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(1907)
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So oft ich in früheren Jahren nach Berlin kam, versäumte ich nie, auch wenn mein Aufenthalt nur kurz bemessen war, einen Abend im Hause des Componisten Richard Wüerst zuzubringen.
Wüerst hatte einen Operntext componiert, den mein Freund Ernst Wichert nach meiner chinesischen Novelle in Versen »Die Brüder« ihm verfaßt hatte. Der neue Titel lautete »Der Stern von Turan«, sehr zweckmäßig, da das Libretto den einen Bruder unterschlagen und auch die chinesischen Zöpfe in die kleidsamere persische Frisur verwandelt hatte. Die Oper wurde mit Beifall aufgeführt, verschwand aber bald wieder von der Bühne.
Ob dies der erste Anlaß war, der mich mit dem Componisten zusammenführte, weiß ich nicht mehr. Doch seit ich einmal sein Haus betreten hatte, durfte ich mich zu den Hausfreunden zählen, ein Recht, von dem ich leider nur in großen Zwischenräumen Gebrauch machen konnte. Denn die Hausfrau war eine der liebenswürdigsten Sängerinnen, die mir jemals mit seelenvollem Vortrage schöner Lieder Ohr und Herz erquickt hatten. Die Stimme war nicht groß, aber vom süßesten Klang und trefflich geschult; mehr aber als ihre Kunst entzückte mich eine ihr ganz eigene Art, alle Kunst vergessen zu machen, so daß, was sie sang, wie ein reiner Erguß ihres Innersten erschien, dem die schöne Stimme nur zum Aussprechen eines harmonischen Naturells zu dienen hatte.
Frau Franziska Wüerst ist niemals in weiteren Kreisen so recht bekannt und gewürdigt worden. Sie stellte sich anspruchslos neben und unter ihren Mann, trat zwar hin und wieder in Concerten auf, gelangte aber erst nach seinem Tode durch die Gründung einer Gesangsschule zu einer größeren Wirksamkeit. Desto wärmer wurde sie von den Intimen ihres Hauses verehrt, denen ihr Gesang unvergeßlichen Genuß bereitete.
Es war noch die gute alte Zeit Berlins, wo man ohne Einladung oder vorherige Anmeldung in befreundete Häuser des Abends eintrat und an dem gastfreien Theetisch immer willkommen war. So fand auch ich mich wieder einmal unerwartet bei den Freunden ein, so herzlich empfangen, wie wenn ich gestern erst von ihnen Abschied genommen hätte.
Nach dem ersten Austausch äußerer Erlebnisse sagte Frau Franziska: Sie sollen heute allerlei Neues und Schönes zu hören bekommen. Ich war eben dabei, die Lieder von Felix Semon aus Texte von Ihnen durchzunehmen, die Ihnen so besonders lieb sind, und inzwischen haben wir auch die Jensen'schen Compositionen aus dem spanischen Liederbuche kennen gelernt, die wir wundervoll finden. Schade nur, daß wir auf Ihren Besuch nicht vorbereitet waren. Denn ob John heute kommen wird, ist ungewiß, und da Richard, wie Sie wissen, es vorzieht, mir nur sein Ohr zu leihen, nicht auch seine Hand, werde ich mich selbst accompagnieren müssen, was mein Singen immer beeinträchtigt.
Zu ihren treuesten Hausfreunden gehörte ein junger Assessor des Namens, den sie genannt hatte, ein großer Musikenthusiast und Verehrer von Frau Franziska, mit dem sie am liebsten musizierte. Doch war es mir fast lieber, wenn sie sich selbst begleitete, trotz einer gewissen nervösen Erregtheit ihres Spiels. Es klang mir dann alles erst vollends aus Einem Temperament.
Sie hatte sich aber kaum an den Flügel gesetzt und die Tasten angeschlagen, während ihr Mann sich in seine dunkle Sophaecke zurückzog, als die Klingel draußen ertönte. Da ist er! rief Wüerst. – Nein, so klingelt John nicht, versetzte die Frau und stand auf. Und wirklich, als die Thür sich öffnete, erschien auf der Schwelle eine Dame, der Frau Franziska mit einem Freudenausruf entgegenflog.
Faustine! Du! Wie schön! Welch eine Überraschung!
Der neue Gast, der so warm begrüßt wurde, nicht minder auch vom Hausherrn, war eine hochgewachsene Frau in einfacher Toilette; doch auf den ersten Blick sah man, daß sie einem vornehmen Haus entstammte und sich überall mit angeborener Sicherheit bewegte.
Das Gesicht war nicht regelmäßig schön, der Umriß der Wangen etwas zu breit, kleine, sehr helle Augen unter einer klaren Stirn, der Mund aber im Schweigen oder Sprechen gleich anmuthig durch den Ausdruck von feinem Geist und reiner Güte. Ihr reiches blondes Haar war nur erst von wenigem Grau durchzogen. Alles in allem erschien sie als der Typus einer aristokratischen Märkerin, die auf dem Lande aufgewachsen, da ihre an der Stirn sehr weiße Haut an den Wangen von Luft und Sonne gebräunt war.
Ich schätzte ihr Alter auf den Anfang der Fünfzig, was mir später bestätigt wurde.
Die Hausfrau hatte mich sogleich ihrer Freundin vorgestellt; ich hörte den Namen eines der ältesten märkischen Grafengeschlechter. Sie sind mir längst kein Fremder mehr, sagte die Gräfin, indem sie mir mit der liebenswürdigsten Geberde die Hand reichte. Dann, während die beiden Frauen sich noch allerlei Wichtiges mitzutheilen hatten, erzählte mir der Hausherr, die Gräfin sei unvermählt und lebe jahraus jahrein auf ihrem großen Gute, zwei Eisenbahnstunden von der Stadt, das sie mit Passion selbst bewirthschafte, obwohl nach dem Tode ihres ebenfalls unvermählt gebliebenen Bruders der Besitz auf eine jüngere Linie übergegangen sei. Ihre Vettern aber, die wüßten, wie ihr Herz an diesem nicht einmal besonders schönen Fleckchen Erde hing, hätten sie nicht verdrängen wollen, zumal sie die umfangreiche Verwaltung in keine besseren Hände hätten legen können.
Dabei habe die treffliche Frau durchaus verstanden, ihre Bildung über dem Durchschnittsniveau einer Landedeldame zu erhalten. Zumal ihre musikalischen Talente seien selbst in dieser Abgeschiedenheit nicht verwahrlost worden; sie habe stets für eine kleine Hauskapelle gesorgt und ihr Klavier- und Orgelspiel fleißig fortgeübt. Zuweilen komme sie in die Stadt, nur zu einem Concertabend, und fahre mit dem Nachtzuge wieder zurück. So habe sie auch die Bekanntschaft seiner Frau gemacht und gleich eine wahre Passion für ihren Gesang gefaßt, so daß sie sich beeilt habe, sie auf ihr Gut einzuladen, wo sie schon zweimal, immer mindestens vier bis sechs Sommerwochen, ihr die Freude machen müsse, mit ihr zu musizieren.
Da unterbrach uns Frau Franziska's Stimme: Wenn du so musikhungrig bist, Liebste, sollst du gleich bedient werden. Ich war eben im Begriff, unserm Freunde allerlei neue Lieder vorzusingen, und da John ausgeblieben ist und Richard vorzieht, während ich singe, in der Sophaecke ein bischen zu träumen, hätte ich mich allein begleiten müssen. Nun kannst du mich darin ablösen. Ich singe nie besser, wandte sie sich an mich, als wenn die Gräfin mich begleitet.
Die Einrede, daß sie die Sachen ja noch nicht kenne, wurde nicht gelten gelassen. Und wirklich, nachdem sie die Noten nur einmal flüchtig durchgesehen hatte, spielte sie so meisterhaft die Begleitung und ging so verständnißvoll auf jede Nuance des Gesanges ein, daß es war, als hätten die Freundinnen den Vortrag aufs sorgfältigste eingeübt.
Ich saß hinter dem Flügel und betrachtete die weißen Hände der Spielerin, die etwas groß und derb waren, aber in ihren leichten Bewegungen reizend erschienen. Sie trug keine Ringe, auch sonst keinen Schmuck, nur zwei große Perlen in den Ohren. Während sie spielte, hatte sie einen goldenen Zwicker aufgesetzt, und ihr Blick haftete gespannt auf dem Notenblatt, während der Mund energisch geschlossen war.
Ich lauschte in einer Art Bezauberung. Kein Wort wurde zwischen den einzelnen Liedern gesprochen, nur vom Sopha her, wo der Hausherr durchaus nicht zu »träumen« schien, kam hin und wieder ein leiser Naturlaut der Bewunderung, der die Künstlerinnen zu neuem Eifer anspornte.
So war eine volle Stunde vergangen.
Als aus dem Nebenzimmer neun Schläge einer Uhr sich hören ließen, legte die Hausfrau das Heft der Jensenschen Lieder, aus dem sie eben das liebliche »Am Ufer des Manzanares« gesungen hatte, auf das Instrument nieder und sagte lächelnd: Ich dächte, wir hätten nun für deinen Musikhunger genug gethan und sollten an die Stillung eines gröberen denken. Entschuldige mich einen Augenblick. Ich muß nur nach dem Theetisch sehen.
Die Gräfin erhob sich. Ihre Wangen glühten, das Gesicht war noch vom Nachglanz der schönen Musik wie verklärt, und das stille Lächeln, mit dem sie unseren Dank empfing, machte die Züge unendlich anziehend. Wir sprachen jetzt über das eben Gehörte. Es freute mich, daß ich im Eindruck, den die einzelnen Lieder in uns hervorgerufen hatten, völlig mit ihr übereinstimmte, während Wüerst hin und wieder sein technisches Urtheil geltend machte.
Dann kam die Hausfrau wieder herein, und wir gingen in das Eßzimmer, wo die Theemaschine zwischen den einfachen kalten Schüsseln stand und eine Dienerin, nachdem wir uns gesetzt hatten, sich entfernte.
Es wurde nicht wieder von Musik gesprochen. Frau Franziska erkundigte sich nach verschiedenen Bekannten auf dem Gut, Menschen und Thieren, und die Gräfin gab allerlei Neuigkeiten zum besten, von ihrem Hühnerhof, wo sie einige fremde Rassen eingeführt hatte, von ihrem Pony, der leider einen Fuß gebrochen hatte und getödtet werden mußte, von der Pfarrerstochter, die sich verlobt hatte. Man sah, daß ihr ganzes Herz an der Scholle hing, auf der sie geboren war, und wo sie so viel Liebe gab und empfing, daß sie nach einem Leben in weiteren Kreisen kein Verlangen trug.
Dann wandte sie sich zu mir und sagte mit einem feinen Lächeln: Sie werden glauben, daß ich zwischen Kuhstall und Hühnerhof ganz verbauert sei, und freilich hat eine Gutsherrin in der Erntezeit wenig Muße, geistige Interessen zu pflegen. Aber wenn der letzte Kornwagen eingefahren ist, regt sich wieder das Bedürfniß nach etwas Schönem, und für den langen Winter, der jetzt bevorsteht, sammle ich in der Stadt den nöthigen Vorrath an Lectüre, um nicht allzu weit hinter der modernen Kultur zurückzubleiben. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich dabei unterstützen wollten. Wovon spricht man denn in Berlin? Was muß eine Frau, qui se respecte, gelesen haben?
Das Neueste, erwiderte ich, ist der Roman Herman Grimm's, »Unüberwindliche Mächte«. So viel man dagegen sagen mag – und ich höre, die Kritik verfährt mit ihm nicht allzu sanft – es ist jedenfalls ein höchst merkwürdiges Buch, das Werk eines sehr geistvollen und durchaus originellen Poeten.
Auch wir haben es gelesen, sagte die Hausfrau, aber mit einem getheilten Gefühl. So viel Anziehendes es enthält, der Gesammteindruck ist doch peinlich und unbefriedigend. Drei Bände Krankheitsgeschichte eines übermäßig fein organisierten verarmten Adeligen, der es mit dem noblesse oblige allzu genau nimmt und auf ein schönes Liebesglück verzichtet, bis er erfährt, daß er nicht der Sohn seines Vaters sei. Nun fängt er an, sich eine Thätigkeit zu schaffen und ins bürgerliche Leben zu fügen, fährt aber damit nicht fort, da jene Mittheilung sich als irrig erweist; und da wir ihn endlich nach so viel Leiden und Kämpfen genesen sehen und nichts im Wege steht, daß er die Geliebte zu seinem Weibe machen könnte, wird er aus dem Hinterhalt todtgeschossen, und wir haben uns drei Bände hindurch umsonst um ihn gesorgt. So haben wir nur ein trauriges Nachgefühl, nicht das tragische einer sogenannten poetischen Gerechtigkeit, oder verstehe ich das falsch, lieber Freund?
Gewiß nicht, sagte ich, Sie haben den wunden Punkt so richtig bezeichnet, wie es mancher zünftige Kritiker nicht gekonnt hat. Zum Glück aber gehöre ich nicht zu diesen, und überhaupt pflegt mir die Kritik zu vergehen, wenn der Reiz des Vortrags, der lebendige Geist, der hinter dem Erzählten steht, mich anziehen. Das ist bei Grimm in besonderem Maße der Fall, schon in seinen Novellen. Diese Abneigung gegen jede stilistische Convention und rhetorische Pose, die freilich nicht kunstlose Einfachheit und scheinbare Ungebundenheit des persönlichen Ausdrucks, manchmal bis zum Saloppen oder echt Berlinischen, das alles hat mich in meinen eigenen Anfängen gefördert und mich im angeborenen Abscheu gegen alles Gekünstelte und Gesuchte bestärkt. Ich sehe freilich ein, daß ihn der Haß gegen das Theatralische auch in der Erfindung und Durchführung seiner Geschichten zu weit treibt und ihn jede starke Collision vermeiden oder umgehen läßt. Seine Menschen halten es für vulgär, ihren Leidenschaften den Zügel schießen zu lassen und, wo sie wünschen und begehren, zuzugreifen und das Glück festzuhalten. Wenn sie sich noch so nahe gekommen sind, gehen sie schließlich mit schwachmüthiger Entsagung auseinander.
Oder werden durch einen Pistolenschuß getrennt, wie in dem neuen Roman, fiel der Hausherr ein. Diesmal ist's kein Verzicht von innen heraus, sondern ein ganz äußerlicher Nothbehelf, um denn doch den Titel, ich meine die »Unüberwindlichkeit«, wenigstens nothdürftig zu rechtfertigen. Oder hätte sich sonst durch den Verlauf der Handlung gezeigt, daß blaues Blut ein ganz besonderer Saft ist, der einen braven Menschen, in dessen Adern er fließt, für ein gemeines bürgerliches Glück unfähig macht? Sein Freund, der Arzt, der auch ein Graf ist, beweist ja das Gegenteil. Ihn aber muß ein illegitimer Bruder aus dem Busch niederknallen, weil er ihm die Vorrechte seiner richtigen Geburt nicht gönnt.
Überhaupt, bemerkte Frau Franziska, will mir scheinen, als sei das ganze Problem des Romans nicht mehr zeitgemäß. Wo giebt es heute unter den Vernünftigen noch eine andere Mesalliance, als die der Bildung? Hat nicht eine Prinzessin neulich ihren Leibarzt geheiratet, ohne Kaste zu verlieren? Und du selbst, liebe Faustine, verkehrst du nicht mit allen Leuten, die dir nahekommen, auf dem Fuß der Gleichheit, sobald du sie achten gelernt hast? Was soll an den Standesunterschieden für einen richtigen Menschen, der Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hat, heute noch unüberwindlich sein? Wer nur den Muth hat, seinem Herzen zu folgen, dem wachsen Flügel, die ihn über alle äußeren Schranken und Hindernisse, über alle traditionellen Vorurtheile hinwegtragen.
Die Gräfin hatte all diesem zugehört, ohne ein Wort dazuzugeben, nur der Ausdruck ihres Gesichts war immer ernster geworden. Jetzt wandte sie sich zu der Hausfrau und sagte mit einem melancholischen Lächeln: Du bist eine Künstlerin, liebste Franziska, und schon darum eine Idealistin von Geburt, die keine anderen Mächte gelten läßt, als die ihrer Seele und Sinne. Danke deinem Schicksal, daß du nie in einen Zwiespalt von Pflichten gerathen bist, wo auch äußere Verhältnisse ihr Recht behaupteten und die Entscheidung nicht allein bei dem vielbedürftigen leidenschaftlichen Herzen lag. Es sind nicht immer nur Vorurtheile, die zu überwinden wären, sondern Rücksichten auf berechtigte Ansprüche Anderer, was, wie der Dichter sagt, »den Willen irrt« und mit dem besten Willen sich nicht bezwingen läßt.
Es war eine Stille nach diesen Worten, man fühlte, daß sie nicht bloß eine allgemeine Wahrheit aussprachen, sondern aus sehr persönlichen Erfahrungen hervorgingen.
Erst nach einer etwas beklommenen Pause wollte Frau Franziska wieder zu sprechen anfangen, als das Mädchen hereintrat und meldete, die Droschke für die Frau Gräfin sei vorgefahren.
Sogleich erhob sie sich und war durch nichts zu bewegen, noch etwas zu bleiben. Sie müsse früh zu Bett, da sie morgen einen anstrengenden Tag habe und in der Stadt nie ordentlich schlafen könne. Sie nahm auch rasch Abschied, ohne ein Wiedersehen in Aussicht zu stellen, ja auch die Einladung zu Tisch lehnte sie ab; es sei ganz unsicher, wann sie überhaupt Zeit zum Essen finden würde, und mit dem Abendzuge fahre sie wieder nach Hause.
Dann umarmte sie Frau Franziska herzlich und gab uns Anderen die Hand. Ich fragte, ob ich ihr nicht die »Unüberwindlichen Mächte« ins Hôtel schicken dürfe, was sie mit freundlichem Dank annahm. So verließ sie uns.
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Sobald wir allein waren, erging sich der Hausherr in lebhaften Äußerungen über die Liebenswürdigkeit der Freundin. Sie sei, sagte er schließlich, eine der seltenen Frauen, von denen man keinen Fehler weiß und die uns doch nicht auf die Länge so unerträglich werden, wie eine Reihe von schönen Tagen, sondern deren Tugenden auch interessant sind, weil alle aus einem eigenartigen Naturell entspringen.
Seine Frau hatte still zugehört. Lobe sie nur in den höchsten Tönen, sagte sie jetzt, ich singe gern die zweite Stimme dazu, und noch lauter als du, da ich sie noch besser kenne. Eben darum ist es mir schrecklich leid, daß sie uns etwas verstimmt verlassen hat, denn ich habe offenbar mit meiner Äußerung über Mesalliancen einen wunden Punkt in ihr berührt. Sie mag irgend etwas erlebt haben, was unüberwindlich war und trotz aller vorurtheilslosen Gesinnung ein tragisches Ende nahm. Von ihrem früheren Leben hat sie nie mit mir gesprochen, und da ich sie in den langen Wochen, wo ich mit ihr zusammen war, immer in der gleichen heiteren und lebensfrohen Stimmung fand, war auch kein Anlaß zu einer indiscreten Frage. Sie ist sehr geselliger Natur, das Schloß wurde zu manchen Zeiten nicht leer von Gästen, und unter den Besuchern, die sie alle aufs Höchste verehrten, fanden sich auch genug schwatzhafte, die mir allerlei Klatsch zu hören gaben. Doch von der Herrin des Hauses wurde mir nie etwas zugetragen, obwohl man mich wie ihre intime Freundin behandelte. Nur daß sie in ihrer Jugend verschiedene glänzende Partieen ausgeschlagen und es verstanden habe, alte Anbeter zu treuen Freunden zu machen, erfuhr ich gelegentlich. Doch gerade das bestärkt mich in der Vermuthung, sie habe doch einmal eine Herzensgeschichte durchzumachen gehabt und den hoffnungslosen Ausgang lange nicht verwinden können.
Es kam kein anderes Gespräch in Gang. Richard setzte sich ans Klavier und spielte mir einige seiner Lieblingsstellen aus dem »Stern von Turan« vor, den ich ja nicht gesehen hatte. Dann verabschiedete ich mich von den Freunden.
Als ich am anderen Morgen aufwachte, stand sogleich das Bild der Gräfin wieder vor meinen Gedanken.
Ich fühlte ein lebhaftes Verlangen, sie noch einmal zu sehen, ohne jede Neugier, in das Geheimniß einzudringen, das sie auch vor der »intimen« Freundin nicht gelüftet hatte. Aber in dem kurzen Beisammensein war sie auch mir als eine der auserlesenen Naturen erschienen, die dem Begriff des Ewigweiblichen, mit dem so viel Unfug getrieben wird, in vollem Maße entsprechen.
Ich beschloß daher, statt ihr, wie ich versprochen hatte, den Roman zu schicken, ihn selbst hinzutragen und zu versuchen, ob ich sie nicht noch einmal sprechen könne.
Der Versuch glückte über Erwarten. Ich hatte den Vormittag vergehen lassen, da sie von Geschäften gesprochen, die sie ganz in Beschlag nehmen würden. Erst gegen vier Uhr machte ich mich auf den Weg zu ihrem Hôtel, erfuhr, daß sie zu Hause sei, und erhielt, nachdem ich meine Karte hinaufgeschickt hatte, den Bescheid, es würde der Dame sehr angenehm sein, mich zu empfangen.
Sie saß, als ich bei ihr eintrat, auf dem Sopha in einem kleinen, eleganten Zimmer und stand rasch auf, mir die Hand entgegenzustrecken. Auf meine Entschuldigung, daß ich sie in ihrer Siesta gestört zu haben scheine, schüttelte sie leise den Kopf. Sie habe nicht geschlummert, doch allerdings geträumt, nicht so heiter, daß es ihr nicht lieb wäre, aufgeweckt zu werden. Sie dankte mir, daß ich mein Versprechen wegen des Buches nicht vergessen und mich in Person zu ihr bemüht habe. Dann lud sie mich ein, in einem Sessel ihr gegenüber Platz zu nehmen; sie habe noch zwei Stunden bis zum Abgang des Zuges zu warten; es könne ihr nichts erwünschter sein, als die Wartezeit zu verplaudern.
Wir sprachen nun zunächst von dem Haus, in dem wir uns am Abend vorher getroffen hatten, besonders von Frau Franziska. Ich liebe diese Frau, sagte die Gräfin, wie eine jüngere Schwester, die alles besitzt, was mir das Schicksal versagt hat, und der ich es neidlos gönne, weil sie es werth ist. Und doch sind wir sehr verschiedene Naturen. Sie weiß immer, was sie will, ist nie im Zwiespalt mit ihrer Empfindung und des rechten Weges sich stets bewußt. Ich, so seltsam es klingt von einer Frau, die ein großes Hauswesen regiert und Rath wissen muß für alles, was bei einer ausgedehnten Landwirthschaft in Frage kommt, ich bin eine grüblerische Natur, mit ziemlich hellem Verstande begabt, der mich aber immer die zwei Seiten sehen läßt, die jedes Ding zu haben pflegt. Zu dem fröhlichen Glauben meiner Freundin, zu dem sie sich gestern bekannte, daß es Unüberwindliches nur im Innern gäbe, äußere Hindernisse für ein resolutes Herz nicht in Betracht kommen könnten, zu dieser genialen Selbstgewißheit habe ich mich nie aufschwingen können. Und damit habe ich freilich das beste Lebensglück verscherzt.
Sie schwieg ein wenig und sah sehr ernst vor sich hin. Warum soll ich es Ihnen nicht gestehen? fuhr sie dann fort; Sie haben es mir wohl angemerkt, daß unser Gespräch gestern eine Wendung nahm, die schmerzliche Erinnerungen in mir weckte. Wäre ich mit Franziska allein gewesen, so wäre das Herz wohl übergeflossen von dem, dessen es voll war. Aber man beichtet nicht gern unter mehr als vier Augen. Das Unausgesprochene hat mich dann nicht schlafen lassen, und heute den ganzen Tag ist es mir nachgegangen. Ich hatte nur zu viel Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen; denn daß ich sagte, ich hätte einen schweren Tag vor mir, war keine Unwahrheit, freilich nicht in dem Sinne, als ob ich eine Menge Geschäfte abzumachen hätte. Es ist heute ein Gedenktag für mich, da wollt' ich allein bleiben.
Schicken Sie mich nur gleich wieder fort, Gräfin, sagt' ich. Ich bin Ihnen schon dankbar, daß Sie mich überhaupt vorgelassen haben; Doch wenn ich gewußt hätte –
Nein, fiel sie mir ins Wort, Sie müssen bleiben, es ist mir jetzt eine Wohlthat, mich gegen einen verstehenden Menschen aussprechen zu können. Endlich einmal möcht' ich's mir vom Herzen reden, was ich so lange wie ein Geheimniß, ja wie eine Sünde in mir verschlossen habe. Und so kurz unsere Bekanntschaft ist, wenigstens von Ihrer Seite – Sie sind ja ein Seelenkundiger von Métier, dem vertraut man sich gerne, da er um die Irrsale armer Menschenherzen Bescheid weiß und nachsichtig ist, weil er nicht nach allgemeinen Gesetzen urtheilt, sondern Verständniß hat für das Persönliche. Darum möchte ich auch nicht, daß Sie sich ein falsches Bild von mir machten nach meinen gestrigen Reden.
Ich wüßte nicht, worin ich Ihnen nicht Recht geben müßte, sagt' ich, in dem, was Sie gegen Frau Franziska's Meinung, man müsse unbedingt seinem Herzen folgen, eingewendet haben. Auch ich habe nie das unbedingte Recht der Leidenschaft anerkannt, das sich auf Kosten des Wohls Anderer durchsetzen möchte.
O, erwiderte sie, das ist ja eben das Traurige, daß so oft Recht gegen Recht steht und man so schwer dazu kommt, wenn man ein leidlich guter Mensch ist, klar darüber zu werden, ob das fremde Recht wirklich das größere, der Egoismus, dessen man sich anklagt, nicht doch berechtigter ist, nicht bloß wegen des eigenen, sondern auch wegen eines fremden Glücks. An diesem Problem habe ich mich jahrelang zergrübelt. Aber, um es ganz zu verstehen, müssen Sie etwas mehr von meinem Leben wissen, als die Freunde Ihnen gesagt haben mögen.
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Sie schwieg ein wenig, hatte den Kopf gegen die Lehne des Sophas zurückgelegt und die Augen geschlossen.
Es schien sie einen kleinen Entschluß zu kosten, nun doch mit ihrem Bekenntniß zu beginnen. Endlich aber hob sie den Kopf wieder und öffnete die Augen.
Sie müssen wissen, sagte sie, es kann nie ein Kind eine glücklichere Jugend gehabt haben als ich.
Mein Vater war der edelste, trefflichste Mensch, der mir je begegnet ist, ein Landedelmann, mehr nach englischem, als altpreußischem Muster, trotz seines alten Adels kein Junker im heutigen üblen Sinne des Worts, wenn er auch Werth legte auf seine Abstammung von einem historisch berühmten Geschlecht und die Treue gegen das Königshaus wohl noch über seine Liebe zum Vaterlande stellte. Obwohl er ein leidenschaftlicher Landwirth war und am liebsten zu Hause blieb, hatte er doch nicht gezögert, in den Kämpfen gegen Napoleon seine Schuldigkeit zu thun, und aus der Schlacht bei Leipzig eine ziemlich schwere Wunde und das Eiserne Kreuz davongetragen.
Ein Jahr darauf kam ich zur Welt, äußerlich sein völliges Ebenbild und auch in meinem Temperament und meinen Gesinnungen ihm nachgeartet, somit grundverschieden von meinem um fünf Jahre älteren Bruder, der in allem der Mutter glich. Auch sie war eine liebe, gütige, liebenswürdige Frau, an der ich mit großer Zärtlichkeit hing, und so verschieden die Charaktere meiner Eltern waren, sie lebten doch in einer mustergiltigen Ehe.
Die Mutter stammte aus einem reichen freiherrlichen Hause, und ihre einzige Schwäche war, daß sie, da sie einen Grafen geheirathet hatte, sich in ihrer Haltung und den Ansprüchen an ihren Rang ihm ebenbürtig zeigen wollte. So war sie mit mir oft unzufrieden, da ich auf die Vorrechte der Geburt wenig Werth legte und die Menschen, die mir lieb waren, nie einen Rangunterschied empfinden ließ.
Ganz anders mein Bruder Herbert. Mit der aristokratischen Schönheit der Mama hatte er auch ihr Adelsbewußtsein überkommen, hielt sich Geringeren gegenüber zwar nicht hochmüthig, aber reserviert, und hatte auf unserm Gut keinen kameradschaftlichen Umgang, während ich, wo ich irgend konnte, mit Bauernkindern in Wald und Wiesen mich herumtrieb, zu großem Kummer meiner guten Mama.
Der Vater ließ mich gewähren. Bis dann eine Gouvernante das Kindermädchen ablöste und gräfliche Sitten auch mir zur Pflicht machte.
Eine richtige Freundschaft hatte ich nur mit einem einzigen Mädchen, der Lehrerstochter, die mit mir gleichaltrig war.
Ihre Eltern waren nicht aus dem Dorfe, sondern durch irgendwelchen Zufall hierherverpflanzt, von etwas feinerem Schlage als die Andern. Besonders der Lehrer hatte einen höheren Zug in seinem Wesen und seine Seminarbildung auf eigene Hand durch Lectüre erweitert. Dabei war er musikalisch hochbegabt, spielte mehrere Instrumente, in denen er kaum eine Anleitung gehabt hatte, und besonders auf der Orgel, die er nicht nur Sonntags zu spielen pflegte, war er ein Meister, wie ich keinen besseren je gehört habe.
Seine Frau war ein stilles, sanftes Wesen, das keine anderen Talente hatte, als für Mann und Kinder liebevoll zu sorgen und mit ihrem beschränkten Einkommen musterhaft hauszuhalten.
Diesem trefflichen Manne vertrauten nun die Eltern meinen Elementarunterricht an, und ich war glücklich, daß er seine Tochter, meine Freundin Christel, mitbringen durfte, wenn er am Nachmittage zu den Stunden ins Schloß kam. Sie war ein kluges, feines Geschöpf, das Ebenbild der Mutter, und wir machten gute Fortschritte. Bis dann später der Hauslehrer meines Bruders auch meinen Unterricht übernahm, an dem Christel nun ebenfalls theilnehmen durfte.
Christel hatte noch einen Bruder, vier Jahre älter als sie, Kurt geheißen. Ein seltsamer Knabe, aus dessen Wesen niemand recht klug werden konnte.
Er war sehr begabt, lernte spielend bei seinem Vater, hatte ein großes Talent für Musik und war schon mit zwölf Jahren ein kleiner fertiger Meister auf der Geige. Doch hatte er gegen Jedermann ein scheues, trotziges Wesen und schien all seine Liebe und Liebenswürdigkeit an Mutter und Schwester zu verschwenden. Mich behandelte er nicht gerade schroff, aber gleichgültig, und gegen meinen Bruder, der freilich, wo er ihm begegnete, den jungen Schloßherrn herauskehrte, benahm er sich in unverhohlener Feindseligkeit.
Aufs Schloß war er nur zu bringen, wenn sein Vater ihn mit einem Auftrage zu uns schickte. Er that das dann in möglichster Kürze ab und war nicht zu bewegen, etwa am Frühstück theilzunehmen oder sich mit einer schönen Frucht aus unserm Garten beschenken zu lassen.
Mein Papa hatte seinem Vater angeboten, diesen hoffnungsvollen Sohn an ein Gymnasium zu schicken und auch noch später studieren zu lassen. Als Kurt davon hörte, wurde er dunkelroth und erklärte mit finsterem Gesicht, er wolle nicht über den Stand seines Vaters hinaus und auf fremde Kosten etwas werden, was er aus eigenen Mitteln nicht erreichen könne. Er habe keinen anderen Ehrgeiz, als einmal eine Stelle als Volksschullehrer einzunehmen.
Als ich dies erfuhr, gefiel es mir sehr, obwohl ich nicht recht wußte, warum. Ich war überhaupt Kurt gegenüber in einer seltsamen Lage. Es kränkte meine junge Eitelkeit, daß er sich so wenig aus mir machte, mich eben nur mitlaufen ließ, wenn er mit seinem Schwesterchen spazieren ging und ihr allerlei Thiere und Pflanzen zeigte, von denen er wunderbar Bescheid wußte.
Nicht daß er die kleine Comtesse nicht beachtete, schmerzte mich; ich bildete mir trotz der Mama nicht ein, ein besonderes Blut zu haben. Aber ich beneidete Christel um die fast ritterliche Zärtlichkeit, mit der dieser schroffe und unzugängliche junge Bruder sie behandelte. Der meine verzog mich, wie er nur konnte, ich durfte alles von ihm verlangen, aber die hübschesten Sachen, die er mir schenkte, hätte ich gern dafür hingegeben, daß der unliebenswürdige Lehrerssohn unter seinen dunklen Brauen mich nur einmal freundlich angeblickt hätte.
Nur die Musik brachte mich ihm ein wenig näher. Wenn ich unter der Leitung seines Vaters meine Übungen auf der Orgel machte, kam er wohl zu uns hinauf, stellte sich hinter mich und begleitete mein Spiel improvisierend auf seiner Geige. War ich dann fertig und wandte mich zu ihm um, sah ich auf seinem Gesicht den Ausdruck eines freundlichen Einverständnisses, der sich sonst nie darauf blicken ließ. Hernach war's wieder die alte kühle Fremdheit.
Mit vierzehn Jahren wurde er nach Frankfurt an der Oder auf die Stadtschule geschickt und einer alten Verwandten in Kost und Pflege gegeben. Ich vermißte ihn sehr, mehr noch als die eigene Schwester. Zum ersten Mal hatte ich einen heftigen Zank mit meinem Bruder, da Herbert sich unterstand zu sagen, er sei froh, diesen Proletarier mit seiner höhnischen demokratischen Fratze nicht mehr sehen zu müssen.
Es brauchte mehrere Wochen, bis ich ihm das verzieh.
Er selbst kam ein Jahr später nach Berlin, um als Pensionär eines Professors auf einem Gymnasium sich zur Abgangsprüfung vorzubereiten. Der Hauslehrer war gegen den jungen Herrn schwach gewesen und hatte gern ein paar Stunden Griechisch und Mathematik ausfallen lassen, wenn seinen gräflichen Schüler die Lust anwandelte, einen Pürschgang zu machen.
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Er hatte dann, nachdem er mit neunzehn Jahren vom Gymnasium gekommen war, drei Jahre auf verschiedenen Universitäten studiert, da der Papa ihn für die diplomatische Carriere bestimmte, und kam zu Ostern und Weihnachten zum Besuch. Mit Kurt traf er dann nicht zusammen, der richtete es so ein, nicht zu den Festen zu kommen. Er war von der Schule aus in ein Seminar versetzt worden und hatte sein Lehrerexamen schon hinter sich, als Herbert noch in den Vorstudien zu seiner Prüfung begriffen war.
Da traf uns das Unglück, unsere Eltern zu verlieren, erst unseren lieben Papa, den nach einer Fuchsjagd, wo er ein wildes Pferd geritten hatte, eine Lungenentzündung befiel, wenige Wochen später unsere gute Mutter.
Auch Herbert war tief erschüttert. Alle edlen Eigenschaften seiner Natur brachte das Unglück zur Erscheinung; ich kann sagen, daß ich erst in dieser schweren Zeit ein so recht inniges schwesterliches Gefühl für ihn empfand. Er that mir auch so leid, da er für Landwirthschaft wenig Sinn hatte und nun an die Spitze einer großen Gutsverwaltung treten, die lockenden Aussichten auf ein Leben in großen Städten, an glänzenden Höfen plötzlich aufgeben sollte, um als märkischer Junker nur in Jagden und Gastgelagen mit den Nachbarn seine Tage zu verbringen.
Auch eine ihm zusagende Ehe konnte ihm dieß Loos nicht lieblicher machen. Für keine seiner nahen oder entfernten Verwandten oder Nachbarstöchter hatte er je die geringste Neigung gefühlt und auch sonst, soviel ich aus seinen Reden entnehmen konnte, kein Glück bei den Frauen gesucht, obwohl er alle dazu nöthigen Gaben besaß. Nur für politische und volkswissenschaftliche Probleme konnte er sich erwärmen, und sein Ehrgeiz war, einmal als Gesandter oder Minister des Auswärtigen eine Rolle zu spielen.
So nahm er es mit überschwänglicher Dankbarkeit auf, als ich ihm vorschlug, ruhig zu seinen Studien zurückzukehren und seine diplomatische Laufbahn zu beginnen; ich würde mit Vergnügen die Sorge für das Gut übernehmen und in Gemeinschaft mit unserm erprobten alten Verwalter für alles einstehen. Ich war zwar erst kürzlich achtzehn geworden, aber man hatte schon den nöthigen Respect vor mir, da ich von außen und innen über meine Jahre gereift und überdieß bei allen unseren Diensten und auch den Dorfleuten beliebt war.
Wir blieben nur so lange beisammen, bis alle Nachlaßgeschäfte geordnet waren, dann nahm er zärtlichen Abschied und ließ mich als einsame, junge Gutsherrin zurück.
Sie werden mir glauben, daß ich nicht dazu kam, meine Einsamkeit in dem großen Schlosse als eine Last zu empfinden. Zunächst ließen meine Pflichten als oberste Instanz in allen Wirthschaftssachen mir keine Zeit dazu. Auch fehlte es nicht an Besuchen, wenn auch keine darunter waren, an denen mir viel gelegen gewesen wäre. Vielmehr ist gerade auf dem Lande die Gastfreundschaft oft mehr Strapaze als Genuß, da die Gäste meist zu Tische kommen und erst nach dem Abendessen sich wieder verabschieden. Von Menschen, die mir näher standen, hatte ich nur die Pfarrerin und meine Christel. Die aber konnte mir nicht so viel Zeit widmen, wie uns Beiden lieb gewesen wäre. Ihr Vater war leidend und mußte oft das Bett hüten, wo sie dann Schule zu halten hatte, und die Augen ihrer Mutter waren in letzter Zeit so krank geworden, daß viele der häuslichen Geschäfte jetzt von der Tochter besorgt werden mußten. Als dann der Winter kam und die ländlichen Arbeiten ruhten, war ich auch nicht darum verlegen, wie ich meinen Tag hinbringen sollte. Ich musizierte wieder fleißig, hatte viel, besonders an Herbert, zu correspondieren und nahm mich der Mädchen im Dorf an, die ich schon früher in allerlei weiblichen Künsten zu unterrichten begonnen hatte.
Von Kurt sah und hörte ich nichts. Er war einmal zu den Eltern gekommen, nach dem Vater zu sehen, hatte sich aber nicht lange aufhalten können, da er schon eine Lehrerstelle angenommen hatte, und war wieder abgereist, ohne sich auf dem Schlosse zu zeigen.
Nicht einmal einen Gruß hatte er mir durch seine Schwester bestellen lassen.
*
Im Sommer darauf starb dann Christel's Vater.
Ihr Bruder kam gerade noch zur rechten Zeit, um zu sehen, wie schwer der noch nicht alte Mann vom Leben schied, in dem er Frau und Kinder und seine geliebte Orgel zurücklassen mußte.
Doch war der Tod des Vaters für den Sohn kaum so schmerzlich wie der Anblick der Mutter, in deren Augen das Weinen in der langen Krankheit ihres Mannes das letzte Licht ausgelöscht hatte. Wir begegneten uns natürlich in dem Sterbehause, er war noch düsterer und verschlossener gegen mich als früher.
Als ich ihm nach dem Begräbniß sagte, er könne, sobald er wolle, in die Stelle seines Vaters einrücken, dankte er mir mit einem kurzen Wort, er könne sich aber nicht dazu entschließen, da er sich vorgenommen habe, in einem Blindeninstitut sich zum Lehrer auszubilden, um alles kennen zu lernen, wodurch er den Zustand seiner Mutter etwa erleichtern könnte. Auch werde er sie dann materiell besser unterstützen können, als mit dem armseligen Einkommen eines Volksschullehrers.
Darum brauche er nicht zu sorgen. Mein Bruder habe schon bestimmt, daß die Wittwe das volle Gehalt ihres Mannes weiterbeziehen solle.
Er runzelte die Stirn. Ich möge dem Herrn Grafen für die gnädige Absicht danken, doch solange er lebe, werde seine Mutter keine Almosen anzunehmen brauchen und sich mit der üblichen kleinen Pension begnügen.
Da wurde ich aber wüthend, und obwohl ich mich sonst vor ihm gefürchtet hatte, bekam er's nun gründlich zu hören, seinen Stolz und Trotz gegen Menschen, die es gut mit ihm und den Seinigen meinten, und daß er gar kein Recht habe, uns die Sorge für seine Mutter, die uns so theuer sei, verwehren zu wollen. Wenn die frische Trauer, die sonst die Herzen weich mache, seins verhärte, so thue er mir leid, denn er kenne das beste und menschlichste Gefühl nicht, Liebe mit Liebe zu erwidern, und was ich sonst noch in der Empörung heraussprudelte.
Er erwiderte kein Wort. Als ich ihn hatte stehen lassen, aber, ehe ich um die Ecke bog, noch einmal flüchtig zurückblickte, stand er noch auf dem gleichen Fleck, das Gesicht zu Boden gekehrt wie ein armer Sünder, dem man die Leviten gelesen hat, und der Reue fühlt. Er that mir nun doch leid. Aber umzukehren und mich mit ihm zu versöhnen, brachte ich nicht übers Herz.
Und so sah ich ihn nicht wieder, hörte auch nur selten von ihm. Wenn er kam, nach der Mutter zu sehen, vermied er, mir zu begegnen. Er hatte es bald dahin gebracht, als Blindenlehrer angestellt zu werden, und schickte, was er von seinem Gehalt irgend entbehren konnte, nach Haus, obwohl Christel ihn bat, es zu unterlassen, da sie nichts brauchten.
Sie legten es in eine Sparkasse auf seinen Namen. Nur die Bücher mit Blindenschrift, die er ihr brachte für ihre einsamen Stunden und in denen er sie lesen lehrte, waren ihr willkommen.
*
Wie ich die nächsten Jahre lebte, will ich Ihnen nicht ausführlich erzählen.
Langeweile zu empfinden, hatte ich keine Zeit und auch nicht das Temperament dazu. Es kamen allerlei Leute, die es nicht in der Ordnung fanden, daß die junge Gutsherrin noch keine Lust verspürte, »sich zu verändern«. Doch so unerfreulich es ist, Körbe auszutheilen, ich mußte mit der Zeit doch eine gewisse Fertigkeit darin erwerben. Die meisten meiner Bewerber konnte ich von dem Verdacht nicht freisprechen, es seien weniger die Reize meiner werthen Person, die sehr fragwürdig waren, als meine Grafenkrone und mein mütterliches Vermögen, das sie anzog. Wo letzteres ausgeschlossen war, empfand ich doch nichts von dem geheimen Zauber, der eine Frau zu einem Manne zieht. Und so blieb ich einsam, aber nicht allein, da ich an Menschen und besonders Thieren genug Gesellschaft hatte.
Mein Bruder, der inzwischen als Attaché und später Legationsrath verschiedener Gesandtschaften ein gut Stück Welt gesehen hatte, neckte mich, wenn er Urlaub genommen hatte, um ein paar Wochen auf dem Stammschlosse zuzubringen, mit meiner Ehescheu. Ich gab es ihm zurück, da auch er noch immer keine Miene machte, mich durch eine legitime Gutsherrin zu verdrängen. Du weißt, Fäustchen, sagte er liebkosend, du bist meine erste und letzte Liebe. Ich fände keine Frau, die mit meinen Schwächen und Launen eine so himmlische Nachsicht hätte. Und für das gewöhnliche Verlieben Hals über Kopf, das mich zu einer Thorheit verleiten könnte, bin ich gottlob zu alt.
Daß er mit seinen neunundzwanzig noch jung genug war, sollte er bald erfahren.
Im Dorf lebte eine kleine, sehr arme, aber brave Familie, der Mann war Tischler und Zimmermann, je nach Bedarf, und brachte sich nothdürftig durch. Als er aber bei einem Bau verunglückte, blieb seine Frau mit zwei Kindern in größter Noth zurück.
Ich hatte ihr natürlich fürs erste geholfen, beschloß dann aber, ihre Lage gründlicher zu erleichtern, indem ich eins der Kinder zu mir nahm, ein Mädchen von siebzehn Jahren. Der Knabe von zehn ging schon zur Schule, und die Mutter konnte durch allerlei Arbeit in den Häusern der Bauern für ihren Unterhalt sorgen.
Für ihr Marieken hatte ich auf unserm Hofe hinlänglich Beschäftigung. Unsere »Mamsell« war alt geworden und brauchte Hülfe in der Milchkammer. Der Hühnerhof, mein ganz persönlicher Sport, war so angewachsen, daß ich Mühe hatte, ihn allein zu besorgen. Da war mir nun eine flinke junge Adjutantin sehr erwünscht.
Es dauerte aber nicht lange, so ließ ich diese meine Gehülfin überhaupt nicht mehr von meiner Seite und gab der Mamsell einen anderen Ersatz. Denn das blonde Kind wuchs mir so ans Herz, daß es sogar meine liebe Christel daraus verdrängte, die ja nun auch ganz für die Mutter lebte und fast nie aufs Schloß kommen konnte.
Ich kann Ihnen die Anmuth und Lieblichkeit dieses Landkindes nicht beschreiben. Nie ist mir ein Mädchen begegnet, das so ganz holde, frische, leuchtende Jugend gewesen wäre, sich ihres Reizes so wenig bewußt, und doch mit einem feinen natürlichen Verstande hinter der blanken Stirn, die von krausen goldenen Härchen umflogen war. Wie sie ging und lief und die Treppe hinaufflog, jede Bewegung des schlanken Gestältchens, ihr leises Lachen, wobei die weißesten kleinen Zähne blitzten, ja selbst ihr Dialekt waren so allerliebst, daß man nichts an ihr anders gewünscht hätte. Wenn sie so sagte: Nee! det weet ik nich! klang mir's wie Musik. Ich war eben völlig in das liebe Wesen verliebt.
So kam es, daß ich keine Stunde des Tages mich ohne sie behelfen konnte und endlich meine Kammerjungfer verabschiedete, die aus Eifersucht einen Haß auf das gute Kind warf. Sie war aber die einzige unter allen Dienstleuten gewesen, die keine Freude an so viel Lieblichkeit hatte. Alle anderen gönnten ihr, daß sie bei mir in so hohen Gnaden stand, und thaten ihr gleichfalls alles zuliebe, was sie ihr an den Augen absehen konnten.
Marieken aber wurde durch all dieses Glück nicht übermüthig, ja nur noch bescheidener. Sie fing an zu fühlen, daß ihre Erziehung sehr vernachlässigt worden sei, und beeiferte sich, alles zu lernen, was ihr irgend erreichbar war. Mir konnte nichts erfreulicher sein, als ihre Lehrmeisterin zu machen. Nicht nur weibliche Handarbeiten ließ ich sie üben, wozu ihre kleinen, festen Finger sich anfangs ungeschickt anstellten, auch ihre armen Schulkenntnisse revidierte ich und gab ihr täglich eine ganz ernstliche Stunde, wo ich sie über allerlei Dinge aufklärte, von denen sie nie gehört hatte.
Wenn sie so auf ihrem Stühlchen mir gegenüber saß und die feinen blonden Brauen sich zusammenzogen in dem eifrigen Bemühen, zu verstehen und festzuhalten, war das Gesichtchen so entzückend liebenswürdig, daß ich mir oft Gewalt anthun mußte, den blonden Kopf nicht zwischen meine Hände zu nehmen und die strahlenden Augen und frischen Lippen mit Küssen zu bedecken.
*
Das dauerte ein ganzes Jahr. Ich entsann mich keines früheren, selbst als die Eltern noch lebten, wo ich mich glücklicher und jünger gefühlt hätte. Es war, als wäre mir noch eine kleine Schwester beschert worden, so vertraut war mir dies Bauernkind geworden.
Den Nachbarn, die zuweilen zu Besuch kamen, entging diese meine Passion nicht, und ich mußte mich damit necken lassen. Aber ich hatte die Genugthuung, daß Alle sie begreiflich fanden. Die jungen Herren ließen sich's nur zu sehr merken. Es hätte nur an Marieken gelegen, einen Roman mit irgend einem leichtsinnigen Junker zu spielen. Aber wie in allen Dingen, benahm sie sich auch sehr zudringlichen Courmachern gegenüber mit dem sichersten Takt und schien sich durchaus nicht viel aus all den Huldigungen zu machen, zog sich vielmehr, wenn Gäste kamen, bescheiden zurück, und es fiel ihr nicht ein, den Platz neben mir auch bei solchen Gelegenheiten zu beanspruchen.
Von den älteren Herren mußte ich hören, daß sie ein morceau de roi sei, oft in ihrer Gegenwart. Zum Glück verstand sie kein Französisch.
Im Hochdeutschen aber machte sie merkwürdige Fortschritte, obwohl ich sie nicht dazu anhielt, und nichts klang drolliger und niedlicher, als ihre Sprechübungen, bei denen sie sich mühsam dem angeborenen Platt zu entwinden suchte.
Natürlich hatte ich meinem Bruder von dem lieben Kinde geschrieben, und welche Acquisition ich an ihm gemacht hätte. Er ging nicht weiter darauf ein. Von Paris aus, wo er jetzt bei der Gesandtschaft war, hatte er eine große Reise durch Spanien gemacht, und seine häufigen Briefe sprachen nur von dem, was er dort gesehen und erlebt hatte. Nach der Rückkehr konnte er nicht wohl um neuen Urlaub bitten, und so verging wirklich ein volles Jahr, bis er wieder Erlaubniß erhielt, sich nach seinem Gut und der Schwester umzusehen.
Es war im Herbst, die Jagd eben aufgegangen, und ich neckte ihn damit, daß ihn die Feldhühner mehr gelockt hätten, als der Rechenschaftsbericht des Verwalters und meine geringe Person. Er ließ sich das, liebenswürdig wie immer, gefallen, war überhaupt noch herzlicher zu mir, als sonst, und erklärte, daß er eine so lange Trennung nicht wieder ertragen könne.
Alles, was ich in seiner Abwesenheit gethan, fand er zu loben; auch Marieken, die ich ihm sogleich vorführte, schien ihm zu gefallen, wie sie mit einiger Befangenheit und leichtem Erröthen vor ihm stand und ihren besten Knix machte. Am nächsten Mittag aber, als sie uns bei Tisch bediente, runzelte er ein wenig die Stirn und sagte, es wäre besser, wenn wir nach unserer alten Sitte den Bedienten wieder servieren ließen.
Ich hatte das abgestellt, um während des Essens mit dem Mädchen zu plaudern. Am liebsten hätte ich sie meine Mahlzeiten theilen lassen, was nun allerdings nicht anging, da es zu großes Aufsehn im Hause gemacht hätte.
Auch sonst bemerkte ich, daß mein Liebling sich keiner sonderlichen Gunst beim Hausherrn zu erfreuen hatte. Er richtete nie das Wort an sie, und wenn es doch einmal sein mußte, nur mit einer gewissen Verlegenheit, seltsam genug gegenüber dem Bauernkinde, da er sich auf dem Parket der Königshöfe mit vollkommener Sicherheit bewegte.
Auch Marieken fühlte sich offenbar nicht so frei in seiner Gegenwart, wie sonst in aristokratischer Gesellschaft. Ich hatte sie Abends beim Auskleiden gefragt, wie mein Bruder ihr gefalle. Sie war dunkelroth geworden und hatte nur herausgebracht: er sei sehr schön.
Er ist ebenso gut wie schön, hatte ich gesagt und das Thema fallen lassen.
Doch das Benehmen der Beiden gab mir zu denken. Daß das reizende Geschöpf, das so Vielen den Kopf verdrehte, auch meinem gestrengen Herrn Bruder nicht gleichgültig blieb, war nicht zu verwundern. Es war daher gut, daß sein Aufenthalt auf dem Schlosse nur auf vier Wochen bemessen war. Seine wortkarge, zerstreute Stimmung machte das Beisammensein überdies nicht so erfreulich wie sonst. Er ging auch gewöhnlich schon früh Morgens mit der Büchse und seinem Hunde weg, kam erst zu Tische wieder, fast immer ohne Jagdbeute, und machte Nachmittags weite Ritte nach den Gütern unserer Nachbarn.
Ich fragte ihn einmal lachend geradezu, ob er in Spanien eine Herzwunde davongetragen habe, in eine hochäugige Andalusierin sterblich verliebt sei oder in eine Gitana, die ihm einen Korb gegeben. Er schüttelte den Kopf und sagte, das sei Unsinn, er habe ganz andere Sorgen, sein diplomatischer Beruf sei ihm verleidet, da er sich nach ernstlicherer Arbeit sehne, und er werde wohl nicht lange dabei ausharren, obwohl er darauf rechnen dürfe, nächstens zum Botschaftsrath zu avancieren.
Dabei beruhigte ich mich denn. Aber wie erstaunte ich, als er am nächsten Tag in mein Zimmer kam und mir eröffnete, er werde schon diesen Abend abreisen, es sei ihm unmöglich, länger zu bleiben.
Von den vier Wochen seines Urlaubs waren erst drei verstrichen. Er sah sich genöthigt, den wahren Grund seines übereilten Abschieds einzugestehen: er war rettungslos in meinen Liebling verliebt!
Daß er sie nicht heirathen könne, würde ich begreifen. Zu etwas anderem sei sie zu gut. Wenn er ihr in irgend einem fremden Erdtheile begegnet und dort angesiedelt wäre, würde er sich keinen Augenblick besinnen, sie zu seiner Frau zu machen. Sie habe alle die Eigenschaften, die er brauche, um mit einem Weibe auf die Dauer glücklich zu werden, und die er bei den hochgeborenen jungen Damen in den verschiedenen Residenzen nicht gefunden habe. Aber hier, auf dem Schlosse seiner Väter, ein Bauernkind den Vettern und Basen als seine Gemahlin vorzustellen, und wenn es das entzückendste Geschöpf unter der Sonne sei, das könne er nicht übers Herz bringen. Es gäbe eben moralische Unmöglichkeiten – so nannte er's, da Grimm's »Unüberwindliche Mächte« noch nicht erschienen waren, – und er sei zu alt, um eine Jugendsünde auf sein Gewissen zu laden.
Sie können denken, mit welchen Empfindungen ich diese Beichte vernahm. Vollends aber erschrak ich, als Herbert mir erklärte, er werde die Schwelle seines väterlichen Hauses nicht eher wieder überschreiten, als bis er sicher sein könne, diesen blonden Kopf weder hier noch im ganzen Bereich seiner Gutsherrschaft wieder anzutreffen. Meiner schwesterlichen Klugheit überlasse er's, wie das am schicklichsten und schonendsten anzustellen sei.
Als mein Bruder dann abgereist war, verbrachte ich die nächsten Tage in einer so verstörten, unseligen Stimmung, wie ein Mensch, dem eine lebensgefährliche Operation bevorsteht. Und allerdings sollte mir ja ein Stück von meinem Herzen gerissen werden, was zu meinem Glück unentbehrlich geworden war.
Ich sagte dem guten Kinde natürlich nichts von dem, was bevorstand. Sie selbst war nicht so heiter wie sonst. Ich merkte, daß auch in ihr sich etwas geregt hatte, was meinem Bruder entgegenkam, und daß sie ihn vermißte. So lebten wir ein paar Wochen unerquicklich hin, und ich ward immer rathloser, wie ich uns Dreien aus der Noth helfen könnte.
Da erbarmte sich der Himmel und schickte einen jungen Mann zu uns aufs Gut, einen Ingenieur, den der Verwalter für gewisse bauliche Arbeiten hatte kommen lassen. Schon früher hatte er sich einmal herbemüht, um ein Gutachten abzugeben, und damals schon war mir aufgefallen, mit wie seltsamen Augen er Marieken betrachtete. Jetzt, da er längere Zeit zu thun hatte, that er sich keinen Zwang an, seine Gefühle zu verbergen, und zum erstenmal schien auch das Mädchen Gefallen daran zu finden, daß ihm der Hof gemacht wurde.
Als das ein Weilchen gedauert hatte, rief ich den jungen Herrn einmal in mein Boudoir und fragte ihn, wie er zu Marieken gesinnt sei. Denn ich könne nicht dulden, daß ihr etwas in den Kopf gesetzt würde, was keine Zukunft habe.
Er erklärte, sobald er eine gesicherte Stellung habe, was zu Anfang des neuen Jahrs geschehen werde, sei er entschlossen, um die Hand des Mädchens anzuhalten, das er über alles liebe. Er glaube, auch sie sei ihm geneigt, ich selbst möchte sie darum fragen.
Nun hatte ich, was ich wollte, vielmehr wollen mußte, so schwer es mich ankam.
Ich will alles Weitere übergehen.
Natürlich sorgte ich für eine reichliche Ausstattung und einen Zuschuß in die Wirthschaftskasse der jungen Frau. Im Januar wurde die Hochzeit gehalten, auf dem Schlosse, mit aller herkömmlichen Festlichkeit, und als ich das glückliche junge Paar am Abend in den Wagen steigen und in das neue Leben hinausreisen sah, fühlte ich, wie einer Mutter zu Muthe sein muß, die ihre einzige Tochter einem fremden Mann anvertraut hat und kinderlos zurückbleibt.
Meinem Bruder hatte ich geschrieben, was geschehen war. Vierzehn Tage lang erhielt ich keine Antwort. Dann kam er selbst.
Er sah krank und müde aus, schob es aber auf Überarbeitung, da er jetzt im Auswärtigen Amt angestellt sei und sich in seine neuen Aufgaben erst einarbeiten müsse. Marieken's Name wurde zwischen uns nicht genannt, obwohl wir beständig an sie dachten. Es war, wie man an eine geliebte Todte nicht erinnern mag, die erst kürzlich geschieden ist.
Doch schon am zweiten Tage eröffnete er mir, daß er gekommen sei, mich nach Berlin zu holen. Die Königin habe ihn in einer Hofgesellschaft gefragt, warum er ihr nie seine Schwester vorgestellt habe, da unsere Mutter ihre gute Freundin gewesen sei.
Ich war nur einmal in Berlin gewesen, mit meinem Papa, ein Jahr vor seinem Tode. Damals hatte mich die große Stadt durchaus nicht bezaubert; ich hatte Heimweh nach meinen Hühnern und Pferden, und um die Museen zu genießen, fehlte mir noch jede Kenntniß und Anleitung. Nur die Oper entzückte mich, aber die hatte bald Ferien, wie die Geselligkeit. Unsere Bekannten waren verreist oder in den Bädern.
Später fühlte ich gar keine Lust, den Besuch zu wiederholen. Einmal, weil ich mir den witzigen Berlinern gegenüber als ein dummer Dorfdeubel vorkam, und dann – zu einer glänzenden Rolle in der Gesellschaft gehörte ein bischen mehr Schönheit und Grazie, als ich besaß, und ich war doch zu eitel, um mich damit zu begnügen, auf Grund meiner Grafenkrone mir den Hof machen zu lassen.
Jetzt aber half Alles nichts, Majestät hatte einen Wunsch geäußert, der mußte erfüllt werden.
Also machte ich in aller Eile meine Vorbereitungen, da ich die Anschaffung von Hoftoiletten den Berliner Schneiderinnen überlassen mußte, und wir kamen nach Mitte Januar in der Hauptstadt an, wo mein Bruder in einem Hôtel Unter den Linden Zimmer für mich bestellt hatte, da er mich in seiner Junggesellenwohnung mit meiner Jungfer nicht bequem unterbringen konnte.
Eine befreundete Familie aus unserer Nachbarschaft wohnte in dem gleichen Hôtel, um ihr Töchterchen eine Berliner Saison mitmachen zu lassen.
Mein Vorurtheil gegen die große Stadt schwand sehr bald. Ich sah mich unter Herbert's Führung fleißig in den Kunstsammlungen um, besuchte die Theater, vor Allem schwelgte ich in den schönen Concerten, wo mir die großen Meister ganz anders aufgingen als an meinem einsamen Klavier.
Auch den Hofball und die Vorstellung vor der gütigen Königin überstand ich ohne sonderliches Mißbehagen, freilich auch ohne jedes wirkliche Vergnügen. Denn ich sah mich unter lauter Fremden und hatte außer meiner Bewunderung schöner Frauen und glänzender Toiletten nichts, was mich für den Zwang und die Ermüdung entschädigt hätte.
Als ich wieder in meinem Hôtelzimmer war, gelobte ich mir, diese Frohne nicht ferner auf mich zu nehmen in den acht Tagen, die ich noch zu bleiben gedachte. Und wie ich so überlegte, was etwa noch an Merkwürdigkeiten zu sehen wäre, kam ich auf den Gedanken, einen Besuch in der Blindenanstalt zu machen, in der Kurt als Lehrer wirkte.
Ihn aufzufordern, seine Jugendbekannte zu besuchen, hätte keinen Erfolg gehabt. Er wäre sicher nicht gekommen, schon aus Furcht, meinen Bruder bei mir zu treffen. Also schrieb ich ihm, wann ich mir erlauben dürfe, ihn in der Anstalt aufzusuchen, die ich gerne kennen lernen möchte, und erhielt umgehend die Antwort, ich würde zu jeder Stunde willkommen sein, da er im Hause wohne und es nur Abends verlasse, um einen Spaziergang zu machen.
Meinem Bruder sagte ich nichts von meinem Vorhaben, er hätte mir's vielleicht nicht erlaubt. So nahm ich eine Droschke und fuhr in die Gipsstraße, wo die von Zeune gegründete Blindenanstalt lag, damals noch in beschränkterem Umfang und mit dürftigeren Mitteln, als heute.
Kurt empfing mich an der Hausthür und war offenbar über meinen Besuch erfreut. Ich fand ihn im Äußeren verändert, doch zu seinem Vortheil, das Gesicht blasser und die Züge durch geistige Arbeit geadelt, ohne die trotzige Miene seiner jungen Jahre. Er war sehr einfach gekleidet, aber es stand ihm gut und war von der größten Sauberkeit.
Viel redseliger als sonst war er nicht geworden. Doch sprach ja auch Alles, was ich in den verschiedenen Arbeits- und Schulräumen der armen Kinder sah, für sich selbst. Mit tiefer Rührung sah ich überall das Werk aufopfernder Menschenliebe, deren einziger Lohn die heiteren Gesichter der unglücklichen, des Himmelslichts beraubten Geschöpfe waren, und ließ mir die Grundsätze erklären, nach denen ihre Erzieher bemüht waren, sie dem Leben zu erhalten und ihnen das Gefühl mitzugeben, daß sie keine Almosen empfingen, sondern den Lohn ihrer nützlichen Arbeit.
Ich muß mich von Ihnen nun verabschieden, Gräfin, sagte mein Führer nach einer vollen Stunde. Ich habe jetzt Unterricht zu geben und darf von dem Lehrplan nicht abgehen.
Natürlich sagte ich, daß es mich erst recht interessieren würde, zu hören, wie er als Lehrer verfahre, und so folgte ich ihm in ein großes Zimmer, wo etwa dreißig Knaben und Mädchen, lustig mit einander plaudernd, auf den Bänken saßen. Sie wurden sofort still, als wir eintraten, und nun begann Kurt seine Lection, die in einem Vortrag über den Siebenjährigen Krieg bestand, nachdem er vorher einige Fragen über die früheren Jahre gethan und Antworten erhalten hatte, die immer richtig waren. Es war eine Freude, die gespannten Mienen der Kinder zu sehen, die mit den lichtlosen Augen nach der Gegend starrten, von der die Stimme kam.
Nun wollen wir noch singen, sagte Kurt. Er nahm seine Geige vom Pult und begann die Melodie eines bekannten Volksliedes. Sogleich fiel der junge Chor zweistimmig ein und sang drei Strophen so helltönig, daß ich meiner Thränen mich kaum erwehren konnte. Noch ein anderes Lied folgte. Der Ton von Kurt's Geige erinnerte mich an meine Jugendzeit, wo er mich begleitet hatte, wenn ich Orgel spielte. Ich hatte vor Kurzem in einem Concert Joachim gehört. So wie das Spiel meines Jugendgefährten vor dieser armen jungen Schaar hatte seines mich nicht bewegt. Es drang mir in die tiefste Tiefe meines Herzens.
Als Kurt mich wieder hinausführte und nun die Hausthür öffnete, war ich unfähig, ihm ein Wort zu sagen. Er reichte mir zum Abschied die Hand, da übermannte mich mein Gefühl, ich beugte mich zu seiner Hand hinab und drückte meine Lippen darauf. Er zog sie hastig zurück. Was thun Sie, Gräfin! rief er bestürzt. Dank! Dank! stammelte ich und eilte über die Schwelle. Mein Wagen wartete, ich stieg hastig hinein und winkte ihm, der fassungslos unter der Thüre stand, einen letzten Gruß zu; dann, als der Wagen fortfuhr, warf ich mich in den Fond zurück, zog den Schleier übers Gesicht und ließ meinen Thränen freien Lauf.
*
Nach diesem Erlebniß hatte Alles, was Berlin mir noch bieten konnte, seinen Reiz für mich verloren.
Was waren mir alle Diners und Soupers, alle Theaterabende und die Stunden unter Bildern und Statuen gegen die tiefen, unauslöschlichen Eindrücke, die ich in diesem Asyl armer Glücksberaubter empfangen hatte! Mein ganzes Leben hier, das keinen Zweck hatte, als von Vergnügen zu Vergnügen zu eilen, ekelte mich an. Da war ich mir auf dem Gute noch respectabler, da ich doch für vernunftlose Geschöpfe dort zu sorgen hatte und den Bauersleuten, wo es noth that, helfen konnte. Doch auch das – was bedeutete es gegen ein Tagewerk wie das unscheinbare, aber so segensreiche eines Erziehers von Stiefkindern der Natur! Wie klein und selbstsüchtig kam ich mir dagegen vor! Und vollends in meinem Berliner Hôtelzimmer.
So bald es ohne Aufsehen möglich war, da ich Herbert meinen Gemüthszustand verbergen mußte – er hätte ihn ja nicht begriffen – gab ich meine Karten p. p. c. ab und kehrte auf unser Gut zurück. Ruhe freilich sollte ich auch dort nichts finden. Kurt's Bild hatte mich begleitet und folgte mir auf Schritt und Tritt.
Ich machte mir auch keine Illusion darüber, daß es nie anders werden würde, daß nie ein Mann kommen könnte, der die Macht hätte, ihn zu verdrängen. Daß es hoffnungslos sei und an ein anderes Angehören nie zu denken, war mir ebenso unzweifelhaft. Aber seltsam, das störte mir meine Glücksempfindung keinen Augenblick. Ich wußte, ein Mensch, wie er, war auf der Welt, ich durfte ihn lieben und verehren mit allen Kräften meiner Seele, und wenn er nichts davon ahnte, es nicht von fern erwiderte, – das alte Sprüchlein half mir: wenn ich dich liebe, was geht's dich an?
Mein Bruder kam, so oft er konnte, zu mir heraus, gewöhnlich am Sonnabend, und blieb bis Montag früh. Ich fühlte, daß er meiner bedürfte, jetzt mehr als je in dem Kummer, daß er einem anderen Herzensglück hatte entsagen müssen. Es war wunderlich, wie wir beisammensaßen, jedes ein anderes Gesicht vor dem inneren Auge, und unser warmes Gefühl, das an die rechte Adresse nicht gelangen konnte, an einander hinströmten. Er aber war beklagenswerther als ich. Er wußte, daß ein Anderer besaß, was ihm versagt war.
Und so verging wieder ein Jahr.
An einem Ostermorgen starb die blinde Frau, Kurt's und Christel's Mutter. Der Tod trat so plötzlich ein infolge eines Herzschlages, daß der Sohn nur noch zum Begräbniß kommen konnte. Ich sah ihn erst auf dem Kirchhof, wo er mit der Schwester dem einfachen Sarge folgte und keinen Blick auf die Umstehenden warf. Auch Herbert hatte der guten Frau, die allgemein geliebt war, die letzte Ehre erweisen wollen. Als der Pastor seine Rede beendet und die Geschwister die drei Schaufeln Erde in die Tiefe des Grabes geschüttet hatten, nahm auch er den Spaten zu dem gleichen frommen Brauch, trat dann zurück und gab sowohl Christel als Kurt die Hand. Dann verließ er den Kirchhof.
Auch ich wollte zu den Geschwistern, hielt mich aber noch zurück, da sich die Leute aus dem Dorf um Kurt drängten und Christel an der Hand eines jungen Mannes, mit dem sie seit Jahr und Tag verlobt war, dem Sohn des Forstmeisters, sich entfernte. Als dann alle gegangen waren und Kurt nur noch an dem Grabe stand, so in sich versunken, daß er nichts um sich her wahrzunehmen schien, trat ich an ihn heran und nannte leise seinen Namen.
Er fuhr zusammen und wandte sich um. Sein Gesicht, das bis dahin wie im Schmerz erstarrt gewesen, war ganz von Thränen überströmt.
Er ergriff die Hand, die ich ihm bot, und drückte sie heftig. Dann verließ er das Grab und ging dem Ausgang zu, als ob ich nicht mehr anwesend wäre. Kein Wort wurde gesprochen.
Erst draußen vor der Kirchhofthür blieb er stehen und sah sich unsicher um.
Lieber Kurt, sagte ich, sagen Sie mir offen, ob ich noch ein paar Schritte mit Ihnen gehen darf, oder ob Sie allein zu sein wünschen.
Er sah mich auch jetzt nicht an.
Ich bin nur allzu viel allein, brachte er mühsam hervor. Wenn Sie wünschen –
Aber warum müssen Sie so einsam sein? fragte ich, während ich den Weg am Wäldchen außerhalb des Dorfes einschlug. Nun können Sie ja auch Christel nicht zu sich nehmen, da sie heirathen will. Und obwohl Sie einen Beruf haben, der Ihr Herz erwärmt, mir will es doch nicht recht scheinen, daß Sie nicht ein eigenes Heim gründen. Jetzt, da Sie für die Mutter nicht mehr zu sorgen haben, kann es Ihnen ja auch an den Mitteln dazu nicht fehlen.
Er blieb eine ganze Weile stumm.
Dann, mit einem bitteren Lächeln: Sie wissen, dazu gehören Zwei. Ich möchte es keiner Frau zumuthen, mein helldunkles Leben zu theilen. Und dann, nur um eine Frau zu haben – an Kindern fehlt mir's ja nicht. –
Die würden Ihnen ja auch bleiben, wenn Sie eigene Kinder hätten. Und hat wirklich Ihr Herz keine anderen Bedürfnisse?
Er blieb stehen und starrte zu Boden. O, sagte er, an Bedürfnissen fehlt's nicht, sogar sehr anspruchsvolle sind es, aber eben darum – was ich für mein Glück brauchte, ist etwas so Großes, daß ich es nie erreichen kann. Aber warum wollen wir davon sprechen?
Er ging. hastig weiter.
Lieber Kurt, blieb ich bei meiner zudringlichen Rede, wir kennen uns von früh an. Sie haben mir nie Vertrauen gezeigt, ich muß glauben, daß irgend Etwas in mir Ihnen unsympathisch ist, während ich Ihren Charakter immer hochgeschätzt habe und dem Bruder Christel's herzlich zugethan war. Darum geht es mir nahe, daß ich Sie in ein Leben zurückkehren sehe, das ja voll innerer Genugthuung und edler Pflichttreue ist, aber dem die volle Lebensfreude fehlt. Sie sagen, die sei Ihnen versagt. Wie soll ich das verstehen? Warum, wenn das ersehnte Glück so groß ist, ist Ihr Muth nicht größer? Was ist es, das Ihnen für alle Zeit verwehrt, danach zu streben, um es endlich zu erobern?
Wieder blieb er stehen. Ich sah, daß er sich endlich Gewalt anthat, zu antworten.
Glauben Sie, daß ein gewöhnlicher Muth dazu ausreichte, um eine Frau zu erwerben, die im Monde wohnt?
Ich sah ihn groß an. Ich konnte nicht gleich mich fassen, da ich ihn endlich zu verstehen glaubte.
Theure Gräfin, sagte er jetzt, warum quälen Sie mich? Warum benutzen Sie eine Stunde, in der mein Inneres so aufgelockert ist, daß ich wehrlos bin und die festesten Entschlüsse nicht zu bewahren vermag? Ich hatte mir gelobt, das Geheimniß meines Lebens sollte nie über meine Lippen kommen. Und nun zwingen Sie mir's ab, gerade Sie, der es doch kein Geheimniß mehr sein kann. Es ging früh an, schon da ich ein Knabe war und Sie eine ganz junge Comtesse, die im kurzen Kleidchen durch den Garten des Schulhauses sprang und mit dem Lehrerssohn spielen wollte. Wenn ich schon damals unhold zu Ihnen war, geschah's nur, weil ich wußte, daß Sie, so vertraulich Sie mich behandelten, im Monde wohnten und ich ein armer, an die nackte Erde gebundener Sterblicher war. Das ging dann so fort, der Abstand wurde nur immer größer. Aber statt mich darein zu finden, war ich armer Narr eigensinnig genug, dem Unmöglichen, Unerreichbaren nachzutrauern und darüber alles vom Glück zu versäumen, was mir auf Erden erreichbar gewesen wäre. Es geschieht mir ganz recht. Warum bin ich ein so unverbesserlicher Mondsüchtiger.
Er wandte sich ab, zog den Hut und sagte: Vergessen Sie, was ich mir da an Unsinn habe entschlüpfen lassen. Ich danke Ihnen für alle Theilnahme, die Sie mir gezeigt haben, und die ein Schicksal, wie meins, wohl auch verdient. Und wenn ich Sie auch nie wiedersehen werde – daß mich das Leben Ihnen einmal nahe gebracht hat, wird für alle Zeit mein theuerster Besitz sein.
Ich sah ihn mit raschen Schritten dem Wäldchen zueilen und nun darin verschwinden.
Ich war mitten auf der Straße stehen geblieben und hatte Mühe, mich zu fassen. Sie werden es kaum glauben, aber was ich gehört, hatte mich so überrascht, daß ich mir all seine Worte zurückrufen mußte, um den Sinn zu verstehen. Sie sehen daraus, wie wenig Anlage zur Eitelkeit ich hatte.
Als ich mir aber klar darüber geworden war, daß ich wirklich recht gehört hatte, daß dieser Mann, dem ich nun seit Jahr und Tag einen stillen Cultus geweiht hatte, mich seit den Jugendtagen geliebt, um meinetwillen auf jedes Herzensglück verzichtet hatte, drang mir eine so überschwängliche Freude ans Herz, daß mir war wie einem Frommen, der ein Wunder erlebt hat.
Ein paar Stunden schweifte ich durch Feld und Wiesen, eh' ich mich entschließen konnte, nach Hause zu gehen, meinem Bruder unter die Augen zu treten. Ich dachte dies nun ganz ruhig und meiner selbst mächtig thun zu können. Aber nach dem ersten Blick sagte Herbert: Was ist dir denn geschehen, Fäustchen? Du glühst ja wie eine Mohnblume, und deine Augen glänzen, als hättest du süßen Wein getrunken.
Das habe ich auch gethan, sagte ich, ohne die Augen niederzuschlagen. Denke nur, Herbert, deiner alten Schwester ist es zum ersten Mal begegnet, daß ein Mann, der Mann, den sie neben dir am höchsten hält, ihr gesagt hat, daß er sie über alles liebe.
Er starrte mich rathlos an.
Ein Mann? Wo ist ein Mann, von dem du so sprechen kannst? Und wo ist er dir begegnet?
Du hast ihn ganz vor kurzem auch gesehn, es ist Kurt.
Herbert's Gesicht erblaßte wie von einem tödtlichen Schrecken.
Kurt? Er hat gewagt – der – Er erstickte ein böses Wort.
Oh, es war kein Wagniß, sagte ich. Ich habe –freilich ahnungslos – das Geständniß aus ihm herausgefragt. Als es geschehen war, hat er sich sofort entfernt. Er macht sich nicht die geringste Hoffnung.
Das wollte ich mir auch verbeten haben, brach es aus Herbert's Innern hervor. Sonst – nun, es ist ja vorüber und wir werden mit dem Patron nie wieder etwas zu schaffen haben.
Er biß sich auf den Schnurrbart und wollte das Zimmer verlassen.
Ich nahm all meinen Muth zusammen.
Bleibe noch, sagte ich, ich bin noch nicht fertig. Ich muß dir gestehn, es thut mir leid, daß ich ihm nicht habe antworten können, da er sich so hastig entfernte. Ich hätte ihm sonst gesagt, daß ich seine Neigung erwiedere und alles nicht so hoffnungslos finde, wie er.
Faustine! rief er und sah mich halb entsetzt, halb drohend an.
Ja, lieber Bruder, fuhr ich entschlossen fort, obwohl ich am ganzen Leibe zitterte, er ist der einzige Mann, mit dem mein Leben zu theilen mich beglücken würde – falls du nicht dagegen bist.
Er antwortete lange nicht. Ich sah, daß er einen schweren Kampf kämpfte, und wie ich ihn kannte, konnte ich es nicht anders erwarten und doch es ihm nicht ersparen.
Ob ich dagegen bin oder nicht, sagte er endlich, kommt hier nicht in Betracht. Du bist selbständig in jeder Beziehung und hast keinen Vormund zu befragen. Meine Ansicht von dem, was du jetzt thun willst, brauche ich dir nicht darzulegen, du weißt, wie ich über ungleiche Heirathen denke. Ich bitte dich nur um eins, daß du nicht sofort in der ersten Erregung einen Entschluß fassest, der über dein Leben entscheidet – und über das meine, setzte er mit bewegter Stimme hinzu.
Er that mir unsäglich leid, ich selbst mir nicht minder.
Ich weiß, sagte ich, daß es dir nicht leicht wird, mich als die Frau eines Mannes zu sehen, mit dem du bisher nichts zu theilen haben wolltest. Aber muß das so bleiben? Hast du nicht heut auf dem Kirchhof ihm die Hand gereicht, und sollte nun, da ihr Beide älter geworden seid, die Jugendfeindschaft nicht einer ruhigeren Stimmung weichen? Verkehrst du nicht mit manchen Männern, deren Lebensanschauung eine andere ist, als deine?
Gegensätze wie die unsern, sagte er – wenn sie auch dem offenen Grabe gegenüber sich nicht geltend machen, im Leben sind sie unversöhnlich. Und hier handelt sich's um Schwereres, als um die Feindschaft des Demokraten gegen Alles, was mir heilig ist. Eine persönliche Antipathie besteht, so tief eingewurzelt, daß sie nicht durch guten Willen zu bezwingen ist. Ich weiß, was du sagen willst. Er achte mich und werde dem Bruder seiner Frau in jeder Hinsicht freundschaftlich zu begegnen suchen, und auch ich – wenn ich ihn näher kennen lernte – das klingt Alles sehr schön, für eine durch Leidenschaft verblendete Phantasie. In der nüchternen Wirklichkeit sieht's etwas anders aus. Ich werde mich nie entschließen können, das Haus eines Mannes zu betreten, der mich mit dem heimlichen Triumph empfängt, daß er meine Schwester zu sich herabgezogen hat – verzeih, du wirst gegen diesen Ausdruck protestieren. Daß ich ihn aber den Verhältnissen entsprechend finde, mag dir zeigen, daß von einer Versöhnung dieser getrennten Welten für mich keine Rede sein kann.
Er machte ein paar Schritte durch das Zimmer, um seine Erregung zu bezwingen. Dann trat er wieder zu mir.
Daß auch du dich von der Welt, in der du bisher gelebt hast, trennen würdest, – wie ich dich kenne, würde dir das keinen Kummer machen. Du hast stets für adlige Fräulein, die sich zu Diakonissen ausbildeten, eine schwärmerische Bewunderung gehegt, und der Beruf der Gattin eines Blindenlehrers erscheint dir gewiß auch in einem idealen Lichte. Denn daß du nicht daran denkst, deinen Gatten hier aufs Land zu führen, muß ich dir zutrauen. Von mir ganz abgesehen – unsere Gutsnachbarn würden sich kaum freuen, dem ehemaligen Schullehrerssohn hier als deinem Gemahl die Hand zu drücken, und auch unsere Bauern würden große Augen dazu machen.
All das that mir bitterweh. Ich sah jetzt erst, daß meinem guten Bruder, den ich trotzdem innig liebte, eine freudlose Zukunft bevorstand.
Ich hatte im Stillen gehofft, sagte ich endlich, mein Entschluß würde auch dich dazu bewegen, noch einmal ein neues Leben zu beginnen. Als ich neulich halb im Scherz dich fragte, ob nicht die junge Schönheit und Liebenswürdigkeit der Baronesse – ich nannte den Namen eines wirklich sehr reizenden Fräuleins – Eindruck auf dein verhärtetes Junggesellenherz gemacht habe, wurdest du ein wenig roth und wichst der Antwort mit einem Scherz aus: du wollest keine Göttinnen haben neben mir. Wenn ich nun von dir ginge, könnte da nicht –
Er ließ mich nicht ausreden. Ich bin älter, jedenfalls unliebenswürdiger, als meine Jahre. So werde ich denn einsam bleiben und, wenn du wirklich glücklich wirst, mit neidlosem Herzen, das kannst du deinem treuen Bruder wohl zutrauen, mich aus der Ferne deines Glückes freuen.
Die Stimme versagte ihm, er wandte sich ab und verließ mich.
*
Werden Sie mir's nachfühlen, daß ich keine lange Bedenkzeit brauchte, bis ich wußte, was ich zu thun hatte?
Nur die Nacht verging noch – natürlich schlaflos –, dann setzte ich mich hin und schrieb an Kurt. Daß er mich überschwänglich glücklich gemacht durch das Geständniß seiner so lange in ihm unverändert bestehenden Liebe, daß ich sie so innig erwiederte und kein glückseligeres Loos mir denken könne, als seine Frau zu sein – nun, Sie ergänzen alles, was weiter in dem Briefe stand – das Gespräch mit Herbert und mein Entschluß, ihn nicht zu verlassen. Wie ich die Buchstaben aufs Papier brachte, da ich einen dichten nassen Schleier vor den Augen hatte, weiß ich selber nicht.
Seine Antwort war, wie ich sie erwartet: er könne mir nie genug danken, daß ich ihm gesagt, was er mir sei. Das könne ihm auch der Verzicht auf ein anderes Glück, ein Lebensglück, nicht rauben. Dieser Trost werde ihm bis ans Ende bleiben – Genug davon!
Meinem Bruder sagte ich nun, daß ich auf den Ehebund mit Kurt verzichtet hätte. An dem Freudenglanz, der über sein Gesicht flog, an der Wärme, mit der er mir die Hand drückte, sah ich, wie furchtbar es ihn getroffen hätte, wenn er mich hätte verlieren müssen.
Und in den zwölf Jahren, die wir dann noch zusammen lebten – er hat bald den Abschied genommen, um sich auf das Gut zurückzuziehen – konnte ich täglich erkennen, was ich ihm war. Und doch –
Wie oft, wenn wir einen Abend in kleiner heiterer Gesellschaft mit einander zugebracht oder unter vier Augen verplaudert hatten, trat plötzlich das Bild meines fernen Freundes vor mich hin und sah mich mit stiller Trauer an.
War's Pflicht gewesen, nur an das Glück des Einen zu denken, als ob der Andere kein Liebesrecht an mich gehabt hätte? War die Möglichkeit ausgeschlossen, daß Herbert, wenn ich von ihm gegangen, in sein verödetes Haus nicht doch noch eine junge Herrin eingeführt hätte?
Der Vorwurf, den man den Helden Hermann Grimm's macht, daß sie nicht »zuzugreifen« wagen, trifft er nicht auch mich? Wären die Mächte, die mich von meinem Glück trennten, wirklich unüberwindlich gewesen, wenn ich etwas mehr Egoismus gehabt – nein, das ist ein falsches Wort – wenn ich nicht bloß auf mein eigenes Gewissen gehört hätte, das überempfindlich nur an die schwesterliche Pflicht mahnte, die andere dagegen geringer schätzte?
Das sind die schweren Gewissensfragen, über die zu grübeln mich oft zur Verzweiflung bringt.
Zumal an einem Tage, wie der heutige, Kurt's Todestag. Er überlebte meinen Bruder nur um wenige Jahre, er rieb sich auf in seinem Beruf, da er sich keine Erholung und Zerstreuung gönnte. Wir haben uns nur einmal wiedergesehen: beim Begräbniß meines Bruders. Er ging nachher eine Stunde lang an meiner Seite; wir sprachen wie zwei alte Leute, die wir eigentlich noch nicht waren, von unserer alten Liebe. Der Gedanke aber, daß wir ihrer noch froh werden könnten, blieb uns Beiden fern. Jeder hatte seine Lebensaufgabe, der er nicht mehr untreu werden konnte, und was wir einander waren, konnten wir uns auch in der Ferne bleiben. Ein verscherztes Jugendglück aber ist unwiederbringlich.
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