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(1904.)
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In der Droschke, die vom Anhalter Bahnhof kommend die Schellingstraße hinabfuhr und dann nach links in die Wilhelmsstraße einbog, saßen zwei Damen, eine schon in der Mitte der Vierziger, in einem einfachen Reiseanzug, ein Pelzmützchen auf dem schlichtgescheitelten braunen Haar, durch das sich ein paar verstohlene Silberfäden schlangen, neben ihr, dicht an sie geschmiegt, ein sehr elegantes blondes Fräulein, das kaum zwanzig alt sein konnte. Diese hatte die Reisende am Bahnhof abgeholt und hielt nun ihre eine Hand mit ihren beiden umspannt, sie von Zeit zu Zeit mit einer innigen Geberde drückend. Dabei hatte sie die schönen Augen von ihr abgewandt und schien in aufgeregte Gedanken versunken, während eine fieberhafte Röthe in ihren Wangen glühte. Ein paarmal öffnete sie die Lippen, wie um etwas zu sagen, brachte aber nichts heraus, als die hingehauchten Worte: Tante Lene – meine einzige Tante Lene – daß du nur da bist!
Die Andere, deren feine, noch anmuthige Züge von einer ruhigen Helle glänzten, wie nur das Gesicht eines Menschen, der immer weiß, was ihm gemäß ist und sich nie darin irre machen läßt, erwiderte jedes dieser scheuen Liebeszeichen mit einem warmen Blick, sah dann aber wieder schweigend zum Fenster hinaus, vor dem in einer kühlen Aprilsonne ein dünnes Schneegestöber niederwehte.
Es war nicht zu erkennen, ob der Lärm der vorüberfahrenden Wagen ihr das Sprechen verwehrte oder ihre Gedanken auch durch ein inneres Hemmniß am Lautwerden verhindert wurden.
Erst nach einer ganzen Weile sagte sie:
Ich erkenne mein altes Berlin kaum wieder. Selbst die Conditorei dort an der Ecke, an die mich süße Schulmädelerinnerungen knüpfen, trägt einen neuen Namen auf dem Schilde. Freilich, ganze vierzehn Jahre, nein, fünfzehn bin ich nicht mehr durch diese Straßen gekommen. Daß ich nun hier einfahre und dich neben mir habe, ist mir wie ein Traum.
O Tante Lene, sagte die Junge, ich kann dir nie genug danken, daß du gekommen bist!
Sie hob sich vom Sitz in die Höhe, umfaßte die schlanke Gestalt mit beiden Armen und küßte sie leidenschaftlich.
Du bist heiß, Kind, sagte die so stürmisch Geliebkos'te, indem sie ihr sanft über das erhitzte rosige Gesichtchen strich; ist dir nicht wohl?
Ganz wohl, Tante. Es ist nur die Freude, dich zu sehen, und dann – an einem solchen Tage – ich habe die letzte Nacht vor Aufregung schlecht geschlafen – du wirst begreifen – schon all die Wochen vorher – die vielen Besuche und Besorgungen – Mama ist mit genauer Noth fertig geworden – heute der Polterabend, morgen die Hochzeit –
Dann schwiegen wieder Beide und sahen, Jede nach ihrer Seite, in das Schlackerwetter hinaus.
Als die Droschke vor einem Hotel garni in der Jägerstraße hielt, sagte die Junge, während sie zuerst hinaussprang und der Tante beim Aussteigen die Hand bot:
Da sind wir. Die Eltern lassen dich bitten, zu entschuldigen, daß wir dich nicht bei uns aufnehmen, sondern hier einquartiert haben. Du begreifst aber, obwohl wir eine große Wohnung haben – für die Gesellschaft heute Abend und die Hochzeit morgen haben wir jeden Winkel herrichten müssen und wissen kaum, wo wir selbst heute Nacht unser Haupt hinlegen werden. Von hier hast du ja auch nur hundert Schritte bis zu uns, und zunächst, wenn du dich ein wenig ausgeruht hast, gehen wir zu den Eltern, die dich zum Essen erwarten. Leon wird auch da sein.
Nein, Liebste, erwiderte die Altere, während sie die Treppe hinaufstiegen und der Hausknecht den Reisekorb und ein flaches Kistchen ihnen nachtrug, deine Eltern sind sehr gütig, aber sie müssen mich entschuldigen. Ich werde im Hotel essen. Nach so langer Zeit sich unter acht Augen wiederzusehen kann ohne lebhafte Emotionen nicht abgehen, und an solchen ist eine Hochzeit schon reich genug. Abends, wenn ihr das Haus voll Poltergeister habt, trete ich ganz unscheinbar bei euch ein, drücke deinen Eltern ohne viel Worte die Hand und bin dann eine von Vielen, auf die man keine besondere Rücksicht zu nehmen hat, und ebenso morgen; und übermorgen verschwinde ich wieder geräuschlos, wie ich gekommen bin. Ein Revenant, liebstes Kind, muß so viel Lebensart haben, daß er Niemand erschreckt oder belästigt, auch wenn er halb wider seinen Willen sich hat ans Tageslicht heraufbeschwören lassen. Vielleicht wäre es überhaupt besser gewesen –
Sie traten in ein helles zweifenstriges Zimmer, wo auf dem Tisch vor dem Sopha ein großer Strauß der schönsten Veilchen stand.
Von dir, Annie?
Die Junge nickte.
Ich hätte dir am liebsten einen ganzen Blumengarten hier hereingeschafft; so ein Hotelzimmer – obwohl ich das sonnigste ausgesucht habe – es wäre immer noch ungemüthlich geblieben. O, wenn ich dich bei uns zu Hause haben könnte, in dem Stübchen neben meinem – wie oft hab' ich mir das vorgestellt, wie das wäre, wenn ich dich dort hätte und könnte dich so recht verziehen, und wir plauderten Abends bis Mitternacht – O, meine geliebte Tante Lene!
Wieder schlang sie ihre Arme um sie, küßte sie aber nicht, sondern drückte ihr Gesicht fest gegen ihre Schulter, bis die Andere sich sanft losmachte und sie nach dem Sopha führte.
Komm! Beruhige dich! Es kann nun einmal nicht sein.
Sie setzte sich, immer noch im Reisemantel, Annie aber ließ sich nicht neben sie auf das Sopha ziehen, sondern glitt vor ihr nieder und sah, ihre Kniee umfassend, zu ihr auf.
Laß mich so, Liebste, Beste! Laß mich dich erst noch eine Weile ansehen. Ich habe mich lange genug danach gesehnt. Du bist ganz, wie ich dich nach der Photographie mir vorgestellt habe, die du mir zur Einsegnung schicktest, nur viel jünger und viel, viel hübscher, da du mich so lieb anblickst, nicht so streng und regungslos wie auf dem Bilde. Und wie reizend dir das Mützchen steht!
Die Tante nahm es ab. Ich trag' es seit zehn Jahren, sagte sie lächelnd, nicht etwa weil ich mir besonders hübsch darin vorkäme, sondern aus Ökonomie. Es erspart mir's, jeden Winter einen neuen Hut zu kaufen. Aber du, Kind, du bist über deine Photographie hinausgewachsen. Da ist gar nicht mehr das harmlose Backfischgesicht, sondern ein nachdenkliches junges Menschenkind, das schon mit stillem Schauer in das geheimnißvolle Leben blickt. Natürlich, ein Mädchen, das sein Herz entdeckt hat, steht ja vor dem dunklen Räthsel ihres Schicksals, und ich müßte dich nicht so lieb haben, wenn es mir nicht auch das Herz schwer machte, wie das Räthsel sich lösen wird.
Die Junge war aufgesprungen, hatte ihre mit kostbarem Pelz besetzte Jacke ausgezogen und das Hütchen abgenommen und wandte sich dann zu der Anderen zurück.
Es ist heiß hier, sagte sie. Wollen wir nicht einen Augenblick das Fenster öffnen? Das Schneien hat nachgelassen. Aber was ich fast vergessen hätte: du wirst etwas frühstücken wollen. Bis zur Mittagszeit sind noch ein paar Stunden.
Nein, Kind, erwiderte die Tante. Ich habe gar keinen Hunger, den hab' ich mir von meinem Malen her für die hellen Stunden ganz abgewöhnt. Als ich noch im Berliner Museum copierte, hielt ich's im Winter von zehn bis vier Uhr ganz gut aus, nur mit einem Stück Chocolade. In Magdeburg freilich, wo ich nur in der Schule und in meinen anderen Zeichenstunden nicht so angestrengt bin, könnt' ich mir's anders einrichten. Mein Magen aber hat die alte Gewohnheit beibehalten.
Annie hatte sich neben sie gesetzt und sich wieder einer ihrer Hände bemächtigt.
Ich habe, sagte sie, von zweien meiner Freundinnen mir erzählen lassen, wie dich all deine Schülerinnen vergöttern, wie du auch sonst in der ganzen Stadt verehrt wirst und man sich um deine Stillleben und Blumenstücke reißt. Lilli Huber hat eine Freundin besucht, die sich nach Magdeburg an einen Fabrikanten verheirathet hat, und der Bruder von Rosa Stern steht dort in Garnison. Immer, wenn ich von dir gehört habe, war mir's, wie wenn man mir etwas schenkte, und immer fragte ich mich dabei –
Sie hielt inne, und eine dunkle Röthe stieg ihr bis zu den Schläfen hinauf.
Du fragtest dich, mein Liebling? Was fragtest du dich?
Eine kleine Stille trat ein. Dann sagte die Junge leise, indem sie ihr Gesicht gegen die Schulter der Älteren drückte:
Wie es möglich ist, daß du, die von Allen geliebt wird, nur mit meinem Papa, deinem einzigen Bruder –
Sie stockte wieder. Dann, als keine Antwort kam, glitt sie wieder vor der Tante auf den Teppich nieder und haschte nach ihrer Hand.
O, meine geliebte Einzige, rief sie, wenn du wüßtest, wie mir's die langen Jahre her das Herz abgedrückt hat, daß zwischen dir und mir die Menschen standen, die ich doch vor allen Anderen lieben und ehren mußte! Sie wollten nicht, daß ich an dir hing, und doch, obwohl ich kaum fünf Jahre alt war, als du dich von uns trenntest und Berlin verließest – so ein dummes kleines Ding ich damals war, hatte ich doch das bestimmte Gefühl, daß mich Niemand lieber haben konnte als du, nicht bloß, weil du meine Tante und Pathe warst, sondern weil du ein so großes und warmes Herz hattest und, wenn du bei mir warst, mich nicht wie die Anderen als ein niedliches Spielzeug behandeltest, sondern wie ein noch unbehülfliches kleines Geschöpf, aus dem aber einmal ein Mensch werden sollte.
Und als mir dann der Papa sagte, du würdest nicht wieder zu uns kommen, habe ich viele Stunden lang geheult und immer wieder gefragt, ob du mich denn nicht mehr lieb hättest und warum denn ich nicht zu dir kommen dürfte. Dann ist mir verboten worden, überhaupt von dir zu reden – an dich zu denken, konnten sie mir freilich nicht verbieten – und das war der erste große Schmerz meines Lebens. Weil ich immer ein gehorsames Kind war, dachte ich auch nicht daran, dir zu schreiben, obwohl ich von der alten Dore, die ja auch so große Stücke auf dich hielt, erfragt hatte, wohin du gezogen warst, ein Jahr nach der Trennung von uns. Und erst, als ich eingesegnet werden sollte, erlangte ich's vom Papa, daß ich an dich schreiben durfte – als meine Pathe warst du ja die Nächste dazu – nur mußte ich mich drein ergeben, daß er deine Briefe las. Liebevollere und herzlichere konnte kein Mensch mir schreiben, und da faßte ich mir einmal ein Herz, ihn zu fragen, was er gegen dich habe, und da bekam ich die Antwort –
Nun, Liebste?
Er sei es mir schuldig, darüber zu wachen, daß die – gefährlichen Grundsätze, die du hättest, nicht einen verderblichen Einfluß auf mich ausübten. – Was für Grundsätze? fragt' ich, und welche Gefahren könnten sie haben, da sie es doch nicht gehindert hätten, daß du allgemein geliebt und geachtest seist? Darauf blieb er mir die Antwort schuldig, mit der gewöhnlichen niederschlagenden Ausrede: ich sei noch zu jung, gewisse Dinge zu verstehen.
Und damit mußte ich mich vorläufig zufrieden geben.
Aber mein Gefühl für dich wurde nicht um einen Hauch kälter, ja, es schien mir immer unerträglicher, daß ich dir, der ich zutraute, daß du klüger seist als alle Menschen und besser und vornehmer, immer fern bleiben sollte. Woher mir dies überschwängliche Vertrauen kam – gewiß noch von deinem Blick und von deiner Stimme aus der Kinderzeit, die ich noch nicht vergessen hatte. Und darum, als ich mich verlobt hatte und die Einladungen zur Hochzeit besprochen wurden, nahm ich mein Herz in beide Hände und bestand darauf, daß du, meine Tante und Pathe, von der ich immer nur Gutes und Liebes erfahren, dabei sein müßtest. Die Eltern wunderten sich, daß ich zum ersten Mal einen so festen Willen an den Tag legte, und beriethen eine Weile leise untereinander, bis dann die Mama, wie ich deutlich sah, sich auf meine Seite schlug. Sie ist ja überhaupt die beste Mama von der Welt, nur daß sie, schon wegen ihrer beständigen Kränklichkeit, dem Papa immer blindlings nachgiebt. Und wie ich dann mit ihr allein blieb, sagte sie mir, du würdest vielleicht nicht kommen; bei einer fröhlichen Hochzeit, zumal hier in Berlin, würden traurige alte Erinnerungen wieder aufgeweckt werden, du hättest hier vor Jahren eine unglückliche Liebe gehabt – o Tante, ist denn das wahr? Und hast du mir ein Opfer gebracht, daß du nun doch gekommen bist?
Liebste Tante Lene, fuhr sie hastig fort, als diese ihr die Antwort schuldig blieb und sehr ernst und traurig vor sich hin sah, war's Unrecht von mir, daß ich davon anfing, an eine alte Wunde rührte? Verzeih es mir, meine Geliebte, Einzige! Alles, was dich betrifft, ist mir so theuer; du glaubst nicht, wie ich mich danach gesehnt habe, endlich einmal dich wieder zu haben, dir mein ganzes Herz auszuschütten. Denn ich – es wird dir seltsam und undankbar scheinen – ich bin ja von so viel Liebe umgeben – und doch, ich habe Niemand, Niemand, dem ich meine innersten Gedanken anvertrauen kann – und nun bist du da, und ich muß in der ersten Stunde – nein, nein, antworte mir nichts – laß uns von etwas Anderm sprechen, nur sage mir, daß du mir nicht zürnst!
Die Tante schüttelte leise den Kopf.
Kind, sagte sie, du kannst nichts thun oder sagen, was mich erzürnen könnte. Ich würde dir's ja nur verdenken, wenn es dir gleichgültig wäre, was Andere mir nachsagen. Komm, sei ganz ruhig; es ist auch mir Bedürfniß, daß du mich endlich kennen lernst, und deßhalb bin ich auch gekommen, denn ein Mädchen, das morgen eine Frau werden soll, ist kein unmündiges Kind mehr, das man nach der thörichten pädagogischen Weisheit der lieben Mütter davor behüten muß, zu erfahren, welche Abgründe das Leben hat. Aber schließe erst das Fenster. Die Schneeluft, die hereinweht, macht dich frösteln.
Dann, als sie wieder dicht aneinandergelehnt Hand in Hand saßen:
Siehst du, meine Annie, ich wußte, daß dein Vater meine Briefe an dich lesen würde, und darum war mir's jedesmal ein Schmerz, nicht unter vier Augen zu dir sprechen zu können, und daß ich's jetzt kann, thut mir unendlich wohl. Wenn er dich vor mir hat warnen wollen, so hatte er nach seiner Sinnesart Recht, obwohl er wußte, meine »gefährlichen Grundsätze« beschränken sich nur auf den einen: »Thue recht und scheue Niemand.« Das wird dich wundern, Liebste, aber bedenke, daß die Ansichten über das, was recht ist, weit auseinandergehen. Dem Einen scheint nur recht, was die große Menge, die sogenannte bürgerliche Gesellschaft, dafür hält. Dem Andern, was sein eigenes Herz und sein Verstand ihm zu thun oder zu lassen vorschreiben, gleichviel, ob es die Anderen, auch wenn sie in der Mehrzahl sind, billigen oder verdammen. Und der Grundsatz, nur nach seinem eigenen Gefühl von dem, was recht ist, zu handeln und Niemand zu scheuen, erscheint dann als »gefährlich«, weil er zur Auflehnung gegen die hergebrachte Ordnung führt.
Dein Vater nun, schon weil er die Rechte studiert hatte, mit denen das ungeschriebene Recht in unserem Innern so oft im Widerstreit ist – ich kann es ihm nicht verdenken, daß er für meine Natur kein Verständniß hatte. Als ich noch ein junges Mädchen war, empfand er das wohl auch, es entfremdete uns einander aber nicht fühlbar, er begnügte sich, über meinen verschrobenen Starrkopf zu spötteln und mich vor meinem »extravaganten« Herzen zu warnen, was ich ihm mit Scherzen über seine Unterwürfigkeit unter den Moralcodex der Philister vergalt.
Dabei hatten wir uns geschwisterlich lieb. Ich fand auch seinen Ehrgeiz, Carrière zu machen, bei einem Manne, der im öffentlichen Leben stand, ganz in der Ordnung und bewunderte sein Wissen und seine Talente als Rechtsanwalt. Und da ich, als unsere Eltern schon früh, bald nacheinander, gestorben waren – ich war eben siebzehn geworden, und er hatte sich als Advocat nur erst die Sporen verdient – als ich ihm da unentbehrlich war, ihm die Wirthschaft zu führen, lebten wir ganz friedlich und freundlich nebeneinander, wenn ich auch mein eigenstes Leben für mich hatte, geistig und gemüthlich.
Ich hatte von früh an eine große Passion zum Zeichnen und Malen gehabt, obwohl ich mir nie einbildete, zu einer wirklichen Künstlerin das Zeug zu haben. Ein gutes Auge und eine geschickte Hand ohne die Phantasie und die glühende, nur für die Schönheit entflammte Seele eines echten Künstlers reichen nicht weiter als zum Nachmachen dessen, was die Natur vorgemacht hat, und zum Copieren von Kunstwerken, was ich denn auch eifrig betrieb. Anfangs nur zu meinem Vergnügen und um nachsichtige gute Freunde zu beschenken. Als es aber nach dem Tode unserer Eltern mit den Einnahmen nicht sehr reichlich stand – ich hatte nur eine Rente von tausend Mark als mein Erbtheil empfangen – verlegte ich mich in den Vormittagsstunden, wenn die Haushaltung besorgt war, auf das Copieren beliebter Bilder im Museum und freute mich sehr, daß ich, wenn ich sie verkaufte, auch dem Bruder allerlei Annehmlichkeiten dadurch verschaffen konnte, zu denen das knappe Wirthschaftsgeld nicht ausreichte.
So hatten wir drei Jahre miteinander gelebt, und trotz alles Bemühens war der junge Rechtsanwalt noch immer auf keinen grünen Zweig gekommen. Da machte er bei einem Proceß, den er für einen reichen Fabrikanten zu führen hatte, die Bekanntschaft von dessen Tochter, und es dauerte kein Vierteljahr, so hatte er sie heimgeführt.
Deine liebe Mutter kam mir sehr liebevoll entgegen und wollte nichts davon hören, daß ich ihretwegen das Haus verließe. Auch machte sie ihre zarte Gesundheit und die völlige Unerfahrenheit in wirthschaftlichen Dingen geltend. Ich blieb aber auf meinem Entschluß, mich aus dem Wege zu räumen und ihr die Zügel des Hausregiments allein zu überlassen, da ich dachte, bei ihrer sehr weichen und unselbständigen Natur würde sie nur dann mit der Zeit lernen, auch über ihren Mann so viel Herrschaft zu gewinnen, wie eine richtige Frau haben muß.
Nun galt es freilich, mir eine Existenz zu gründen, die mich auf eigene Füße stellte, und da war's ein Glück, daß mein künstlerisches Handwerk solid genug war, mir einen wenn nicht goldenen, so doch silbernen Boden zu schaffen.
Ich hatte in einer billigen Gegend ein Quartierchen gefunden, zwei kleine Zimmer und eine Küche im dritten Stock, wo ich mit den Möbeln meiner guten Mutter, die in die elegante brüderliche Wohnung nicht mehr hineinpaßten, mich ganz behaglich einrichtete. Das Glück wollte, daß ich in einer angesehenen höheren Töchterschule eine Anstellung als Zeichenlehrerin fand. Andere Privatstunden waren die Folge davon. Und da ich ab und zu auch eine Copie verkaufte, hatte ich über Noth und Sorgen nicht zu klagen.
Mit deinen Eltern blieb ich in einem freundlichen, wenn auch nicht sehr häufigen Verkehr, besuchte ihre größeren Gesellschaften nie, fand mich aber Mittags oder Abends zuweilen ohne Einladung bei ihnen ein. Zumal seit du auf die Welt gekommen warst. Deine Mutter hatte darauf bestanden, daß ich dich aus der Taufe heben sollte. Auch wurdest du in den ersten Jahren nach deiner Pathin Lenchen genannt. Erst als dein Papa später einen unversöhnlichen Groll auf mich warf, besann er sich auf den Namen Annie, den eine mütterliche Verwandte, meine Mitpathe, dir gegeben hatte.
Ich habe mich schwer daran gewöhnt, auf den neuen Namen zu hören, flüsterte das schöne Mädchen, zumal ich auch den Grund nicht verstand. O Tante Lene, ich war's am Ende gar nicht werth, deinen Namen zu tragen!
Sprich nicht so thöricht, mein Liebling. Höre nur erst, wie deine von dir überschätzte Tante Lene sich die Achtung der Welt verscherzt hat. Fünf Jahre freilich hielt sie sich musterhaft. Wenn sie auch keinen Toilettenaufwand machen konnte – weder in ihrem Anzug noch in ihrem bescheidenen Heim erinnerte sie an die Künstlerinnen-Bohème, sondern blieb immer ein Fräulein aus guter Familie, das den Kampf ums Dasein mit anständigen Waffen kämpft.
Ich war auch sechsundzwanzig geworden, ohne daß ich mich versucht gefühlt hätte, nur den geringsten kleinen Roman zu spielen. Die Freunde, die mit meinem Bruder verkehrt hatten, als er noch Junggeselle war, gehörten meist seinem Beruf an und waren praktische Charaktere, die der jungen Herrin des Hauses höflich begegneten, aber sich wohl hüteten, ihr näher zu treten. Keiner unter ihnen war dazu angethan, daß ich dies bedauert hätte.
Und späterhin, als ich auf mich selbst angewiesen war, hatte ich, da ich keine Gesellschaften besuchte, keine Gelegenheit, irgend einen Mann liebenswürdig oder interessant zu finden. Die paar männlichen Lehrer in meiner Schule waren verheirathet.
Bis auf einen, den Gesanglehrer. Er wurde erst ein paar Jahre nach mir engagiert, und eine Weile blieb es zwischen uns bei einem ganz losen collegialen Verhältniß. Erst als ich einmal einem Schulactus beigewohnt hatte, bei dem die Schülerinnen eine von ihm componierte Cantate gesungen hatten, fing ich an, mich wärmer für ihn zu interessiren.
Denn seine Musik hatte mir's angethan, und das schöne Feuer, das ihm beim Dirigieren aus den Augen leuchtete, adelte sein unscheinbares Gesicht und verrieth eine feine, leidenschaftliche Seele.
Ich dankte ihm hernach für den Genuß, den seine Komposition mir gewährt hätte, und zum ersten Mal schien auch er inne zu werden, daß ich auf der Welt sei. Ich mußte ihm auf seine Frage bekennen, daß ich selbst weder spielte noch sänge, nur ein lebhaftes Bedürfniß nach Musik hätte, das früher, während ich selbst meine freie Zeit auf das Zeichnen verwandte, meine gute Mutter befriedigt habe. Deren Klavier stehe noch in meinem Zimmer. Es werde aber nie darauf gespielt.
Wenn es mir Freude mache, werde er sich einmal erlauben, zu kommen und von meinen Lieblingsmeistern – wir hatten im Gespräch gefunden, daß wir den gleichen Geschmack hatten – mir etwas vorzuspielen.
Du kannst denken, wie gern ich das annahm.
*
Sie stand auf, ging nach dem Tisch, auf den sie ihr Handtäschchen gelegt hatte, und nahm ein kleines verblichenes Lederfutteral heraus, das eine Photographie in Cabinetsformat enthielt.
Ich habe dir sein Bild mitgebracht, sagte sie. Ich wußte, daß ich dir von ihm erzählen würde. Es ist nur ein Schatten von ihm. Wie er aussah, wenn er sprach und lächelte und am Klavier saß, läßt es nur ahnen.
Die Junge betrachtete lange schweigend das kleine Bild.
Du sagtest, Tante Lene, sein Gesicht sei unscheinbar gewesen. Es leuchtet ja aber förmlich von Geist und Güte. Die schönen dunklen Augen! Nur der Mund hat einen schwermüthigen Zug.
Und doch stammt das Bild aus seiner glücklichsten Zeit. Aber freilich, er glaubte nicht, daß das Glück dauern könne. Als er zum ersten Mal mich besuchte, sprach er gleich zu mir wie zu einer alten Freundin, von Allem, was er gelitten hatte, und seinen geringen Hoffnungen, noch einmal ein volles Glück zu erleben, obwohl er auf sein Talent vertraute, wenn er nur noch zehn Jahre vor sich hätte. Aber alle seine Geschwister seien jung gestorben. Nur eine Schwester lebte noch bei der Mutter in einem kleinen Städtchen, Ballenstedt am Harz. Da war sein Vater Organist gewesen, hatte seine vielen Kinder mit Mühe aufgezogen und diesen Jüngsten, da er eben die Schule durchgemacht, nach Berlin entlassen, wie es des Siebzehnjährigen heißester Wunsch gewesen war. Denn er brannte darauf, seine Musikstudien, die er beim Vater begonnen hatte, in der Stern'schen Akademie fortzusetzen, wo ihm denn auch sein ungewöhnliches Talent Aufnahme verschaffte.
Für seinen Unterhalt mußte er durch Stundengeben selbst sorgen, unter welchen Mühen und Entbehrungen, kannst du dir denken. Dazu starb dann nach wenigen Jahren der Vater. Mutter und Schwester waren auf ihn allein angewiesen, da sie durch ihrer Hände Arbeit kaum das nackte Leben fristeten.
All das erzählte er mir, doch nicht im Ton der Klage. Wie ein Botaniker eine Blume beschreibt, die sich nur in sonnenlosen Thälern findet. Überdies fühlte er sich wohl in meinem hellen Zimmer, an dessen Wänden allerlei hübsche Sachen hingen, Photographieen nach italienischen Meistern, ein paar Copieen und Blumenstudien, die ich gemalt, und die Bilder meiner Eltern, die mein Bruder auf meine Bitte mir überlassen hatte. Auch das alte Tafelklavier unserer Mutter hatte ich mitnehmen dürfen. Es paßte nicht in seinen eleganten Salon.
Seltsam war's, daß Helmuth genau so viel Sinn und Bedürfniß für die bildende Kunst hatte, wie ich für die Musik, ohne daß wir Beide selbst in der anderen Kunst etwas leisten konnten. Bloß daß er in seiner ein wirklicher Künstler war, ich in meiner nur eine Dilettantin.
So sah ich denn mit inniger Freude, wie er mehr und mehr aufthaute, sogar lustig wurde, als er allerlei drollige Jugenderinnerungen erzählte, wobei er im Zimmer hin und her ging, sich mit der seinen Hand durch sein schönes blondes Haar fuhr und ein übers andere Mal ausrief: Nein, wie hübsch es bei Ihnen ist!
Und dann setzte er sich ans Klavier und spielte Bach aus dem Kopf, da ich keine Noten hatte, und dann Schubert und noch Einiges, von dem er sagte, er kenne den Componisten nicht. Er wurde aber roth, als ich ihm bemerkte, ich glaubte ihn zu kennen.
Dann sprang er plötzlich auf, sah nach der Uhr und rief, er habe eine Lection versäumt und müsse eilig fort, um nicht noch zu einer zweiten zu spät zu kommen. Drei Stunden war er bei mir gewesen.
*
Seitdem kam er einen Tag um den andern und dann alle Tage.
Gewöhnlich gegen Dunkelwerden und trank dann Thee bei mir, aß aber nichts als höchstens einen Zwieback. Er behauptete, er habe sich das Essen so ziemlich abgewöhnt und lebe von Luft und chromatischen Tonleitern. Man konnte es ihm glauben, wenn man seine schmalen, durchsichtigen Wangen sah und die schlanken Hände, die aus Alabaster geformt schienen.
Dabei war er nie krank und bewegte sich mit einer elastischen Raschheit, daß man ihm eine stählerne Kraft zutraute. Auch am Klavier konnte er stundenlang sitzen, ohne zu ermüden; die Quelle seiner Frische, behauptete er, sei der Schlaf, das Einzige, worin er unmäßig sei.
Einen schönen Sommer hatten wir so in guter Kameradschaft miteinander verlebt. Als es Winter wurde, war ihm der weite Weg zu mir bei schlechtem Wetter zuweilen beschwerlich. Er sah sich daher nach einer näher gelegenen Wohnung um, und da sich's fügte, daß zwei Dachstübchen in meinem Hause, gerade über meinen Zimmern, leer wurden, zog er da hinein und war vergnügt wie ein Kind, mir nun so nahe zu sein.
Fürchten Sie nicht, sagte er lachend, daß mein Fußtritt über Ihrem Kopf Sie belästigen werde, da ich gewohnt bin, wie ein gefangenes Raubthier hin und her zu rennen. Ich habe mir eigens deßhalb zwei dicke Filzpantoffeln gekauft, und bei Nacht, wissen Sie ja, bin ich überhaupt ein stiller Mann.
Ich war nur zu glücklich, wenn ich trotzdem seine behutsamen Schritte über mir hörte. Mein Herz klopfte dann stärker; zum ersten Male fühlte ich mit einem wonnigen Schauer, daß dies Herz nicht mehr allein war in der fremden Welt.
Und nun kam er täglich zu mir herunter nach seiner Stundenfrohne, und ich erlebte Alles mit, was seine Phantasie ihm bescherte, und er horchte auf meinen Beifall oder mein Schweigen, wenn ich einmal seinem Fluge nicht folgen konnte, und an einem Operntext, den er dichtete, mußte ich mitarbeiten und war glücklich, wenn er mir zum Abschied die Hand küßte und mich seine Muse nannte. Ich wußte wohl, daß er mich überschätzte. Aber was ist das Gefühl eines Menschen für einen anderen werth, wenn man von einander nicht höher denkt, als man nach dem genauesten Maßstabe gemessen verdient.
Du wirst es kaum glauben, Kind, wenn ich dir sage, daß ich mich niemals ernstlich fragte, ob es Liebe sei, was ich für ihn empfand, noch weniger, ob er etwas fühle, was so genannt werden müsse. In unserer Weltabgeschiedenheit – denn ich hatte allen geselligen Verkehr aufgegeben, und ihm erlaubte schon seine Armuth nicht, Einladungen in reiche Häuser zu folgen – so wie wir also in unseren bescheidenen Nestern hoch über dem lauten Leben der großen Stadt miteinander uns begnügten, war mir zu Muth wie auf einem anderen Stern den seligen Geistern, die im reinen Äther leben und aller irdischen Bedürftigkeit entrückt sind.
Als aber dieser stille, glückliche Winter verging und es nun auch in seinem frostigen Dachstübchen warm und hell wurde, bemerkte ich, daß eine seltsame Verdüsterung sich meines Freundes bemächtigte.
Er konnte zuweilen Viertelstunden lang stumm mir gegenüber sitzen, ohne mich anzusehen oder auf das, was ich ihm sagte, zu antworten, und wenn ich ihn zu spielen bat, fing er wohl irgend eines meiner Lieblingsstücke an, brach aber mittendrin ab und erklärte, er wisse nicht weiter. Auf meine besorgte Frage, ob er sich unwohl fühle, schüttelte er heftig den Kopf, schützte irgend eine eilige Arbeit vor und stürmte aus dem Zimmer, lange vor der Stunde, in der er sonst sich verabschiedete.
Auch da noch gingen mir die Augen nicht auf.
Ich fühlte nur eine schwere Sorge um ihn. Seine zarte Natur, fürchtete ich, ist durch die übermäßige Anstrengung aus dem Gleichgewicht gekommen, wie ja das feinste Instrument am ehesten verstimmt wird, und dann oft unheilbar. Vielleicht aber hatte er Nachrichten von den Seinen bekommen, die ihn beunruhigten, und mit denen er nicht auch mir das Herz schwer machen wollte.
So hielt ich es für meine Freundespflicht, auf die Gefahr hin, zudringlich zu erscheinen, endlich darauf zu bestehen, daß er mir den Grund seiner verwandelten Stimmung sagen sollte. Als ich aber, nachdem er wieder eine Stunde lang wie geistesabwesend bei mir gesessen hatte, mit der Sprache herausging, erschrak ich über die Glut, die ihm plötzlich bis an die Augen stieg und sich gleich darauf in Todtenblässe verwandelte.
Er antwortete auch nicht gleich. Er stand mit wankenden Knieen vom Stuhl auf und machte eine Bewegung nach der Thür, wie wenn er lieber flüchten, als mir sein Geheimniß mittheilen wolle. Als ich aber aufsprang und ihn bei der Hand faßte, ihm zusprach, wenn es ihm nicht möglich sei, offen zu reden, was ihm das Herz beschwere, so wolle ich nichts gesagt haben, fiel er plötzlich vor mir nieder, umfaßte meine Arme und brach in krampfhaftes Schluchzen aus.
Ich will nicht versuchen, dir die erschütternde Scene, die nun folgte, zu schildern. Genug, nachdem er sich ein wenig gefaßt hatte, gestand er, daß er entschlossen sei, das Haus zu verlassen und für immer von mir Abschied zu nehmen. Er habe lange gefühlt, daß er verzichten müsse, von Tag zu Tag aber habe die Leidenschaft ihn mit immer festeren Banden zurückgehalten. Nun sei er es mir selber schuldig, zu flüchten, um nicht mein ruhiges Leben mit seinem unseligen Anblick zu verstören.
Ich war unfähig, ein Wort zu erwidern. Ich hatte mich zitternd zu ihm hinabgebeugt und ihn aufgehoben und war dann auf einen Sessel gesunken. Da ward er ruhiger, ging auf und ab in dem dämmerigen Stübchen, und es kam nun unaufhaltsam von seinen Lippen, was er so lang zurückgedrängt hatte.
Ich wisse, wie er im Leben stehe. Er könne nie daran denken, einen eigenen Herd zu gründen, da, was er erwerbe, kaum ausreiche, Mutter und Schwester in ihrer bescheidenen Lage zu erhalten. Was aber das Schwerste, Entscheidendste sei: er wisse, daß er nur wenige Jahre zu leben habe. Es würde die äußerste Gewissenlosigkeit sein, eine Familie zurückzulassen, für die er nicht habe sorgen können. Ich weiß, sagte er, Sie begreifen das Alles. Ich danke Ihnen, daß Sie mich in meinem Entschluß nicht irre machen wollen, mir nicht mit schalem Troste kommen, da es nun einmal trostlos mit mir steht. Für das aber, was Sie mir gegeben haben, muß ich bis an mein Ende Ihnen den Dank schuldig bleiben. Leben Sie wohl! Denken Sie freundlich und ohne Kummer an einen Menschen, dessen Alles Sie gewesen sind. Früher oder später hätt' ich mein Schicksal ja doch erfüllen müssen.
Ich hatte, während er sprach, wie in einer todesähnlichen Erstarrung gesessen, die Augen zu Boden gesenkt, so daß ich mehr fühlte als sah, daß er an mich herantrat und mir die Hand zum Abschied reichte. Ich war aber unfähig, mich zu rühren. So stand er eine Weile schweigend vor mir, dann ging er nach der Thür, öffnete sie langsam und schien auf der Schwelle zu zaudern, ob ich nicht aus meiner seelischen Ohnmacht erwachen würde, und ich hörte dann, wie er die Thür leise hinter sich zumachte.
Als ich aber seinen langsamen Schritt draußen auf der Treppe vernahm, durchfuhr es mich mit einem jähen Ruck, und wie ein Blitz leuchtete es in mir auf: wenn du so feige bist, ihn jetzt gehen zu lassen, wirst du dich dein Leben lang verachten müssen und am Unglück und Untergang des edelsten Menschen Schuld sein. Und wie das plötzlich klar vor mir stand, riß es mich aus meiner Lähmung auf, ich stürzte nach der Thür, öffnete sie und rief mit leiser Stimme in den dunklen Treppenflur hinauf: Helmuth, komm zurück, ich habe dir etwas zu sagen!
Im nächsten Augenblick war er die Stufen heruntergetaumelt und hatte sich von mir ins Zimmer zurückziehen lassen. Wir hielten uns umfaßt wie zwei Menschen, die dem Ertrinken entronnen sind, mit unendlichen Thränen, aber kein Wort wurde gewechselt – wir wußten, daß nichts hinfort uns trennen konnte.
So blieb er bei mir. Erst als der Morgen graute, schlich er sich leise aus meinem Zimmer.
*
Seit jenem Tage habe ich mich vor Gott als sein Weib betrachtet.
Ich hätte mich auch keinen Augenblick besonnen, es vor den Menschen zu werden, trotz der Unsicherheit der Zukunft. So oft ich aber versuchte, ihn dazu zu bewegen, stieß ich auf einen festen Widerstand. Es sollte Alles bleiben wie bisher, ohne jede äußere Verpflichtung. Meine Liebe wollte er als ein freies Geschenk annehmen, da er sich bewußt war, dies Geschenk so überschwänglich reich zu erwidern. Daß wir für immer verbunden waren, verstand sich ihm wie mir von selbst. Doch eine Verbesserung seiner äußeren Lage, wenn er mir erlaubte, als seine Frau für ihn zu sorgen, hätte ihn gedemüthigt. Du thörichtes Kind! sagt' ich. Also wenn ich eine Bettlerin wäre, würdest du es ganz in der Ordnung finden, daß sich, wie Rocco im »Fidelio« singt, Nichts mit Nichts verbände. Weil ich aber die armseligen tausend Mark jährlich besitze, weder genug zum Leben noch zum Sterben, würdest du erröthen, vor dem Standesamt unsere Verbindung einzugestehen. Als ob Geld überhaupt eine Wichtigkeit haben dürfte, wo zwei Menschen so zusammenstehen wie wir Beide. Aber so seid ihr Männer. Ihr nehmt unbedenklich Alles von uns an, was unser Theuerstes ist, Liebe und Treue, Sorge und Pflege und jede Aufopferung. Sobald wir euch aber auch das geben möchten, was für edlere Naturen nichts ist als ein ganz unpersönliches Mittel zum Zweck, das mit unserem tiefsten Wesen nicht das Geringste gemein hat, gleich bäumt sich euer Stolz dagegen auf, auch wenn wir jeden Dank für dergleichen als eine Beleidigung ansehen würden.
Wenn ich so redete, erwiderte er nicht ein Wort darauf. Er nickte nur mit seinem stillen Gesicht vor sich hin, stand dann auf und setzte sich ans Klavier, um mit einer Flut von Tönen all meine klugen Vorwürfe zu übertäuben. Ich wußte wohl, wie es in ihm aussah. Unsere Verbindung sollte ihn wie ein unbegreiflich holder Traum hoch über die gemeine Wirklichkeit erheben. Jedesmal, wenn er aus seinem armen Dachstübchen zu mir herunterkam, nichts von mir annahm als eine Tasse Thee, wie ein freier Gast von der Herrin des Hauses, die ihm doch alle Schätze ihres Herzens zu Füßen legte, war's ihm ein neues Wunder, das er wie ein Kind bestaunte, dem plötzlich die Fee aus einem Märchen leibhaftig entgegenträte,
Mich aber rührte es tief, wie der Künstler in diesem Kinde zusehends heranreifte. Wenn er mir spielte, was er damals componierte, und an meinem Verstummen, während mir die Augen feucht wurden, sah, wie hingerissen ich war, und dann aufstand und mir die Hände küßte und stammelte: Es kommt alles von dir! – O Liebste, es waren Stunden – –
Sie stand, von ihrer Erinnerung überwältigt, auf, trat an den Tisch und versenkte ihr erhitztes Gesicht in den Veilchenstrauß.
Nach einer Weile wandte sie sich um und sagte:
Du bist so tief verstummt. Aber du brauchst nichts zu sagen, ich sehe ganz tief in deine Seele hinein und weiß, was darin vorgeht. Du bist nicht in der großen Stadt fast zwanzig Jahr alt geworden, ohne von Verhältnissen gelesen und gehört zu haben, die nach der bürgerlichen Ordnung der Gesellschaft für unsittlich gelten und die man wilde Ehen oder mit einem noch häßlicheren Namen nennt. Und nun hat es deine unschuldige junge Seele erschreckt und betrübt, erfahren zu müssen, daß die Tante Lene, die du immer so hoch gehalten hast, sich zu einer solchen »Verirrung« hat fortreißen lassen und, was noch schlimmer ist, ohne Reue sich dazu bekennt.
Ja, mein geliebtes Kind, auch ich glaube, das hergebrachte bürgerliche Sittengesetz habe eine tiefe Berechtigung in der Unvollkommenheit der menschlichen Natur, als eine Schutzwehr gegen Leichtsinn und frivole Zügellosigkeit, die alle Schranken überfluten würden und den Bestand der auf die Familie gegründeten Einrichtungen untergraben. Aber wenn ich seine wohlthätigen Wirkungen, ja seine Unentbehrlichkeit anerkenne, heilig kann ich dies Gesetz nicht nennen in dem Sinne, daß es für Alle und Jeden verbindlich und unverbrüchlich wäre. Denn über dem geschriebenen Gesetz steht das Gesetz, das wir in unserm Gewissen tragen, und wie Vieles ist, was ungeschrieben ist, was uns die innere Stimme vorschreibt, die ja auch irren kann, aber für unser Thun und Lassen die oberste Instanz ist. Ist nicht auch Lüge etwas Häßliches, was einer reinen Menschennatur widerstrebt? Und doch kann es Fälle geben, wo sie von der Pflicht der Menschlichkeit, wenn sich's um Schonung des Nächsten handelt, geboten wird. Und wirst du die Mutter eine Diebin schelten, die für ihr hungerndes Kind ein Brod entwendet? O Liebste, es gibt Collisionen der Pflichten, in denen nur das ungeschriebene Gesetz in uns den rechten Ausweg findet.
So fühlt' ich damals, daß ich mir nicht untreu werden und meinen »gefährlichen Grundsatz«, recht zu thun und Niemand zu scheuen, nicht verleugnen dürfe. Denn siehst du, was ein weiser Mann als das höchste Moralgesetz hingestellt hat, immer so zu handeln, daß unser Thun die Richtschnur für die Handlungsweise Aller sein könnte: wohin führt es, als auch die freien und tapferen Seelen auf das Mittelmaß der schwachen und beschränkten herabzudrücken? Nur daß Jeder, der sich eine höhere Würde zutraut und tiefere Blicke in das, was seine »heiligen« Pflichten ihm auferlegen, sich auch darauf gefaßt machen muß, nach dem Grundsatz noblesse oblige seinen Adel zu erweisen, indem er alle Folgen, so schwer sie sein mögen, ohne Murren auf sich nimmt.
Dazu war ich denn auch entschlossen. Wenn mir ein Kind beschert worden wäre, ich hätte es keinen Augenblick zu verheimlichen gesucht, und wäre ihm die zärtlichste Mutter geworden.
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Dazu kam es nicht. Aber andere, weniger beglückende Folgen dessen, was ich gethan, blieben nicht aus.
Sommer und Herbst hatten wir so gelebt, kein Hauch hatte den tiefen Einklang unserer Herzen getrübt, nur zuweilen fiel ein Schatten über meinen sonnigen Frieden, wenn ich meinem Freunde anzumerken glaubte, daß er, gegen seine Gewohnheit, nicht den Schlaf gefunden hatte, der ihm noththat. Er scherzte aber jede Besorgniß hinweg und war an einem solchen Abend heiterer als je, oft bis zu hellem Übermuth.
Den Weihnachtsabend, den ich auch sonst nicht im Hause deiner Eltern zugebracht hatte, feierten wir Zwei wie fröhliche Kinder. Am ersten Feiertag ging ich, wie ich gewohnt war, zu euch, um meinem lieben Pathenkinde meine kleine Bescherung zu bringen, die sich sonst unter deinem reichen Aufbau nur verlegen ausgenommen hatte.
Diesmal war ich gewiß, dir Freude zu machen. Du warst nun fünf Jahre, hattest mit deinen geschickten Fingerchen schon allerlei künstliche Handarbeiten gemacht, nun bracht' ich dir ein Bilderbuch und Pinsel und Farben, mit denen du es ausmalen solltest, da du immer schon gewünscht hattest, wie andere größere Mädchen bei Tante Lene Malstunden zu nehmen.
O Tante Lene, unterbrach sie das Mädchen, ich hab' es nicht vergessen, das Buch habe ich unter meinen liebsten Sachen aufbewahrt, ich weiß es noch wie heut', wie geduldig du mir Alles zeigtest und erklärtest – ach, diese erste Malstunde ist ja die letzte geblieben!
Sie beugte sich herab und küßte die Hand der Tante, die mit einem Seufzer fortfuhr:
Ja wohl, auch mir steht die Stunde, wie wenn ich sie gestern erlebt hätte, in der Erinnerung, denn es fuhr mir eine böse Ahnung dessen, was kommen sollte, durchs Herz, als deine Dore kam: dein Papa lasse mich bitten, zu ihm zu kommen.
Er empfing mich mit einem kalten, steinernen Gesicht. Ohne meinen herzlichen Gruß zu erwidern, sagte er, noch ehe ich mich gesetzt hatte: er habe gehört, daß ich mit einem Hausgenossen ein zärtliches Verhältniß hätte. Das ganze Haus spreche davon. Er wolle einem so ungeheuerlichen Gerücht keinen Glauben schenken, verlange aber von mir eine offene Erklärung, um dem verleumderischen Gerücht widersprechen zu können.
Nicht einen Augenblick dachte ich daran, die Wahrheit zu verleugnen. Ich war freilich der Meinung gewesen, wir hätten Alles vermieden, was Verdacht erwecken konnte. Hernach erfuhr ich, die Tochter unserer Hausfrau, die für Helmuth heimlich schwärmte und sich eine Zeit lang eingebildet hatte, auch er interessiere sich für sie, hatte unseren täglichen Verkehr belauert und einmal ihn sehr spät von mir weggehen sehen, da er sich bis tief in die Nacht hinein nicht hatte trennen können.
Daß die Entdeckung meinen Bruder tief verletzen würde, konnte mich, wie ich ihn kannte, nicht wundern.
Er machte auch kein Hehl daraus, daß es weniger die Betrübniß war, seine einzige Schwester »so tief gesunken zu sehen« – ich sei majorenn, und wenn ich mich wegwerfen wolle, sei das meine Sache – die seine aber sei es, sein ehrbares Haus rein zu erhalten, seine Frau und das junge Kind vor dem Umgang mit mir und dem Beispiel eines so zügellosen Betragens zu bewahren, und so verlange er, daß jeder Verkehr mit ihnen für immer abgebrochen werde, und auch nie mehr ein Brief von mir an mein Pathenkind gelange.
Ich unterwarf mich ohne Widerrede dieser harten Forderung. Ich wußte, daß mehr noch als die Verletzung des moralischen Gefühls, die Furcht in ihm rege war, der Makel, den ich auf mich geladen, könne ihm in seiner geschäftlichen und gesellschaftlichen Stellung schaden. So sah ich ein, daß ein Riß zwischen uns sich aufgethan hatte, der mit keinem guten Willen so bald zu überbrücken war. Und mußte noch versprechen, das Haus zu verlassen, ohne von dir und deiner Mutter Abschied zu nehmen. Als wenn die bloße Berührung einer so verderbten Person euch hätte beflecken können.
Das war das Bitterste, da ich dich so innig ins Herz geschlossen hatte. Im Übrigen war ich sanguinisch genug, zu hoffen, die Zeit werde auch hier ihre heilende Kraft bewähren. Und so kam ich trotz dieses Schmerzes mit gehobenem Haupt nach Hause. Was konnte mich irgend anfechten, da ich den besten Schatz im Busen trug?
Aber derselbe Tag brachte noch eine betrübsame Überraschung, einen Brief der »Aufsichtsdame« in meiner höheren Töchterschule, die mir bis dahin immer wohlwollend begegnet war. Jetzt aber schrieb sie mir, ein durch mehrere Zeugnisse bestärktes Gerücht habe sich verbreitet, das es leider dem Director fernerhin unmöglich mache, mich den Unterricht ertheilen zu lassen. Sie erlaube sich, schrieb die gute Seele, kein Urtheil, ich würde aber begreifen, auch nur der bloße Verdacht, daß eine Lehrerin sich nicht der strengsten sittlichen Aufführung befleißige –
Und was der bedauernden Worte mehr waren, gegen die sich nach den herrschenden Vorurtheilen nicht das Geringste einwenden ließ.
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Dabei blieb es aber nicht. Ich verlor nach und nach auch meine Privatstunden.
Es hatte sich bald herumgesprochen, weßhalb ich meine Stelle in der Schule verloren hatte. Daß eine Lehrerin mit einem so schlechten Ruf in anständige Familien keinen Zutritt haben konnte, verstand sich von selbst. So war ich wieder auf mein kleines Vermögen angewiesen und auf den unsicheren Erwerb durch den Verkauf von Copieen und eigenen Arbeiten.
Zunächst aber, da ich in den besseren Zeiten gut Haus gehalten und etwas erspart hatte, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Ich wäre freilich gerne von hier weggegangen und in eine Stadt übersiedelt, wo sich wohlfeiler leben ließ und ich auch hoffen durfte, wieder Schülerinnen zu bekommen. Daran war aber nicht zu denken. Mein Freund konnte seine Stunden nicht aufgeben und nicht alle seine Verbindungen mit der Berliner musikalischen Welt abbrechen.
Er war freilich nicht mehr im Stande, sie so lebhaft wie früher zu unterhalten. Mit geheimer Angst sah ich, wie sein Zustand sich von Woche zu Woche verschlimmerte. Die Entwöhnung von einer reichlicheren Ernährung rächte sich, er genoß fast nur mehr flüssige Speisen und ließ sich nur widerstrebend die kräftigere Fleischbrühe aufnöthigen, die ich ihm bereitete, und etwas stärkenden Wein statt des leeren Thees. Mit Mühe hatte ich ihn daneben bewogen, es mit einer Milchkur zu versuchen. Sein Gesicht wurde immer schmaler und durchsichtiger, sein Gang mühsamer. Endlich konnte er die Treppe zu seinem vierten Stock nicht mehr ersteigen. Bis dahin aber war seine geistige Kraft ihm treu geblieben. Aus dieser seiner letzten Zeit stammen einige seiner schönsten Lieder. Und wie rührend leuchteten seine Augen auf, wenn er mir für meine Pflege dankte, wie unerschöpflich war er an immer neuen, oft humoristisch gefärbten Kosenamen und Liebesworten.
Das Ende näherte sich aber unaufhaltsam. Im Mai, gerade ein Jahr, nachdem wir uns gefunden hatten, habe ich ihn wieder hingeben müssen.
Kein Arzt erkannte so recht den Grund seiner Todeskrankheit. Unter ganz ähnlichen Erscheinungen waren auch seine Brüder früh aus dem Leben gegangen. Auch sie hatten wohl so lange sich bemüht, ihrem Magen seine bescheidensten Forderungen abzugewöhnen, bis er es endlich aufgegeben hatte, sich überhaupt zu nähren.
Ich bin dann von Berlin weggezogen, nicht in ein ganz kleines Städtchen, da ich überlegte, daß ich dort für mein bischen Kunst kein Publikum finden würde, sondern nach Magdeburg. Seine Mutter und Schwester nahm ich zu mir. Ich hatt' ihm versprochen, diese seine Erbschaft anzutreten, und war glücklich, Menschen in ihnen zu finden, die ihm nicht nur bluts-, sondern seelenverwandt waren. Die Mutter starb schon nach drei Jahren. Mit ihrer Tochter lebe ich in so inniger Gemeinschaft, daß mir eine leibliche Schwester nicht näher stehen könnte.
Das ist die Geschichte meiner »unglücklichen Liebe«, von der deine Mutter dir gesprochen hat. Ich kann dir nur wünschen, liebes Herz, daß das Leben, in das du morgen eintrittst, dir ein ebenso tiefes und reines Glücksgefühl gewähren möchte, wie ich es erlebt habe und noch heute, nach so langen Jahren, in mir lebendig fühle.
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Sie hatte während des letzten Theils ihrer Erzählung am Tisch gestanden, die Augen unverwandt auf den Veilchenstrauß geheftet. Nun trat sie wieder auf das Mädchen zu, das in seltsam unbeweglicher Haltung auf dem Sopha ruhte, den blonden Kopf starr auf die Lehne zurückgelegt, die Augen geschlossen. Das kleine Bild lag auf ihrem Schooß, die Arme hingen wie gelähmt herab. Aus den zugedrückten Lidern waren zwei große Tropfen gerollt und schimmerten an den blassen Wangen.
Um Gottes willen, Kind, was ist dir? rief die Tante, sich zu ihr hinabbeugend. Hat dich, was ich dir erzählt habe, zu tief angegriffen? Wenn ich geahnt hätte –
Sie wollte die zarte Gestalt umfassen und aufheben. Aber mit einer leidenschaftlichen Geberde glitt ihr das Kind aus den Armen und warf sich, in ein heftiges Schluchzen ausbrechend, auf den Sitz des Sophas, das Gesicht, das sie mit beiden Händen bedeckte, gegen die Seitenwand drückend. Ein Krampf schüttelte ihre Glieder, von ihren Lippen kam nur ein jammervolles Stöhnen, die heftig erschrockene alte Freundin war vor ihr auf den Teppich hingekniet und versuchte umsonst, diesen Ausbruch eines räthselhaften inneren Sturms zu beschwichtigen.
Auf einmal riß sich das arme junge Wesen mit einer gewaltsamen Anstrengung in die Höhe, richtete sich auf dem Polstersitz kerzengerade auf und blickte aus weitgeöffneten nassen Augen der liebevoll um sie Bemühten mit einem fast drohenden Ausdruck ins Gesicht.
Geh fort! sagte sie mühsam, während ihre Brust schwer athmete. Verlaß mich, wenn du mich lieb hast! Warum bist du gekommen? Warum hast du mir das angethan, mir die Augen darüber zu öffnen, wie elend, wie jämmerlich klein und schwach ich bin, wie ich das Unglück, das über mich kommt, verdient habe! Ein Glück wünschest du mir, wie du es erlebt hast? Aber du weißt ja nicht, daß das ein furchtbarer Hohn ist auf Alles, was die Zukunft mir bringen wird, daß ein solches Glück auch mir einmal nahe war, und ich erbärmliche, feige kleine Seele habe es nicht festgehalten, mir's aus den Händen winden lassen, um nun mein Leben lang die Reue, die wahnsinnige Reue –
Ein neues Schluchzen erstickte ihr das Wort. Wieder sank ihr Kopf an die Lehne zurück, und ein Strom von Thränen stürzte ihr aus den Augen.
Komm, mein geliebtes Kind, sagte die Tante, indem sie sich neben sie setzte und den Arm um ihre bebenden Schultern schlang, du mußt dich endlich fassen, mir zu Liebe, denn dein Schluchzen und Jammern zerreißt mir das Herz. Ich hätte nicht kommen sollen? Aber das ist nicht dein Ernst. Nein, schon viel früher hätt' ich kommen müssen, bin ich doch dazu verpflichtet und berechtigt, als deine Pathe, die gelobt hat, deine junge Seele in ihre Hut zu nehmen. Und eine Ahnung, daß die in Gefahr ist, ist mir schon lange nachgegangen, schon seit deinem ersten Brief, in dem du mir deine Verlobung anzeigtest. Von einem überschwänglichen bräutlichen Glück konnte ich nichts darin lesen, und die Photographie deines Bräutigams, die du mir später schicktest – es ist ja mißlich, einen Menschen nach so einem Bilde zu beurtheilen, aus dem oft gerade die bedeutsamsten Züge herausretouchiert sind. Aber daß ich mir den Gatten meiner Annie anders vorgestellt hätte – bei all seiner Eleganz und einer gewissen Gutmüthigkeit, die dem Bild aus den Augen sah – das kann ich nun wohl gestehen – nein, das konnte der Rechte nicht sein! Indessen – ich tröstete mich: am Ende ist's nicht zu verlangen, daß jeder mit so tiefsinnigen Künstleraugen in die Welt sieht wie dein Helmuth, und wenn er das Kind nur liebt, wie sie's verdient, und von ihr geliebt wird – – und jetzt zu erfahren – O ich Kurzsichtige! Das freilich, das ließ ich mir nicht träumen, daß das junge Herz, dessen Glück ich so innig vom Himmel erflehte, sein wahres Glück schon einmal gefunden und aus irgend welchen Gründen darauf verzichtet hatte – –
Sie schwiegen eine Weile und saßen dicht aneinandergedrückt, die Tante schmerzlich vor sich hin sinnend, Annie leise weinend, während von Zeit zu Zeit ein fieberhaftes Zucken durch ihre Glieder ging.
Dann hob sie endlich den Kopf und sagte, mit ihrem Tüchlein die Augen trocknend:
Du sollst nun Alles wissen, Tante Lene. Schreiben konnte ich dir's nicht. Was hätt' es auch geholfen? Das Schicksal ist doch mächtiger als unsere Wünsche. Ja, meine Geliebte, Einzige, ich habe Alles, was du von deiner glücklichen Liebe mir erzählt hast, nachempfinden können, ganz so war auch mir zu Muth, als ich mir darüber klar geworden war, daß Heinrich der einzige Mann sei, mit dem ich bis an den Tod hätte leben können. Er ist auch Jurist und kam, nachdem er sein Referendarexamen gemacht, als Hülfsarbeiter zu meinem Papa, in dessen Bureau es von Jahr zu Jahr mehr zu thun giebt, zumal seitdem er Justizrath geworden ist. Heinrich ist ein Landkind, seine alten Eltern leben noch auf ihrem Bauernhof, haben aber kein Opfer gescheut, den Sohn studieren zu lassen, und auch er hatte Mühe, sich durchzuschlagen, ganz wie dein Freund. Da war es ihm sehr erwünscht, von meinem Papa ein kleines Gehalt zu bekommen und nebenbei praktische Übung zu gewinnen. Papa war sehr mit seiner Arbeit zufrieden und lobte auch seinen Charakter, so daß er ihn ein paarmal, wenn wir größere Gesellschaft hatten, einlud. Bei solchen Gelegenheiten sprach ich nicht viel mit ihm, er gefiel mir aber sehr, und ich glaubte zu bemerken, daß auch ich ihm nicht gleichgültig war.
Dabei blieb es den ganzen Winter hindurch. Im Sommer jedoch, als wir in der Villa am Wannsee während der Gerichtsferien wohnten – da kam er einmal wegen eines Geschäftes, das keinen Aufschub litt, hinaus, Papa Bericht abzustatten. Da hatten wir, weil er über Nacht blieb, zum ersten Mal ein längeres Gespräch bei einem Spaziergang, und da – o Tante Lene, ich kann dir nicht Alles wieder sagen, was er zu mir sprach und was ich antwortete. Aber wir wußten seitdem, daß wir für einander bestimmt waren, und ich hatte die feste Zuversicht, nichts werde uns trennen können, und wenn er erst sein letztes Examen gemacht hätte, würde auch der Papa nichts gegen unser Glück einzuwenden haben.
Wir sahen uns dann in der Stadt nur selten und konnten kaum ein flüchtiges Wort mit einander tauschen. Aber wir wußten, wie es zwischen uns stand und daß wir einander sicher sein konnten.
Auch in Gesellschaften begegnete ich ihm nicht. Seine Verhältnisse hatten's ihm nicht erlaubt, sich in reiche Familien einführen zu lassen, und er war zu stolz, irgendwo es zu ertragen, daß man ihn über die Achsel ansah.
So tanzte ich diesen Winter mit Anderen, obwohl ich mir, wie du denken kannst, gar nichts daraus machte, mich zu putzen und auf Bällen mich feiern zu lassen. Ich konnte mich aber nicht davon losmachen, die Eltern hätten es nicht verstanden und Verdacht geschöpft.
Ein einzig Mal sah ich auch sein schönes, ernstes Gesicht unter all den eleganten jungen Herren auf einem Ball, der bei uns stattfand. Er tanzte aber nicht, sondern stand bescheiden und unbeachtet an der Thür, wenn ich im Arm irgend eines Courmachers vorüberflog. Nur zuweilen trafen sich unsere Blicke. Dann suchte ich ihm mit einem verstohlenen Wink Muth zu machen, ihn zu versichern, daß mein Herz keinem Anderen gehören sollte.
Einer meiner Tänzer, der sich am eifrigsten um meine Gunst bemühte, fing einmal einen solchen Blick auf, der Sohn eines sehr reichen Bankiers, der mir völlig gleichgültig war. Wer ist der Herr, den Sie da grüßen und der so verlegen roth wird über diese Auszeichnung? fragte er. Ich sagte ihm, daß es ein gewisser Referendar Heinrich Brand sei, der bei meinem Papa arbeite. Er mag ein guter Jurist sein, erwiderte er lachend, aber seine Balltoilette ist so fragwürdig wie seine Art, sich zu bewegen.
Es ging mir ein Stich durchs Herz. Wie gern hätte ich erwidert, daß er seinen Spott sparen könne, da dieser stille Herr mehr werth sei, als all die geschniegelten jungen Männer, die es nur ihrem Schneider zu verdanken hätten, wenn sie in der Welt eine Rolle spielten.
Und nun denk, Tante Lene: am anderen Tage, als ich zum Frühstück, etwas verschlafen, bei meinen Eltern erschien, küßte mich der Papa auf die Stirn und fragte mich nach den ersten gleichgültigen Worten, wie mir mein Haupttänzer von gestern Abend, der junge Bankierssohn und Associs seines Vaters, gefallen habe. Er habe noch gestern vor dem Scheiden ihn flüchtig um die Erlaubniß gebeten, heute kommen zu dürfen und um meine Hand anzuhalten!
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Sie schwieg und sah in dumpfer Trostlosigkeit vor sich hin. Dann sagte die Tante mit einem schmerzlichen Seufzer:
Armes Herz! Und du hast nicht den Muth gehabt, zu sagen, wie es um dich stand?
Die Junge fuhr in die Höhe.
O, Tante Lene, du denkst zu gering von mir! Nein, ich fühlte, was ich meinem Heinrich schuldig war. Ich erklärte dem Papa offen, ob ich diesen Herrn Leon liebenswürdig genug fände, seine Frau werden zu wollen, wüßte ich nicht. Jedenfalls könnte es zu Nichts führen, darüber nachzudenken, da ich einen Anderen liebte und mir gelobt hätte, ihm treu zu bleiben.
Und dann gestand ich Alles!
Aber so wenig ich mir daraus einen Vorwurf zu machen hatte, daß ich eine tiefe Neigung für einen so vortrefflichen Menschen gefaßt und sie ihm nicht verschwiegen hatte, – der Papa hätte nicht in heftigeren Zorn gerathen können, wenn ich ihm das schwerste Verbrechen gebeichtet hätte. Nie habe ich ihn so gesehen. Er hatte mich immer durch eine übermäßige Zärtlichkeit verwöhnt, ich war sein Augapfel gewesen, alle meine kleinen Fehler und Unarten hatte er der Mama gegenüber entschuldigt, und jetzt – ein Ausbruch von fassungslosem Zorn, in dem er mich mit Vorwürfen und Schmähungen überschüttete, als ob ich mich durch diese »Liebschaft hinter seinem Rücken« seiner väterlichen Liebe für alle Zeiten unwürdig gemacht hätte!
An diesen Morgen kann ich noch jetzt nicht zurückdenken, ohne daß mir ein kalter Schauder durch alle Glieder rinnt.
Ich will dich mit allem Einzelnen, was darauf folgte, verschonen. Genug, vierzehn Tage lang sprach der Papa kein Wort mit mir. Ich erfuhr, daß er Heinrich den Abschied ertheilt und ihm erklärt hatte, nie werde er zu dieser Verbindung seine Einwilligung geben. Mein Geliebter – das brachte ich von der Mutter heraus – hatte sich bei dieser Auseinandersetzung so charaktervoll und würdig benommen, daß selbst der Papa, so ergrimmt er über ihn war, ihm seine Hochachtung nicht versagen konnte. Für einen Bauernsohn habe er ungewöhnlich viel Haltung gezeigt.
Mein armer Heinrich! Nicht einmal Abschied von ihm zu nehmen, nicht durch das kleinste geschriebene Wort, wurde mir erlaubt. Meine Verzeihung für das entsetzliche Verbrechen, einem so edlen Menschen ohne Erlaubniß der Eltern mein Herz geschenkt zu haben, erlangte ich nur um den Preis, für immer ihm zu entsagen und in die Verlobung mit einem Andern zu willigen, der, als ich ihm gestand, ich fühlte keine Liebe für ihn, mir scherzend erwiderte, er sei auch nicht so eitel, das jetzt schon zu erwarten, aber überzeugt, es werde ihm noch während des Brautstandes gelingen, meine Eroberung zu machen. – –
*
Es war hierauf so still zwischen den Beiden, daß man das leise Geräusch der letzten Brände hörte, die im Ofen in Asche fielen.
Die Tante hatte ihren Arm vom Halse ihrer jungen Pathe gelöst, ihr Gesicht war sehr düster geworden, sie athmete mühsam. Endlich sagte sie:
Und einem solchen Menschen willst du morgen geloben, sein Leben zu theilen und ihm treu zu bleiben bis in den Tod? Und die Feste mitfeiern, mit denen dies lebenslange Unglück eingeweiht werden soll? O Annie, warum hast du mich nicht früher zu Hülfe gerufen!
Ein bitterer Zug trat an dem blassen jungen Munde hervor.
Hülfe? Wie hättest du mir helfen können? Wer hilft einer Tochter gegen den festen Willen ihres Vaters? Wird uns nicht zur Pflicht gemacht, Vater und Mutter zu ehren, auf daß es uns wohl gehe und wir lange leben auf Erden? Wie Vielen ergeht es nicht besser, ja schlimmer als mir, wenn sie einem Manne geopfert werden, den sie verabscheuen müssen, während der, den mir mein Vater zugeführt hat, mir nur gleichgültig ist und mir nur Grauen einflößt, wenn er mir seine Liebe beweisen will. Ja wohl, ein lebenslanges Unglück! Aber zum Glück braucht ein solches Leben nicht lang zu sein, und da ich das bischen Leben mir nicht selbst gegeben, sondern von meinen Eltern empfangen habe, sind sie nicht verantwortlich dafür, es glücklich oder unglücklich werden zu lassen?
Die Tante erhob sich ungestüm. Ihr feines Gesicht röthete sich von einem aufglühenden Unwillen, den sie nicht zu verbergen suchte.
Was redest du für aberwitziges Zeug! rief sie heftig. Ich kann es nur damit entschuldigen, daß du selbst nicht daran glaubst, dir diese armseligen Sophistereien nur vorschwatzest, um den Stachel in deinem Gewissen abzustumpfen. Ist es möglich, daß du nicht einsiehst, es handelt sich nicht um dein Glück oder Unglück allein, sondern um das so vieler anderer Menschen? Müssen deine Eltern nicht auch unglücklich werden, wenn sie sehen, daß sie ihr einziges Kind in ihrer Verblendung um alle Freude, allen Frieden ihres jungen Lebens gebracht haben? Und dieser Schwiegersohn, den sie sich ausgesucht haben, kann es ihm bei all seiner rücksichtslosen Selbstsucht auf die Länge wohl dabei sein, eine bleiche junge Frau an seiner Seite zu haben, die ihm nur aus kaltem Pflichtgefühl die Treue hält, während sie einen Andern im Herzen trägt? Von diesem Andern ganz zu schweigen, der diesen Schlag vielleicht nie wieder verwindet? Auch von dem Kummer, den du deiner alten Pathe damit machst, will ich nicht reden. Die kommt dir wieder aus den Augen und wird sich hüten, ihre »gefährlichen Grundsätze« dir je wieder in Erinnerung zu bringen. Ich müßte dich aber weniger lieb haben, als ich thue, wenn der Gedanke, wie jämmerlich du dein Herzensglück verspielt hast, mir jemals aus dem Gedächtniß schwände.
Nein, fuhr sie fort, als die Junge wie in einer Lähmung aller Sinne regungslos dasaß, so kann es nicht gemeint sein, daß ein Kind Vater und Mutter ehren soll. Ein Kind, das mündig geworden ist, muß die Pflicht fühlen, den Eltern gegenüber, wenn sie ihm aufzwingen wollen, was gegen sein Gewissen ist, bescheiden aber fest zu erklären, daß es für sein Thun und Lassen eine eigene Verantwortung hat. Es mag, wenn seine eigenen liebsten Wünsche mit denen seiner Eltern im Streit sind, auf ihre Erfüllung verzichten, so sehr sein Herz dabei blutet. Doch, um ihnen zu Willen zu sein, mit einer Lüge vor den Altar treten, kann das eine Gott wohlgefällige Handlung sein? Es geschieht ja tausendmal. Wie viele Töchter eigensüchtiger Eltern lassen sich wie willenlose Lämmer in die Kirche führen, um mit zitternden Lippen »Ja« zu sagen, während ihr armes feiges Herzchen »Nein« schreien möchte. Und sie haben ja oft einen zwingenden Grund dazu, bittere Noth im Hause, den Gedanken, ihre armen Eltern durch ihr Opfer vor Elend zu schützen. Du aber – kannst du dich damit trösten, daß du deinen Vater vor dem Bankerott bewahrst, ja ihm auch nur irgend einen Wunsch des Luxus oder Ehrgeizes, der ihm sonst unerreichbar wäre, erfüllst, wenn du diesem Bankierssohn deine Hand nicht verweigerst? Lebt ihr nicht ohnehin im Überfluß? Stehen deinem Vater nicht auch jetzt alle Thüren offen, die zu Ehren und Würden im Staat führen? Und bloß um ihm eine eigensinnige Laune nicht zu kreuzen, verzichtest du auf das Recht der Selbstbestimmung, das allein jeden vernunftbegabten Menschen adelt und ihn von der blöden Menge der Heerdenthiere unterscheidet? – –
*
Sie hatte sich so in Eifer geredet, daß die Luft im Zimmer ihr die Brust beklemmte. Nun trat sie ans Fenster und drückte die heiße Stirn gegen die von feuchtem Dunst überhauchte Scheibe. Da hörte sie das Mädchen, das im Sopha ruhte, mit einer halberloschenen Stimme sagen:
Glaubst du, daß ich mir das Alles in schlaflosen Nächten nicht selbst hundertmal vorgestellt hätte? Ich bin aber keine Kampfnatur. Ich habe das von der Mama, daß ich mich Papa's Willen, wenn ich ihn auch zu bekämpfen suchte, zuletzt immer fügen mußte. Daß ich es auch diesmal gethan – o Tante Lene, du kannst mich nicht tiefer darum verachten, als ich selbst es thue, und nicht einmal Mitleid habe ich verdient, wenn ich lebenslang Buße dafür thun werde. Aber erschwere mir das Furchtbare nicht, indem du noch ein Wort darüber verlierst. Laß mich die Augen fest zudrücken und in den Abgrund springen, aus dem kein Weg wieder ans Licht heraufführt. Noch irgend einen Ausweg zu suchen, ist jetzt ja zu spät.
Zu spät? rief die alte Freundin in hellem Zorn. Weil der Koch zum Leichenschmaus schon bestellt, die Kränze und Bouquets gewunden und Standesamt und Kirche bereits benachrichtigt worden sind, daß das große Opferfest morgen Mittag stattfinden solle? Aber freilich, es wäre schade um die Verse, die Freundinnen und Cousinen zum Polterabend auswendig gelernt haben, und die reichen Hochzeitsgeschenke, der ganze Trousseau – die werden die Magazine nicht mehr zurücknehmen! Und dann das Aufsehen, wenn die Sensationsnachricht durch die Stadt läuft, diese Vermählung, von der so viel gesprochen worden, sei rückgängig gemacht. Ja, du hast Recht, um alle dem die Stirn zu bieten, um dem gefährlichen Grundsatz zu huldigen: »Thue recht und scheue Niemand«, muß man den Muth seines Gewissens haben, und du, mein armes Kind, bist keine Kampfnatur. So helfe dir Gott, von mir kann dir keine Hülfe kommen!
Sie war vom Fenster weggetreten und hatte den Knopf der elektrischen Klingel berührt. Annie sprang betroffen auf.
Was hast du vor, Tante Lene? Du willst doch nicht –
Ja, Liebe, ich will fort, ich muß. Es ginge über meine Kraft, dieser traurigen Komödie beizuwohnen, heut' Abend dabei zu sein, wenn die Vorfeier dieses Opferfestes stattfindet. Welche Miene sollte ich dabei machen, rings die Glückwünsche zu hören, die man dir und deinen Eltern darbringt, den Neid in den lächelnden Gesichtern deiner guten Freundinnen zu sehen, die eine so glänzende Partie auch gern machen würden, und die selbstgefällige Miene des glücklichen Bräutigams, der seinen Arm um deine Taille legt und den Ball mit dir eröffnet! Nein, grüß deine Eltern von mir, sag ihnen, ich sei nur gekommen, um dir mündlich Glück zu wünschen – daß ich's dann nicht übers Herz bringen konnte, magst du ihnen verschweigen – ich hätte aber von meiner Schule keinen Urlaub bekommen und gleich zurückreisen müssen, oder was für ein besserer Vorwand dir einfällt – sie werden sich nicht so genau darum bekümmern, sondern eine Erleichterung fühlen, wenn ich wegbleibe – und nun –
Der Kellner trat ein und fragte nach dem Befehl der gnädigen Frau. Auf ihre Frage, wann der nächste Zug nach Magdeburg gehe, erhielt sie die Antwort, es seien noch sechsunddreißig Minuten bis zu seinem Abgang. – So lassen Sie sogleich eine Droschke holen und vom Hausdiener mein Gepäck hinuntertragen. – Dann, als der Kellner gegangen war:
Du mußt verzeihen, Kind, daß ich auch das kleine Bild, das mein Hochzeitsgeschenk sein sollte, wieder mitnehme. Ich hatte dir Rosen und ein Gewinde von Geißblattranken gemalt, Jelängerjelieber – das paßt nun nicht mehr. Denn da es dir nicht so wohl gehen wird, wie ich dir gewünscht und gehofft hatte, und du selbst kaum dich danach sehnen wirst, lange zu leben auf Erden –
Ein heftiger Ausbruch des wildesten Schmerzes unterbrach sie. Annie warf sich mit einem Strom von Thränen an die Brust der Freundin, die selbst in bitterliches Weinen ausbrach; so standen sie fest umschlungen und überhörten den Eintritt des Hausknechts, der sich mit dem Reisegepäck belud. Da er an Abschiedsscenen gewöhnt war, fiel ihm diese leidenschaftliche Trennung nicht sonderlich auf.
Dann gingen die Beiden langsam die Treppe hinab, ohne ein Wort zu wechseln. Mit stummer Geberde stieg die Tante unten in den Wagen, und während er fortrollte, sah sie nur noch einmal zurück nach dem Portal des Hotels, wo die schlanke junge Gestalt im Schneesturm, der von Neuem angehoben hatte, wie ein versteinertes Bild an der Schwelle stand und trostlos der Davoneilenden nachstarrte.
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Seit jenem traurigen Apriltage waren etwa fünf Wochen vergangen.
An einem heiteren Samstagnachmittag gegen Ende Mai saß in einem kleinen einstöckigen Hause, das am äußersten Rande einer der Vorstädte Magdeburgs lag, ein ältliches Fräulein an einem Theetisch, auf dem sie eben den Kessel angezündet hatte.
Das Haus, das mitten in einem großen Garten lag, gehörte einem reichen Fabrikanten, dem Vater einer von Tante Lene's Schülerinnen, der es, seit seine Frau darin gestorben war, nicht mehr bewohnte, sondern nur an gewissen Erinnerungstagen zu einem flüchtigen Besuche betrat. Es an Fremde zu vermiethen, hatte er sich nicht entschließen können, auf Bitten seiner Tochter aber die Wohnung im oberen Stock der Malerin und ihrer Lebensgefährtin, Helmuth's Schwester, für einen billigen Zins eingeräumt, um Alles in gutem Stand zu erhalten. Wenn er dann mit seinem jungen Kinde einmal hinauskam, that es ihm wohl, während er unten in dem früheren Wohnzimmer seine stille Feier hielt, Fräulein Cäciliens Spiel zuzuhören, das gedämpft von oben zu ihm herunterklang. Er schätzte die beiden feinen Damen sehr und hätte ihnen den Miethzins gern ganz nachgelassen, wenn Lene's Stolz dazu zu bringen gewesen wäre. Die wenigen Dienste, die die Freundinnen beanspruchten, wurden ihnen von dem Gärtnerpaar geleistet, dem die Pflege des Gartens anvertraut war.
Raum genug war droben für zwei einzelne Fräulein, die kein Haus machten und schwesterlich vertraut miteinander lebten. Die Bewohnerinnen hatten dafür gesorgt, die Zimmer so zierlich und behaglich einzurichten, wie man es ohne reiche Möblierung mit schönen Bildern und Blumen nur irgend zu thun vermag. Das Wohnzimmerchen aber war genau so ausgestattet, wie zu der Zeit, da Lene's Freund jeden Abend seine glücklichsten Stunden bei ihr verlebte, und auch das alte Klavier mit einem besseren zu vertauschen hatte sie nicht über ihr verwittwetes Herz gebracht.
Nun erwartete die Schwester ihre Rückkehr aus der Stadt. Diese Theestunde am Schluß der Woche, wenn Lene von ihrem anstrengenden Beruf ausruhte, war für Beide jedesmal ein kleines Fest, das sie für so manche Entbehrung ihres einsamen Lebens entschädigte.
Heute zumal, da die Maiensonne strahlend am Himmel stand und zu den offenen Fenstern ein starker Veilchenduft hereinwehte, war das liebenswürdige Gesicht des wartenden Fräuleins von einer besonderen Heiterkeit verklärt. Sie hatte heimlich einen kleinen Kuchen gebacken, den Lene liebte, und ein Kränzchen von Frühlingsblumen herumgelegt. Nun saß sie, ihr Nähzeug in den Händen, am Fenster und sah auf die sauber geharkten Beete hinab, wo der kleine Knabe der Gärtnerin mit einem Hündchen spielte. Ihr Herz war heute besonders voll von Dankbarkeit gegen die Freundin, die all das Liebe und Schöne ihr seit Jahren gestiftet hatte. Sie konnte es kaum erwarten, sie hereintreten zu sehen, um sie dann mit überfließender Zärtlichkeit zu umarmen. Um so mehr gab es ihr einen Stoß gegen das Herz, als Lene nun die Thür öffnete und mit einem traurigen Blick ihr zunickte. Sie war sogleich aufgesprungen und zu ihr hingestürzt, sie an den Armen fassend.
Dir ist nicht wohl, Liebste! Was ist dir? Ist dir etwas zugestoßen?
Ich bin dem Briefträger begegnet, erwiderte die Freundin. Er hatte einen Brief für mich – aus Berlin. Was kann aus Berlin Gutes für mich kommen? O aber das –! Und doch – es ist besser so, als wie mir's all die Zeit her vor der Phantasie stand, da ich mein armes Kind mir auf dieser unseligen Hochzeitsreise vorstellte. Jetzt wenigstens –
Um Gottes willen, was ist Annie geschehen? Ein Unglück – etwas Verzweifeltes?
Nichts, was sich mit Gottes Hülfe nicht noch zum Guten wenden ließe, so schwer es für den Augenblick scheint. Aber lies selbst. Ich habe keine Zeit zu verlieren, ich reise noch heute Abend – hoffentlich bin ich morgen schon zurück, und da morgen Sonntag ist, brauchst du vorläufig meine Stunden nicht absagen zu lassen. Meine arme, arme Annie!
Der Brief, den sie der Freundin hinreichte, hatte folgenden Inhalt:
»Hochgeehrtes Fräulein Tante!
Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern; ich bin die alte Dore, aber nun kennen Sie mich natürlich, weil ich ja als Kinderfrau ins Haus gekommen bin, als unser Fräuleinchen eben entwöhnt worden war. Und weil Sie sie auch immer so lieb gehabt haben, und haben sie ja auch aus der Taufe gehoben, und dann, wie sie fünf Jahre alt war – aber verzeihen Sie, daß ich Ihnen so viel vorschwatze, was Sie ja selber wissen, und ich habe Ihnen was ganz Anderes zu schreiben, was Sie ja gewiß noch nicht erfahren haben, denn der Herr Justizrath ist ja mit Ihnen verzürnt, und was Annie's Mama ist, die hat es Ihnen auch nicht schreiben dürfen, obwohl sie's gerne gethan haben würde, und da habe ich alte Person Hand übers Herz legen müssen, weil unser Fräuleinchen mich so erbärmlich gedauert hat und hat mich gebeten: Schreib du es an Tante Lene, Dorchen, hat sie gesagt, denn ich habe nicht eher Ruhe, als bis sie's weiß, und: Anniechen, habe ich gesagt, ich bin im Schreiben nicht geschickt, aber sie hat nicht nachgegeben, bis ich's ihr dann versprochen habe, und nun sollen Sie's denn hören, hochgeehrtes Fräulein Tante, weil Sie doch die Nächste dazu sind.
Nämlich an dem Mittag, wo Sie in Berlin waren und haben dann die Hochzeit nicht abwarten wollen, da haben die Herrschaften mit dem Herrn Leon lange auf unser Fräuleinchen gewartet, daß sie zum Essen nach Hause kommen sollte, und der Herr Justizrath ist furchtbar böse geworden und hat die Mama gezankt, daß sie's unserm Annchen erlaubt hat, die Tante vom Bahnhofe abzuholen, und was er da für häßliche Worte gesagt hat, will ich für mich behalten. Und endlich hat mich die Frau Justizrath nach dem Hôtel geschickt, ich sollt' das Kind holen, gleichviel, ob mit Tante Lene oder allein. Ich bin ihr aber auf der Straße begegnet, mitten im Schneesturm, wie sie langsam herankam, und war dunkelroth im Gesicht unterm Schleier und zitterte am ganzen Leibe, und Annchen! rief ich, wie siehst du aus? Und warum hast du keine Droschke genommen? Aber sie gab keine Antwort und sah mich so wirr an, als ob sie nicht recht bei sich wäre, und da wickelte ich sie noch über ihrer Jacke in mein großes Tuch und machte, daß ich sie nach Hause schleppte, denn ich dachte nicht anders, als sie fällt mir auf der schmutzigen Straße ohnmächtig hin, und eine Droschke war nicht zu errufen.
Zum Glück war der Weg nicht weit, und zu Hause trug ich sie gleich zu Bette, indem daß der Frost sie schüttelte, daß ihre armen Gliedmaßen nur so auf und ab flogen. Und erst, wie sie warm zugedeckt war, sagte ich den Herrschaften, wie ich sie gefunden hatte, und dann kamen sie eilig in ihr Schlafzimmer, bloß der Herr Bräutigam blieb zurück, und Herr Justizrath war furchtbar zornig und sagte, das Alles komme davon her, daß er so schwach gewesen wäre, die Tante Lene zur Hochzeit einzuladen, und nun müsse der Polterabend und Alles verschoben werden, und was man in der Stadt dazu sagen würde. Das Kind aber hörte von alledem nichts, sondern das hitzige Fieber schüttelte sie, und wie der Doctor kam, machte er ein langes Gesicht und sagte, man könnte noch nicht wissen, aber jedenfalls werde es Wochen dauern, bis ans Aufstehen zu denken wäre.
Damit hat er denn auch Recht behalten, und es ist noch keine zehn Tage her, daß die Gefahr vorüber ist; aber wie schwach und elend unser Kind noch heute ist, das können Sie sich nicht vorstellen. Bloß, daß sie ihren klaren Verstand wieder hat, aber das ist nun gerade das Traurige, denn jetzt denkt sie nichts Anderes, als daß sie nie und nie sich entschließen könnte, dem Herrn Leon seine Frau zu werden, was sie nur dem Papa zu Gefallen vorher hat thun wollen, denn so eine richtige Liebe zu ihm hat sie nie gefühlt und sich nur geschämt, es ihm zu sagen.
Denn was der Herr Leon ist, so will ich ihm nichts Schlimmes nachsagen, aber unser Fräuleinchen hätt' ich ihm nicht recht gegönnt, so hübsch und reich er ist und auch sehr verliebt in unser Annchen. Und wie der Herr Justizrath, als sie wieder auf sein konnte, sie fragt, ob sie den Besuch ihres Bräutigams nicht annehmen wollte, da hat sie sich ein Herz gefaßt und offen erklärt, wie daß sie ihn nie mehr sehen wollte, und er möchte so großmüthig sein, ihr sein Wort zurückzugeben, weil sie lieber sterben, als seine Frau werden wolle.
Hochgeehrtes Fräulein Tante, ich habe selbst ein Kind gehabt und weiß, wie's einer Mutter zu Muth ist, wenn ihr einziges Herzblatt so zu ihr spricht, denn auch meine Tochter hat einmal einen braven Mann abgewiesen und ist dann früh gestorben aus unglücklicher Liebe. Und darum habe ich auch begriffen, daß die Mama zu unserem Fräuleinchen hielt, aber Sie wissen ja – bloß was der Herr Justizrath sagt, gilt im Hause. Und so hat er ihr erklärt, davon könnte keine Rede sein, der Brautstand müsse bestehen bleiben, und sie rede nur noch irre, sie solle sich besinnen, und wenn es Jahr und Tag dauerte, zu einer Entlobung werde er nie seine Einwilligung geben.
Ach, Fräulein Tante, Jahr und Tag würde es nicht dauern, wenn es so fort ginge, das kann jeder sehen. Denn unser Kind hat zwar kein Wort dagegen gesagt, wie der Papa ihr das Todesurtheil ankündigte, aber von dem Tag an hat sie keinen festen Bissen mehr über die Lippen gebracht, höchstens ein paarmal einen Schluck Thee, und alles Zureden der Eltern und des Herrn Sanitätsraths war umsonst. Es ist klar, sie will nicht mehr leben, wenn man ihr eine Liebe aufdrängen will, von der ihr Herz nichts weiß, und wenn Sie unsern Liebling sehen würden, wie er jetzt aus ganz großen Augen in dem schmalen Gesichtchen vor sich hin träumt –
Ich konnt's nicht mehr mit ansehn. Kind, sagt' ich, soll ich nicht an die gute Tante Lene schreiben? Vielleicht, sagt' ich, kann sie doch helfen. Thu's, Dorchen, sagte sie mit ihrer schwachen Stimme. Helfen kann sie nicht, sagte sie, aber es ist mir lieb, daß sie weiß, ich werde vor Gottes Altar keine Lüge sagen.
Und so habe ich mir ein Herz gefaßt, hochgeehrtes Fräulein Tante, Ihnen diesen Brief zu schreiben, obwohl ich weiß, wenn's der Herr Justizrath erfährt, werde ich keine Stunde länger im Hause bleiben dürfen. An alle dem ist aber nichts gelegen, und wenn unser Kind ohne Hülfe bleibt, habe auch ich in der Welt nichts mehr zu thun. Darum bitte ich unterthänigst, mir zu antworten, ob noch was zu hoffen und zu helfen ist, und empfehle mich dem gnädigen Fräulein Tante mit tausend Grüßen von unserem armen Kind, als Ihre
gehorsame Dienerin
Dorothea Stegemann.«*
Am Nachmittag des nächsten Tages, der, wie wir wissen, ein Sonntag war, blieb es Stunden lang sehr still in dem großen Hause an der Jägerstraße, dessen eleganten ersten Stock Annie's Eltern bewohnten.
Der Justizrath war kurz vor Tische in das Zimmer seiner Tochter gekommen, wo diese in ihrem Lehnstuhl ruhte, die Hände, die ein geschlossenes Büchlein hielten, müßig in ihren Schooß gestreckt. Rings um sie her blühte ein förmlicher Garten der schönsten, seltensten Blumen, deren keine nur einen flüchtigen Blick ihrer Augen auf sich zog. Diese müden, traurigen Augen blieben starr zu Boden gesenkt, auch als ihr Vater eintrat, hinter ihm die alte Dore, die ein kleines Brett mit einer dampfenden Suppe trug. Alle Bemühung des Vaters, sie zum Essen zu bewegen, war umsonst. Auf seine Frage, wie sie sich fühle, hatte sie nur ein kaum hörbares Gut! geantwortet, kein Hauch eines frischen jungen Blutes hatte das schmal gewordene Gesichtchen geröthet. Sie ruhte wie ein Wachsbild, das nur durch einen fieberhaften Schimmer der starren Augen einen Schein von Leben erhielt.
Dann war der Vater hinausgegangen, mit einer Miene verbissenen Unmuths, die nur draußen, da er sich im Corridor allein sah, sich in eine düstere Traurigkeit verwandelte. Er hatte mit seiner einsilbigen Frau, während sie dann speisten, kaum ein Wort gewechselt, nur als sie vom Zustand ihres Kindes zu reden anfangen wollte, jede weitere Unterhaltung darüber scharf abgeschnitten und sich, ohne das Dessert abzuwarten, in sein Arbeitszimmer zurückgezogen.
Hier zündete er eine Cigarre an und schritt, heftig rauchend, über den schweren Teppich auf und ab. Die große, stattliche Gestalt zeigte in ihrer aufrechten Haltung noch keine Spur des beginnenden Alters, obwohl die hohe weiße Stirn ihm längst über den Kopf gewachsen war und nur an den Schläfen zwei Büschel graublonden Haares trug, die sich in einem dünnen Kranz nach dem Hinterhaupt zogen. Wer das scharfgeschnittene, regelmäßig gebildete Gesicht und die festen, hellgrauen Augen betrachtete und den Ausdruck entschiedener geistiger Kraft und großer Willensstärke wahrnahm, der alle Züge adelte, konnte begreifen, daß dieser Mann allen Parteien vor Gericht imponierte, noch ehe er den Mund öffnete, um seine Sache mit energischer Beredtsamkeit zu vertheidigen.
Heut aber war von dieser beherrschenden Sicherheit in Blick und Geberde des Justizraths nichts zu entdecken. Er ging wie ein müder, von einer Sorgenlast bedrückter Mensch, der mit Gedanken, die sich anklagen und entschuldigen, vergebens ins Reine zu kommen sucht. Über seinem Arbeitstisch hing das Bild seiner Tochter, ein lebensgroßes Kniestück, in ihrem siebzehnten Jahre von einem Maler, der gerade in der Mode war, gemalt, eine liebliche, unschuldige Mädchenblüte, die sich eben erst entfaltet hat. Es war das einzige Gemälde in dem mit einer kostbaren grünseidenen Tapete bekleideten Zimmer. Der Justizrath hatte nichts von dem künstlerischen Sinn seiner Schwester und behauptete, durch jeden malerischen Schmuck seiner Umgebung im ruhigen Denken gestört zu werden. Nur das Gesicht seines Kindes wollte er bei sich haben, des einzigen Wesens, das den in seinem Innern verschlossenen weichen Kern warm anzurühren vermochte.
Er sah jetzt aber, wenn er an dem Schreibtisch vorüberkam, nicht zu den weitgeöffneten Veilchenaugen hinauf, sondern senkte das Kinn nur tiefer auf die Brust. Auch schien ihn das ruhelose Wandeln zu ermatten. Er warf sich in den Schreibstuhl und nahm ein Actenstück aus einer schwierigen Proceßsache in die Hand, das er aus dem Bureau mit nach Hause genommen hatte, um es während des Sonntags zu studieren. Doch kam er nicht über die erste Seite hinaus, und das blaue Heft glitt ihm aus der Hand auf den Teppich.
So saß er in düsteres Brüten vertieft wohl eine halbe Stunde, als ein Diener in schwarzer Livree eintrat, mit der Meldung, eine Dame sei draußen, die fragen lasse, ob der Herr Justizrath sie empfangen wolle. Sie habe ihre Karte nicht abgegeben, der Herr Justizrath kenne sie, sie komme in einer dringenden persönlichen Angelegenheit.
Sie wissen, Anton, daß ich in Geschäften nur im Bureau zu sprechen bin. Sie soll sich morgen dort einfinden.
Die Angelegenheit betreffe den Herrn Justizrath selbst und sei dringend.
Kennen Sie die Dame, Anton?
Nein, Herr Justizrath. Sie trägt auch einen dichten Schleier, scheint übrigens keine Bettlerin zu sein.
So lassen Sie sie eintreten.
Als die Thür sich wieder öffnete und die schlanke, dunkle Gestalt über die Schwelle trat, an der sie ohne eine Verbeugung stehen blieb, fuhr der Justizrath mit einer hastigen Geberde des Erschreckens vom Sessel auf.
Du bist es, Helene –?
Ja, Bruder Carl, ich bin es. Wir haben uns lange nicht gesehen. Aber fürchte nicht, daß ich dir viel Zeit rauben werde. Ich bin nur zu einem kurzen Besuch gekommen. Heute noch vor Nacht will ich wieder zu Hause sein.
Sie standen einander gegenüber, der Bruder in einer Befangenheit, die er vergebens zu bemeistern suchte. Lene hatte den Schleier zurückgeschlagen und ihm das wohlbekannte zarte Gesicht gezeigt, das die Jahre kaum verändert hatten. Sie selbst suchte in dem Manne vor ihr die Züge des einst geliebten Bruders, und es beklemmte ihr das Herz, wie kalt und maskenhaft es geworden war.
Dann aber gewann der so heftig Überraschte seine Fassung wieder. Indem er einen zweiten Sessel an den Arbeitstisch heranzog, sagte er: Willst du Platz nehmen? Ich – bin freilich beschäftigt – aber wenn du mir etwas Wichtiges zu sagen hast –
Sie setzte sich ruhig auf den angewiesenen Platz, während er in den Schreibstuhl zurücksank. Mit der blassen, ringlosen Hand fuhr er sich über die Stirn, als wollte er sich versichern, daß diese Scene nicht geträumt war.
Allerdings, sagte sie, indem ihre Augen zu Annie's Bilde hinaufschweiften, etwas Wichtiges führt mich her. Ich habe erfahren, daß Annie schwer erkrankt ist, ich wollte mich selbst überzeugen –
Wer hat dir davon geschrieben? fiel er ihr aufbrausend ins Wort. Wenn Adelheid es gethan hat, trotz meines ausdrücklichen Verbotes –
O, Bruder Carl, erwiderte sie mit einem wehmüthigen Kopfschütteln, deine Frau hast du zu gut erzogen, als daß sie wagen möchte, gegen eines deiner Verbote sich aufzulehnen. Woher ich es habe, ist übrigens gleichgültig, jedenfalls auch nicht von dem armen Kinde, das kaum noch athmen, geschweige die Feder führen kann.
Da es aber so weit gekommen ist mit ihr – bist du gekommen, dich an deinem eigenen Werk zu weiden!
An meinem Werk?
Oder bist du es nicht gewesen, die das Kind gegen den eigenen Vater aufgehetzt hat, und jetzt, da sie gesehen hat, daß der väterliche Wille vor einer Mädchenlaune sich nicht beugt, ist es nicht dein verderblicher Einfluß, der sie in ihrem Eigensinn bestärkt und sie lieber ihren unbescholtenen Ruf, die Liebe ihrer Angehörigen, ja ihr junges Leben aufs Spiel setzen läßt, als daß sie vernünftigen Vorstellungen nachgiebt?
Die Schwester hielt seinen feindselig aufgeregten Blick ruhig aus. Dann sagte sie:
Du beschuldigst mich sehr mit Unrecht, Bruder, daß ich die Tochter zum Widerspruch gegen deinen Willen verleitet hätte. Ihr eigenes Herz hatte sich längst gegen das aufgelehnt, was du für ihr Glück hieltest. Ich habe, als sie mir ihre Noth klagte, sie nur gefragt, ob es denn wirklich zu spät sei, noch zu versuchen, ob sie dich nicht anderen Sinnes machen könne, und freilich, auch das habe ich ihr nicht verschwiegen, daß es am letzten Ende auch dich reuen würde, wenn du sie zu etwas zwängest, gegen das ihr innerstes Gemüth sich sträubte. Als sie dabei blieb, es sei nichts mehr zu ändern, bin ich wieder abgereist. Das konnte man mir denn doch nicht zumuthen, daß ich das geliebte Kind den verhängnißvollsten Schritt seines Lebens mit Gram und Grauen im Herzen sollte thun sehen, da ich als Annie's Pathe vor Gott gelobt hatte, ihr Seelenheil zu behüten. Und wenn sie dann in dem eisigen Schneewind sich eine Erkältung zuzog und Alles, was die Folge davon war – kannst du behaupten, das sei mein Werk gewesen?
Er saß eine Weile, in sich zusammengesunken, mit halb zugedrückten Augen ihr gegenüber. Dann richtete er sich, als schäme er sich, daß ihre Worte Eindruck auf ihn gemacht, mit einem Ruck in die Höhe.
Das Alles erscheint dir ganz in der Ordnung, murrte er. Nach deiner überspannten Lebensanschauung ist es nicht anders zu erwarten. Danach gibt es kein höheres Recht, als das sogenannte Recht der Leidenschaft, in diesem Falle nicht einmal das, sondern ein unreifes Gefühl, eine Mädchenschwärmerei soll Recht behalten gegen Alles, was die überlegene Einsicht in die Verhältnisse für gut findet. Eine sentimentale erste Liebe muß durchaus für heilig erklärt werden, ein Ehebündniß mit einem in jeder Hinsicht trefflichen jungen Mann wird als eine Ungeheuerlichkeit hingestellt, bloß weil die Eltern es angemessener finden, ihr Kind sicheren Händen anzuvertrauen, während ein Mensch ohne alle Aussichten, der es schlau verstanden hat, sich in ein angesehenes Haus und das Herz der Tochter dieses Hauses einzuschleichen – aber was rede ich all das in dich hinein? Wir werden uns nie verstehen, wir haben von jeher verschiedene Sprachen gesprochen.
Er stand hastig auf, als wollte er damit andeuten, daß er das Gespräch zu enden wünsche.
Die Schwester blieb ruhig sitzen.
Lieber Bruder, sagte sie nach einer kleinen Pause, du hast leider Recht: in Vielem verstehen wir uns nicht. In dem Einen aber kann es keinen Zwiespalt zwischen uns geben, darin, daß wir Beide das geliebte Kind glücklich sehen wollen. Du bist viel weiser, gelehrter, thatkräftiger als ich, aber doch auch ein Mensch, der dem Irrthum ausgesetzt ist, wie alle Menschen. Wenn du nun glaubst, wo sich's um ein Lebensglück handelt, habe das blinde thörichte Herz nicht mitzusprechen, nur der hellblickende, nüchterne Verstand, hättest du da nicht an dir selbst erfahren, daß diese Maxime sehr anfechtbar ist? Verzeih, wenn ich einen wunden Punkt berühre, aber hast du selbst nie bereut, daß du nur aus Vernunftrücksichten eine Ehe geschlossen hast, die dir ein volles Glück nicht gewähren konnte? Du freilich mußtest ohne Klage ertragen, was du nur deinem freien Entschlusse verdankt hast. Aber mit welchen Gefühlen soll dein Kind dich betrachten, wenn es das Beste im Leben, das Eine was Noth thut, das Einverständniß der verbundenen Herzen entbehren muß, bloß weil sein Vater auf den Nothschrei seiner Tochter nicht hatte hören wollen?
Siehst du, Carl, sie hat von euch Beiden Grundtöne ihrer jungen Seele empfangen, von ihrer Mutter das tiefe Liebesbedürfniß, das du deiner Frau nie gestillt hast und das sich nun in grenzenloser Unterwürfigkeit Genüge zu thun sucht; von dir den starken Willen, der, einmal zu einem klaren Entschluß gekommen, nie mehr zu beugen ist. Fühlst du es nicht selbst, daß du sie nie und nimmermehr dahin bringen wirst, die Verlobung aufrecht zu erhalten, daß sie Ernst machen wird mit ihrem Entschluß, keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen, wenn das verhaßte Band, das ihre Brust umschnürt, nicht bald gelöst wird? Sie wäre nicht deine Tochter, wenn sie das nicht durchführte, was sie einmal als ihr Recht und ihre heilige Pflicht erkannt hat.
*
Eine lange Stille trat nach diesen Worten ein.
Der Bruder war ans Fenster getreten und hatte auf die sonntäglich stille Straße hinausgeblickt. Ehe er sich dann umwandte, fuhr er mit dem Rücken der Hand über die Augen, in denen schwere Tropfen standen. Auch seine Stimme klang gebrochen, als er, ohne seinen Platz zu verlassen, sagte:
Es kann nichts helfen, weiter davon zu reden und gegen das anzukämpfen, was doch einmal gegen alle Vernunft sich durchsetzen wird. Ich weiß, daß ich schwach genug gewesen wäre, in einigen Tagen auch zu thun, was du mir heute schon abgerungen hast. Ich zürne dir deßhalb nicht. Wie du einmal bist, hast du ja nur gethan, was du nicht lassen konntest, aber wenn es nicht zum Heil des Kindes ausschlagen sollte, mußt du mir erlauben, die größere Hälfte der Schuld auf dich zu wälzen. Daß ich alle unliebsamen Folgen zu tragen habe gegenüber der schwer gekränkten Familie des Bräutigams und dem Urtheil der Welt, will ich nicht in Anschlag bringen.
Er trat vom Fenster weg und näherte sich der Schwester. Diese stand auf.
Ich danke dir von Herzen, lieber Carl, sagte sie, nicht nur um Annie's, sondern auch um deinetwillen. Ich habe heute den Bruder wiedergefunden, den ich so viele Jahre entbehrt hatte. Aber damit mein Glück vollkommen sei, mußt du mir noch etwas gewähren.
Noch etwas?
Du wirst unser Kind wieder ins Leben zurückrufen, wenn du sie frei giebst. Daß sie aber wieder Freude am Leben gewinnt, kannst du nicht hoffen, so lange ihr liebster Herzenswunsch ihr versagt bleibt. Gieb ihr den Mann, den sie liebt, und auf den sie, wie ich sie kenne, nie verzichten wird.
Was verlangst du? fuhr er auf. Nein, nein, das ist unmöglich! Sprechen wir nicht mehr davon!
Unmöglich? Möchtest du lieber sehen, daß sie dir unvermählt im Hause bleibt, als ein verblühendes alterndes Mädchen, vielleicht gar, auch wenn sie sich's nicht eingestehen würde, heimlich darauf wartend, daß endlich der Tod die traurige späte Lösung bringen möchte, ihr den Vater nehmen, um sie mit dem treuen Geliebten zu vereinigen? Denn auch ihr Heinrich wird auf sie warten. Davon bin ich fest überzeugt.
Wie kannst du so sprechen, da du ihn nicht kennst?
Ich kenn' ihn, Carl. Ich habe heute seine Bekanntschaft gemacht. Glaube nur, ich hab' es mit meiner Pathenpflicht ernst genommen. Ich wollte mich nicht auf das Urtheil eines verliebten jungen Dinges verlassen, das so wenig Lebens- und Menschenkenntniß hat. Darum hab' ich heute früh unter einem angenommenen Namen ein Billet an Annie's Erkorenen geschrieben und ihn gebeten, in einer juristischen Angelegenheit zu mir ins Hôtel zu kommen.
Nun, und da hat dieser Herzenbrecher sogleich deine Eroberung gemacht?
Er blieb über eine Stunde bei mir. Ich hatte mir eine ziemlich unwahrscheinliche kleine Fabel zurecht gemacht, von einer mir befreundeten Dame, die von ihm gehört habe, daß er ein so wohlbeschlagener Rechtskundiger sei – selbst deinen Namen mißbrauchte ich, indem ich sagte, die Dame wisse, daß du ihn als Hülfsarbeiter in deinem Bureau sehr zu schätzen gewußt hättest. Es handle sich nun um eine discrete Angelegenheit, mit der meine Freundin nicht gleich den offenen Rechtsweg beschreiten, sondern über die sie sich erst orientieren möchte. Ob er geneigt sei, ihr ein Gutachten zu liefern, wenn sie ihm in die Lage der Sache Einblick gewährte. Nicht wahr, es war fein ausgesonnen?
Nun, er erklärte sich natürlich dazu bereit, rieth aber doch, sich lieber an einen erfahrenen Juristen zu wenden, da er ungern eine solche Verantwortung übernehmen würde, und er wisse keinen Bewährteren vorzuschlagen, als eben dich, von dem er mit der höchsten Verehrung sprach. Das brachte mich sehr unbefangen darauf, von dir und den Deinen zu sprechen, was ihn sichtbar in Verlegenheit setzte, zugleich aber einen tiefen Schatten über sein gutes, ernsthaftes Gesicht warf. Er lenkte ab und schaute erst wieder auf, als ich ihn nach seinen Eltern, seiner Jugendgeschichte fragte. Alles, was und wie er es sagte, zeigte mir, welch ein edles, reines Gemüth er hat, wie trefflich eine Frau, die er liebt, bei diesem charaktervollen Manne aufgehoben sein würde. Als ich ihn dann entließ, mit der Abrede, meine Freundin werde sich direkt mit ihm in Verbindung setzen, hätte ich ihn am liebsten umarmt und ihm gesagt, wie innig ich wünschte, daß seine hoffnungslosen Wünsche sich dennoch erfüllen möchten. Ja, lieber Carl, wenn unsere Annie mein leibliches Kind wäre, ich würde mich keinen Augenblick besinnen, sie diesem lieben Menschen fürs Leben anzuvertrauen, obwohl – oder eben weil er ein Bauernsohn ist, der so manches feine Gift unserer großstädtischen Kultur nicht eingesogen hat.
Der Bruder hatte, mit beiden Händen auf den Schreibtisch gestützt, ihr abgewendet gestanden und blieb noch eine Weile schweigend in dieser Stellung. Dann richtete er sich schwer athmend auf.
Du verlangst viel von mir, sagte er; von deinem Standpunkt mit Recht. Aber laß auch dem meinen so weit Gerechtigkeit widerfahren, daß du nicht sofort eine Antwort erwartest. Laß dir's genug sein, wenn ich verspreche, bei meinem Entschluß vor Allem in Erwägung zu ziehen, was dem Kinde frommen möchte. Daß ich als ihr treuer Vater die Pflicht habe, sie vor einer Übereilung zu schützen, die für ihr ganzes Leben verhängnißvoll werden könnte, wirst du mir zugestehen. Wenn es aber ihr Schicksal sein sollte – genug! Vertraue mir. In Jahr und Tag wird sich's entscheiden.
Dann, nach einem kurzen Schweigen:
Bist du schon bei ihr gewesen, oder willst du sie jetzt besuchen? Auch Adelheid wird sich freuen …
Nein, lieber Carl, sagte die Schwester, ich habe unsere Kranke noch nicht gesehen, ich hätte nicht das Herz dazu gehabt, eh' ich mit dir gesprochen. Und jetzt – es wird besser sein, ich gehe wieder so im tiefsten Incognito, wie ich gekommen bin, und sie erfährt gar nicht, daß Tante Lene da war. Denn ich möchte, daß du ihr, was du beschlossen hast, als deinen freien, liebevollen Entschluß mittheiltest, ohne meiner Einmischung zu erwähnen. Siehst du, Bruder, in dem jungen Herzen wird ein Gefühl gegen dich gekeimt haben, als gegen den tyrannischen Feind ihres Glücks, ein bitteres Gefühl, das du mit der Wurzel ausreißen wirst, wenn du ihr nun als treubesorgter Vater entgegentrittst, der sich der geängstigten Seele seines Kindes erbarmt hat, ohne durch irgend einen moralischen Zwang dazu gebracht worden zu sein. Ich weiß ja, auch ohne mich wärst du zuletzt zu dieser Erkenntniß gelangt. Und so verzeih, daß ich dir einen kleinen Anstoß dazu gegeben habe. Bruder und Schwester können ja in solchem Falle nicht verschiedener Meinung sein. Nicht wahr, Carl?
Sie stand ihm in sichtbarer Bewegung gegenüber, die Augen auf sein zu Boden gesenktes Gesicht gerichtet. Dann reichte sie ihm still die Hand. Lebe wohl, Bruder! sagte sie leise. Und Dank! Innigen Dank! – Da sah er zu ihr auf, und im nächsten Augenblick hatte der große starke Mann ihre zarte Gestalt mit beiden Armen umfaßt und heftig zitternd an sich gedrückt. Lene! Meine gute Lene! stammelte er schluchzend. Warum sind wir so um einander gekommen!
*
Am zweiten Weihnachtsfeiertag desselben Jahres saßen in dem Gartenhause der Magdeburger Vorstadt die beiden Freundinnen bei einander, in der Wohnstube, die noch den bescheidenen Schmuck des Heiligen Abends trug. Cäcilie hatte am Klavier ein Heft Noten, das Lene ihr geschenkt, aufgeschlagen und sich schon tief hineingespielt, während die Andere eine Schachtel öffnete, die der Postbote eben für sie abgegeben hatte.
Ein großer Strauß der herrlichsten Veilchen war sorgfältig darin verpackt, ein Brief lag obenauf, von Annie's feiner Hand geschrieben, der also lautete:
»Meine geliebte, einzige Tante Lene!
Was wirst Du von mir gedacht haben, daß ich es der Mama überließ, Dir Nachricht von meiner Genesung zu geben, und in dem ganzen langen Jahr mit keinem Wort Dir für Deine unendliche Liebe und Treue gedankt habe! Aber wahrhaftig, es wurde mir selbst schwer genug. Ich mußte aber dem Papa versprechen, während der ganzen Probezeit keinen Brief an Dich zu richten – obwohl er kein unfreundliches Herz mehr gegen Dich zu haben scheint. O, Tante Lene, er hat es ja überhaupt nur gut gemeint, in seinem Sinne, als er mir nicht den Willen thun wollte. An jenem Abend aber, an dem letzten Maisonntag – wie er da kam und mich ans Herz drückte und bitterlich dabei weinte und mich sein geliebtes unartiges Kind nannte – jetzt aber sollte ich nur wieder froh werden, von der Verlobung solle nicht mehr die Rede sein – und wie er mich dann auf seinen Schooß nahm und mir das Gesicht und die Hände streichelte und immer wieder mein Haar küßte – da sah ich zum ersten Male so recht in sein Herz, wie voll von Liebe es für mich ist, und wie schwer es ihm selbst geworden sein mußte, mir das Liebste zu versagen.
Ich bin dann rasch gesund geworden, und dann hat er ein langes Gespräch mit mir gehabt – wegen Heinrich. Wenn er sich überzeugen könnte, daß wir Beide aneinander festhalten würden, auch wenn wir ein Jahr lang ohne jeden Verkehr mit einander zugebracht hätten, wolle er seine Einwilligung geben, falls Heinrich ein glänzendes Examen gemacht hätte. O, Tante Lene, wie gerne wollte ich warten! Wie sicher war ich, daß sich zwischen uns Beiden nichts ändern würde, auch wenn die Probezeit zehn Jahre dauern sollte!
Und nun denk – ich glaubte ja nicht anders, als daß sich's erst Ende Mai entscheiden würde – wie mich meine alte Dore am Heiligabend in die Weihnachtsstube rief – wer stand neben dem Tannenbaum, mit einem Gesicht, das allen Lichterglanz überstrahlte? Liebe, geliebte Einzige, ich will nicht versuchen, Dir diese Stunde zu schildern! Noch jetzt, wenn ich daran zurückdenke, wundere ich mich, daß die Seligkeit dieses Augenblicks mich nicht ums Leben gebracht hat.
Den Rest der Wartezeit hatte der gütigste aller Väter uns erlassen; Heinrich hat das Examen mit der ersten Note in allen Fächern bestanden und wird in die Regierung eintreten. Unsere Verlobung soll mit dem neuen Jahr allgemein bekannt gemacht werden, nur Du darfst schon jetzt davon wissen. Im nächsten Mai ist die Hochzeit. Papa will, daß sie auf dem Lande in aller Stille gefeiert werden soll, in der Dorfkirche, wo Heinrich getauft worden ist, sollen wir getraut werden. Auch mir ist es so das Liebste, nach dem Aufsehen, das das Zurückgehen meiner ersten Verlobung gemacht hat, und wie Papa einmal ist, kann ich es wohl verstehen, daß es ihm peinlich wäre, die schlichten alten Eltern, die nie von ihrem Dorf weggekommen sind, als Brauteltern in Berlin zu sehen. Es soll heißen, die Hochzeit könne nicht in der Stadt gehalten werden, weil die Mutter des Bräutigams zu altersschwach sei, um die Reise wagen zu dürfen …
Auch Dich, Liebste, lade ich nicht eigens dazu ein. Ich möchte es dem Papa ersparen – aber nein, wenn Du kommen wolltest – er denkt jetzt so viel brüderlicher von Dir und hat ein paarmal herzlich Deinen Namen genannt. Und ich erst –!
Denn ich weiß nun, wem ich vor Allem dies mein unsägliches Glück zu danken habe. Meine Dore hat die verschleierte Dame, die an jenem letzten Maisonntag zu Papa kam und eine lange Unterredung mit ihm hatte, trotz ihrer Vermummung erkannt, als sie auf der Treppe an ihr vorbeiging. Und mein Heinrich, als ich ihm noch gestern Abend Deine Photographie zeigte, rief aus: Ich kenne sie ja! Ich habe eine Stunde lang im Hôtel ihr gegenüber gesessen, und weiß jetzt, warum sie ein so ausführliches Verhör mit mir angestellt hat!
Ob Du nun zur Hochzeit kommen wirst oder nicht – jedenfalls wird unsere erste Station auf der Hochzeitsreise Magdeburg sein, da ich so sehr wünsche, auch die Schwester Deines Helmuth kennen zu lernen. Grüße sie einstweilen und sei Du selbst tausendmal gegrüßt und geküßt von Deiner überglücklichen Annie.
Nachschrift: Statt des Veilchensträußchens, das damals in dem öden Hôtelzimmer von Dir zurückgelassen wurde und längst vermodert ist, sende ich Dir hier ein frisches, freilich nur aus dem Treibhause, bis ich Dir Blumen aus meinem Hochzeitsstrauß geben kann. Und weißt Du, geliebte Tante Lene, Dein Hochzeitsgeschenk, die Rosen in der Jelängerjelieberranke, die Du damals wieder mit fortnahmst, jetzt mußt Du sie mir schicken, jetzt ist ja die Bedeutung, die Du damit verknüpft, so herrlich wahr geworden!«
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