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(1905.)
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Die Stadt, in der sich zutrug, was ich erzählen will, war keine von den großen im Deutschen Reich. Sie hatte wenig mehr als dreißigtausend Einwohner, die aber in ihrem engumfriedeten Stillleben sich's wohler sein ließen, als manche Großstädter, und obgleich sie mit den Hauptverkehrsadern der großen Welt nur durch eine Zweigbahn verbunden waren, auf der sich wenige Fremde in die ziemlich reizlose Gegend verirrten, hielten sie dennoch so viel auf ihre Ehre und Würde, wie irgend eine berühmte und an der Spitze der Civilisation stehende Weltstadt. Noch vor fünfzig Jahren hatte die gräfliche Familie, mit der die Stadt den Namen gemein hatte, hier residiert, und nach ihrem Aussterben war das Bewußtsein, eine Art Hofhaltung in ihren Mauern beherbergt zu haben, in den Seelen der Bürger und zumal ihrer Frauen nicht erloschen. Auch die Erinnerung an die Rolle, die sie in früheren Kriegszeiten gespielt, wirkte erhebend fort, wenn sie auch nur in Mord und Brand, Contributionen und Plünderungen bestanden hatte. Ein alter, zur Ruhe gesetzter Archivar hielt diese Gefühle wach, indem er Abends am Honoratiorentisch allerlei Chronikenberichte zum Besten gab, in denen die historische Bedeutung »unserer« Stadt hervorleuchtete.
Das Zauberwort »unser«, das sofort die Herzen höher schlagen machte, wurde überhaupt reichlich oft ausgesprochen. »Unser« Krankenhaus, »unser« Gymnasium, »unser« Kindergarten, »unser« Stadtpark – ohne dieses selbstbewußte Beiwort wurde von diesen und anderen löblichen Instituten der Stadt nie gesprochen.
Seit zehn Jahren nun war zu den städtischen Besitztümern, die ein Gegenstand besonderen Stolzes der Einwohner waren, noch eins und zwar ein lebendes Wesen hinzugekommen: »unser« Herr Bürgermeister. Und zwar sehr bald, nachdem die einstimmige Wahl auf diesen verdienten Mann gefallen war.
Das war um so ehrenvoller, da der Betreffende kein Stadtkind, sondern in jüngeren Jahren nach glänzend absolviertem Staatsexamen als Referendar an das Amtsgericht gekommen war. Herr Leonhard R. – aus gewissen Gründen soll der volle Name verschwiegen bleiben – erwarb sich in kurzer Zeit bei Alt und Jung, Männlein und Weiblein die unbeschränkteste Hochachtung und das vollste Vertrauen, das sogar in Liebe überging, als er nach etlichen Jahren eine vortheilhafte Gelegenheit, in eine höhere, besser besoldete Stellung aufzurücken, ohne Bedenken ausschlug, nur um den Ort nicht verlassen zu müssen, wo ihm wohl geworden war und er einen freundlichen Wirkungskreis gefunden hatte.
Er war ein nach außen ernster und gelegentlich sogar schroffer Charakter, doch mit einem weichen Kern im Innern, der überall zu Tage trat, wo es zu helfen galt. Ein großer, schöner Mann, ohne eine Spur von Selbstgefälligkeit, doch trotz seines mäßigen Gehaltes freigebig und mit einem Hang zu herrschaftlicher Lebensführung. Im Übrigen ohne alle »noblen Passionen«, die in dem tugendhaften Städtchen verpönt waren, dagegen auch frei von jeder Neigung zum schöneren Geschlecht, das Einzige, was ihm von der weiblichen Hälfte der Bevölkerung zum Vorwurf gemacht wurde.
Nachdem er ungewöhnlich rasch in seiner amtlichen Stellung befördert worden und endlich an die leitende Stelle im Amtsgericht vorgerückt war, fing sein Herz doch endlich Feuer an den sanften blauen Augen eines liebenswürdigen Mädchens, der einzigen Tochter eines würdigen alten Paars, das ein Eckhaus am Markt bewohnte, seit Jahrhunderten dieser Familie gehörig. Der Vater hatte eine Ziegelei und Cementfabrik nahe bei der Stadt besessen, sich aber vor einigen Jahren vom Geschäft zurückgezogen. Die Tochter galt als das schönste Mädchen der Stadt und als unbestrittene Ballkönigin, der nothgedrungen auch »unser« Amtsrichter huldigen mußte. Aus diesen flüchtigen winterlichen Berührungen war dann eine ernstere Neigung auf beiden Seiten erblüht, und als um Ostern der stattliche Herr Leonhard das schöne Fräulein Jukunde heimführte, nahm die Stadt an der Verbindung so lebhaften Antheil, als wenn ein Ehrenbürger eine Ehrenjungfrau geheirathet hätte.
Bald darauf geschah die Wahl des jungen Ehemanns zum Bürgermeister. Daß er auch als solcher ge-unsert wurde, verdiente er vollauf. Denn er griff überall energisch ein, wo es die Abschaffung alter Mißbräuche und die Vervollkommnung und Verschönerung städtischer Anstalten galt. Unser Gymnasium nahm einen ungeahnten Aufschwung, da er einen Studienfreund, einen sehr tüchtigen Philologen, als Oberlehrer anstellte, unser altes Theater, ein seit dem Aufhören der Residenz ziemlich verwahrloster Bau, wurde renoviert und eine Schauspielertruppe einer nachbarlichen größeren Stadt zweimal im Jahr zu einem drei Wochen langen Gastspiel bewogen, vor Allem ward unser Stadtpark durch einen geschickten Gärtner in einen weit ansehnlicheren Flor gebracht und die kleine Heilquelle zu einem Trink- und Badeetablissement umgeschaffen, das sich sehen lassen konnte und Fremde mit mäßigen Heilansprüchen heranzulocken versprach.
Während aber so Alles, was »unser« Bürgermeister in die Hand nahm, von offenbarem Erfolg gekrönt wurde, gelang es ihm nicht, auch an sein Haus das Glück zu fesseln.
Seine junge Frau blieb seit der Geburt eines Kindes, das bald wieder starb, leidend und welkte trotz der sorgfältigsten Pflege sichtbar dahin. Da er an dem lieblichen Wesen mit wahrer Zärtlichkeit hing und wußte, daß er von Niemand in der Welt inniger geliebt wurde, als von ihr, die den Inbegriff aller Mannestugenden in ihm bewunderte, litt er schwer während der fünf Jahre, die sie noch an seiner Seite lebte, und ihr Verlust, obwohl er das Erlöschen des schwachen Lebensflämmchens als eine Wohlthat empfinden mußte, erschütterte ihn bis ins Mark.
Die Mittrauer der ganzen Stadt war um so lebhafter, da man allgemein die liebevolle Sanftmuth, mit der er die Kranke gehegt und gepflegt, ihm hoch angerechnet hatte. Auch dies hatte dazu beigetragen, die Verehrung, deren unser Bürgermeister genoß, zu einer Höhe zu steigern, daß die Verleihung eines Heiligenscheins nur als eine gebührende Decoration für sein Haupt erschienen wäre.
Am Weitesten trieb diese überschwängliche Vergötterung eine alte Magd, die schon als Kindermädchen die verstorbene junge Frau behütet hatte und nach ihrem Tode den alten Eltern und dem Wittwer treu zur Seite blieb. Sie mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, zehn Jahre älter als der Bürgermeister, den sie nicht anders als »mein« Herr Bürgermeister nannte. Als Tochter eines verabschiedeten Arbeiters in der Ziegelbrennerei war sie mit zwanzig Jahren ins Haus gekommen, eine stämmige junge Person von etwas derben und bäuerischen Manieren, die sich aber bald abschliffen, da in dem eckigen Kopf auf dem breiten Nacken ein kluger Sinn lebte, der Menschen und Verhältnisse scharf zu beurtheilen verstand. Zu der zarten, schönäugigen Tochter ihrer Herrschaft hatte sie eine zärtliche Liebe gefaßt, wie zu einem eigenen Kinde, und der Mutter ihres Pfleglings war sie blindlings mit einer Art Hundetreue ergeben. Die Frau hatte sich freilich ein Anrecht auf ihre Dankbarkeit erworben, das über das alltägliche Maß der Verpflichtung eines guten Dienstboten gegen eine gute Herrin hinausging.
Denn ehe die kleine Jukunde zur Welt gekommen war, verschwand eines Tages die junge Magd aus dem Hause. Ein herumstreunender Tabulettkrämer, schwarzlockig und mit ein paar Feueraugen, hatte das sonst so gescheidte und ehrbare Mädchen dermaßen zu bestricken verstanden, daß sie ihm, wie ein armes unerfahrenes Kind dem Rattenfänger, nachlief und für Jahr und Tag verschollen blieb.
Dann kam sie eines dunklen Abends in einem traurig verwahrlosten Zustande zurück, und als sie sich nicht zu ihrem Vater zurückgetraute, der gedroht hatte, sie todtzuschlagen, sank sie vor der Thür ihrer früheren Herrin nieder und wartete, bis diese heraustrat und über den regungslosen Leib der armen Verlorenen stolperte.
Sie hatte sich nicht verrechnet. Die treffliche Frau hob sie auf, sagte ihr kein böses Wort, gab ihr reinliche Kleider aus ihrem eigenen Vorrath und behielt sie im Hause, trotz des Murrens, mit dem ihr Ehegemahl die Abenteurerin auf die Landstraße zurückschicken wollte.
Das hatte die Reuige ihr wie eine Himmelsgnade gedankt, die nur mit der Dienstbarkeit eines ganzen Lebens zu vergelten sein könnte. Auch betrug sie sich nach diesem einen Fehltritt so musterhaft, daß bald auch das Gerede über sie in der Stadt verstummte und die biederen Hausfrauen sie ihren eigenen Mägden zum Muster aufstellten. Ja, es währte nicht lange, so wurde sie allgemein der »Hausgeist« jenes fabrikherrlichen Hauses genannt, da der Herr Pfarrer selbst ihr diesen Namen einmal aufgebracht hatte.
Ihr eigentlicher Name war Margret, oder vielmehr Margit, wie die kleine Jukunde sie umgetauft hatte, da die beiden r ihr beschwerlich waren.
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Beide Eltern hatten die geliebte Tochter nicht lange überlebt. Das Haus am Markt, das sie so lange bewohnt hatten, war nun für den einsam zurückgebliebenen Schwiegersohn viel zu groß geworden. Doch konnte er sich nicht entschließen, in eine andere Wohnung zu ziehen oder ein Stockwerk an Fremde zu vermiethen, und auch die Margit, der die Reinigung der vielen leeren Zimmer nicht wenig Arbeit machte, da sie eine heftige Feindschaft gegen den geringsten Staub hatte, wollte von einem Umzug nichts wissen. Der Gedanke, daß fremde Leute in diesen Räumen Fuß fassen könnten, die durch die Erinnerungen an ihre Wohlthäter und die treu beweinte junge Herrin geweiht waren, erschien ihr als ein gottssträflicher Frevel, in den sie nie gewilligt hätte. Sie wirtschaftete unermüdlich Trepp' auf, Trepp' ab, besorgte ganz allein die Küche und duldete neben sich nur eine niedere Magd, die für die gröbste Arbeit gedungen war, aber nicht im Hause schlief. Für den Herrn war noch der Amtsbote da, zu Besorgungen und Hausarbeiten, die über die Kräfte einer weiblichen Dienerin hinausgingen. Sonstige persönliche Dienste bei »ihrem« Herrn Bürgermeister ließ sie sich nicht nehmen.
Diese waren nur gering, da Herr Leonhard sehr bedürfnißlos war und in seinen eigenen Sachen selbst auf größte Ordnung sah. Er war, seit er die Frau verloren, noch mäßiger und anspruchsloser geworden, speiste immer zu Hause, wo er sich alle übermäßige Kocherei verbat, und ging nur Abends auf ein Stündchen in die Herrengesellschaft, die sich im »Rothen Löwen« zusammenfand. Um Neun aber war er regelmäßig wieder zu Hause und arbeitete bis in die späte Nacht hinein bei einer einsamen Tasse Thee, nachdem er seinem »Hausgeist« für allerlei Fragen und Besprechungen ein halbes Stündchen Gehör gegeben hatte.
Er behandelte sie dabei nicht wie eine Untergebene, sondern wie eine verständige gute Freundin, auf deren Urtheil er Werth legte. Nachdem er sich ein paarmal darauf ertappt hatte, sie mit Du anzureden, was sie ihm hoch aufnahm, bat sie ihn, damit fortzufahren, obwohl sie selbst an ihrer unterwürfigen Anrede in der dritten Person festhielt. Diese kurze abendliche Zwiesprach war ihre Hauptfreude für den ganzen Tag.
Nachdem aber das erste Trauerjahr verstrichen und im darauf folgenden das Leben ihres Herrn um Nichts heiterer geworden war, wagte sie einmal ihm zuzureden, daß er sich in seinen Kummer, den sie ja nur zu berechtigt fand und mit ihm theilte, nicht allzu tief vergraben möchte. Es sei gegen die Natur, daß ein Mann in seinen Jahren – er war im Anfang der Vierziger – wie ein Klosterbruder leben und nur eine Geschäftsmiene aufsetzen sollte. Er solle doch an den Abendgesellschaften in befreundeten Häusern wieder Theil nehmen, auch die Casinobälle besuchen, wenn auch natürlich nur als Zuschauer; seine liebe Selige werde es ihm nicht verdenken, da er ja darum das Andenken an sie nicht aus dem Herzen verliere.
Herr Leonhard schüttelte bei solchen halb mütterlichen Ermahnungen des Hausgeistes still den Kopf und erwiderte nur, er finde keinen Gefallen daran, ihm sei am wohlsten, wenn er für sich bleibe und seinen vielen städtischen Aufgaben, statt in dem unruhigen Rathhause, in seinem häuslichen Arbeitszimmer sich widmen könne.
Die Margit hörte solche Reden mit gerunzelter Stirn, in die ihr das strohgelbe, schon etwas ergrauende Haar hineinhing, unwillig an und sann hin und her, wie sie den angebeteten Herrn auf andere Gedanken bringen könne.
Als es ins dritte Jahr so fortgegangen war, fing sie sogar an zu erwägen, ob nicht ein Radicalmittel allein helfen möchte, der Einzug einer zweiten jungen Herrin in das verödete Haus, in welchem die verehrten Schatten nachgerade lange genug allein gespukt hatten. So sehr sie die arme Verklärte noch jetzt im Herzen trug, – der Wittwer, und was zu seinem Glücke dienen konnte, lag ihr noch dringender auf der Seele. So begann sie Umschau zu halten unter den mannbaren Töchtern der Stadt, die in Betracht kommen konnten, und da sie mit ihrem klaren Blick, so wenig sie mit den Einzelnen zu theilen hatte, gleichwohl die Tugenden und Mängel einer Jeden durchschaute, auch die Verhältnisse der betreffenden Sippen und Magen kannte, so kamen endlich nur zwei oder drei auf die engere Wahl, die sorgfältiger zu prüfen sie sich sehr geschickt die Gelegenheit zu verschaffen wußte.
Sie wurde dabei natürlich von den verschiedenen Müttern redlich unterstützt. Denn daß »unser« Herr Bürgermeister, seit er ledig herumging, das Ziel sehr ernstlicher Müttersorgen und auch ihrer wohlerzogenen Töchter war, ist leicht zu begreifen. Es fehlte sogar nicht an mehr oder minder eifrigen Bemühungen, die alte Margit sich zu diesem Geschäft geneigt zu machen. Man wußte nicht, was man ihr alles Liebes und Gutes anthun sollte, ihre Gunst zu erlangen. Der Hausgeist aber war all solcher verlorenen Liebesmüh' unzugänglich. Es handelte sich ihm nicht darum, sich einen mehr oder weniger kostbaren Kuppelpelz zu verdienen, sondern ihrem Herrn Bürgermeister wieder zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen, nachdem er nun vier ganze Jahre wie ein mürrischer Schuhu in seinem Neste gesessen hatte.
Da durch die Margit nichts zu erreichen war, steckten sich die guten Mütter hinter ihre Ehemänner und trieben sie an, den eigensinnigen Hagestolz mit offenem oder umwundenem freundschaftlichem Zureden seiner Einsiedlerschaft abtrünnig zu machen. Auch die Männer aber hatten, so munter beim Abendtrunk sie es anfingen, keinen Erfolg damit. Der Herr Bürgermeister zuckte nur die Achseln, schüttelte die schönsten Vernunftgründe für eine zweite Ehe gleichmüthig und höchstens mit einem Seufzer, den man verschieden deuten konnte, von sich ab und verließ nur etwas früher als sonst das Local unter dem Vorwand dringender Arbeiten.
So gab man endlich von allen Seiten die Bemühungen, ihm zu seinem Glück zu verhelfen, auf, und diese Treue über das Grab hinaus erhöhte nur noch die Verehrung, freilich mit dem Nebengefühl der Frauen und Töchter, daß man sich auch durch das Übermaß einer Tugend versündigen könne.
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So war der fünfte Sommer seit dem Tode der jungen Frau herangekommen und Alles beim Alten geblieben.
Verschiedenen Versuchungen, eine besser besoldete Stellung in einer größeren Stadt anzunehmen, hatte Herr Leonhard stets widerstanden. Er sei zu fest eingewurzelt in diesem Boden und könne, was er zur Verschönerung und Sanierung der Stadt unternommen, nicht unvollendet zurücklassen. Nach der letzten Ablehnung eines sehr glänzenden Antrags war ihm ein Fackelzug gebracht worden, bei dem eine Deputation mit einer feierlichen Ansprache ihm etwas Silbernes überreicht hatte, das eine Bürgerkrone vorstellte. Die Rührung war allgemein gewesen. Der vor Stolz und Freude völlig aus dem Häuschen gerathene »Hausgeist« hatte zum ersten Mal das Nachtessen anbrennen lassen.
Einige Tage darauf meldete sich in der Amtsstube des Rathhauses ein Mann, der sich als Director eines Variététheaters vorstellte und um die Concession einkam, mit seiner »Künstlertruppe« eine Reihe von Vorstellungen im Stadttheater zu geben.
Da das Haus zufällig frei war, die Wandergesellschaft die günstigsten Zeugnisse über ihre Leistungen aufzuweisen hatte und die übrigen Väter der Stadt bereitwillig zustimmten, ertheilte der Bürgermeister die Erlaubniß zu zehn Vorstellungen, doch erst, nachdem er das Programm sorgfältig geprüft und den Director zur größten Decenz bei allen Productionen verpflichtet hatte. Das Theater war zu ähnlichen Schaustellungen bisher nie benutzt worden und hatte, obwohl vorwiegend kleine Lustspiele und Gesangspossen zur Aufführung kamen, gleichwohl seine alte Würde als fürstliches Hoftheater zu wahren gewußt. Deßhalb strich der Bürgermeister einige Nummern, die einen Jahrmarkts- und Gaukleranstrich zu haben schienen, so die Exercitien eines Meerschweinchenpaares und eines mit einer Katze zusammen dressierten Pudels, vielleicht eingedenk des großen Weimarer Theaterdirectors, der seine Stelle aufgegeben hatte, um auf den Brettern, die die Welt bedeuten, keinen Hund dulden zu müssen.
Die Artistengesellschaft, die ihr Gastspiel in der kleineren Stadt nur als ein Sommervergnügen betrachtete und im Übrigen gewohnt war, vor einem anspruchsvolleren Publikum aufzutreten, hielt ihren Einzug nicht in der prahlerischen Weise armseliger Wandertruppen, sondern geräuschlos im Omnibus der beiden ersten Hotels, wo sie sich sehr anständig hielten und, wenn sie über Tag ausgingen, wie andere Vergnügungsreisende auftraten. Zwei oder drei Ehepaare waren darunter und einige Kinder. Eine besonders reizende junge Frau führte ein bildschönes, etwa vierjähriges Knäbchen an der Hand und erwiderte mit einem ziemlich kühlen Kopfnicken die Grüße, mit denen junge Commis und Primaner – sie wußten selbst nicht, wie sie dazu kamen – ehrerbietig an ihr vorübergingen. Die Stadt schien Allen sehr zu gefallen. Nur der Besitzer der Meerschweinchen und des Pudels saß schmollend in einer Kammer neben dem Pferdestall und schimpfte über den geringen Kunstsinn dieser Spießbürger, die ihn nicht zu sehen wünschten.
Der Bürgermeister war am Tage der ersten Vorstellung nicht sonderlich dazu gestimmt, ihr beizuwohnen. Es war ein Erinnerungstag aus seiner kurzen glücklichen Ehezeit, dazu regte sich in ihm eine stille Abneigung gegen das ganze Gauklerwesen und eine Art Vorgefühl, das er sich nicht klar zu machen wußte. Zuletzt hielt er es doch für seine Pflicht, als Vater der Stadt sich zu überzeugen, daß seinen großen Kindern keine schädliche Kost geboten würde, und begab sich, da die Productionen schon im Gange waren, in die kleine Prosceniumsloge, in der zu ihrer Zeit die fürstlichen Herrschaften den Vorstellungen beigewohnt hatten.
Das zierliche kleine Haus in einer Art Rococostil war bis auf den letzten Platz gefüllt, das Publikum schien von dem seltenen Genusse auf's Höchste befriedigt, da es selbst die erste Nummer, die Herr Leonhard versäumt hatte, lebhaft beklatschte, obwohl es eine Chansonnettensängerin mit einer ausgedienten Stimme war, die allerlei sentimentale sogenannte Volkslieder zum Besten gab. Ihr folgte ein »echtes« schottisches Hochländerpaar, das in der Nationaltracht ein paar volkstümliche Tänze aufführte, zum Klang eines echten Pibroch, den ein dritter Schotte ertönen ließ. Ein Ehepaar in glänzenden, mit Metallschuppen besetzten Tricots ließ dann erstaunlich kühne equilibristische Kunststücke sehen, deren schwungvolle Schönheit selbst die prüdesten Mütter junger Töchter mit dem herausfordernden Kostüm des Künstlerpaares versöhnte.
Hierauf erschien ein »japanischer« Jongleur, der eine halbe Stunde lang die Zuschauer mit seinen Künsten in Athem hielt. Dazu spielte das Stadtorchester, Erfrischungen wurden herumgetragen, es fehlte nichts, das Publikum in die beste Laune zu versetzen.
Nur von dem Bürgermeister wollte bei all den heiteren Schaustellungen die schwere Stimmung nicht weichen, in der er das Theater betreten hatte. Er dachte daran, daß er an demselben Tage vor so und so viel Jahren auf der Hochzeitsreise mit seiner jungen Frau »Figaro's Hochzeit« gehört hatte, und verglich damit seinen jetzigen Zustand, wo er sich an schalen Gauklerkünsten ergötzen sollte. Schon war er im Begriff, die Loge wieder zu verlassen und sich in sein stilles Arbeitszimmer zu flüchten, als das Orchester eine neue Introduction anstimmte und auf der Bühne eine reizende junge Frau erschien in einem nicht allzu theatralischen, bescheiden decolletirten Anzuge, in dem aschblonden Haar eine einzige Rose.
Sie trat, eine Musikrolle in der Hand, mit sicherer Haltung bis an die Rampe vor und verneigte sich herablassend gegen das Publikum. Einer ihrer ruhig funkelnden Blicke fiel in die Prosceniumsloge, wo Herr Leonhard sich eben erhoben hatte, um fortzugehen. Es war ihm plötzlich unmöglich, einen Fuß zu rühren. Vielmehr sank er, wie einem Zwange gehorchend, in den Sessel zurück und betrachtete mit gespanntem Blick die Sängerin auf der Bühne.
Sie war nicht mehr in der ersten Jugend, ihre schlanke Gestalt voll ausgereift, das Gesicht nichts weniger als regelmäßig schön, aber von einem seltsamen Reiz, der noch erhöht wurde durch einen Ausdruck von stolzer Gleichgültigkeit, wie er fahrenden Fräulein und Mitgliedern reisender Gesellschaften, die sich in lächelnden Grimassen gefallen, völlig unbekannt zu sein pflegt. Herr Leonhard saß der Bühne nahe genug, um zu erkennen, daß sie auch alle üblichen Verschönerungsmittel, weiße und rothe Schminke und den schwarzen Stift um die Augen, verschmäht hatte. Ein Hauch von wilder Frische ging von ihr aus, als wäre sie aus einem vornehmen Hause zufällig als eine andere Preciosa unter das Artistenvölkchen gerathen und spielte nur aus einer tollen Laune eine Weile mit.
Sie hätte sich auch mit ihrem Gesang in jedem Salon hören lassen können. Daß sie eine Französin war, verrieth schon ihr Name: Madame Landrinette, der auf dem Zettel stand und den die echte Aussprache der französischen Texte bestätigte. Graziöse kleine Liedchen waren es, die sie mit einer nicht großen, aber gut gebildeten Mezzosopranstimme vortrug, mit einem meist schalkhaften, zuweilen frivolen Inhalt, der in der Übersetzung auf dem Programm seine Anmuth leider verloren hatte, doch nicht so weit ging, die Gemüther der Zuhörerinnen zu beleidigen. Nur zuweilen, wenn eine besonders muthwillige Pointe im Refrain wiederkehrte, lief ein witziges Lächeln über den rothen, nicht eben kleinen Mund der Sängerin, während die großen schwarzen Augen ernsthaft blieben.
Ihr Vortrag wurde vom Director selbst am Klavier begleitet. Sie sang vier oder fünf Liedchen, und als der nicht enden wollende Applaus sie wieder hervorrief, gab sie noch ein bekanntes deutsches Lied zum Besten, wobei ihre drollige Aussprache das Publikum vollends in das hellste Entzücken versetzte.
Man war einig darüber, daß der Gesang der Madame Landrinette der Glanzpunkt der heutigen Vorstellung gewesen sei. Den Töchtern, die sie heimlich beneideten, that es wohl, ihre Kenntniß des Französischen zu zeigen, indem sie zuhörten, ohne auf die Übersetzung zu blicken. Die Männer waren ohne Ausnahme in Ekstase. Vor Allem that sich ein Herr Feigenbaum durch wütendes Applaudieren hervor, der Bankier der Stadt, ein Mann nicht über vierzig Jahre, doch mit ganz kahlem Haupt. Neben ihm saß in der ersten Reihe des Parkets ein junger Offizier, Leutnant eines Gardedragoner-Regiments, der zum Besuch von Verwandten Urlaub genommen und bisher sich in der etwas philisterhaften Gesellschaft unverhohlen gelangweilt hatte. Er ging in der Pause eilig fort und kehrte mit einem großen Blumenstrauß zurück, den er der genialen »Diseuse«, wie er sie nannte, bei ihrem zweiten Auftreten zuwerfen wollte.
Denn allerdings stand ihr Name noch einmal auf dem Zettel, am Schluß des Abends, in einer »Pantomime: Venus und Amor«, auf die alle Zuschauer so ungeduldig gespannt waren, daß die zwei Nummern, die noch dazwischenlagen, keine sonderliche Aufmerksamkeit erregen konnten.
Als dann endlich der Director wieder heraustrat und sich an das Klavier setzte, um die Pantomime zu accompagnieren, ging eine athemlose Stille durch das ganze Haus, und alle Operngläser richteten sich wie auf Commando nach der Coulisse, aus der die beiden mythologischen Figuren hervorschweben sollten.
Nun kam Madame Landrinette freilich nicht, wie man es von einer Göttin hätte erwarten können, auf einem von Tauben gezogenen Wolkenwagen auf die Scene geflogen, aber die Art, wie sie aus dem Buschwerk hereingelaufen kam, ihr Bübchen huckepack tragend, mit einem Lachen, bei dem die glänzendsten Zähne sichtbar wurden, war viel entzückender, als ein Erscheinen auf der schönsten Flugmaschine gewesen wäre.
Sie schien eine ganz andere Person geworden zu sein, nichts erinnerte an die blasierte Sängerin der frivolen Chansons, Alles an ihr war sprühendes, muthwilliges, bacchantisches Leben. Statt der Concerttoilette trug sie ein veilchenblaues Röckchen aus leichtestem Stoff, das ihre kleinen Füße bis über die Knöchel hinauf frei ließ, oben den weißen, blühenden Hals und die schönen, blassen Arme entblößt, im Haar einen Kranz von kleinen Rosen mit einem goldenen Bande festgehalten. Das Bübchen steckte bis auf einen goldigen Shawl, der leicht um die Hüften geschlungen war, ganz in rosafarbenem Tricot, hatte einen Veilchenkranz auf dem Lockenkopf, und ein goldener Köcher und blanker Flitzbogen, die bei jedem Sprunge klirrten, hing ihm über dem Schulterchen herab.
Ein Ah! der lebhaftesten Bewunderung lief durch die Reihen der Zuschauer, als die reizende Gruppe hereinflog, und der dicke Bankier und der ritterliche Leutnant in der vordersten Reihe gaben durch lautes Klatschen das Signal zu einem begeisterten Empfang. Frau Venus aber, ohne mit dem üblichen koketten Verneigen sich zu bedanken, rannte ein paarmal mit dem Kleinen um die Bühne und hob ihn dann mit einem tollen Schwung von ihrem Nacken herab. Dann begann sie mit ihm einen überaus anmuthigen Tanz, ihn bald an den Händchen fassend und herumwirbelnd, bald ihn frei umkreisend und plötzlich wieder aufhebend, wozu ihr Begleiter sehr geschickt in wechselndem Rhythmus ihren Tanzfiguren folgte. Endlich stellte sie sich ermüdet und warf sich auf eine weichgepolsterte Rasenbank, das Knäbchen an sich ziehend, wie eine Mutter, die sich mit ihrem Kleinen zum nächtlichen Schlummer hinstreckt.
So reizend aber die schlafende Liebesgöttin bei der sanften Musik sich ausnahm, daß selbst die eifersüchtigen Frauen gestehen mußten, man könne nicht verführerischer und zugleich anständiger zu Bette liegen, auch die bewundernden Männer wünschten endlich, daß die Schläferin sich wieder regen möchte. Dieser Meinung schien auch der kleine Amor zu sein. Er schlug die Augen auf, betrachtete die schöne Mama und fing an, sie an den Haaren zu zupfen, ihr Gesicht zu streicheln und an ihrem goldenen Gürtel zu ziehen. Frau Venus wandte sich erst unwillig auf die andere Seite und suchte weiterzuschlafen. Als der Kleine aber nicht nachließ, richtete sie sich auf, ergriff ihn und legte ihn mit einem zornigen Blick über ihr Knie, wobei sie ihm mit der flachen Hand ein paar Schläge auf sein rundes Körperchen gab. Sogleich fing der gut dressierte kleine Komödiant jämmerlich zu weinen an und beruhigte sich erst wieder, als die Mutter ihn an ihr Herz zog und sein Gesichtchen mit Küssen bedeckte.
Das war so allerliebst anzusehen, daß ein großer Applaus losbrach. Der Leutnant ließ sich zu dem lauten Ausruf hinreißen: »Ein beneidenswerthes Kind!« Frau Venus aber fing nun an, den Kleinen in die Lehre zu nehmen. Sie zog einen der goldenen Pfeile aus dem Köcher und zeigte ihm, wie er den Bogen zu spannen und den Pfeil abzudrücken hätte. Die ersten Male mißlang es. Dann aber schwirrte das buntbefiederte Geschoß hoch in die Coulisse, worauf der kleine Schütz in ein jubelndes Lachen ausbrach und ausgelassen herumsprang.
Sodann nahm er selbst einen zweiten Pfeil heraus und sah sich mit einer spitzbübischen Miene im Zuschauerraum nach einem Ziel um. Der Kahlkopf des Herrn Feigenbaum schien ihn zu reizen, die Mutter aber wehrte ihm ab, als er darauf anlegte. Dann lockte ihn die blanke Uniform des Leutnants. Auch auf diesen zu schießen verbot ihm die Mutter. Sie hatte in der vornehmsten Loge den Herrn Bürgermeister entdeckt, kniete nun neben dem Kleinen nieder und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Sogleich verstand er, was sie wollte, zielte mit einem muthwilligen Lachen auf den großen Herrn dort und schnellte den Pfeil so kräftig ab, daß er bis an die Brüstung der Loge flog und dicht davor ins Orchester niederfiel.
Dies Schauspiel erregte die allgemeinste Heiterkeit und einen Beifall, der nicht aufhören wollte, auch als Mutter und Kind, letzteres mit einigen Handküssen, die es ins Publikum warf, sich eilig zurückgezogen hatten. Man wollte sie durchaus noch einmal sehen, sie folgte aber den stürmischen Hervorrufen nicht, statt ihrer erschien der Director vor den Lampen und dankte in ihrem Namen: Madame Landrinette lasse sich entschuldigen, sie sei gewohnt, gleich nach der Vorstellung ihrem Söhnchen seine Milch zu geben und es zu Bett zu bringen.
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Dieser Beweis zärtlicher Mutterliebe eroberte der schönen Künstlerin vollends alle Herzen. Das Publikum verließ hochbefriedigt das Haus, und der Name Landrinette war in Aller Munde. Alle übrigen Mitglieder der Truppe traten gegen sie in Schatten.
Auch in dem Herrenclub, der sich auch heute wieder im Goldenen Löwen versammelte, wurde natürlich von nichts Anderem gesprochen. Der alte Sanitätsrath verbreitete sich sachkundig über den wundervollen Wuchs der Künstlerin, ein Porträtmaler, der Einzige seines Zeichens, der seit Jahren in der Stadt seine Kunst betrieb, verglich sie mit berühmten Venusbildern und stellte sie in die Mitte zwischen Tizian's und Rubens' Phantasiegestalten, Herr Feigenbaum erging sich in Erinnerungen an vielgenannte »Sterne« der Pariser Folies bergères und des Berliner Wintergartens, deren näherer Bekanntschaft er sich mit vielsagendem Schmunzeln rühmte, und in einer Pause des lebhaften Gespräches hörte man zu allgemeiner Erheiterung den Dragonerleutnant ganz trocken äußern: Sie ist doch ein Racker!
Hiermit antwortete er auf die Behauptung einiger braver alter Herren, die sich dafür verbürgen wollten, diese Venus sei eine durchaus tugendhafte Frau, ihr bacchantisches Herumtollen gehöre ebenso wie das sehr weitherzige Kostüm zu ihrer Rolle, und ihr wahrer Character komme bei dem unschuldigen Theile ihres Liedervortrages zu Tage. Diese züchtige Haltung erlaubte sich der junge Herr als studierte Koketterie auszulegen, worüber dann ein heftiger Streit entbrannte. Zuletzt wurde der Bürgermeister, der sich stumm verhalten und bei seinem Schoppen Wein in eine Zeitung vertieft hatte, um seine Meinung befragt.
Seine ernste Gegenwart pflegte auch sonst der Gesellschaft einen gewissen Zwang aufzuerlegen. Schlüpfrige Anekdoten und frivoler Klatsch wagten sich nicht hervor, so lange er zugegen war, man wartete damit, bis er gewohnheitsmäßig um neun Uhr das Local verließ. Heute war es des Theaters wegen später geworden. So sah er denn nach der Uhr, trank sein Glas aus und sagte nur, indem er aufstand: Ich bin in solchen Fragen nicht competent, da ich keine Tingeltangel-Erfahrungen gesammelt habe. Jedenfalls scheint es mir nicht erlaubt, eine schöne Frau, bloß weil sie öffentlich auftritt, für liederlich zu halten, zumal wenn sie sich als eine gute Mutter zeigt. Ich wünsche den geehrten Herren eine gute Nacht.
Damit nahm er seinen Hut und ging.
Sobald er hinaus war, erklärte der Leutnant, gleichsam um sich bei den Vertheidigern der französischen Hexe zu rechtfertigen, er habe das Wort »Racker« nur in dem Sinne gebraucht, daß sie temperamentvoll sei und sozusagen den Teufel im Leibe habe. Übrigens scheine der Herr Bürgermeister doch eine Wunde davongetragen zu haben, obwohl der Pfeil des kleinen Schützen an der Logenbrüstung abgeprallt sei.
Das wurde nun einstimmig bestritten, da man das asketische Leben des Stadtoberhauptes zu genau kenne, um ihn einer solchen Schwäche fähig zu halten.
Der Leutnant schwieg und dachte sich sein Theil. Er ahnte freilich nicht, wie nah' seine leichtsinnige Vermuthung die Wahrheit getroffen hatte.
Denn in der seltsamsten Verwirrung aller Sinne und Gedanken hatte Herr Leonhard das Theater verlassen.
In seinem weltfremden, arbeitsamen Leben hatten Schönheit und Frauengunst bisher keine Rolle gespielt. Auch an seiner Liebe zu dem anmuthigen Wesen, das seine Frau wurde, hatte der Zauber der Sinne nur einen bescheidenen Antheil gehabt. Nachdem er sie verloren, war er ihrem Andenken treu geblieben, ohne daß er sich's ausdrücklich gelobt oder gar zum Verdienst angerechnet hätte. Leise und unvermerkt war der Actenstaub ihm auf die Seele gefallen und hatte die zarteren Gefühle mehr und mehr erstickt. Nun war durch den heißen Sturm sinnlicher Aufregung, der heute Abend durch die Scene fuhr und die reizende Gestalt der Gauklerin herumwirbelte, jener Staub plötzlich weggeblasen worden, so daß dies noch nicht verdorrte Mannesherz nackt und wehrlos dalag und von dem Flammenblick der schwarzen Augen leicht in Brand gesteckt werden konnte.
Es war das so schmerzlos, so ungeahnt geschehen, daß der Getroffene sich des Ereignisses kaum bewußt geworden war. Er ging nur wie in einem helldunklen Traum, immer das zauberhafte Bild vor Augen, hörte die leise melodische Stimme und sah in dem üppigen Munde die weißen Zähne blinken, ohne sich klar darüber zu werden, daß die Wirkung von einem lebenden Wesen in Fleisch und Blut ausging. Seiner reinen Natur war es unmöglich, zu glauben, daß eine solche Macht von einem niedrigen Geschöpf ausgeübt werden könne. Die Reden der Herren über sie hatten ihn kaum berührt, und nur wie man einen abstracten Grundsatz ausspricht, hatte er für die Tugend der Verdächtigten Partei ergriffen.
Jetzt, da er in der dunklen Nacht mit seinem erschütterten Gemüth allein war, durchströmte ihn ein Wonnegefühl wie nach einem vollendeten Kunstgenuß. Er konnte sogar, ohne zu erröthen, an jene längst verschollene Vorstellung der Oper Mozart's zurückdenken und versuchen, zwischen ihr und dem heutigen Erlebniß einen Vergleich anzustellen. Doch nicht bloß die Erinnerung an jene göttliche Musik verblaßte gegen den Eindruck der leichtgeschürzten französischen Liedchen, auch das Bild der geliebten jungen Frau trat in den Schatten, sobald er sich der Gestalt der Fremden und jeder ihrer geschmeidigen Bewegungen entsann.
Der Kopf glühte ihm, und sein Herz klopfte heftig, so daß er noch eine Stunde fieberhaft durch die stillen Straßen schritt, ehe er den Muth fand, nach Hause zu gehen und sich den sorglichen Blicken seines Hausgeistes auszusetzen.
Die Margit hatte gewußt, daß ihr Herr später als sonst aus dem Theater heimkehren würde. Sein seltsam unstäter Blick aber fiel ihr auf, und sie erlaubte sich zu fragen, ob ihm nicht wohl sei. – Sehr wohl! – Wie ihm das Schauspiel gefallen habe? – Es sei recht hübsch gewesen. – So einsilbig antwortete er ihr sonst nie. Auch rührte er die kalte Küche, die sie ihm bereit gestellt hatte, nicht an, stürzte nur ein Glas Wasser hastig hinunter und sagte, er sei müde und wolle gleich zu Bett gehen.
So ging er in sein Zimmer, brachte es aber nicht über sich, sogleich sich schlafen zu legen, sondern wanderte in aufgeregtem, gedankenlosem Brüten bis lange nach Mitternacht auf und ab, um auch dann nur einen unruhigen Schlaf zu finden.
Der Hausgeist aber behorchte all seine Tritte mit bekümmertem Herzen. Irgend etwas mußte geschehen sein, was ihrem angebeteten Herrn so heftig zu schaffen machte, daß ihn selbst sein bewährter Kinderschlaf im Stiche ließ. Sie beschloß, nicht zu ruhen, bis sie dem Räthsel auf die Spur gekommen wäre.
*
In Margit's derbem, vierschrötigem Kopfe wohnte, wie gesagt, ein feiner Geist.
Sie war ohne andere Bildung, als die sie aus der Volksschule mitgebracht, in den Dienst getreten. Aber in dem langen, vertrauten Verkehr mit ihrer Herrschaft hatte sie Manches gelernt, und seitdem ihr thörichtes Herz einmal mit dem klugen Kopf durchgegangen war, hatte sie's immer auf dem rechten Fleck gehabt und Menschen und Verhältnisse mit hellen Augen zu beurtheilen verstanden.
Sie las fast nichts als einen Hausfrauenkalender und eine alte Bibel, sprach aber ein richtiges Deutsch mit einem leisen Anklang an die Volksmundart, und selbst die gebildeten Damen der Nachbarschaft, die sie oft in Haushaltungssachen befragten, unterhielten sich gern mit ihr, da ihr trockener Humor sie belustigte. Bei ihrer stillen, gleichmäßigen Heiterkeit war es sonderbar, daß sie die Lustspiele, die vorzugsweise im Theater zur Aufführung kamen, nicht liebte, dagegen in ernsten Stücken mit dem andächtigsten Interesse bis zum Schluß aushielt, auch wenn dadurch das Abendessen ihrer Herrschaft gelegentlich verspätet wurde.
Da sie sich nun daran erinnerte, daß sie einmal nach einer Aufführung von »Kabale und Liebe« die ganze Nacht keinen Schlaf gefunden hatte, wäre ihr das nächtliche ruhelose Herumwandern ihres Herrn Bürgermeisters sehr begreiflich erschienen, wenn sich's bei dem Début der fahrenden Leute um etwas Tragisches oder Leidenschaftliches gehandelt hätte. Das konnte aber nicht der Fall sein, da sie den Zettel studiert und sich von einer Nachbarin hatte erklären lassen, was eine Pantomime sei. Von Venus und Amor hatte sie nur eine dunkle Vorstellung. Aber die Gemüsefrau, bei der sie am Morgen eingekauft, und die von allen Neuigkeiten der Stadt Bescheid wußte, hatte ihr erzählt, daß sich unter der Komödiantentruppe ein paar sehr schöne Frauenzimmer befänden. Das gab ihr zu denken, trotz der Gleichgültigkeit ihres Herrn gegen das schöne Geschlecht.
Um nun der Sache auf den Grund zu kommen, kaufte sie sich am nächsten Abend ein Galleriebillet, der Loge gegenüber, in der das Stadtoberhaupt freien Eintritt hatte. Schon das war ihr auffallend, daß der gestrenge Herr Bürgermeister, der sich nur aus Amtspflicht ein einziges Mal unter der Volksmenge blicken ließ, wenn Kunstreiter oder Luftspringer zu Pfingsten auf der Festwiese ihr Wesen trieben, heute schon wieder der Vorstellung beiwohnte, die sie für nicht viel Besseres hielt, als jene freien Künste.
Er schien auch in der That eher gelangweilt als ergötzt zuzuschauen und während der ersten Nummern oft theilnahmlos in sich zu versinken. Seine Haltung änderte sich aber auffallend, sobald die Französin die Bühne betrat und ihre Lieder zu trällern anfing. Das Opernglas, das bei der Nähe der Loge kaum nöthig schien, kam nicht von seinen Augen, und als Madame Landrinette geendet hatte, stand er auf und klatschte so begeistert, daß sogar vom Parket aus viele Blicke sich nach ihm richteten, da man »unseren Bürgermeister« bisher nicht als Musikenthusiasten gekannt hatte.
Auf Margit dagegen hatte der Gesang sowohl wie die Sängerin nur einen mäßigen Eindruck gemacht. Für die französische Grazie fehlte ihr das Verständniß, und die geputzte Dame mit dem Stumpfnäschen und dem üppigen Munde erregte der ehrlichen Seele sogar einen Widerwillen. Was ihr Herr daran finde, konnte sie sich nicht erklären.
Ein wenig besser verstand sie es, als zum Schluß die Sängerin mit ihrem Kleinen in der Pantomime auftrat, in der sie wieder den ganzen Reiz ihrer Gestalt und ihres Mienenspiels in der sehr losen Toilette entfalten konnte.
Es war nicht die gestrige mythologische Scene, sondern ein kleines, nicht gerade geistreiches Märchenspiel, bei dem das Knäbchen als ein armes, im Walde verirrtes Waisenkind, seine Mutter zunächst als Waldfrau in einem schwarzen Mantel und einer Greisenmaske erschien. Nach allerhand rührenden kleinen Auftritten warf die Hexe ihre dunkle Hülle ab und stand in einem funkelbunten Gewande mit bloßem Halse und schneeweißen Armen als gütige Fee da, die dem Kinde ebenfalls ein blankes Kleid anzauberte und nun wieder allerlei neckische Spiele und Tänze mit ihm aufführte.
Diesmal begriff die alte Getreue oben auf der Gallerie, daß ein stattlicher Mann in den besten Jahren in helles Feuer gerathen und gleichfalls eine Art Verzauberung erleiden konnte.
Sie schlich sich nach dem Ende der Vorstellung in tief bekümmerter Stimmung nach Hause, ohne auf das Geschwätz einer guten Freundin, die sich auf dem Heimwege ihr anschloß, anders als mit dumpfen Naturlauten zu antworten. Es war ihr mit Schrecken in die Erinnerung gekommen, daß sie ja selbst eine ähnliche Behexung erlebt hatte, als ihr Tabuletkrämer sie mit seinen unheimlich schwarzen Augen von ihrer Pflicht weggelockt hatte. Freilich war sie damals ein unerfahrenes, dummes Ding gewesen, und ihr Herr Bürgermeister war ein reifer Mann und obendrein ein Heiliger. Aber vielleicht gerade darum –! Nach langem Fasten pflegt jeder Wein, und wenn es keiner von den edelsten wäre, unbegreiflich schnell zu Kopfe zu steigen und ins Blut zu gehen.
Sie wartete trübselig auf das Nachhausekommen ihres Herrn, den ein so schweres Unheil betroffen hatte. Er vermied heute die Gesellschaft im »Löwen«, verspätete sich aber doch ein wenig.
Er hatte der Versuchung nicht widerstehen können, da aus seiner Loge ein schmales Seitenthürchen direct auf die Bühne führte, sobald die Vorstellung zu Ende war, sich dort hinaus zu stehlen und der Künstlerin, ehe sie mit dem Kleinen verschwand, sich vorzustellen. Er sagte ihr in größter Verwirrung einige Complimente über ihr reizendes Spiel, küßte ihr die Hand und dem Knaben die blanken Augen und fragte sie, bei wem sie ihr Talent ausgebildet habe. Da er kein sehr flüssiges Französisch sprach, sie aber nur ein gebrochenes Deutsch, kam die Unterhaltung nicht recht in Gang. Die kluge Frau verstand aber sehr gut, daß sie eine glorreiche Eroberung gemacht habe, spielte die bescheidene Künstlerin und zärtliche Mutter und liebkoste geflissentlich den Kleinen, um ihren hochmögenden Verehrer neidisch zu machen. Der Director kam dazu, Herr Leonhard fragte, ob das Gastspiel nicht verlängert werden könne, und beklagte lebhaft, daß ein fester Contract nach den zehn Abenden die Gesellschaft zur Abreise verpflichtete.
Mit einem vielsagenden dankbaren Blick verabschiedete sich Madame Landrinette, und Herr Leonhard ging, noch unwiderstehlicher von ihr berückt, nach Hause.
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Er begrüßte seine alte Dienerin nur mit einem stillen Kopfnicken und wechselte auch, während sie ihm sein frugales Abendessen auftrug, kein Wort mit ihr, da er sonst zu dieser Stunde gewohnt gewesen war, die kleinen Vorfälle des Tages mit ihr zu besprechen. Das bestätigte sie in ihrem Verdacht. Sie hütete sich aber, ihrerseits vom Theater anzufangen, und hatte ihm auch verschwiegen, daß sie vorgehabt, selbst hinzugehen. Daß die darauf folgende Nacht für die Beiden ebenso unruhigen Schlaf brachte wie die vergangene, kann Niemand wundernehmen.
Nun gewährte ihnen aber auch der andere Tag keine sonderliche Beruhigung. Alle Anschläge, die der klugen Alten durch den Kopf gingen, wie sie ihren armen Herrn aus dem Netz der gefährlichen Hexe retten könnte, erwiesen sich bei näherer Überlegung als unpraktisch. Und doch war es ihr unfaßbar, daß sie die Hände in den Schooß legen und das Verderben seinen Gang gehen lassen sollte. Der Aufenthalt der Truppe war freilich auf eine gemessene Zeit beschränkt. Doch was konnte sich in diesen acht Tagen Alles ereignen! Wenn die Bethörung des sonst so rechtschaffenen Mannes sich dermaßen steigerte, daß er dem gleißenden Irrlicht nachlief und Amt und Würden darüber in die Schanze schlug? Hatte sie's nicht an sich selbst erlebt, daß die verliebte Liebe stärker ist als alle Vernunft? Und daß in diesem Falle der Teufel ein besonders schadenfrohes Vergnügen daran finden würde, seine Macht zu zeigen, war begreiflich, da es sich um einen Mann handelte, der bisher all' seinen Listen und Tücken zu trotzen gewagt hatte.
Mit wachsendem Schrecken sah die treue Seele, daß das Fieber täglich zunahm, und schämte sich unendlich, daß auch Andere die krankhaften Symptome wahrzunehmen anfingen. Im Rathaus wunderte man sich über eine ungewohnte Zerstreutheit und Vernachlässigung dringender Geschäfte, die sich der Vater der Stadt zu Schulden kommen ließ. Eine Blumenhändlerin hatte ausgeschwatzt, daß der Herr Bürgermeister täglich ein herrliches Bouquet der Französin im »Greifen« schicken ließ, freilich ohne seinen Namen dabei zu nennen. Doch daß sie an dem Absender nicht zweifelte, konnte man deutlich daran erkennen, daß sie, wenn sie mit dem Strauß die Bühne betrat, ihren ersten Blick mit einer leichten Verbeugung auf die Prosceniumsloge richtete.
Auch im »Löwen« wurde das Betragen Herrn Leonhard's, dessen Platz am Stammtisch leer blieb, vielfach besprochen, immerhin bei der Verehrung, die er genoß, mit einiger Zurückhaltung. Höchstens daß Herr Feigenbaum von dem Johannistrieb sprach, der auch einem heiligen Antonius einmal zu schaffen machen könne, während der Leutnant mit einem zweideutigen Zwinkern der Augen erklärte, er wisse aus bester Quelle, daß diese Huldigungen die Grenze platonischer Kunstbegeisterung nicht überschritten.
Er selbst wurde öfter gesehen in Begleitung des schönen »Rackers«, der eine gewandte Reiterin war und sich von ihm die Umgegend der Stadt zeigen ließ, während Herr Feigenbaum sie nur ein einziges Mal bewogen hatte, in seinem Wagen mit ihm nach der Villa zu fahren, die er eine Stunde von der Stadt entfernt besaß. Dabei hatte aber der Kleine zwischen ihnen gesessen.
Hierüber wurde natürlich in der Stadt viel geredet, Margit aber schnitt jede anzügliche Äußerung, die man an sie bringen wollte, mit einer groben Geberde ab und schloß sich, wenn sie ihre Hausarbeit gethan hatte, mit ihrem Kummer in ihr Stübchen ein, ungeduldig die Tage zählend, bis das Wetter sich verzogen haben würde.
*
Der letzte Tag brach denn auch endlich an.
Auf den Plakaten an den Straßenecken stand: »Abschiedsvorstellung zum Benefiz von Madame Landrinette« und auf dem Programm als letzte Nummer die Pantomime »Venus und Amor«.
Zum ersten Mal atmete das schwere Herz der Margit erleichtert auf, als sie diese tröstliche Anzeige las. Doch sollte ihr gleich eine viel schwerere Last darauf fallen.
Um neun Uhr, nachdem Herr Leonhard gefrühstückt hatte, schon zu seinem täglichen Gang nach dem Rathhaus gerüstet, trat er in die Küche und sagte, indem er die Augen scheinbar gleichgültig über die blank gescheuerten Kupferpfannen an der Wand gleiten ließ:
Ich erwarte heut Abend einen Gast, Margit. Sorge für ein feines Nachtessen und kaufe auch Blumen für den Tisch, damit er etwas zierlicher aussieht. Du kannst auch das bessere Service herausnehmen. Ich verlasse mich auf dich, daß Alles hübsch und anständig gemacht wird. Die Lisbeth kann da bleiben und dir helfen.
Margit sah ihn groß an, mit einem Blick, vor dem der seine nicht Stand hielt. Sie war so erschrocken, daß sie nach Athem ringen mußte, ehe sie ein Wort hervorbringen konnte.
Ein Gast? sagte sie. Zu welcher Stunde wird er denn kommen?
Die Stunde ist nicht ganz sicher zu bestimmen. Vielleicht um Zehn, es kann aber auch später werden.
Dann wird's mit dem warmen Abendessen nicht gehen, die Sachen werden nicht besser, wenn sie lange aufm Herd stehen.
Nun, so rüste ein paar kalte Schüsseln, aber daß es das Feinste ist, was sich auftreiben läßt, und einen Teller mit kleinen Kuchen. Auch Eis besorge für den Champagner. Du mußt dir Ehre machen, Margit.
Damit drehte er sich mit unbeholfener Eile um und verließ die Küche.
Kaum war er hinaus, so sank die treue Alte auf einen Schemel und starrte in bitterstem Herzweh vor sich hin.
Mir Ehre machen! Oh, du mein gütiger Heiland! wenn solche Schande über unser Haus kommt! Ich wollt', mich träf' auf der Stelle der Schlag – eh' ich das – das erleben müßt'!
Als sie in diesem Selbstgespräch ihre Stimme hörte, überkam sie ein so jämmerliches Mitleid mit sich selbst, daß sie plötzlich in lautes Weinen ausbrach. Doch nur ganz kurze Zeit. Dann wurde sie ebenso plötzlich wieder ruhig, trocknete sich mit der Schürze die Augen und stand auf, ihrer häuslichen Arbeit wie sonst nachzugehen. Es sah ihr dabei aber eine so starre, finstere Entschlossenheit aus den Augen, daß es der Lisbeth, die sich bald darauf bei ihr einfand, ganz unheimlich wurde. Auf ihre Frage aber, ob der Jungfer Margit nicht wohl sei, erhielt sie eine Abfertigung, die jede weitere Aussprache abschnitt.
Herrn Leonhard, so sicher er war, daß seine Befehle pünktlich ausgeführt werden würden, und so stürmisch sein Herz klopfte, wenn er sich den Besuch seines Gastes recht deutlich vorstellen wollte – in seinem Innersten war's ihm doch nicht ganz geheuer. Der Blick der Margit ging ihm den ganzen Tag nach. Es war ihm selbst nicht recht wohl dabei, daß dieses kleine Souper unter vier Augen in seinem eigenen Hause stattfinden sollte. Doch ohne Aufsehen zu erregen, ließ sich's an keinem anderen Ort veranstalten, und nicht wie in großen Städten gab es hier ein Restaurant, wo für Leute, die für sich zu bleiben wünschten, eine chambre séparée aufgeschlossen wurde.
Die Actenarbeit half dem Herrn Bürgermeister über die peinliche Stimmung nicht hinweg. Während des Mittagessens in seinem Hause bekam er die Margit nicht zu sehen, da sie diesmal ihre Gehülfin mit dem Aufwarten betraut hatte. Er war ihr dankbar dafür und erkannte ihren feinen Takt, der sie zu solchem Fernbleiben bewog, wenn sie sich auch in das Unabänderliche fügen mußte.
*
Zur gewöhnlichen Stunde begann die Benefizvorstellung, doch unter ungewöhnlichem Andrang des Publikums. Das Programm war auch besonders vielverheißend, jedes Mitglied erschien mit einer neuen Production, der Geiger auf dem straffen Seil als Affe verkleidet, das schottische Kleeblatt in ebenso »echten« Tirolerkostümen und statt des Dudelsacks mit einer Schlagzither, dazu die letzte berühmte Nummer der Benefiziantin, in der sie seitdem nicht wieder aufgetreten war.
Das Haus war übervoll, der Herr Bürgermeister in seiner Loge, doch heute sich des Klatschens enthaltend, aus einem verschämten Gefühl, über das er selbst sich nicht klar war. Als die Zauberin, am Schluß stürmisch herausgerufen, sich immer wieder verneigt hatte, lief sie endlich ans Klavier und fing das Liedchen: Muß i denn, muß i denn zum Städtele 'naus – mit einer so rührenden Stimme zu singen an, wobei jedoch ihr schalkhaft lachender Mund zu erkennen gab, daß es ihr mit dem Abschiedsschmerz nicht so ganz ernst war, daß das Publikum in eine wirkliche Rührung gerieth und am Schluß hundertstimmig in den Ruf: »Wiederkommen, Wiederkommen!« ausbrach.
Von Kränzen und Blumensträußen fiel ein solcher Regen auf die Bühne, und der Düten mit Bonbons und andere Näschereien für den »herzigen, goldigen« Amor war eine solche Menge, daß ein Theaterdiener mit einem großen Korbe Mühe hatte, diese Liebesgaben des begeisterten Publikums hinauszuschaffen.
Herr Leonhard hatte sich an dieser Ovation nicht betheiligt. Es war ihm dabei zu Muthe, als gelte das alles ihm selber mit, da er sich wegen seiner Freundschaft für Mutter und Kind als zur Familie gehörig betrachten dürfe. In einem seltsamen Glücksrausch und dem Vorgefühl noch größeren Glückes taumelte er durch ein paar stille Seitengassen, da er von der übrigen Menge nicht erkannt zu werden wünschte, seinem Hause zu und stieg die Treppe ins obere Stockwerk hinauf.
Als er in sein Zimmer trat, das neben dem Eßzimmer lag, brannten in beiden Räumen die Lampen, und ein leiser Rosenduft kam von dem zierlich gedeckten Eßtisch. Die Schüsseln mit der kalten Küche und der Aufsatz mit allerlei Früchten und Kuchenwerk nahmen sich sehr einladend aus, und aus einem Eiskübel ragte der silberne Hals einer Champagnerflasche hervor.
Margit stand nahe bei der Thür wie in Erwartung weiterer Befehle. Sie sah ihrem eintretenden Herrn, der mit etwas unsicherer Haltung ihr zunickte, mit einem ruhigen Blick entgegen.
Alles fertig, Margit?
Der Herr Bürgermeister kann sich selbst überzeugen.
Herr Leonhard trat auf die Schwelle des Eßzimmers und warf einen flüchtigen Blick auf den Tisch. Ich danke dir, Margit, sagte er. Du hast's ganz in meinem Sinne gemacht. Ich denke, in einer halben Stunde wird mein Gast kommen. Du brauchst dich dann mit dem Bedienen nicht weiter zu bemühen, das besorge ich schon selbst. Du kannst ruhig zu Bett gehen, wenn du der Dame die Hausthür geöffnet und sie heraufgeführt hast.
Eine kleine Pause trat ein. Herr Leonhard legte Hut und Stock ab und trat an seinen Schreibtisch, die Röthe zu verbergen, die ihm ins Gesicht gestiegen war. Da hörte er die Magd mit etwas bebender Stimme sagen: Zu Bett werde ich freilich gehen, aber nicht mehr in diesem Haus, und wenn der Herr Bürgermeister hier mit einer Dame speisen will, so wird er ihr selbst die Hausthür aufschließen und sie heraufführen müssen. Die alte Margit wünscht dem Herrn eine gute Nacht und dankt ihm für alles Gute, was sie bei ihm genossen hat, aber in seinem Dienst kann sie nicht länger bleiben und wird sehen, wo anders unterzukommen. Sie ist ja gottlob zu jeder Arbeit bereit und in der ganzen Stadt als treu und fleißig bekannt. Das Zeugniß darüber wird der Herr Bürgermeister so gut sein ihr nachzuschicken.
Sie machte eine Bewegung, wie wenn sie gehen wollte, doch beeilte sie sich nicht damit, sondern blieb ruhig stehen, als Herr Leonhard, der ihr mit höchstem Erstaunen zugehört hatte, sich zu ihr wendete.
Margit, sagte er, was redest du da für dummes Zeug? Du willst mir den Dienst kündigen? Bist du nicht bei Trost?
Sie sah ihn mit finsteren Augen an.
Ich bin ganz bei Sinnen, sagte sie, und wenn der Herr Bürgermeister sich besinnt, wird er auch begreifen, daß ich in diesem Hause nicht bleiben kann, wenn eine solche – Madame hier zu Gast gewesen ist und auf dem Teller und mit den Messern und Gabeln gegessen und aus dem Glas getrunken hat, die meiner seligen Frau Bürgermeistern gehört haben. Nee, das mit anzusehen, brächt' ich nicht übers Herz, um mir hernach sagen lassen zu müssen, ich hätt' die Hausehre beschmutzen lassen, und als »Hausgeist«, wie mich die Leute nennen, hätt' man was Besseres von mir erwartet …
Schweig! unterbrach er sie in heftiger Erregung. Du vergißt, daß du mit deinem Herrn sprichst. Ich brauche mir nicht von dir sagen zu lassen, was ich der Ehre meines Hauses schuldig bin, und wenn ich mir eine Künstlerin einlade, die von der ganzen Stadt wegen ihrer Talente bewundert wird, so hast du nichts dreinzureden. Hast du doch auch selbst alles zu ihrem Empfang hergerichtet, und diese Grille ist dir erst jetzt gekommen.
Ich hab', solang' ich noch im Dienst gewesen bin, alles gethan, was der Herr mir befohlen hat, sagte die Alte mit rauher Stimme; jetzt aber will ich gehen, solang' die Luft noch rein ist, und wenn der Herr Bürgermeister mich verklagen will, weil ich weggegangen bin, ohne die Kündigung abzuwarten, so werde ich die Strafe bezahlen. Ins Haus aber bringen mich keine zehn Pferde zurück, obwohl ich gehofft hatte, ich würde unter diesem Dach mein letztes Stündlein erleben. So! und nun wär' ich fertig!
Halt! rief Herr Leonhard. Es handelt sich nicht allein um dich, was dir lieb oder leid wäre zu thun, sondern auch um meinen guten Namen, der einen Flecken bekommt, wenn es morgen bekannt wird, du seiest Knall und Fall aus dem Hause gegangen, als ob du hier Gott weiß welchen Greueln hättest ausweichen wollen. Du warst bisher immer eine verständige Person. Wenn du nicht jetzt plötzlich einen Anfall von Verrücktheit bekommen hast, mußt du Gründe haben, so zu handeln, wie du vorhast, und daß du mir diese Gründe sagst, darf ich von dir verlangen.
Meine Gründe? versetzte sie ruhig. Die schreien ja gen Himmel, und wenn der Herr Bürgermeister in der Stadt herumhorchen wollte, könnte er sie selber hören. Die Spatzen pfeifen's von den Dächern, daß diese – Person, die ja ganz niedlich aussieht, aber eine leichte Fliege sein muß, mit dem Herrn Feigenbaum in seine Villa gefahren ist und sich dort so gut amüsiert hat, daß sie hernach zu spät ins Theater gekommen ist. Dann ist da noch der Herr Leutnant, mit dem ist sie nicht bloß am hellen Tage spazieren geritten, sondern einmal hat er ihr auch Abends nach der Vorstellung im »Greifen« eine Visite gemacht, und sie haben sich so verschwatzt, daß er erst früh um Viere wieder gegangen ist. Er hat dem Portier einen Thaler gegeben, daß er reinen Mund halten sollte, aber das Zimmermädchen hat's herum erzählt. Na, ich selbst würde ja wohl nichts verlauten lassen, auch ohne einen Thaler, aber die Madame selbst, wer steht uns dafür, daß die's nicht unter die Leute brächte, um sich groß damit zu thun, daß unser Herr Bürgermeister ihr die Ehr' angethan hätte? Und ob das dem Herrn angenehm wäre …
Sie verstummte, da sie sah, daß ihr Herr sich auf dem Stuhl am Schreibtisch niedergelassen hatte, als ob ihm die Kniee schwach würden. So saß er eine ganze Welle, und die Margit stand mitten im Zimmer und blickte auf ihren verehrten Herrn wie eine gute Mutter auf einen Sohn, der aus einer schweren Krankheit sich mühsam erholt.
Margit, sagte er endlich, ich danke dir. Das hättest du mir aber früher sagen sollen, dann wär's nicht so weit gekommen. Es soll auch nicht weiter kommen, ich werde ein Billet schreiben, nur zwei Zeilen, daß ich verhindert sei, die trägst du dann in den »Greifen«, und von allem Anderen soll nicht weiter die Rede sein.
Er wandte sich hastig nach der Lampe um, neben der die Schreibmappe lag, Margit aber sagte: Nee, Herr Bürgermeister, so geht's nicht. Der Portier, der mich ja kennt, würde glauben, ich brächte der – Person ein Biljedu von meinem Herrn, und sie selbst zeigte morgen den Brief an die ganze Bande, sagte aber nicht, was drin stände. Solche Frauenzimmer kennen keine Scham. Wir müssen ruhig abwarten, bis sie selber kommt, und sie dann nicht 'reinlassen.
Ich soll sie selbst von meiner Tür weisen, nachdem ich sie eingeladen habe?
Bewahre, Herr Bürgermeister! Das werde ich schon besorgen. Wenn sie auch Französch spricht, sie wird's schon verstehen, wenn ich Deutsch mit ihr rede.
Sie wird dir nicht glauben und es erst von mir selbst hören wollen. Sie ist im Stande und dringt trotz deines Widerspruchs ins Haus.
Das woll'n wir doch 'mal erleben! versetzte die Alte und wiegte ihre kräftigen Fäuste. Aber freilich, wenn der Herr Bürgermeister ihre Stimme hört – sie hat ja so was Einschmeichelndes –, am Ende wird der Herr doch schwach aus Höflichkeit und läßt sie wenigstens eintreten, und dann kann Niemand dafür stehen, daß sie mit guter Manier wieder hinauszubringen ist. Wenn der Herr Bürgermeister daher mir folgen will, spring' ich jetzt geschwinde zum Lohnkutscher hinüber, daß er den Landauer anspannt; in zehn Minuten ist's geschehen, und ich sag' ihm, mein Herr wär' noch spät über Land gerufen worden, nach Haßdorf etwa oder Morgenheim, in Amtsgeschäften. Der Herr setzt sich in die Kutsche, und heidi! geht's auf und davon, und wenn die – Person anklingelt, hat sie's Nachsehen.
Eine Weile war's ganz still zwischen Herr und Dienerin. Dann sagte Herr Leonhard mit einem unterdrückten Seufzer: Das wird das Beste sein, Margit. Ich habe ja auch ohnehin dieser Tage den Schulzen von Haßdorf sprechen wollen wegen des Katasters. Aber sput dich und komm im Wagen zurück!
*
Zehn Minuten später hielt der Wagen vorm Hause des Bürgermeisters, und Margit sprang trotz ihrer Vierundfünfzig wie ein junges Jüngferchen heraus.
Der Herr, in einem leichten Mantel mit einer Reisetasche, wartete schon im Schatten der Haustür. Ehe er aber einstieg, zog er etwas Eingewickeltes aus der Tasche und gab es der Alten.
Das gieb ihr, wenn sie kommt, stammelte er. Es ist für ihr Benefiz, ich hatte ja immer freien Eintritt. Sie soll mich nicht für einen Knauser halten. Gute Nacht!
Er stieg ein, und der Wagen rollte durch die schlafenden Gassen davon.
Margit sah ihm mit dem Ausdruck tiefer Befriedigung, ja der Erlösung aus einer Lebensgefahr nach. Dann wickelte sie das Papier auf und betrachtete beim Schein der Straßenlaterne den Inhalt.
Es war eine kleine silberne Börse, in der fünf blanke Goldstücke steckten.
Die Alte wog sie in der Hand, furchte die Stirn und murmelte vor sich hin: 's ist ein Sündengeld! Bei einer Armuth wär's besser angewendet. Aber wenn er um den Preis sich losgekauft hat, soll das schwere Geld mich nicht reuen.
Vom Thurm der Stadtkirche schlug es Zehn, als sie wieder ins Haus ging und die Thür hinter sich verriegelte. Sie war aber kaum wieder oben in den Zimmern und hatte eben die Lampen ausgelöscht, als ein scharfes Klingeln von unten ertönte. Warten Sie nur, Madame, sagte sie vor sich hin. Sie können sich wohl 'ne Weile gedulden, hier wohnt kein Herr Feigenbaum, der so ein Schätzchen nicht früh genug ans Herz drücken kann. Die alte Margit kriegen Sie doch früher zu sehn, als Ihnen lieb ist.
Ganz bedächtig, erst nach dem dritten Klingeln, schritt sie die Treppe hinunter und fragte durch die Thür, wer noch so spät den Hausfrieden störe.
C'est moi! wisperte eine feine Stimme draußen. Ouvrez, s'il vous plaît.
Da schob die Alte den Riegel zurück und sah vor der Thür draußen die schlanke Figur der jungen Frau in einem langen dunklen Mäntelchen, dessen Kaputze sie über ihr blondes Haupt gehüllt hatte. Sie nickte und wollte hurtig in den dunklen Flur schlüpfen.
Pardon, Madame, sagte Margit – es war ihr einziges Französisch –, zu wem wollen Sie? Dabei pflanzte sie sich breit vor den Eingang, so daß die Landrinette zurückfuhr.
Ick bin dock ricktig bei Monsieur le Maire? flüsterte sie.
Jawoll, Madame, aber mein Herr ist nicht zu Hause – er hat über Land fahren müssen in Amtsgeschäften.
Comment? entfuhr es der Enttäuschten. Monsier le Maire est parti? Mais il m'avait pourtant invitée à souper avec lui!
Bedaure, Madame, versetzte die Alte trocken, ich verstehe zwar Ihren Commang nicht, aber Sie irren sich, wenn Sie meinen, mein Herr wäre eine gute Partie und ich hätte Ihnen eine Suppe gekocht. Übrigens heißt mein Herr Bürgermeister nicht Louis, sondern Leonhard, und Sie haben auch sonst kein Recht, ihn mit seinem Vornamen zu nennen.
Die Fremde hatte nicht jedes dieser Worte verstanden, doch genug, um zu begreifen, daß sie sich vergebens herbemüht hatte. Auch waren sämmtliche Fenster des Hauses dunkel. Sie zauderte noch ein wenig, ehe sie sich zum Rückzug entschloß, und murrte so etwas wie incroyable – inouï – impertinent vor sich hin. Dies letzte Wort verstand die feindselige Alte.
Oh, Madame, sagte sie, wenn einer hier impertinent ist, ist's weder mein Herr Bürgermeister noch ich. Mein Herr Bürgermeister aber, damit Sie nicht glauben, er ließe sich was von Ihnen schenken und bezahlte seinen Platz im Theater nicht, wenn Sie Ihr Benefiz haben – da, das soll ich Ihnen von ihm geben, und dafür mögen Sie sich Kleider kaufen, wie anständige Frauenzimmer sie tragen, bei denen am Stoff nicht so gespart ist wie bei den Ihrigen. So! Nun sind wir miteinander fertig, und jetzt – atjöh, Madame!
Damit trat sie ins Haus zurück und schlug »dieser – Person« die Thür vor der Nase zu.
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Als Herr Leonhard spät am nächsten Vormittag zurückkehrte, war die Wandergesellschaft längst mit der Bahn fortgeflogen. Er hätte gern von Margit erfahren, wie die nächtliche Verabschiedung der schönen Hexe abgelaufen sei, wagte aber nicht zu fragen und mußte sich damit begnügen, daß sie sagte, es sei Alles in Ordnung. Die Flasche Champagner hatte sie wieder in den Keller getragen, die kalte Küche verschenkte sie an arme Leute; es war, als schäme sie sich, irgend etwas von dem, was ihr Herr der Gauklerin zugedacht hatte, ihm selber vorzusetzen. Aber da sie in ihrem feinen Gefühl errieth, daß er eine Wunde davongetragen, behandelte sie ihn mit der zartesten Aufmerksamkeit wie einen Kranken, der nur langsam genesen würde.
Das beste Heilmittel wandte sie später an, indem sie es klug veranstaltete, daß über Jahr und Tag eine neue Frau Bürgermeisterin ins Haus kam, eine nicht mehr ganz junge, aber sehr liebenswürdige Frau, in Allem das Widerspiel der Frau Venus, die aber ihrem Ehgemahl ein Knäbchen schenkte, das an Lieblichkeit hinter dem kleinen Amor nicht weit zurückstand.
Einen glücklicheren und stolzeren Tag hatte der treue »Hausgeist« nicht erlebt, als da er diesen Stammhalter seines Herrn Bürgermeisters aus der Taufe hob.
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