötzlich wieder ernst wurde, nach diesen freimüthigen Erklärungen hätte ich allerdings hier nichts weiter zu suchen. Ich möchte nur noch bemerken: wenn eben ein gewisser Galgenhumor mich anwandelte, so glauben Sie, daß ich über Niemand gelacht habe, als über mich selbst, und daß ich es Ihnen gar nicht verdenken könnte, wenn Sie recht herzhaft mitlachten. Sie hätten das beste Recht dazu; denn wahrhaftig, der Donquixote-Streich, den ich begangen habe, ist so unerhört spaßhafter Art, daß er die eingewurzeltste Melancholie heilen könnte. Ein wildfremder Mensch, der sich herausnimmt, der beleidigten Unschuld meuchlings seine Dienste anzubieten, und dann noch auf Dank rechnet, gewiß, mein Fräulein, das ist eine so abenteuerliche Lächerlichkeit, daß man schon vor mehreren Jahrhunderten einen komischen Roman daraus machen konnte. Und vollends jetzt, in unseren aufgeklärten Zeiten –! Nein, mein Fräulein, suchen Sie nicht etwa aus Großmuth meine Handlungsweise zu beschönigen. Ich bleibe jedenfalls in Ihrer Schuld und danke Ihnen aufrichtig für diese sehr nützliche Lection in der Selbsterkenntniß. Es wird mir hoffentlich nie wieder begegnen, daß ich es für »meine Schuldigkeit« halte, als irrender Ritter schutzlosen Damen meine Dienste anzubieten. Leben Sie wohl!

Er verneigte sich kalt und verließ rasch das Zimmer, noch ehe sie sich zu einer Erwiederung aufraffen konnte.

—————

Als er nach Hause kam, die Räume wieder betrat, in denen er gestern so angenehm geträumt, so schöne Kartenhäuser gebaut hatte, wollte ihm der desperate Humor, mit dem er den Ausgang des Abenteuers bis dahin betrachtet hatte, doch nicht Stand halten. Es war ihm ganz unmöglich, zu thun, als ob nichts vorgefallen wäre, und über das Zwischenspiel hinweg nun wieder gleich der pflichtgetreue Candidat des Staatsexamens zu werden, alle »Taugenichts«-Gelüste für ewig abzuschwören und reumüthig zu dem alleinseligmachenden Staat- und Kirchenrecht zurückzukehren. Wenigstens in dieser Luft konnte er nicht daran denken, die abgerissenen Fäden wieder anzuknüpfen. Er entschloß sich kurz, verbrannte zunächst die Blätter in seiner Mappe, auf denen er gestern Abend seinen lyrischen Gefühlen freien Lauf gelassen hatte, und die ihn jetzt mit wehmüthigem Hohn anblickten, und warf dann die nöthigsten Kleider und Bücher in einen Koffer. Den Eichendorff hatte er schon in der Hand, um auch ihn den Flammen zu überliefern. »Ein Kuppler war das Buch und der's geschrieben!« – rief er mit ingrimmigem Auflachen aus, als er den alten Freund auf dem Sopha liegen sah, in derselben Ecke, wo er ihn gestern so dankbar gestreichelt hatte. Aber ein Rest von alter Anhänglichkeit bewog ihn dazu, den arglosen Anstifter alles Unheils dennoch zu begnadigen; nur in den Koffer durfte er diesmal nicht mitwandern.

Hierauf wurde die Wirthin gerufen und ihr eröffnet, daß es auf einen Ausflug von einigen Wochen abgesehen sei, wohin, sei noch unbestimmt; was inzwischen an Briefen kommen möchte, brauche nicht nachgeschickt zu werden. Der Arzt habe, da sich allerlei nervöse Zufälle gezeigt, zu einer Luftveränderung gerathen. Sie werde übrigens Näheres von ihm hören, sobald er sich irgendwo festgesetzt oder einen genaueren Reiseplan entworfen habe.

Damit drückte er der sehr verwunderten Frau die Hand, bat die tugendhafte Tochter, die nach allem Vorgegangenen über diese plötzliche Abreise so mitten im Winter aus den Wolken fallen wollte, sie möchte seine Geranien- und Epheutöpfe von Zeit zu Zeit begießen, und stieg, scheinbar in ganz munterer Reiselaune, in die Droschke, die ihn nach dem Bahnhof fahren sollte.

Die Zurückgebliebenen trösteten sich damit, daß er versprochen hatte, von sich hören zu lassen, und daß er jedenfalls das Herumreisen in dieser unwirthlichen Jahreszeit bald satt werden müsse. Aber sie sollten sich schwer getäuscht haben.

Eine Woche verging – die zweite und die dritte – der Carneval kam – noch immer kein Lebens- und Sterbenswörtchen von dem räthselhaft Verschwundenen. Die Mutter sprach jeden Tag davon, daß sie auf die Polizei gehen und die Sache anzeigen wolle; es könne ihm ein Unglück zugestoßen sein, es sei ihre Pflicht und Schuldigkeit, den armen jungen Mann nicht im Stich zu lassen. – Die Tochter beschwichtigte sie immer wieder, indem sie ihr die Träume ihrer letzten Nacht erzählte, in welchen sie den Vermißten frisch und gesund gesehen hatte. Der Traum schloß gewöhnlich damit, daß er ihr verstehend die Hand gedrückt hatte, über einem Kissen aus weißem Atlas.

Aber auch Aschermittwoch sollte noch vergehen, der letzte Schnee von den Dächern schmelzen und die ersten Knospen an den Zweigen aufbrechen, ehe der Flüchtling wieder in sein verlassenes Nest zurückkehrte. Die Sonne schien lustig über die Dächer herein, zwar noch nicht »wie in Welschland lau und blau«, aber doch mit aller Gewalt, deren sie in einem süddeutschen Frühling fähig ist; die Straßen waren belebt von Spaziergängern mit Frauen und Töchtern in neuen Hüten und Mantillen, die Sperlinge schrieen und zwitscherten auf allen Dachrinnen und Giebeln. Der junge Mann, der um Mittag aus dem noch winterlicheren Gebirge zurückgekehrt war und nun in der offenen Droschke mit seinem Koffer durch die belebten Straßen fuhr, sah sich mit hellen Augen nach allen Seiten um. Es war ihm nach der monatelangen Einsiedelei, während deren er behaglich eingeschneit in seinem stillen Gebirgswirthshause die schnöde Welt und ihre Abenteuer vergessen und mit wachsender Befriedigung nur seinen Studien gelebt hatte, jetzt plötzlich unter dem Lärm und Getümmel der Hauptstadt so wunderlich zu Muth, wie einem Menschen, der nach langer einförmiger Seefahrt zuerst wieder das feste Land betritt und gleich in das Gewühl einer Hafenstadt eintritt. Schon nach den ersten Tagen, die er draußen in der einsamen Wildniß zugebracht, war ihm sein alter Gleichmuth zurückgekehrt. In einer versöhnlichen Jenseits-Stimmung, wie wenn der Handel ganz anders ausgegangen und eine tödtliche Kugel ihn für seine ritterliche Aufopferung belohnt hätte, sah er auf seine eigene hitzige Thorheit zurück und war bald so weit, auch die undankbare Schöne – noch immer wußte er nicht ihren Namen – in milderem Lichte zu betrachten. Was aber noch seltsamer war: seine rasch entstandene Leidenschaft für das schöne Wesen war plötzlich bis auf den letzten Funken, wie er wenigstens glaubte, erloschen. Er konnte sich jetzt ihre Züge kaum mehr vorstellen, und zuletzt blieb von all den Stürmen, die sein Herz erschüttert hatten, nichts zurück als ein leiser Hauch von Neid auf den Glücklichen, der die schlimmsten Sünden begehen konnte, ohne verdammt zu werden, während es ihm mit all seiner Tugend nicht geglückt war, auch nur in der bescheidenen Stellung eines Freundes zu Gnaden angenommen zu werden.

Er hatte draußen keine Silbe davon gehört, welchen Verlauf das Abenteuer noch weiter genommen haben mochte. Briefe und Zeitungen waren ihm nicht zugekommen, über die sichere Genesung seines Gegners konnte er ohne Sorgen sein, und so war er auch jetzt nicht Willens, an die Sache wieder zu rühren. Hätte er nicht seine draußen fertig gewordenen Arbeiten einzureichen und sich für das mündliche Examen mit neuen Büchern zu versehen gehabt, er wäre wohl überhaupt noch draußen geblieben.

Indessen freute er sich nun doch auf sein trauliches Zimmer und die gute Pflege seiner Hausleute, und auch die Stadt hatte ihm nie so gut gefallen, die Menschen waren ihm nie so wohlgekleidet, munter und großstädtisch erschienen. Auf einmal aber, während er, an nichts Arges denkend, die Vorbeiwandernden musterte, fuhr er heftig zusammen und drückte sich unwillkürlich in den Sitz der offenen Droschke zurück. Eine junge Dame kam mit zierlichen Schritten die Straße daher, am Arm einer älteren Frau. Sie sah mit lebhaften Blicken umher, ihre reizenden, leichtgerötheten Wangen waren von einem schwarzen Sammethütchen eingerahmt, aus dem sich ein paar weiche Locken vorstahlen. Sie plauderte munter mit ihrer Begleiterin und lachte von Zeit zu Zeit, daß man die weißesten Zähne hinter den frischen Lippen schimmern sah. Jetzt ließ sie ihre Augen über die Wagenreihe schweifen, die langsam vom Bahnhof her durch die innere Stadt sich fortschob. Eine rasche Bewegung verrieth, daß auch ihr der junge Mann dort in der Droschke kein Fremder war. Sie flüsterte der alten Frau einige Worte zu und erröthete dabei bis über die Stirn. Im nächsten Augenblick waren sie an Leonhard vorbei. Als er aber der Versuchung nicht widerstehen konnte und sich rasch erhob, um der Erscheinung nachzublicken, begegnete er wieder diesen ihm so verhängnißvollen Augen. Denn auch die junge Dame hatte sich umgewendet, um dann desto hastiger unter der Menge zu verschwinden.

War wirklich die Tücke der schadenfrohen Geister, die er in jener romantischen Anwandlung heraufbeschworen, noch nicht müde geworden, ihn zu verfolgen? Das erste bekannte Gesicht, das ihm nach der Heimkehr aus freiwilliger Verbannung begegnete – mußte es gerade seine geliebte Unbekannte sein, für die er nicht das Geringste mehr zu fühlen glaubte, und deren bloßes Vorbeischweben ihm doch alles Blut zum Herzen trieb?

Schon an diesem Herzklopfen konnte er merken, daß es keine Täuschung gewesen war. Sie war es, an der Seite ihrer Pathe, deren Bekanntschaft er bei der Gelegenheit nun auch gemacht hatte. Und doch – sie war es auch wieder nicht. Er hatte deutlich bemerkt, daß die Locken aschblond und die Augen blau waren; auch schien sie ihm ein wenig kleiner von Wuchs und ihr Gang elastischer. Und doch – auch sie hatte ihn erkannt – sie war sogar roth geworden, als sie ihn sah, und das harmlose Lachen war ihr vergangen. –

War es Reue? – Verlegenheit–? Und doch lag in ihrem Ausdruck auch ein Zug von Fremdheit, von neugieriger Betroffenheit, den er sich mit der Dame seines Abenteuers nicht zu reimen wußte.

So viel aber wußte er: es war eine voreilige Hoffnung gewesen, daß er als ein ganz neuer Mensch zurückkommen und alle Spuren seines alten Wandels verwischt und verweht finden würde. Viel unfroher, als er sich's geträumt, stieg er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf.

Der rührende Freudenlärm, mit welchem ihn seine Wirthin empfing, zerstreute ein wenig seine Beklommenheit, und wenn ihn auch das verschämte Erglühen auf dem gelblichen Gesicht der Tochter wieder nachdenklich machte, ward ihm doch wohl, als er sich in den alten vier Pfählen umsah, Alles noch fand, wie er es verlassen hatte, nur frische Triebe an seinen Blumentöpfen. Er verbrachte eine behagliche Stunde damit, die Briefe und Bücher zu durchblättern, die sich inzwischen auf seinem Schreibtisch angesammelt hatten. Dabei kamen und gingen seine beiden weiblichen Hausgeister, fragend, erzählend, ihre Dienste anbietend. Nach der Hauptsache aber wagte er gar nicht zu fragen, und die Alte schien auch von Allem, was ihm wichtig war, keine Ahnung zu haben.

Er setzte sich endlich an sein Pult, um einen Brief an seine Tante zu schreiben, von der er mehr als einen vorgefunden. Aber die Feder wollte nicht recht in Zug kommen. Plötzlich wurde er durch das Rollen eines Wagens, der unten vor dem Hause hielt, aus seiner träumerischen Stimmung geweckt. Er stand auf und trat an das Fenster, da nur selten sich ein Wagen an das unscheinbare Haus verirrte. Er sah einen hochgewachsenen jungen Mann herausspringen und einer verschleierten Dame den Arm reichen, konnte aber von oben die Gesichter nicht sehen, und es war ihm auch sehr gleichgültig, da der Besuch offenbar nicht ihm galt. Junge Ehepaare kannte er nicht, die seine Junggesellen-Klause ihres Besuches würdigten, und zudem – Niemand wußte ja, daß er wieder in der Stadt sei.

Niemand? – Aber die Begegnung unterwegs in der Droschke – und wenn am Ende gar – die Dame, die eben ausgestiegen, trug ein schwarzes Sammethütchen – und der junge Herr – er hatte ihr nur den linken Arm geboten – Herrgott, wenn es wahr wäre – nein, nein, das wäre so toll und unwahrscheinlich, daß selbst Eichendorff's nicht eben zahme Phantasie – –

Ist Herr Leonhard zu sprechen? hörte er jetzt eine Stimme auf dem Flur – eine Stimme, die ihm nur zu wohl bekannt war. Wie versteinert blieb er am Fenster stehen – kaum fand er so viel Athem, um auf das Klopfen an der Thür mit einem gedämpften »Herein!« zu antworten, – da wurde die Thür schon geöffnet, und wirklich! – Franz v. L., sein besiegter Gegner und triumphirender Nebenbuhler, trat mit gewohnter zuversichtlicher Raschheit herein, die tiefverschleierte Dame am Arme führend.

Er war es also doch! rief er, dem Verstummten die Hand entgegenstreckend. Meine Wette hätte ich verloren, aber mit dem größten Vergnügen, und es geschieht mir schon Recht. Ich hätte wissen sollen, daß junge Damen scharfe Augen haben, wenn sie sich für junge Herren interessiren. Ich hoffe, wir stören nicht, Leonhard? Aber ich vergesse, ich habe dir meine junge Frau noch nicht vorgestellt. Freilich, eine fast überflüssige Ceremonie. Die Herrschaften kennen sich bereits. Willst du aber deinen Schleier nicht ablegen, liebes Herz? Ja so, er soll nicht sehen, daß du roth geworden bist, als du über diese Schwelle tratst. Aber auf meine Verantwortung Kind, kannst du es dreist wagen. Dieser unser Freund da – obwohl er uns nicht einmal einen Stuhl anbietet – wir kennen ihn. Erstens ist er ein guter Mensch und viel zu ritterlich, um sich an der Verlegenheit junger Damen zu weiden; und dann, wenn wir nicht früher unsere Schulden abtragen konnten, war er nicht selber Schuld daran? Was? Erst spielt man Vorsehung mit Donner und Blitz, macht – auf dem kleinen Umwege durch meine rechte Schulter – zwei Menschen glücklich, und läßt sich dann monatelang verläugnen, bloß um sich dem üblichen Dank und Vergelt's Gott zu entziehen? Weißt du heimtückischer Mensch, daß ich die ganze Polizei, fast bis zum Steckbrief, in Bewegung gesetzt habe, um dich aufzuspüren und dingfest zu machen? Umsonst! Es war, als wärest du in die Erde versunken. Uebrigens hast du da recht hübsche Geranien.

Mit diesen Worten war er ans Fenster getreten und schien sich eifrig mit den Blumen zu beschäftigen. Aber die verhaltene Bewegung, in der er die Worte hastig herausgestoßen hatte, zitterte in dem kleinen Stäbchen nach. Die beiden Andern standen sich noch immer sprachlos gegenüber.

Endlich schlug die junge Dame den Schleier zurück und zeigte ein über und über glühendes Gesicht.

Es durchzuckte Leonhard seltsam, als er die Augen aufhob und das Gesicht wiedersah, das ihm so viel Noth gemacht hatte. Zugleich aber sagte er sich, daß er sich heute beim Hereinfahren doch geirrt haben müsse. Augen und Haare der schönen jungen Frau waren braun.

Kennen Sie mich noch? sagte sie mit schüchterner, weicher Stimme, die ihm freilich bekannt war, obwohl er sie nie in dieser Tonart gehört hatte. Sie glauben gar nicht, wie bange mir davor war, und wie sehr mich doch danach verlangt hat, Sie wiederzusehen, Sie mir zu versöhnen, vor Allem aber Ihnen zu danken. Sie wissen es am Ende wohl gar nicht, daß Sie mir nun doch das Leben gerettet haben, daß es mit der ewigen Dankbarkeit, die ich Ihnen in jener Verwirrung versprach, voller Ernst geworden ist. Sie haben mich mit meinem Franz wieder vereinigt –

Oho, Liebste! fiel ihr dieser mit dem alten heiteren Ton ins Wort, übertreibe die Verdienste dieses guten Freundes auch nicht. Er hat freilich den ersten Anstoß dazu gegeben, und nicht eben auf die sanfteste Art – (dabei zuckte er die rechte Schulter mit einem Seufzer in die Höhe); das Beste aber hast du doch ganz allein dazu gethan. Ich muß dir, Leonhard, das Ende dieses Romans, der inzwischen ohnehin schon das Märchen der Stadt geworden ist, wenigstens im Auszuge mittheilen, da die ersten Capitel von dir verfaßt sind. Weißt du, wohin diese großherzige junge Dame geeilt ist, nachdem sie dich, ihren getreuen irrenden Ritter, mit schnödestem Undank verabschiedet hatte? Geradewegs zu dem Ungeheuer, dem gottlosen Lindwurm, den du eben siegreich in den Sand gestreckt und für seinen Uebermuth gezüchtigt hattest. Er lag allerdings noch ganz besinnungslos, sonst hätte der unerwartete Damenbesuch sein Wundfieber noch bedeutend verschlimmert. Und nicht nur jenen Tag, sondern alle folgenden ist das holde Fräulein als barmherzige Schwester in meiner Höhle erschienen, um mir selber die Eisumschläge zu machen und die Limonade zu bereiten, ja sie hätte auch wohl die Nächte bei mir gewacht, wenn die strenge Frau Pathe es für schicklich gehalten hätte. Die Gute hatte sehr Recht: was brauchte sich das Engelsgesicht um einen so frevelhaften Sterblichen zu kümmern, der ihr das größte Herzeleid angethan? Und noch zwei Andere hatten sehr Recht, die Sache bedenklich zu finden: eine gewisse Baronesse, die mir einen höchst empfindlichen Brief schrieb und unser bisheriges, überhaupt nicht allzu inniges Verhältniß für gelös't erklärte, da sie sich jetzt vollkommen überflüssig fühle; und zweitens: mein verehrter Herr Papa! Als der von der romantischen Geschichte hörte, kam er spornstreichs mit einem rothen Kopf und äußerst ungnädiger Laune in die Stadt. Aber es ging ihm wie anderen Leuten: er hatte kaum in gewisse Augen gesehen, so war er wie ausgewechselt. Du brauchst sie nicht niederzuschlagen, Schatz. Es ist Alles mit rechten Dingen zugegangen und ganz in der Ordnung, daß der Vater nicht aus der Art schlägt, wenn der Sohn ihm das gute Beispiel gegeben hat. Aber ich Aermster, wie war mir zu Muthe, als mir zum ersten Mal das Bewußtsein wieder aufdämmert und ich sehe an meinem Siechbette diese sehr geliebte junge Dame Hand in Hand mit einem alten Herrn, gegen den ich allerlei kindliche Pflichten habe, der aber nun vor meinen eigenen Augen meiner Wärterin so lebhaft die Cour macht, daß mir die Sache denn doch außer Spaß ist. Und sie leidet es lächelnd, die Hinterlistige, und scheint nicht übel Lust zu haben, den Sohn für den Vater aufzugeben, was ein Unparteiischer ihr am Ende nicht verdenken konnte. Ich aber – ich habe mich bloß deßhalb so gesputet, wieder auf die Beine zu kommen. Und wenn ich vollends damals schon gewußt hätte, was ich erst viel später erfuhr, daß mein Schatz, indem sie die feurigsten Kohlen auf mein armes Haupt sammelte, die Versicherung eines weisen Freundes schwarz auf weiß bei sich trug, ich sei ihrer gar nicht werth, sei ihrer nie werth gewesen – rede mir nicht dazwischen, Leonhard! Du hast nie ein wahreres Wort gesprochen. Auch jetzt, wo es sich mit mir in jeder Beziehung zu bessern scheint – wahrhaftig, ich überzeuge mich täglich mehr, wie sehr du Recht hattest. Einen solchen Schatz finden und sein nennen dürfen und ihn aus elender Schwäche und Feigheit, sogenannten Familienrücksichten zu Liebe, wieder aufgeben – o pfui, pfui! Und es hilft nichts, Kind, daß du mir jetzt in gewohnter Großmuth den Mund zuhältst, ich fühle es darum dennoch in seiner ganzen Schwere, eine wie lange Probezeit ich durchzumachen habe, bis ich mich von dieser Sünde selbst absolviren kann! –

Er hielt die Hand der jungen Frau fest und drückte sie an seine Lippen und Augen. Dann nahm er Leonhard's Hand und sagte, wieder in seinen lustigen Ton einlenkend:

Sie möchte dir gern um den Hals fallen, Leonhard, aber sie getraut sich nicht. Sie glaubt, weil du noch immer schweigst, du seiest ihr noch böse. Aber ich denke, wir machen dich schon wieder gut. Kommt, ihr närrischen Leute, und vertragt euch wieder; ich will auch wegsehen, da ich es sonst nicht gerade liebe, wenn Antonie junge ritterliche Männer umarmt.

Liebe Antonie, sagte Leonhard, indem er die Hand des Freundes drückte, ich kann nicht sagen, wie glücklich es mich macht, daß Sie meine Freundschaft nicht verschmähen, obwohl Ihr Herz nun ganz ausgefüllt ist. Lassen Sie mich von meinem brüderlichen Recht Gebrauch machen, ehe es ihn wieder gereut.

Auf Du und Du, es gilt! rief der junge Ehemann, während Leonhard Antonie herzlich umarmte. Und er weiß noch nicht einmal, in welche Falle er sich mit dieser Verbrüderung hat locken lassen. Er ahnt nicht, daß wir ihn –

Gottloser Mensch! schalt die erröthende Frau. Kannst du denn gar nichts schonen? Wenn du meine Herzensgeheimnisse ausplauderst – es ist zwar schlimm genug, aber ich muß es eben leiden, bis ich dich besser erzogen habe. Nur sei so gut und laß ganz unbetheiligte dritte Personen –

Unbetheiligt? lachte der Gescholtene. Unsere theure Constanze, der wir es doch allein verdanken, daß wir den Zugvogel überrascht haben, eine Stunde nachdem er in seinen alten Käfich zurückgekehrt war? Du mußt nämlich wissen – nein, Schatz, ich bin die Discretion selbst, aber damit ist doch am Ende nichts ausgeplaudert, wenn ich ihn davon unterrichte, daß du eine reizende Schwester hast, die dir so ähnlich sieht, wie nur je eine blonde Hexe einer braunen, bis auf den einen Cardinal-Unterschied, daß sie einen viel besseren Geschmack hat, da sie mich nie so recht hat leiden können! Ja, ja, auf die Physiognomie versteht sie sich meisterlich! Denke dir, Leonhard, nach deiner bloßen Photographie, die sie freilich aus lebhaftestem Interesse für das ritterliche Urbild lange studirt, hat sie dich heute in der Droschke erkannt, als sie mit meiner lieben Schwiegermutter spazieren ging; das darf ich ihm doch verrathen, Kind? Ich sage ja nicht ein Wort weiter – und wozu auch? Wird er nicht heute Abend selbst kommen, sehen und –

Heute Abend? stotterte Leonhard, an dem nun die Reihe war, roth zu werden.

Gewiß; wenn Antonie daran glauben soll, daß du wirklich versöhnt bist und über diesem Erlebniß nicht deine ganze Ritterlichkeit eingebüßt hast. Wir erwarten dich punkt acht Uhr, zu Thee und Abendbrot und einigen Beethoven'schen Sonaten, in denen meine kleine Schwägerin excellirt. Wenn sie nur heute gerade gut disponirt ist! Sie kam so seltsam aufgeregt vom Spaziergang nach Hause. Ist es dir nicht auch aufgefallen, liebe Frau?

Sie kennen ihn, sagte Antonie, indem sie sich zum Gehen anschickte. Leider kann man ihm nichts übel nehmen. Und darum – nicht wahr, Sie sind der Unsere?

Er konnte nur mit einem stummen Händedruck antworten. – Dann blieb er in der seltsamsten Stimmung mit sich allein.

—————

Als er spät in der Nacht aus dem traulichen Kreise dieser fremden Menschen, die ihn wie einen alten Freund aufgenommen, nach Hause kam, befand er sich in einer sehr ähnlichen Verfassung, wie an jenem ersten Winterabend, wo wir ihn kennen gelernt, voll Lebensfreude und Sehnsucht nach Glück, nur ohne die ziellose Unruhe, die ihn damals umgetrieben hatte. Auch heute konnte er so bald noch nicht schlafen.

Er saß lange am offenen Fenster und ließ sich von der Nachtkühle anwehen. Und als ob er damit seinem alten Freunde, der all dies angestiftet, abbitten wollte, daß er ihm gegrollt und sein Buch in den Winkel geworfen hatte, sagte er die Verse Eichendorff's laut vor sich hin:

Die Welt ruht still im Hafen,
Mein Liebchen, gute Nacht!
Wann Wald und Berge schlafen,
Treu' Liebe einsam wacht.

Ich bin so wach und lustig,
Die Seele ist so licht,
Und eh' ich liebte, wußt' ich
Von solcher Freude nicht.

Ich fühl' mich so befreiet
Von eitlem Trieb und Streit,
Nichts mehr das Herz zerstreuet
In seiner Fröhlichkeit.

Mir ist, als müßt' ich singen
So recht aus tiefster Brust
Von wunderbaren Dingen,
Was Niemand sonst bewußt.

 

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