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Emerenz.

(1887.)

 

Wie es kam, daß ich ein Junggeselle geblieben bin? Ja, lieber Freund, daran hängt eine Geschichte, und ich sehe nicht ein, warum ich sie Ihnen nicht erzählen soll, wäre es auch nur, um Ihnen einmal wieder den Spruch zu Gemüthe zu führen:

Es giebt mehr Dinge zwischen Weib und Mann,
Als selbst ein Novellist sich träumen läßt.

Auch ist sie nicht lang, diese Geschichte, obwohl ihr Nachspiel, in welchem leider Nichts geschieht, nun schon an die elf Jahre dauert. Schenken Sie mir das Glas erst wieder voll, und dann lassen Sie sich sagen, wie wunderlich es damit zugegangen.

Damals also, vor elf Jahren, war mein Junggesellenthum noch keine so ausgemachte Sache, wie heutzutage, obwohl ich mich der Schwelle der Vierzig bereits genähert hatte, ohne jemals ernstliche Anstalten gemacht zu haben, meine Freiheit, an der mir blutwenig gelegen war, mit irgend einem sanften Joch zu vertauschen. Es hatte damit seine eigene Bewandtniß. In Romanen und Schauspielen sind die reichen Erbinnen nicht selten, die alle Freier abweisen, weil sie den Verdacht nicht loswerden können, es sei mehr auf ihr Vermögen als auf ihre Person abgesehen. Nun, eine solche hypochondrische Grille machte auch mir jedes Entgegenkommen eines liebenswürdigen weiblichen Wesens verdächtig. Ich war mir bewußt, mit dem Vorrechte des männlichen Geschlechts, daß es nicht schön zu sein verpflichtet ist, einen sträflichen Mißbrauch getrieben zu haben. Nein, ohne Complimente: mir selbst war mein Gesicht, wenn ich einmal nicht umhin konnte, es im Spiegel zu betrachten, unausstehlich, besonders in meinen jungen Jahren, wo man doch noch Anwandlungen von Gefallsucht hat, zumal wenn sich's um eine bestimmte Person handelt, die einem nur allzusehr gefällt. Sagen Sie mir nicht, daß Männerschönheit heutzutage höchstens noch bei den Backfischen Credit habe, daß oft die Häßlichsten die stärksten Leidenschaften entzündet haben, auch wenn sie sich an verführerischer Suada nicht mit Mirabeau messen konnten. Es giebt eben auch in der Häßlichkeit eine Aristokratie und einen Pöbel, und zu letzterem gehörte ich. Mein Gesicht war so vulgär, so schneidermäßig flach und flau in Form und Farbe, so – aber was bemühe ich mich, Ihnen zu schildern, was Sie ja mit Augen sehen, wenn auch freilich durch die Jahre gemildert! Die Zeit übermalt Schön und Häßlich mit ihren Lasuren und gleicht die Ungerechtigkeiten der Mutter Natur, so gut es gehen will, wieder aus. In der Jugend aber, die für den großen Hauptzweck der Erhaltung der Gattung präparirt ist, hat alles Physische und Aesthetische das Uebergewicht. Hernach treten Gemüth und Geist mehr in ihre Rechte, und ein fünfzigjähriges Antlitz, das vor etlichen Decennien kein Mensch mit Wohlgefallen betrachten konnte, vermag durch den bloßen Ausdruck einer ganz reif gewordenen schönen Seele auch den Anspruchsvollsten zu fesseln.

All diese Weisheit war mir schon früh aufgegangen, da ich sehr auf der Hut war, mir keine Illusionen zu machen, und insbesondere das weibliche Herz zu studiren nur zu reichliche Gelegenheit hatte. Denn da ich für ganz ungefährlich galt, erwiesen mir nicht bloß meine zahlreichen Cousinen, sondern ganz fremde Schönheiten, mit denen ich etwa auf Cotillonsdauer verbunden war, die Ehre eines unbeschränkten Vertrauens, und ich wurde für einen um so musterhafteren Freund erklärt, je unzweifelhafter ich zum Liebhaber ein- für allemal verdorben war.

Zum Gatten und Vater freilich schien man mir die nöthigen Qualitäten immerhin zuzutrauen. Ich galt für einen guten, soliden, nicht einfältigen, zuweilen sogar amüsanten Kameraden, der von Hause aus sein gutes Auskommen und schon beizeiten eine gelehrte Laufbahn begonnen hatte, in der er es noch einmal bis zu den summis in universitate honoribus bringen würde. Warum sollte man einen solchen Mann nicht heirathen, wenn gerade kein besserer um den Weg war? Es hätte eine der unzähligen friedlichen und respectablen Ehen gegeben, die besonders den guten Müttern für ihre Töchter wünschenswerther scheinen, als die sogenannten Liebesheirathen mit ihren Stürmen von Glück und Leidenschaft und der Gefahr des Strandens und Scheiterns nach einer kurzen herrlichen Fahrt mit vollen Segeln.

Die Mütter mögen Recht haben, ich aber glaubte auch nicht im Unrecht zu sein, wenn ich mein Lebensglück nicht auf ein bloßes Rechenexempel gründen, sondern den unberechenbaren himmlischen Mächten auch ihr Theil daran einräumen wollte. Und da diese sich zurückzuhalten pflegen, wo von derjenigen Bezauberung, die man Verlieben nennt, nicht die Rede sein kann, rührten mich die mancherlei Versuche, mich in das Netz zu locken, nicht im mindesten.

Zumal mein eigenes Herz, das sich gegen Vernunft-Ehen sträubte, auch insofern keine Vernunft annehmen wollte, daß es seine eigenen verwegenen Wünsche immer gerade auf das Unerreichbarste richtete. Es beherbergte nacheinander in seiner heimlichsten Kammer eine ganze Reihe der reizendsten jungen Damen, die nie eine Ahnung davon hatten, was sie darin anrichteten und wie sie mit kühler Hand das Unterste zu oberst kehrten. Wenn ich dich liebe, was geht's dich an! war lange Zeit mein trotzig kleinlauter Wahlspruch. Und schließlich glaubte ich mich ganz wohl dabei zu befinden.

Dann hatte ich mir zum Trost eingeredet, eine Frau und ein Häuflein Kinder verursachten so viel Tumult im Hause, daß die Wissenschaft darunter leiden müsse. Und da ich der meinen mit Leib und Seele ergeben war und mich so recht für sie geschaffen fühlte, war mir mein frei erwähltes Cölibat auf die Länge so wenig beschwerlich, wie einem von seinem göttlichen Beruf erfüllten katholischen Priester die Entbehrung aller Familienfreuden.

Was diese betrifft, so konnte ich, so oft es mich danach gelüstete, wenigstens ein Surrogat derselben genießen, da ich in den Häusern meiner Collegen ein gerngesehener Gast war und bald zu diesem, bald zu jenem meinen einsamen Abend tragen durfte. Ich war längst kein Tänzer mehr; auch die Hoffnung, meine hagestolzen Grundsätze zu erschüttern, hatten Mütter und Töchter endlich aufgegeben. So war ich ein bequemer Hausfreund für Alt und Jung, und da endlich auch die Letzte meiner heimlich Angebeteten glücklich unter die Haube und in die Wochen gekommen war, sah es in meinem Herzen so friedlich still und aufgeräumt aus, wie in einer Sommerwohnung im Winter.

Dieser schöne Frieden sollte nun doch noch gestört werden.

In der Familie meines Special-Collegen, des Statistikers und National-Oekonomen, tauchte eines Tages eine entfernte Verwandte auf, die mir nicht auf den ersten Blick, aber desto mehr beim zweiten und dritten sehr wohlgefiel, und die auch für mich ein freundliches Interesse zeigte. Sie war nicht mehr ganz jung, hatte traurige Herzenserfahrungen hinter sich, lebte in bescheidener Unabhängigkeit und war durch einen Bruder, dem sie bis zu seiner Verheirathung die Wirthschaft geführt, so ernstlich und mannichfach gebildet worden, daß ich sie sogar mit meinen volkswirthschaftlichen Problemen und social-politischen Ideen unterhalten durfte, ohne sie zu langweilen. Auch hatte ihre Erscheinung eine gewisse ehrbare Holbein'sche Anmuth, und zumal wenn sie heiter wurde, konnte sie ordentlich hübsch erscheinen. Kurz, sie schien wie geschaffen zur Frau eines deutschen Professors, der in wenigen Wochen das Schwabenalter erreichen sollte und endlich einmal mit der verwünschten »verliebten Liebe« für immer ein Ende machen mußte.

Daß dieser Stand der Dinge auch Anderen einleuchtete, werden Sie begreifen. In der Familie meines Freundes, wo das Mädchen aus der Fremde zu Gast war, galt es denn auch schon nach kurzen Tagen für eine ausgemachte Sache, daß wir Zwei ein Paar werden würden. Selbst mein sehr wenig scherzhafter College ließ einige humoristische Anzüglichkeiten fallen, da er den Gast höchlich verehrte, während seine Gattin vollends mit ihren Anspielungen auf das Thauwetter, das endlich die verhärtetsten Gletscher zum Schmelzen bringen werde, selbst in Gegenwart ihrer jungen Freundin nicht zurückhielt.

War ich mit dieser mir zugedachten Lebensgefährtin zusammen, so schien mir auch Alles in schönster Ordnung. Ich fühlte mich von dem Anspruch, so recht eigentlich geliebt werden zu wollen, um so freier, da ich selbst nichts von Leidenschaft in mir verspürte. Ein gegenseitiger Achtungserfolg war Alles, worauf es mir ankam und wessen ich mich auch bei jedem Besuch von Neuem versichern konnte. Schlimm war es freilich, daß, sobald ich wieder allein war, das Bild des guten Mädchens sich mir keinen Augenblick aufdrängte, während meine früheren Flammen mich oft genug wie Irrwische von der Arbeit weggelockt oder mir den Schlaf des Gerechten verscheucht hatten.

Was willst du aber mehr? sagt' ich mir. Ist das nicht vielleicht gerade die musterhafteste Ehe, in der man durch die Nähe des Weibes von seinen ernsten Lebensaufgaben nie abgelenkt wird? Rien n'est changé, il n'y a qu'une femme de plus. Werde endlich weise und lerne flüchtigen Lustgebilden entsagen, um festzuhalten, was sich so freundlich greifbar dir in die Hände liefert.

Aber wie schwer ist es, einem so trotzigen und verzagten Ding, wie ein vierzigjähriges Herz, seine Jugendmucken auszutreiben!

Werden Sie glauben, daß ich eine ganze Woche lang jeden Abend in jenes Haus ging, um das bindende und erlösende Wort zu sprechen, und jede Mitternacht noch unerlös't und ungebunden mein jungfräuliches Lager bestieg?

Und doch zweifelte ich keinen Augenblick daran, daß es zu meinem Glücke sein würde, wenn ich die Hand dieses Mädchens fassen und fürs Leben festhalten könnte.

Aber wie soll man der Schmied seines Glückes werden, wenn es am rechten Feuer gebricht?

Zuletzt jedoch war der Zustand für alle Theile so peinlich geworden, daß die kluge und menschenfreundliche Frau Professorin sich entschloß, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Als ich eines Abends wieder ohne Erklärung weggegangen war, fand ich in meiner Rocktasche ein Billet von ihr mit der herzlichen Bitte, dieser aufregenden Situation ein Ende zu machen und einen, wie sie hoffe, segensreichen männlichen Entschluß zu fassen.

Das wäre denn wohl auch ganz in ihrem Sinne noch denselben Abend geschehen. Durch eine wundersame Fügung aber fand ich zu Hause einen zweiten Brief, der inzwischen mit der Post angekommen war, aus einem Ort, wo mir ein sehr lieber Jugendfreund lebte, als Besitzer einer großen Fabrik, die von Jahr zu Jahr ihren Umfang erweiterte und viele Hunderte von Arbeitern beschäftigte.

Es war ein kleines Reich für sich, das der energische Mann regierte und bisher vor aller Ansteckung durch socialdemokratische Ideen glücklich bewahrt hatte.

Nun schrieb er mir, es sei in jüngster Zeit in Folge der Wühlereien etlicher Agitatoren von auswärts auch unter seinen Leuten eine heimliche Gährung entstanden, das Fieber aber noch in einem Stadium, wo es sich, wie die »Rose«, »besprechen« ließe, wenn der rechte Mann sich der Sache annähme. Da er meinen Eifer für die gute Sache und meine alte Freundschaft für seine Person kenne, hoffe er, ich würde mich auf etliche Tage abmüßigen und zu ihm kommen, um die verirrten Schäflein zu ihrem Hirten zurückzulocken.

Nun waren gerade die letzten Tage der Herbstferien und ich, statt mich auf einer Wanderung ein wenig auszulüften, gegen meine Gewohnheit zu Hause geblieben, eben jenem Fräulein zu Liebe, dem ich zumuthen wollte, mit mir vorlieb zu nehmen. Da mir aber trotz aller Vernunft und der vielfachen Annehmlichkeiten, die sie mir vorspiegelte, die Sache immer noch nicht ganz geheuer war, hatte mich, als ich den Brief meiner Gewissensräthin las, eine gelinde Gänsehaut überlaufen, indem ich mir sagte: Hier hilft länger kein Mundspitzen, es muß gepfiffen sein. Da erschien mir die Einladung meines Freundes als ein Wink des Himmels, mich nur ja nicht zu übereilen. Sofort setzte ich mich hin und verfaßte einen vortrefflichen Brief an die Professorin: es sei in der Fabrik meines Jugendfreundes eine Meuterei im Gange, die zu ersticken er mich eiligst hincitirt habe. Ich müsse deßhalb am nächsten Morgen abreisen und könne die Antwort auf ihren lieben Brief ihr erst in einigen Tagen ins Haus bringen. Uebrigens kenne sie ja meine Gesinnungen und dürfe der Ueberzeugung sein, daß Alles so kommen werde, wie es in den Sternen geschrieben stehe.

Mit dieser diplomatischen Wendung, die zugleich an die im Himmel geschlossene Ehen erinnerte und doch auch einer türkischen Resignation das Hinterthürchen offen ließ, war ich höchlich zufrieden, und sobald ich mir die Freiheit der Entschließung noch einmal gesichert hatte, ging mir auch das Bild der lieben Zukünftigen in freundlichem Glanze wieder auf, und ich gelobte der treuen Vermittlerin einen famosen Kuppelpelz, wenn ich von meiner Missionsreise glücklich heimgekehrt und unser langwieriger Handel zum erwünschten Abschluß gelangt wäre.

Die Photographie der Zukünftigen nahm ich mit auf die Reise. Die Sonne hatte ihr ein wenig geschmeichelt, und das gute, gescheite Gesicht sah in der scharfen Beleuchtung ordentlich romantisch aus. Sie hatte auch mein Bild zu haben gewünscht – so weit waren wir schon mit einander; aber ich mußte es ihr abschlagen, da ich mich nie photographiren ließ. Eine solche Dutzend-Physiognomie soll man nicht noch vervielfältigen, und wenn auch meine linkische, verschrobene Figur damals, da ich noch magerer war, nicht geradezu lächerlich erschien, ein monumentaler Reiz war ihr doch gänzlich versagt. Wenn die dankbare Nachwelt mir einmal eine Statue setzt, muß es in griechischem Costüm sein, um mit dem Mantel des classischen Idealismus alle meine Schäden zu bedecken.

Aber ich will endlich zur Sache kommen.

*

In einer halben Tagereise hatte ich den Ort erreicht, wo die Spinnereien meines Freundes ganz anmuthig gegen eine sanfte Berghalde gelehnt ihre Schornsteine erhoben. Ich befolgte meines Freundes Wink, nicht in seinem Hause, sondern im Gasthofe des kleinen Ortes abzusteigen. Wenn meine Wandervorträge Eindruck machen sollten, mußte der Verdacht vermieden werden, als ob sie auf Bestellung und im Interesse des Fabrikherrn gehalten würden. Die Gegend ward so häufig von Reisepredigern jedes Glaubens und socialistischen Missionären heimgesucht, daß es ganz unverfänglich schien, wenn auch einmal ein Professor der Socialwissenschaften sich zum Worte meldete.

In Folge des Zwanges, den wir uns auferlegt, sahen wir uns erst in den späten Abendstunden, nachdem die Fabrik längst geschlossen war. Wir hatten über die Themata, die meine Vorträge behandeln sollten, viel mit einander zu conferiren; hernach führte er mich zu seiner Familie, wo ich außer der Frau und zwei prächtigen Buben auch noch seinen um zehn Jahre jüngeren Bruder kennen lernte, einen bildhübschen, flotten jungen Herrn, der mit im Geschäfte thätig war, doch, wie es schien, ohne sonderliche Neigung. Wenigstens saß er stumm und zerstreut bei unserm Gespräch, das sich bald wieder um den Anlaß meines Besuches drehte, und verließ uns gleich nach dem Essen, um trotz der späten Stunde noch einen Ritt zu machen.

Mein Freund ließ ein Wort fallen, das nicht auf ein ganz ungetrübtes Verhältniß zu diesem etwas leichtsinnigen Benjamin der Familie hindeutete. Die älteren Brüder, seine Compagnons, waren weggestorben.

Der letzte, der ihm noch blieb, hätte sich lieber in einer Offiziers-Uniform, als in dem schwarzen Anzug eines Fabrikbesitzers gesehen. Die Frau aber nahm die Partei ihres Schwagers, und auch mir hatte die etwas rohe, aber franke und rüstige Manier des jungen Herrn einen guten Eindruck gemacht.

Am Nachmittag des nächsten Tages, der ein Sonntag war, sollte ich meine erste Volksrede halten in dem großen Saale meines Gasthofes, der zu Bällen, Hochzeiten und auch zu den genossenschaftlichen Versammlungen der Arbeiter diente, und wo auch schon meine Vorgänger der verschiedensten Confessionen ihrer Weisheit sich entledigt hatten. Ich benützte den Vormittag, mich noch ein wenig vorzubereiten und in dem leeren Saal eine kleine Generalprobe zu halten, um die Tragweite meiner Stimme zu prüfen. Ueber das, was ich sagen wollte, war ich völlig mit mir im Reinen, und was die Form betraf, so durfte ich mich getrost der Eingebung des Augenblicks überlassen, die mir, wo es meine tiefsten wissenschaftlichen und sittlichen Ueberzeugungen galt, noch nie versagt hatte.

Nach Tische machte ich dann einen Spaziergang in den nahen Wald, der sich stundenlang über das Hügelland hinzog, zwischen dem Nadelholz schöne, jetzt in goldbraunem Laube prangende Eichen, hie und da die silberweißen Birkenstämmchen, die ihre Blätter bereits verloren hatten. Mir war wohl und vergnügt zu Muthe in der tiefen Sonntagsstille ringsum. Ich freute mich darauf, einmal vor einem andern als einem studentischen Publikum das zu verkünden, was ich als die Wahrheit erkannt hatte, und zumal in einem Disput. zu welchem ich am Schlusse meines Vortrages auffordern wollte, die Gegner und ihre gefährlichen Schlagwörter ad absurdum zu führen. Dazwischen ruhte ich hin und wieder an einer besonders einladenden Stelle, zog die Photographie meiner Verlobten in spe aus der Brusttasche und betrachtete mit einem ganz erfreulichen Anflug von Bräutigams-Zärtlichkeit die sinnigen Augen und den ernst geschlossenen Mund, mit dem ich nun bald intimere Bekanntschaft zu machen gedachte.

Da ich mich endlich dem kleinen Ort wieder näherte schlug es eben vier Uhr vom Kirchthurm. Auf Fünf war die Versammlung anberaumt. Ich sah mich um, wo ich die letzte Stunde noch verbringen könnte, und entdeckte über dem Eingang in einen schattigen Baumgarten die Inschrift: »Kaffeewirthschaft zum Waldhorn«.

Sofort erkannte ich, daß das Haus, welches im Hintergrunde durch die entlaubten Eichen und Kastanien herübersah, vor Zeiten einen Förster zum Herrn gehabt haben mußte. Ueber der Thür waren nicht weniger als fünf Hirschgeweihe symmetrisch angebracht, dazwischen und darunter die ausgestopften Bälge einiger Raubvögel. Doch schien das Haus jetzt nur der Bewirthung von Gästen aus dem Ort und der Fabrik zu dienen. Tische und Bänke waren unter den Zweigen der Bäume aufgeschlagen, jetzt mit einer dichten Schicht vergilbter Blätter überstreut. Trotz des Sonntags aber hatten sich keine Besucher eingefunden. Nur an einem der Tische zunächst dem Hause saß ein Mädchen auf einem Rohrstuhle, ein aufgeschlagenes Buch vor sich auf der sauber abgefegten Tischplatte. Neben ihr auf der Bank, nachlässig hingestreckt, lagerte ein schlanker junger Mann in elegantem Reitcostüm, der häufig mit einer Reitpeitsche gegen den Stamm des nächsten Baumes klatschte und hin und wieder sich aus einer geschliffenen Flasche eine gelbliche Flüssigkeit in ein Liqueurgläschen goß. Da er mir den Rücken zugekehrt hatte, erkannte ich ihn nicht. Auch interessirte mich vor Allem die junge Person, in die er hastig und halblaut hineinsprach, während sie selbst kaum anders als mit Kopfschütteln, Achselzucken und leisem Mienenspiel auf seine Reden erwiderte. Ihre Hände waren rastlos mit einem groben Gestrick, einem Shawl oder dergleichen, beschäftigt, ihre Augen sahen darüber hinweg unverwandt auf die gelbe Fülle des Laubes, die auf dem Boden vom Winde hin und her gewirbelt wurde. Mich, der ich durch das offene Thor eingetreten war, schien sie gar nicht bemerkt zu haben.

So ließ ich mich an einem der entferntesten Tische nieder, und da ein kleines hüstelndes altes Frauchen aus dem Hause kam, sich nach meinen Wünschen zu erkundigen, bestellte ich eine Tasse Kaffee und zündete mir eine Cigarre an. Ich begriff jetzt bald, warum es so leer war. Der Forstgarten lag tief, und von dem Flusse, der daran vorüberströmte, stieg eine dumpfe Kühle herauf, die nur im Hochsommer erwünscht sein konnte.

Am Ufer unten wandelte ein schönes Reitpferd, die Zügel im Grase nachschleifend und mit den fleischfarbenen Lippen wählig einzelne Kräuter abrupfend, frei und ohne Aufsicht herum. Das lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den jungen Herrn, der bei dem Mädchen saß, und in dem ich jetzt, da er mir das Profil mit dem schwarzen Schnurrbärtchen zukehrte, den Bruder meines Freundes erkannte. Ich konnte nicht leugnen, daß er, was sich auch sonst gegen ihn einwenden ließ, einen guten Geschmack hatte, wenn er sich um dieses Mädchen bemühte. Je länger ich sie betrachtete, je schöner erschien sie mir, je reizender in ihrer stillen, abweisenden Haltung, wobei sich der kleine Kopf auf den schlanken Schultern unter der Last der leichtgewellten braunen Haare zuweilen langsam erhob und der weiße Hals unter dem sanft gerundeten Kinn vorschimmerte. Ueber ihr Alter konnte ich nicht ins Reine kommen. Sie war trotz des Sonntags äußerst einfach gekleidet, nicht viel besser als die Fabrikmädchen dieser Gegend. Dennoch nahm sie sich neben dem eleganten jungen Courmacher nicht wie eine Magd, sondern wie eine verkleidete Prinzessin aus, die etwa mit ihrem Kammerherrn eine Lustspielscene aufführte.

Ihr habt da eine schöne Tochter, gute Frau, sagte ich, als die alte Wirthin mir den Kaffee brachte. Und sie scheint auch sehr gut erzogen und sittsam und fleißig zu sein, daß Ihr Eure Freude an ihr haben könnt.

Die kleine Alte schüttelte den Kopf. Die Emerenz ist nicht unser Kind, Herr, nur meinem Mann seine Mündel, und auch damit ist's schon seit ein paar Jahren nur noch eine Redensart, da sie bereits neunundzwanzig ist. Man sieht's ihr nicht an, freilich. Ihre Haut ist noch ganz glatt, und Viele halten sie für zwanzig. Das macht das ruhige Leben, Herr, und ihre stille Gemüthsart. Aber wenn sie nicht unsere Tochter ist, haben wir sie doch so gerne, als ob sie's wäre. Mit dreizehn ist sie eine Waise geworden, und damals war das gute Ding so blutarm, daß man es in die Fabrik thun mußte, sich sein bischen Kost- und Schlafgeld zu verdienen. Aber schon damals, wo sie bei der Portiersfrau der Fabrik ihren Unterschlupf hatte, hielt sie was auf sich, nicht bloß nach außen, da sie ihre paar Fetzchen immer gewaschen und geflickt haben mußte, sondern auch in ihrem Betragen, so daß sie mit den anderen Fabrikmädels gar keinen Verkehr hatte, und noch weniger, als sie größer und immer hübscher wurde, mit den jungen Burschen. Von Keinem ließ sie sich nur ein loses Wörtchen sagen, und wenn ihre Kameradinnen an Sonn- und Feiertagen mit ihren Liebsten zum Bier gingen, saß sie in ihrer düsterlichen Kammerecke und las in irgend einem Buche. Denn das Lesen, lieber Herr, ging ihr über Alles. Dabei that sie in der Spinnerei ihre Arbeit trotz Einer, und es war curios, wie sie dabei trotz der schlechten Luft und Nahrung so schön groß und völlig wurde; bloß die Backen hatten keine frische Farbe. Auf einmal – sie war eben achtzehn geworden – stirbt eine alte Tante drüben in M., von der man immer geglaubt hatte, sie würde ihr Erspartes einer milden Stiftung zuwenden. Da sich aber kein Testament darüber vorfand, fiel das Geld an die Nichte, unsere Emerenz, keine Millionen-Erbschaft, aber gerade genug, daß ein einzelnes Frauenzimmer, das keinen Luxus treibt, davon bestehen kann. Sogleich trat sie aus der Spinnerei aus, kam zu meinem Manne und bat ihn, sie hier bei uns aufzunehmen, und wir beiden kinderlosen alten Leute waren es zufrieden, denn man mußte ihr gut sein, wenn man nur zwei Worte mir ihr geredet hatte. Ja, Herr, so kam's, und so haben wir sie nun an die zehn Jahre im Hause, und sie ist uns wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen, die Emerenz.

Ihr werdet sie nun aber wohl die längste Zeit gehabt haben, sagte ich. Ein so schönes und tugendhaftes Mädchen, das auch ein kleines Capital mit in die Ehe bringt, wird keine alte Jungfer werden.

O lieber Herr, sagte das Mütterchen und warf einen fast feindseligen Blick nach dem Mädchen hinüber, das sie so zu lieben betheuerte, das ist ja eben unser Jammer mit ihr. Partien könnte sie machen zehn für eine; aber sie hat an Jedem, der noch so reputirlich ist, was auszusetzen, und wie oft hab' ich ihr gesagt: Emerenz, es wird dich doch noch einmal gereuen. Denn das Bücherlesen und die Bildung, um die dir's allein zu thun ist, das hält nicht ein Lebenlang vor und im Alter nicht warm, und ein braver, gescheidter Mann, wenn er auch keine Leihbibliothek verschlungen hat, würde dich glücklicher machen, als all die Hirngespinnste und Flausen, die deine verdammten Bücherschreiber dir in den Kopf gesetzt haben. Nein, Tante, sagt sie dann, ich könnt' mit keinem Manne glücklich werden, der keine anderen Gedanken hätte, als sein Geschäft oder sein Vergnügen. Denn wir sind nicht bloß zum Spaß auf der Welt, sondern um uns von den Thieren zu unterscheiden, sagt sie, und nach dem Höheren zu streben. Ich bitte Sie, lieber Herr, so was von einem Mädchen hören zu müssen, das kein Pastor oder Advocat oder Schulmeister werden kann. Aber das Letztere, ob ihr das nicht etwa im Kopf stecke, ob sie nicht am Ende Lehrerin werden möchte, darüber hab' ich sie auch gefragt. Nein, sagt sie, ich muß selbst erst mit meiner Bildung fertig werden; was geht es mich an, ob ein Haufe kleiner Kinder das ABC und Einmaleins wissen oder nicht, wenn ich jeden Tag merke, wie wenig ich selbst noch weiß. Ja, so spricht sie, und darum knappt und knausert sie sich Alles ab, jedes Plaisir, das Geld kostet, ja oft ein Kleid, das sie nöthig hätte, bloß um Bücher anschaffen zu können. Und hat's richtig schon so weit gebracht, daß sich die Mannsleute, gerade die solidesten, die sich in sie verliebt haben, vor ihr fürchten und nicht mehr daran denken, ein so überstudirtes Frauenzimmer zu ihrer Hausfrau zu machen. Narren seid ihr! sag' ich oft. Keine ist anstelliger und rühriger im Haushalt, als die Emerenz, trotz allem Schnickschnack von Leserei und Grübelei, sag' ich, und wenn sie einen ordentlichen Mann hätte, der wäre bei ihr aufgehoben wie in Abraham's Schooß. Aber sie treibt's freilich so arg, daß sich Keiner mehr herangetraut, und wie sie mir im Hauswesen an die Hand geht und die gröbste Arbeit nicht scheut, kann ich doch nicht Jedem auf die Nase binden. Nur mit der Bedienung der Gäste will sie Nichts zu schaffen haben, weil sie das Schönthun und Caressiren nicht leiden kann, das sich doch Manche gegen ein Wirthshausmädel herausnehmen.

Hm! machte ich, dem jungen Herrn da drüben mit der Reitpeitsche scheint sie doch Gehör zu schenken.

Da schnellte das gute Weibchen, das sich während ihres eifrigen Redens zu mir auf die Bank gesetzt hatte, ganz echauffirt in die Höhe und erwiderte, nachdem sie einen zweiten bösen Blick zu der Gruppe hinübergeworfen hatte: O Herr, das ist's ja eben! Wenn sie ihm nur Gehör schenken wollte, sie könnte ja nichts Gescheiteres thun. 's ist der leibliche Bruder von unserm Herrn, und ist's nicht ein bildhübscher, charmanter und so weit auch ganz unbescholtener junger Herr? Die reichsten Fräuleins auf zwanzig Meilen ringsum schmachten sich nach ihm die Augen aus dem Kopf, das ist kein Geheimniß. Er aber, schon wie sie noch in der Fabrik war, die Emerenz, war so bis über die Ohren in sie verliebt, daß die Zehnte nicht grausam gegen ihn geblieben wäre. Na, daß sie damals und auch noch hernach, wie er in Unehren um sie warb, Nein gesagt hat und allen Verlockungen widerstand, das war ja nur recht und brav von ihr. Dann schickte unser Herr, hauptsächlich damit die Geschichte ein Ende hätte, den Bruder auf Reisen, nach Paris und England und was weiß ich wohin übers Meer. Seine Liebeshitze, dachte er, sollte verrauchen und die Emerenz inzwischen an den Mann kommen. Aber Nichts da! Wie er vor zwei Jahren endlich wiederkam, fing das alte Unwesen gleich wieder an zwischen ihm und unserm Kind, das leider noch zu haben war, und da sie mit unrechten Dingen nicht nach seinem Willen thun wollte, resolvirte er sich, es sollte mit rechten geschehen; er wolle sie heirathen, unangesehen ihrer geringen Herkunft. Und brachte auch wirklich den Herrn Bruder dazu, daß er einwilligte, und auch die Frau Schwägerin erklärte, sie werde die Emerenz mit offenen Armen aufnehmen. Sagen Sie selbst, Herr, müßte eine solche getreue Affection und Gutwilligkeit nicht einen Stein zum Schmelzen bringen? Die Emerenz aber: Ich fühle keine Neigung zu ihm, Tante. Er ist ein ganz guter, aber oberflächlicher Mensch, vor dem ich keinen Respect haben kann, und darum würden wir mit einander nimmermehr glücklich werden. So sagte die überspannte Person, die überstudirte Gans, und dabei blieb sie, und daß sie dem jungen Herrn nicht den Mund verbietet, wenn er doch noch immer von Zeit zu Zeit kommt und versucht, sie zur Raison zu bewegen, ist Alles, was wir von ihr erlangen konnten. Du lieber Himmel, dem »Herrn« (worunter sie immer den Fabrikherrn verstand) verdanken wir ja all unser bischen Wohlstand, da er uns hier die Wirthschaft überlassen hat gegen einen Pachtschilling, der nicht der Rede werth ist. Und nun müssen wir erleben, daß das eigensinnige Mädel uns den Kummer und die Schande macht, einen solchen Antrag abzuweisen und den eigenen Bruder eines so gütigen Herrn –

Sie verstummte plötzlich, denn wir hörten drüben einen heftigen Schlag mit der Reitpeitsche gegen die Tischplatte und sahen, wie der hitzige Freier, dem eben einmal wieder alle Hoffnung benommen sein mochte, aufsprang, sein Hütchen ergriff und ohne sich gegen seine Angebetete zu verbeugen, nach seinem Pferde lief. Rasch hatte er ihm das Gebiß wieder zwischen die Kinnladen geschoben, den Sattel zurechtgerückt und sich hinaufgeschwungen; dann ritt er, ohne die Wirthin und mich zu beachten, mit finsterem Blick und geröthetem Gesicht zwischen den Bäumen durch und zu dem offenen Thor des Wirthsgartens hinaus.

Die Alte sah ihm mit einem mißbilligenden Seufzer nach. So sollte er es freilich nicht anfangen, brummte sie. Wenn er, statt sein ewiges verliebtes Gewinsel anzustimmen und dann plötzlich furios zu werden, weil sie sich nicht darum kümmert, einen vernünftigen Discurs mit ihr hielte über Gott und die Welt, Unsterblichkeit und Nächstenliebe und so hochtrabende Sachen, am Ende kriegte er sie doch noch herum, und könnte sich ja auch aus Büchern ein bischen präpariren. Statt dessen jagt er nun sein Pferd zu Schanden oder reitet die drei Meilen bis in die nächste Stadt, wo er im Hôtel hohes Spiel macht mit den Offizieren von der Garnison und in Champagner den Liebeskummer ersäuft oder gar noch wüstere Suiten treibt. Das hört sie dann natürlich wiedererzählen und sagt: Hab' ich nun nicht Recht, Tante? – Zehnmal Unrecht hast du, sag' ich dann. Das Alles könntest du ihm abgewöhnen und ihn um den Finger wickeln, wenn du nur wolltest, sag' ich. – Ich mag aber nicht die Kinderfrau eines erwachsenen Menschen sein, sagt sie dann. Und nun bitt' ich Sie, Herr, was soll man auf solch eine einfältige Rede erwidern? – Befehlen Sie noch eine Portion? Oder soll ich Ihnen einen kleinen Liqueur bringen? Wir haben guten Wachholder und echten Kalmus-Extract, den wir selbst destilliren.

Ich dankte für Alles, bezahlte meinen Kaffee und hätte gern, ehe ich ging, noch die nähere Bekanntschaft des interessanten Mädchens gemacht, unter Anderm erforscht, was sie gerade für Lectüre hatte, zu der sie, sobald der Galan sie verlassen, eilig zurückgekehrt war, ohne dabei ihr Gestrick zu versäumen. Es war aber hohe Zeit, in meinen Gasthof zu gelangen, wenn ich meine Zuhörerschaft nicht ungebührlich warten lassen wollte. So zog ich nur von weitem meinen Hut auch vor der stillen Leserin, die mit einem flüchtigen Neigen ihres schönen Kopfes dankte, und ging in eigenthümlich erregter, nachdenklicher Stimmung davon.

*

Als ich mich meinem Quartier näherte, sah ich schon eine Menge anständig gekleideter Arbeiter, darunter auch etliche Frauen, dem Hause zuströmen, einige darunter in etwas angeheiterter Laune und offenbar entschlossen, sich mit dem Redner einen Sonntagsspaß zu machen, wenn er ihnen nicht convenirte. Der große Saal füllte sich rasch, die ersten Reihen, die aus Rohrstühlen gebildet waren, wurden von dem Beamten-Personal eingenommen, und diese Herren hatten nicht nur ihre Frauen, sondern auch herangewachsene Söhne und Töchter mitgebracht. Auf der Estrade, wo sonst die Musikanten saßen, stand mein Tisch und Stuhl, und die Fenster nach dem Garten waren geöffnet, so daß trotz der Ueberfüllung eine ganz erträgliche Luft in dem weiten Raum sich erhalten konnte.

Ganz zuletzt trat auch mein Freund, der »Herr«, durch ein Seitenthürchen ein und setzte sich auf den freigelassenen letzten Stuhl der ersten Reihe.

Drei Vorträge hatte ich angekündigt und meinen Stoff dergestalt disponirt, daß ich am ersten Tage vom Begriff und der Bedeutung der Arbeit im Allgemeinen und ihrer geschichtlichen Entwicklung im Alterthume und bis an unsere Zeit reden wollte, am folgenden Abend über die Stellung der neueren Zeit zu der Arbeiterfrage, die verschiedenen Systeme der Social-Politiker und die utopistischen Versuche zur Abhülfe der ungeheuren Nothstände, die ich, trotz der Anwesenheit des Fabrikherrn, keineswegs zu beschönigen gedachte; endlich am dritten Tage über meine eigene wissenschaftliche Stellung zu den großen Problemen und den Aussichten in die Zukunft, die ich von meinem Standpunkte aus gewonnen hatte.

Sie kennen diesen Standpunkt hinlänglich und brauchten auch sonst nicht zu fürchten, daß ich Ihnen jetzt ein Privatissimum darüber halten möchte. Aber zur Steuer der Wahrheit muß ich doch sagen, daß ich meine gute Stunde hatte und schon nach den wenigen einleitenden Sätzen bemerkte, wie das vielköpfige Ungeheuer mir gegenüber zahm wurde und sich willig von mir dahin führen ließ, wohin ich es haben wollte. Ich erreichte dies durch den sehr einfachen Kunstgriff, daß ich meinen Leuten gleich eine sehr ernste Gedankenarbeit zumuthete und unser Thema so hoch faßte, daß sie sich geistig auf den Zehen recken mußten, um hinanzureichen. Als ich sie auf diese Weise, da ihre Aufmerksamkeit noch frisch war, wacker herumgetummelt hatte in der Sphäre der Betrachtung über Pflicht und Recht, Glück und Noth des Menschen in dieser arbeitsvollen Welt ihnen so viel Licht gegeben, als in die harten Schädel nur immer eindringen mochte, belohnte ich sie wie fleißige Schulkinder, indem ich sie in dem bunten Bilderbuche der Weltgeschichte blättern ließ, ihnen das Schicksal ihrer Kameraden vor Jahrtausenden, die Zustände der unfreien Arbeit bei den classischen Völkern, der Frohnden und Dienste durch das Mittelalter hindurch bis zur französischen Revolution in raschen, lebendigen Bildern vorüberführte. Wie gesagt, ich war in der glücklichsten Disposition, und die athemlose Stille meines Auditoriums, das die widerwilligen Elemente im Zaume hielt und selbst die Huster und Nieser nicht aufkommen ließ, befeuerte mich immer mehr, so daß ich kaum je zuvor über einen Gegenstand, der mir am Herzen lag, mich beredter geäußert habe.

Ein gewaltiges Händeklatschen, Bravo-Rufen und Stampfen mit Stöcken und Stiefeln machte den Saal erbeben, als ich geendigt hatte, und die ganze Versammlung stand wie Ein Mann auf, um mich durch den mittleren Gang meinen Weg nach der Thür finden zu lassen. Ich war sehr glücklich über diesen Erfolg und wandelte draußen in den heimlichsten Gängen des Gartens noch lange herum, während die Menge sich verlief und aus allen Gruppen, die an meinem Versteck vorüberkamen, mein Lob erscholl, zugleich mit eifrigen Discussionen über den und jenen Punkt, der ihnen minder eingeleuchtet hatte, über den sie aber dennoch trotz meiner Aufforderung am Schlusse mich nicht noch eigens hatten zur Rede stellen wollen.

Abends, in der Familie meines Freundes, mußte ich mir dann noch viel Liebe und Lob gefallen lassen und verbrachte ein paar angenehme Stunden. Der junge Herr war nicht anwesend. Niemand vermißte ihn. Ich ergriff aber eine Gelegenheit, mit ganz unschuldiger Miene von meinem Kaffeestündchen in dem Forstgarten zu erzählen und des schönen Mädchens zu erwähnen. Mann und Frau stimmten in ihrem Lobe überein; doch waren Beide der Meinung, in dem Kopfe dieser raren Person sei irgend etwas nicht richtig und man werde noch einmal seltsame Dinge erleben, wenn ihrem Studieren und Spintisiren nicht bald durch eine vernünftige Heirath ein Ziel gesetzt würde.

Ich war viel zu sehr mit meiner Mission beschäftigt, um anders als mit flüchtiger Neugier über das wunderliche Mädchen nachzudenken. Auch am andern Tage, als ich von einem weit längeren Spaziergange schon vor Tische zurückkehrte und wieder an dem gastlichen »Waldhorn« vorbeikam, spähte ich nur so verloren über den Zaun. Da sah ich sie aber richtig wieder unter den Bäumen sitzen, auf derselben Bank, wo ich gestern meinen Kaffee getrunken, das Buch wieder vor ihr auf dem Tische und ihr Gestrick mit den langen hölzernen Nadeln dabei rastlos zwischen den Händen bewegend.

Da konnte ich's nicht übers Herz bringen, vorbeizugehen.

Sobald sie mich erblickte, stand sie auf, ließ die Hände sinken und erwiderte meinen Gruß mit einer so demüthigen Geberde wie Ruth, als Boas ihr gegenübertrat.

Sie fragte, ob ich irgend etwas befehle, ob sie mir eine Erfrischung holen solle. Ich bat nur um ein wenig Selterswasser, falls es zu haben sei, aber ich wolle sie nicht bemühen, sondern selbst ins Haus gehen, da ich wisse, daß sie die Gäste nicht bediene.

Da erröthete sie leicht, was ihr einen neuen Reiz gab, und mit einem hervorgestammelten: O, das ist ganz etwas Anderes! eilte sie davon, so eilig, wie wenn es ein Feuer zu löschen gelte. Ich dachte, sie würde das Mütterchen mit dem Verlangten herausschicken. Sie kehrte aber nach wenigen Minuten selbst zurück, Krug und Glas und eine Schale mit Zucker auf einem zinnernen Brette tragend, das wie Silber glänzte. Inzwischen hatte ich einen Blick in das Buch geworfen, das aufgeschlagen auf dem Tische lag. Kein Roman, wie ich erwartet hatte, sondern die Beschreibung einer Reise durch Indien, aus dem Englischen übersetzt.

Sind Ihnen solche Bücher interessanter, als Romane und Gedichte? fragte ich, als sie mir das Glas vollschenkte und mir den Zucker dazu anbot.

Ja, sagte sie ohne Verlegenheit. Ich bin so unwissend, in der Volksschule habe ich so wenig gelernt. Auch habe ich alle Geschichtenbücher in der Leihbibliothek schon durchgelesen, und zuletzt war ich nicht klüger, als vorher. Aber zu wissen, wie es auf der Erde aussieht, und wie der liebe Gott Alles eingerichtet hat in der ganzen Schöpfung, davon kann ich nie genug erfahren.

Ihre Stimme war ein wenig tonlos, wie von Jemand, der nur wenig spricht und auch das Wenige, ohne sich darum zu kümmern, was es für einen Eindruck auf Andere machen möchte. Eine gewisse Nüchternheit lag in Allem, was sie sagte, und ich war jetzt geneigt, die Sprödigkeit gegen alle zärtlichen Verhältnisse weniger aus ihrem Mädchenstolze, als aus einem Mangel ihres kühlen Naturells zu erklären. Ein Glück, sagte ich zu mir selbst, daß dieses schöne Bild kein warmes Jugendblut in den Adern hat. Wenn es feuriger beseelt wäre, wie viel Unheil würde es dann erst anstiften?

Indessen übte das Mädchen doch immerhin eine solche Anziehung, daß ich mich bei ihr niederließ und Allerlei von ihrer Lectüre mit ihr plauderte. Es sah ziemlich confus in dem schönen Haupte aus. Die disparatesten Begriffe lagen da hart bei einander, und über dem Bestreben, einige Ordnung in das Chaos zu bringen, beschlich sie zuweilen ein rührendes Gefühl ihrer Unzulänglichkeit. Einmal sogar, da ich mit der sanftesten Manier einen Irrthum corrigirte, sah ich, daß Thränen aus ihren schönen dunklen Augen vorbrachen.

Ich ergriff ihre Hand. Warum weinen Sie, Emerenz?

Aber sie antwortete nicht und schüttelte nur abwehrend den Kopf. Ich bin ein dummes Ding, verzeihen Sie! sagte sie nach einer Weile. Niemand thut mir was zu Leide, und doch bin ich nicht vergnügt. Vielleicht kommt es daher, daß ich nicht genug arbeite. Aber was soll ich thun? Die kleine Wirthschaft ist bald beschickt, und in der Fabrik – oh! Doch mein' ich, wenn ich etwas recht Schweres und Großes zu schaffen hätte, würde ich nicht Zeit haben, so viel über Gott und die Welt nachzudenken, und so glücklich werden, wie Sie gestern gesagt haben daß nur freigewählte Arbeit den Menschen machen kann, wenn er fühlt, daß sie seinen Kräften angemessen ist.

Haben Sie mich denn reden hören? fragte ich sehr erstaunt.

Gewiß. Ich stand unten im Garten neben dem offenen Fenster und hörte jedes Wort. Nie hatte ich eine glücklichere Stunde, denn Alles war mir so klar und vertraut, obschon es hoch über mir war, und ich hörte nicht bloß mit dem Kopfe, sondern mit dem Herzen und hätte die ganze Nacht so stehen und zuhören mögen. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen das so sage; es wird Ihnen sehr gleichgültig sein von einem so geringen Mädchen, aber ich freute mich so, als ich Sie vorhin eintreten sah, und dachte, ob ich mir wohl ein Herz fassen würde, Ihnen für die schöne Rede zu danken – und jetzt ist es mir so herausgeschlüpft.

Wie sie das sagte, war es eine ganz verwandelte Stimme, und das ganze Mädchen, das so kühl und trocken erschienen war, wurde mit einem Male von einer so lieblichen Wärme durchstrahlt, daß mir ihr schlichtes Wort süßer einging, als der gestrige Beifallsstrom des überfüllten Saales.

Ich sagte ihr auch, wie mich ihr Interesse freute, und daß ich hoffte, sie werde heute noch Manches hören, was ihr ebenso zu Herzen gehen würde. Dann stand ich auf, legte, so sehr sie sich dagegen sträubte, Geld auf das Brett und reichte ihr die Hand.

Ehe ich es hindern konnte, hatte sie meine Hand ergriffen und ihre Lippen darauf gedrückt.

Ich gestehe, daß mir dieses Zeichen der Ehrerbietung einen höchst fatalen Eindruck machte. Zwar hatte ich mir keinen Augenblick eingebildet, an ihrer Begeisterung für meinen Vortrag habe etwa auch der Zauber meiner Persönlichkeit einigen Antheil. Sie wissen, wie klar ich mir über den Eindruck war, den ich auf ein wohlbeschaffenes junges Frauenzimmer machen mußte.

Andererseits war ich in dieses schöne Geschöpf nicht verliebt und auf ihre Zärtlichkeit nicht sehnsüchtig versessen. Daß sie aber mich, den kaum Vierzigjährigen, wie einen Patriarchen oder Jubelgreis behandelte, dem Kinder und Enkel die Hand küssen – das war denn doch bitter. Also verabschiedete ich mich mit einer etwas unwirschen Manier, indem ich brummend und kopfschüttelnd meinen Hut ergriff und ohne ein freundliches Wort mich entfernte.

Doch war ich ordentlich im Stillen froh, daß wir nicht ganz ohne Mißklang auseinandergekommen waren. Ich hatte schon angefangen, über die Rivalität nachzusinnen, die meiner heimlichen Zukünftigen in einem solchen Wesen erwachsen könne. Nun trat das Bild der zu Hause Zurückgebliebenen mit seiner sinnigen, harmonischen Klarheit wieder in seine Rechte ein; denn so interessant auch immer die naive Unbehülflichkeit war, mit der dies »Kind des Volks« seiner mangelhaften Bildung abzuhelfen strebte, so störte doch die etwas pedantische Ueberschätzung des Wissens und die kunterbunte Anhäufung von allerlei halbverstandenen Notizen den Eindruck, den dieselbe liebliche Person auf mich gemacht haben würde, wenn sie sich nur auf die Gaben verlassen hätte, die sie von der Mutter Natur empfangen hatte. Ich konnte mir nicht helfen, eine fatale Erinnerung an Züs Bünslin stieg in mir auf und kühlte meine rasch aufgeflammte Sympathie mit dem seltsamen Mädchen wieder ab. Hätte ich dasselbe Wesen als eine ganz unwissende und idyllisch selbstgenügsame Ziegenhirtin oder Sennerin gefunden, würde sie mir durch die vorausgesetzte »Poesie« ihres Naturells unstreitig mehr eingeleuchtet haben, als durch ihren Trieb zum »Höheren«, der doch nicht die untersten Stufen überklimmen konnte.

Bald aber war ich, von allen Weibersachen weit entfernt, mitten in der Präparation für den heutigen Vortrag, der nicht wie der gestrige am Nachmittag, sondern erst nach Arbeitsschluß bei Kerzenlicht stattfinden sollte.

Ich fürchtete, den Saal halbleer zu finden. Nach einem mühseligen Werkeltag wird, dacht' ich, nur den Wenigsten daran liegen, von einem Müßiggänger über die Arbeit raisonniren zu hören. Doch war der Zudrang noch stärker, als gestern, sogar meine Estrade hatte mit Bänken besetzt werden müssen, und bis auf die Gänge hinaus und draußen im Garten stand die horchbegierige Menge Kopf an Kopf. Als ich mich aber mühsam zu meinem Platz durchgedrängt hatte, wen sah ich auf der ersten Bank hinter den Honoratioren sitzen? Die Emerenz, gerade mir gegenüber, und ihre dunklen Augen fest auf mich gerichtet, vom ersten bis zum letzten Wort übrigens regungslos wie ein Bild. Nur daß sie manchmal mit einem Tüchlein sich die Stirn trocknete, da die Hitze in dem überfüllten Raum trotz der herbstlichen Abendkühle sich schier unerträglich steigerte. Mein inneres Feuer jedoch half mir, meine Aufgabe mit ganzer Inbrunst zu lösen, zu meiner eigenen und meiner großen Gemeinde Zufriedenheit, mit Ausnahme meines Freundes, dem ich's am Gesicht ansah, daß er manche meiner Maximen bedenklich und die Schilderung der großen Noth und Drangsal unserer pauvre humanité allzu pessimistisch fand. Ich aber bewies ihm hernach, da ich den Thee in seiner Familie trank, daß es ein unkluges Bemühen gewesen wäre, den Leuten ein Bild ihrer Lage zu geben, das sie sofort als geschmeichelt erkannt haben würden, während nur die unverhüllte Wahrheit mir ihr Vertrauen eintragen konnte, daß es auch mit den Heilmitteln, die ich vorzuschlagen hatte, seine Richtigkeit haben werde.

Diesen nun sollte der dritte und letzte Vortrag gewidmet sein. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, mußte ich abreisen, da der Anfang der Vorlesungen vor der Thür war.

Allerlei Briefe, die ich am Morgen empfing und zu beantworten hatte, dann ein Familien-Diner bei meinem Freunde nahmen meine Zeit so in Beschlag, daß ich, auch wenn ich einen lebhaften Drang gefühlt hätte, zu einem Abschiedsbesuch im »Waldhorn« nicht mehr gekommen wäre. Ich schlief Nachmittags ein paar Stunden, da ich dem Champagner meines Wirthes mehr, als gut war, zugesprochen hatte, und es blieb mir dann gerade noch so viel Zeit, den Vortrag noch einmal flüchtig zu durchdenken. Wieder fand ich einen Saal, in welchem kein Apfel zur Erde fallen konnte, und wieder ganz vorn in der dritten Reihe die Augen des sonderbaren Mädchens, die auch die meinigen so magisch bannten, daß ich mich nur mühsam enthalten konnte, nicht meine ganze Rede an sie zu richten.

Es war aber förmlich, als ob das ewig Weibliche, das in einem so schönen Exemplar mir gegenübersaß, mich hinanzöge, so daß ich, nachdem ich die Irrwege der verschiedenen Systeme und Schulen zur Erlangung des irdischen Glückes geschildert und ihre Ziellosigkeit dargethan, nun mit solchem Schwung und Nachdruck meine eigene Bahn beschrieb, wie es mir nie zuvor weder im Hörsaal, noch in meinen Büchern geglückt war. Wir haben oft genug darüber disputirt, lieber Freund, und ich habe Sie nicht völlig überzeugen können, daß ich's mit meiner Lösung der socialen Frage weiter gebracht hätte, als alle bisherigen Erfinder lenkbarer Luftschiffe. In der Theorie, meinten Sie, sieht's leidlich aus. Die Rechenfehler deckt erst die Praxis auf. Ich will den Streit nicht von neuem anfangen. Genug, daß ich mein Luftschiff vor den Augen meines damaligen Publikums aufs Herrlichste durch den Aether lenkte und ohne jeden Unfall mich damit wieder auf die Erde herabließ.

Glauben Sie aber nicht, daß ich meine Hausmittel zur Heilung der jahrtausendalten Schäden für unfehlbar ausgab. Zuletzt kam es doch immer darauf hinaus, daß ein Ueberschuß von Qual und Jammer durch die weiseste Ordnung der öffentlichen Zustände nicht aufzuheben sei, die offenbare Ungerechtigkeit in der Vertheilung der irdischen Loose sich nie beschönigen oder ausgleichen lasse, und daß nur das tapfere und stolze Bewußtsein, das Unvermeidliche mit Würde zu tragen, und die Kraft der Liebe, die nicht das Ihre sucht, dem Menschen jene sittliche Freiheit und Freudigkeit verleihen könne, die ihn auch in täglich erneuter Lebensnoth nicht versinken lasse.

Mein wissenschaftlicher Vortrag war unmerklich zu einer Predigt geworden. Aber ich fühlte deutlich, daß ich die Geister und Herzen dieser dürftigen Schaar mir durch das Anschlagen dieser Saite inniger verband, als wenn ich alle Weisheit einer unwiderleglichen Socialpolitik ihnen vordemonstrirt hätte. Hie und da sah ich Augen feucht werden und hörte unter den Weibern sogar jenes verstohlene Schluchzen, das im Theater die tragischen Momente begleitet. Auch war's, nachdem ich geendet hatte, minutenlang todtenstill. Dann aber brach der Beifall um so tobender aus, und ich konnte den Gang zwischen den Bänken nicht ruhig durchschreiten; plötzlich fühlte ich mich von kräftigen Armen aufgehoben und über die Köpfe der schreienden und jubelnden Menge dem Ausgange zugetragen.

Auf diese tumultuarische Scene folgte dann noch eine stillere, aber nicht minder erquickliche Nachfeier im Hause meines Freundes, der nun wieder ganz mit mir ausgesöhnt war. Wir sprachen von nichts Anderem als von dem, was unsere Hauptangelegenheit an diesen drei Abenden gewesen war, und wie es möglich sein möchte, manche meiner frommen Wünsche zur That zu machen. Die Hausfrau dankte mir mit ihrer leisen, innigen Art insbesondere für das, was ich über die Stellung der Arbeiterfrauen und die Zukunft ihrer Kinder gesagt hatte. Der Herr Bruder hatte sich weder bei den Vorträgen, noch in den geselligen Stunden blicken lassen. Er sei kein Freund von »gelehrten Erörterungen«, wie er's nenne, sagte mein Freund achselzuckend. Ich gestehe, daß mir sein Fernbleiben nur erwünscht war.

Es war darüber elf Uhr geworden, und ich mußte endlich Abschied nehmen. Um 6 Uhr früh sollte mich der Wagen meines Freundes nach der ziemlich entlegenen Station bringen. Die Nacht war still und sternenklar, ich lehnte die Begleitung des Ehepaares nach meinem Gasthofe ab und legte den Weg in der heitersten Stimmung zurück, wie sie uns nur beschleicht, wenn einmal ein Unternehmen rein geglückt ist. In den kleinen Arbeiterhäusern brannte nirgends mehr ein Licht. Ich durfte mir sagen, daß sie sich heute in einer menschenwürdigeren Verfassung zur Ruhe gelegt hatten, als an den meisten der vergangenen Abende, und daß ich eine Saat ausgestreut, die nicht ganz und gar auf steinigen Boden gefallen sei.

Als ich meinen Gasthof erreicht hatte, öffnete mir der Kellner die schon verschlossene Hausthür mit besonderer Devotion und Beflissenheit und zündete eilig den Leuchter an, den er mir die Treppe hinauf vorantrug. Doch blieb er plötzlich stehen und sagte mit einem vieldeutigen Lächeln: Der Herr Professor werden oben noch Besuch finden, Sie wissen vielleicht schon, obwohl das Mädchen darauf bestanden hat, sie komme ganz aus freien Stücken. – Ein Mädchen? fragte ich erstaunt und noch ganz ahnungslos. – Ja, und ein schönes Mädchen, grinste der unverschämte Bursche mit einer bedeutungsvollen Verneigung gegen mich, wie wenn er sagen wollte: Du Tausendsasa! Kannst so schöne Sittenpredigten halten und lockst dir hübsche Weiber aufs Zimmer. Mit Einem Wort, Herr Professor: 's ist die Emerenz aus dem »Waldhorn«. Nicht lange nach Ihrem schönen Vortrage – ich erlaube mir, Ihnen dazu zu gratuliren, Herr Professor! Ein großer Erfolg – habe schon viel Redner gehört, aber Alles, was recht ist – Wollen Sie schweigen, unterbrach ich ihn, und mir sagen, was es mit jenem Mädchen für eine Bewandtniß hat? – Nun, Herr Professor, das wird sie Ihnen ja wohl selbst sagen, erwiderte der Tropf in gereiztem Tone, seine Vatermörder aus der Cravatte zupfend. Mich hat sie nicht ins Vertrauen gezogen, ist überhaupt bisher noch zu keinem Herrn aufs Zimmer gegangen und hat bei nachtschlafender Zeit auf ihn gewartet. Man weiß aber, 's ist nicht ganz richtig mit der armen Person – eine Schraube los da oben oder auch zwei. Der Herr Professor werden ja selbst am besten beurtheilen.

Das denk' ich auch, unterbrach ich den widerlichen Schwätzer, indem ich ihm den Leuchter aus der Hand nahm. Sie können hier im Flur warten, das Mädchen wird irgend etwas zu fragen haben, und wenn ich ihr geantwortet habe, ihrer Wege gehen. Morgen um Fünf wünsche ich geweckt zu sein. Gute Nacht!

Ich ließ ihn ziemlich verblüfft auf der Treppe stehen Und betrat mein Zimmer in einer Spannung, die Sie nach Allem, was ich Ihnen von dem seltsamen Mädchen erzählt, nur sehr begreiflich finden werden.

*

Sie hatte ganz bescheiden auf einem Stuhl dicht neben der Thür gesessen. Sobald ich eintrat, stand sie auf und machte mir einen kleinen Knix mit einem Gesicht, als hätte ich sie im Schlafen oder doch im Träumen gestört, halb erschrocken, halb verwirrt. Als der Schein der Kerze über ihr Gesicht flog, sah ich ihre schönen breiten Augenlider zittern, wie bei einem Nachtvogel, dem man ins Nest leuchtet.

Sie hier, Emerenz! sagt' ich, indem ich den Leuchter auf den Tisch stellte. Was haben Sie so Dringendes mit mir zu verhandeln, daß Sie zu so später Zeit – aber freilich, da ich morgen mit dem Frühesten abreise – Ihre Gegenwart, ihr stummer Blick, und daß ich denken mußte, der Kellner draußen höre jedes Wort – das Alles machte mich verlegen, so daß ich meine Sätze nicht zu Ende brachte. Ich schloß meinen Koffer auf, als hätte ich Eile, ihn vollends fertig zu packen, trat dann ans Fenster und öffnete es. Es ist eine schlechte Luft hier im Zimmer, sagt' ich. Finden Sie nicht auch? Aber behalten Sie doch Platz. Und sagen Sie mir endlich –

Verzeihen Sie, Herr Professor, hörte ich sie nun sagen mit leiser, aber ganz ruhiger Stimme, ich weiß, es ist eine ungeschickte Zeit; aber mein Gott, was blieb mir übrig, da Sie morgen abreisen wollen! Und ich will Sie auch gar nicht lange belästigen, nur wissen wollt' ich, was ich zu hoffen habe, und ob Sie mir meinen Wunsch erfüllen werden.

Ihren Wunsch- Emerenz? Reden Sie dreist. Sie wissen, daß ich mich für Sie interessire und Ihnen gern einen Gefallen thue.

Wenn das Ihr Ernst ist, sagte sie mit einer rührenden Schüchternheit, indem sie mich fest anblickte, so erfüllen Sie mir meinen heißesten Wunsch und nehmen mich als Ihre Magd zu sich ins Haus.

Meine Ueberraschung war so groß, daß ich im ersten Augenblick meinen Sinnen nicht traute.

Habe ich Sie recht verstanden, Emerenz? sagt' ich. Sie wollten – als meine Magd –? Aber wie reim' ich das zusammen mit Ihrem Bildungstrieb, Ihrer Leselust – überhaupt mit Ihrem ganzen Wesen, das doch für niedere Dienste nicht so eigentlich geschaffen ist?

Sie sah jetzt zu Boden, und ein leichtes Roth überlief ihre Wangen. Ich meinte, jetzt erst so recht zu sehen, was für ein schönes Menschenkind da vor mir stand.

Es ist wahr, sagte sie, ich habe mich bisher lieber mit Büchern als mit Hausarbeit abgegeben. Aber Sie haben mir die Augen darüber geöffnet, daß es Unrecht von mir war, daß man zum Arbeiten für seine Nebenmenschen, zum Aufopfern vieler eigenen Neigungen und Bequemlichkeiten verpflichtet ist, daß man nicht sittlich handelt, wenn man nur an sich denkt. Und dann, es ist eigentlich auch wieder nur wegen meiner Bildung, wenn ich von hier fort möchte und in Ihrem Hause leben. Nie hat Jemand mir so viel zu denken gegeben, und zu Keinem habe ich ein so großes Vertrauen gefaßt, daß er auf alle Fragen und Zweifel, die mir je aufstiegen, würde antworten können, wie zu Ihnen. Fürchten Sie nicht, Herr Professor, daß ich Ihnen zur Last fallen würde! Nur ganz selten würde ich mir getrauen, Sie um Rath zu fragen, und Sie sollten mich in Ihrem Hause gar nicht spüren, außer daß Ihnen Alles von selbst gethan würde, was Sie sonst befehlen müßten, weil ich sehr bald wissen würde, wie es Ihnen lieb und angenehm wäre.

Nun schlug sie die Augen wieder auf und richtete sie mit einem so kindlich flehenden Ausdruck auf mich, daß ich wirklich ganz verlegen und zugleich von einem herzlichen Gefühl für das gute arme Geschöpf durchdrungen wurde. Ein solches Mädchen beständig um sich zu haben, hundert kleine freundliche Dienste von ihr sich erweisen zu lassen und zugleich die Freude zu empfinden, ihr geistiges Wesen aufblühen und heranreifen zu sehen – aber das war ja eine Chimäre. Von allem Andern abgesehen: wollte ich nicht in der nächsten Zeit mich verloben und dann bald heirathen? Und würde die junge Hausfrau mit einer solchen Magd, die zugleich ihres Mannes Zuhörerin zu sein wünschte, sonderlich zufrieden gewesen sein?

Emerenz, sagt' ich endlich, es ist hübsch von Ihnen, daß Sie das Bedürfniß fühlen, sich nützlich zu machen, und jeder redlichen Arbeit sich unterziehen wollen, obwohl Manche in Ihrer Lage höhere Ansprüche machen würde. Auch wäre es mir wahrhaftig die größte Freude, mehr mit Ihnen zu verkehren – dabei strich ich ihr sanft mit der Hand über das Haar – denn ich halte Sie für eine gute und reine Natur und würde Ihnen gern behülflich sein, Ihren Geist weiter auszubilden. Aber Sie müssen einsehen, daß das unmöglich ist. Ich bin nicht in den Verhältnissen, eine zahlreiche Dienerschaft halten zu können, und bedarf überhaupt zu meinem Leben nicht Mehr, als was meine alte Haushälterin mir leisten kann. Was würde die für Augen machen, was würde die Welt dazu sagen, wenn ich plötzlich ein junges Mädchen ins Haus nähme, noch dazu ein so schönes und liebenswürdiges, wie Sie, Emerenz! Wir würden, wenn wir noch so unschuldig mit einander verkehrten, in ein heilloses Gerede kommen, und da ein Fall, wie der Ihrige, so selten ist, würden meine besten Freunde ihn nicht verstehen und mir auf den Kopf zu sagen, Sie seien nicht meine Dienerin, sondern meine Geliebte.

Ihr Gesicht verdüsterte sich plötzlich, ich sah, daß ihre Augen feucht wurden und ihre Lippe zitterte. Aber sie bezwang sich und sagte mit dem Tone tiefster Entmuthigung: Ich begreife, Herr Professor, Sie würden sich über ein solches Gerede ärgern, weil Sie sich meiner schämen müßten. Verzeihen Sie, ich sehe ein, daß ich zu kühn gewesen bin; ich will gehen es ist schon so spät – o verzeihen Sie mir nur – bitte, bitte!

Zwei große Tropfen liefen ihr über die Wangen, sie wandte sich ab, ihre Scham und Verwirrung zu verbergen, Und wollte nach der Thür. Mir aber brannte das Herz von Mitleid und unbewußter Zärtlichkeit für das wundersame Mädchen. Ich ergriff ihre Hand und sagte hastig: Was denken Sie nur, Emerenz? Ich mich Ihrer schämen! Ich würde ja stolz und glücklich sein, wenn ich der Mann dazu wäre, die Liebe eines so holden und reizenden Wesens zu besitzen, und statt mir daraus einen Vorwurf zu machen, würden die meisten meiner Verleumder mich beneiden. Aber eben darum, Emerenz – Sie haben ja schon Erfahrungen in dem Punkte, Sie wissen, welche Macht Sie über Männerherzen haben, und wenn Sie mich auch für einen Weisen halten, vielleicht für einen verknöcherten Gelehrten und Bücherwurm: ich stehe nicht dafür, daß ich Sie nur acht Tage lang ruhig kommen und gehen sehen, daß ich mich nicht wie ein kopfloser Knabe in Sie verlieben würde. Was aber sollte daraus werden? Sie würden – das traue ich Ihnen zu, Emerenz, – mich so befremdet anschauen wie Alle, denen Sie bisher einen Korb gegeben haben, und keine Stunde länger unter Einem Dache mit mir leben wollen. Nicht wahr, das würden Sie?

Wieder hatte sie die Augen zu Boden geheftet, während ich dies sagte, und wieder schlug sie sie nun ruhig auf und sah mir mit treuherzigem Ernst gerade ins Gesicht.

Ob ich so thun würde? sagte sie langsam. Nein, wahrhaftig nicht! Vielmehr ich würde die größte Freude meines ganzen Lebens haben und nur nicht wissen, wie ich sie überleben sollte und ob ich ihrer nicht gar zu unwürdig wäre. Ihre Geliebte zu sein – o mein Gott! Aber das wäre ja ein Glück, das mich schwindlig machte. Ich kann es auch nicht glauben, ich weiß, das haben Sie nur gesagt, weil Sie so gütig sind und mich nicht glauben lassen wollten, daß Sie mich verachteten. Aber es kann Ihr Ernst nicht sein. Ich und Sie – nein, nein – –

Ich ergriff ihre beiden Hände und hielt sie fest, da sie wieder nach der Thür strebte. Die Gedanken wirbelten mir im Kopf, mein Herz schlug bis in den Hals hinauf; ich hätte Den sehen mögen, der in meiner Lage sich nicht ein wenig närrisch geberdet hätte.

Kind, rief ich, sage mir, ist denn das kein Traum, daß wir hier so bei einander stehen und so wunderliche Reden führen? Bist du's wirklich, die mir sagt, daß sie mich liebt, bin ich's, der mit anhört, was ihm nie ein Weibermund gesagt hat, und gaukelt mir das nicht bloß ein Nachtgesicht vor, dessen ich mich schämen werde, wenn ich aufwache? Ist es denn möglich, daß du, um die sich die jüngsten und hübschesten Männer bemühen, Gefallen findest an einem so garstigen alten Philister, der sein eigenes Gesicht im Spiegel nicht ansehen mag, den die Frauen sich nur zur Noth gefallen lassen, wenn sie einen ungefährlichen Freund brauchen, und der ihnen allenfalls aus Vernunftgründen zum Ehemann und Versorger nicht gerade zu schlecht ist? Und diesen von der Natur so stiefmütterlich behandelten Menschen könntest du, ein so reizendes und reines Geschöpf, wirklich von Herzen lieben, ohne alle Nebenabsichten, bloß weil er ein guter Kerl ist und dir ein paar Gedanken in die Seele gestreut hat, die dich über das Alltägliche hinaushoben?

Ich hielt sie noch immer fest bei den Händen, als fürchtete ich, sie werde wie ein Traumbild vor mir zerflattern. Aber sie machte gar keine Anstalten dazu. Sie sah mich nur ernsthaft an und erwiderte: Was Sie da sagen, verstehe ich nicht. Ich weiß nicht, was andere Mädchen und Frauen an Ihnen sehen. Mir ist nie ein Mann begegnet, der mir mehr gefallen und dem zu gefallen ich mich heftiger gesehnt hätte. Wie Sie sprachen unten im Saale, meine ganze Seele flog Ihnen zu; ich dachte mehrmals, nur Sie und ich wären auf der Welt, Und wenn ich mich dann besann, daß noch andere Menschen da waren und wie Vieles mich von Ihnen trennte, hätte ich weinen mögen. Und wie Sie zu Ende waren, sagte ich mir: Das überlebst du nicht, daß er nun fortgeht und du siehst ihn nie wieder. Immer bei ihm zu sein, das wäre freilich ein zu himmlisches und unverdientes Glück. Ich hatte erfahren, daß Sie noch keine Frau haben. Er wird Keine gefunden haben, die er seiner würdig gehalten, dacht' ich. Und Gott ist mein Zeuge: nicht von fern kam mir der Gedanke, Sie würden sich so weit zu mir herablassen. Aber dann – das Andere –

Welches Andere, Emerenz?

Verachten Sie mich nicht darum. O bitte, glauben Sie mir, ich bin immer ein braves Mädchen gewesen. Eine Liebschaft schien mir immer etwas so Unerhörtes, Unmögliches für mich – ja selbst als verheirathete Frau mit einem Manne zu leben – mir graute davor! Jetzt zum erstenmale – meine Pflegemutter, die Waldhornwirthin, hatte mir gesagt, daß Sie sich gleich am ersten Tage für mich interessirt, mich schön gefunden hätten – dann waren Sie so gütig gegen mich gewesen – am Ende ist's doch möglich, sagt' ich mir, auch er, so hoch er über Allen steht, er verliebt sich in dich, und du wirst glücklich, wenn es auch nicht dauern kann. Aber vielleicht, wenn du auch wieder von ihm gehen mußt –

Sie bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Ich sah, wie ein Schauer ihr über den Leib ging. Sage mir Alles, Emerenz, bat ich leise, den Arm um ihre Schulter legend. Da kam es nach einer Pause kaum hörbar von ihren Lippen: Ich dachte, – daß ich vielleicht – ein Kind von Ihnen bekäme, dem ich nun mein ganzes Leben widmen könnte – o ein Kind, das Ihnen gliche, ebenso gute und große Gedanken hätte, wenn es herangewachsen wäre, und das seiner armen Mutter sich nicht schämen, sie nie verlassen würde, wenn sie ihm auch vom Vater nur erzählen, ihn nur von ferne ihm zeigen dürste. Wenn Gott mir ein solches Glück beschert hätte, wie hätte ich ihm danken und Nichts mehr von ihm begehren, alles Andere mit harter Arbeit mein Lebenlang verdienen wollen!

*

O lieber Freund, ein wie armseliges, widerspruchsvolles Wesen ist der Mensch, wie schwankend der Boden der Sittlichkeit, auf welchem der Beste seine innere Ruhe und seinen Stolz fest gegründet zu haben meint! Von allen unseren Handlungen, die uns das Gefühl der Reue erregen, ist keine, an die wir mit fressenderem Gram und tieferer Verzweiflung zurückdenken, die wir lebenslang mit so wachsender Bitterkeit uns in schwarzen Stunden zurückrufen, wie jene thörichte Hast, mit der wir ein großes Glück, das uns geboten wurde, zurückwiesen aus irgend welcher kleinen, kalten, engherzigen Rücksicht, irgend einem philisterhaften Vorurtheile, verscherzend, was nie wiederkommt, uns selbst beraubend, wo wir überschwänglich reich beschenkt werden sollten. Ich habe wenig Schlimmes in meinem Leben begangen, Anderen zum Nachtheil und Kummer. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß eine arge Missethat, Blutschuld oder sonst ein Unheil, das man einem Andern zugefügt, so nagend und bohrend sich ins Gewissen einnisten könne, wie eine Unterlassungssünde am eigenen Lebensglück. Auch ist der Grund klar genug. Als geborene Egoisten verwinden wir weit schwerer eine Thorheit, die wir selbst durch lange Jahre zu büßen haben, als eine Schuld, die für Andere ein Lebensverderb wird. Wozu noch kommt, daß wir bekanntlich empfindlicher sind für unseren Mangel an Klugheit, als für den an Güte, es uns leichter verzeihen, wenn wir schlecht, als wenn wir dumm gewesen sind.

Da stand nun ein unverhofftes, unergründliches, märchenhaftes Glück in Lebensgröße vor mir, und ich wahnsinniger Narr –

Nein, nicht das mache ich mir zum Vorwurf, daß ich selbst dieser berauschenden Versuchung gegenüber ein sittlicher Mensch blieb und statt die Arme auszubreiten und eine solche Liebe ans Herz zu drücken, meinen Arm von ihrem Nacken lös'te und Vernunft für uns Beide zu behalten suchte. Aber mußte ich für alle Zukunft mich losreißen, jede Brücke abbrechen, die zu schönen Luftschlössern hinüberführte, aus denen doch wohl mit der Zeit ein festes, trauliches Wohnhaus sich hätte machen lassen?

Denn Sie können sich schwerlich aus dem, was ich Ihnen da berichtet habe, einen ganz klaren Begriff davon machen, wie das befremdende Wort, das in jedem andern Munde verletzend geklungen hätte, sich von diesen Lippen ausgesprochen unschuldig und fast erhaben ausnahm! Gerade weil es mehr einer dunklen Vorstellung dieses wunderlichen Kopfes, als einem Drang des Herzens oder gar der Sinne entsprang. Das arme Kind mochte in ihrer niederen Umgebung Vieles mit angesehen haben, was ihr die Verirrungen ihres Geschlechtes als etwas Alltägliches hatte erscheinen lassen, gegen das sich doch ihre reine und höher angelegte Natur abweisend verhielt. Doch eben so oft war ihr wohl auch klar geworden, daß es um das Mutterglück eine herrliche Sache sei, die vieles Bittere und Nichtswürdige vergüte. So hatte sie sich in ihren undisciplinirten Gedanken den Besitz eines Kindes, das einem von ihr verehrten Manne sein Leben verdanke, mit einem eigenen Glanz umwoben vorgestellt und sich dieses Glück als ein erreichbares Ziel ihrer kühnsten Wünsche gedacht, da sie in ihrer Bescheidenheit glaubte darauf verzichten zu müssen, einem solchen Manne als rechtmäßige Gattin anzugehören.

Ich selbst aber, da das Unerhörte des Falles mich überstürzte und ich überdies in jener Stunde für das sonderbare Geschöpf noch durchaus keine leidenschaftliche Neigung empfand, – nahm ihr Bekenntniß nicht viel anders entgegen, als etwa ein wohlwollender Arzt, dem eine Patientin irgend ein merkwürdiges Leiden klagt, das jedoch mit einer vorsichtigen Behandlung, fieberstillenden kühlen Tränkchen und vielleicht einem Aderlaß zu bezwingen wäre.

Emerenz, sagte ich, liebe Emerenz, kommen Sie zur Besinnung, fassen Sie sich. Was Sie da sagen, ist unmöglich. Die Welt, in der wir leben, erlaubt nicht, daß wir unseren Herzen folgen; sie hält strenge Polizei, und wer leichtmüthig über die Hecken und Zäune steigen will, welche die Heerstraßen einfassen, muß Strafe zahlen. Jetzt sind Sie aufgeregt durch Ihre schöne Begeisterung für die Ideen, die ich Ihnen vorgeführt habe, und verwechseln den Prediger mit seinem Evangelium und übertragen die Herzenswärme, mit der Sie dieses aufgenommen haben, auf den sehr unscheinbaren, unschönen Verkündiger. Aber ich wäre ein Verbrecher, wenn ich Ihren schwärmerischen Irrthum mir zu Nutze machte und das Geschenk Ihres ganzen jungen Lebens annähme, ohne es mit der Hingabe des meinigen zu erwidern. Das aber kann ich nicht; ich – und hier mußte ich einen gewaltigen Anlauf nehmen, um eine unübersteigliche Schranke zwischen uns zu errichten, die doch auf so schwankem Grunde ruhte, – ich bin so gut wie verlobt, mit einem Mädchen, das mich gewiß nicht halb so innig liebt, wie Sie, und für das auch ich keine Leidenschaft fühle. Sie sehen, liebes Kind, es soll nicht sein. Können Sie mir denn auch zutrauen, daß ich mich als Vater eines Kindes wissen möchte, für das ich nicht die volle Verantwortung übernähme? Sie aber, Emerenz, Sie werden mir noch einmal danken, daß ich in dieser Stunde mich fest gemacht habe gegen den Zauber, der von Ihnen ausgeht. Bisher haben Sie Niemand gefunden, dessen Werbung Sie hätten erhören mögen. Aber gewiß wird Der einmal kommen, der Sie ganz so glücklich macht, wie Sie es verdienen, und dann –

Sie trat plötzlich von mir zurück. Ich will gehen, sagte sie kaum hörbar. Leben Sie wohl! Vergeben Sie, daß ich – o, mein Gott, was hab' ich gethan!

Sie stürzte nach der Thür. Ich vertrat ihr den Weg. Bleiben Sie mir gut, Emerenz, sagte ich, obgleich ich Ihnen habe wehthun müssen. Ich bleibe Ihr Freund, ich achte Sie hoch, und was wir hier mit einander gesprochen haben, wird nie in meiner Erinnerung verlöschen, als das Lieblichste und Wundersamste, was mein einsames Herz je erfahren hat. Sehen Sie mich noch einmal an mit dem alten, vertrauensvollen Blick wie während meiner Vorträge. Und Gott segne Sie!

Wirklich versuchte sie, mich anzublicken. Aber die Thränen, die ihr aus den Wimpern brachen, verschleierten ihren Blick; sie bückte sich in sprachloser Verwirrung, um meine Hand zu ergreifen und an die Lippen zu drücken, ich nahm aber rasch ihren schönen Kopf zwischen beide Hände und küßte sie auf Stirn und Augen. Dann entglitt sie mir und huschte aus dem Zimmer.

Sofort besann ich mich, daß draußen ein Späher und Horcher gewartet haben mochte, der freilich unsere leisen Reden nicht konnte verstanden haben. Ich ergriff den Leuchter, riß die Thür wieder auf und rief in den dunklen Flur hinaus: Kommen Sie gut nach Hause, Fräulein Emerenz, und grüßen Sie die Pflegemutter, und das Nähere werde ich ihr schriftlich mittheilen. Sie hörte diese alberne Rede wohl nicht mehr, auf der Treppe war's todtenstill; wie ein Pfeil mußte sie hinuntergeschossen sein. Auf dem Flur aber, über eine niedere Bank hingestreckt, lag der Oberkellner und schnarchte.

*

Daß ich die Nacht nicht zum schlafen kam, werden Sie begreifen. Zuerst wollte ich mir einreden, ich hätte mich ganz vortrefflich benommen und sei überhaupt ein musterhafter Mensch und Heiliger. Doch traute ich dem Frieden nicht recht und zweifelte stark, ob ich auch in Zukunft so gut von mir denken würde. Bald aber dachte ich überhaupt Nichts mehr. Ich sah nur immer das schöne, traurige Gesicht und hörte die leise Stimme, und meine Lippen empfanden die Sammetweiche der Augenlider, die sie geküßt hatten. Entweder, sagte ich mir, du hast die edelste Heldenthat deines ganzen Lebens vollbracht oder die größte Dummheit. Du kannst lange warten, bis ein so herrliches Weib wieder so verblendet ist, sich dir an den Hals zu werfen, aus purer himmlischer »intellectualer Liebe«, wie der alte Spinoza sagen würde. Und was hast du ihr zum Danke für ein so königliches Geschenk geboten? Froschblütige Philistermoral, abgestandene Weisheitsphrasen, die freilich, wenn sie gescheit ist, sie darüber aufklären müssen, wie sehr sie sich geirrt hat, als sie dich ihrer Liebe werth gefunden. Wärest du nun ein ganzer Kerl, so machtest du deine schnöde Missethat auf der Stelle wieder gut, eiltest ihr bei Nacht und Nebel nach und widerriefest all die hochtönenden Nichtigkeiten, die du ihr wie Nadeln ins Herz gebohrt hast.

Sie sehen, ich war ziemlich klar über das, was ich hätte thun sollen. Aber wer kann aus seiner Haut fahren, bloß weil er fühlt, daß sie ihm zu eng ist? Nein, der alte Spinoza hat Unrecht: Einsehen und Wollen ist nicht Ein und dasselbe.

Ich zündete mir eine Cigarre an, holte das Conterfei meiner angeblichen Braut hervor und bemühte mich, als ein Mensch von Erziehung und Grundsätzen, mich in dem Vorsatze zu bestärken, dies verständige, normale und durchaus achtungswürdige Fräulein zu meiner Lebensgefährtin zu machen und das Abenteuer mit dem excentrischen Fabrikmädchen nur als eine romantische Curiosität zu betrachten.

Daß mir dies sonderlich gelang, kann ich nicht behaupten. Ja ich brachte es endlich nicht mehr über das Herz, meinen photographischen Talisman zu betrachten, und war froh, als ich den Schritt des schlaftrunkenen Hausknechts auf der Treppe vernahm, der mir anzukündigen kam, der Wagen sei vorgefahren, und die gnädige Frau schicke mir noch dieses schöne Bouquet und einen Morgengruß mit auf die Reise.

Zum Glück – oder Unglück führte mich der Weg nicht am Waldhorn vorbei. Ich wäre sonst doch wohl aus dem Wagen gesprungen, hätte das arme Kind aus dem Schlaf geklopft, und wer weiß, wie es dann gekommen wäre.

So aber vollbrachte ich meine Reise ohne jedes Abenteuer und erinnere mich noch genau, daß ich mein Studierzimmer mit den Gefühlen eines Sträflings betrat, der aus seiner Zelle ausgebrochen und gebunden wieder zurückgeschleppt worden ist.

Am Nachmittag schon begann mein Colleg. Ob meine Herren Zuhörer nicht hin und wieder eine gewisse Geistesabwesenheit an ihrem verehrten Lehrer wahrgenommen, möchte ich nicht beschwören. Den Abend sollte ich bei meinem Freunde und Collegen zubringen, und sicher rechnete die Frau Collegin darauf, daß gleich in der ersten Stunde das entscheidende Wort gesprochen werden würde.

Aber um Nichts in der Welt hätte ich mich aufraffen können, jenem Mädchen unter die Augen zu treten.

Ich schrieb meinem Freunde eine entschuldigende Zeile, ich sei von der Reise ermüdet und müsse den versäumten Schlaf der letzten Nacht nachholen. Daß es dazu nicht kam, war kein Wunder.

Denn nun stand es mir fest: jenen Bund ohne Liebe zu schließen, war mir eine moralische Unmöglichkeit. Lieber allem Glück entsagen, als mit einem halben vorlieb nehmen. Ja, wenn sich das ganze niemals in Fleisch und Bein vor mich hingestellt und mir die Hand entgegengestreckt hätte, die ich grillenhafter Thor zu ergreifen versäumte! So aber – es wäre ein Verbrechen gewesen an dem arglosen Mädchen, das mich so um Gottes willen zu nehmen und zu beglücken entschlossen war, während ich mir jetzt auch um meiner selbst willen begehrenswerth schien.

Also blieb ich auch die nächsten Tage weg und verließ mein Haus, bis auf die Stunden der Vorlesung, nur bei dunkler Nacht, wo ich weite, hastige Märsche über Felder und Wiesen machte und Zwiesprach mit meinem Herzen hielt. Und einmal – wie ein Blitz fuhr's durch mein dumpfes Hirn – ich stand mitten auf dem Felde still, und es war, wie wenn Jemand anders aus mir herausspräche: Ja, warum kannst du sie denn nicht heirathen? – die Emerenz nämlich. Denn die Andere kam gar nicht mehr in Betracht; die war, nachdem sie noch etliche Wochen sich gewundert und gewartet hatte, unverrichteter Sache abgereis't, und ihre Freundin, die Frau Collegin, war über dies klägliche Scheitern des schönen Heirathsgeschäftes so in Zorn gerathen, daß sie meinen Besuch abgelehnt hatte und auf der Straße an mir vorbeisah.

Wirklich: warum sollte ich sie nicht heirathen, die Emerenz, das Mädchen, das mich liebte pour mes beaux yeux, so wenig die Schönheit derselben irgend sonst Jemand hatte einleuchten wollen?

Als mir dieser große Gedanke, der, wie alles Große, so äußerst einfach war, zum ersten Male aufging, hatte ich eine triumphirende Freude, als hätte ich eine weltbewegende Entdeckung gemacht. Ich begriff jetzt nicht, daß ich nicht längst und von Anfang an diese Lösung als die einzige und durchaus nothwendige ins Auge gefaßt hatte. Was ging es mich an, daß die Frau Collegin mir eine andere Partie ausgesucht hatte und über meine Wahl die bösesten Glossen machen würde? Wenn meine schöne Frau hinter so mancher Professorsgattin an Weltton und regelmäßiger Bildung zurückblieb, so entschädigte sie reichlich dafür durch Gaben der Natur, und vor Allem: mich selbst machte sie so glücklich, daß ich außer meinem Hause Nichts weiter bedurfte. Ich unbegreiflich blinder Narr, daß mir diese Erkenntniß erst nach so vielen Tagen ausging, statt in jener Nacht, wo die Flamme der Leidenschaft mich so herrlich angestrahlt hatte.

Als ich so weit mit mir war, wurde es still und heiter in mir, wie lange nicht. Ich dachte einen Augenblick, ich müsse sogleich nach Hause stürzen und auf ein Blatt Papier die Worte schreiben: Liebe Emerenz, willst du mich noch haben, so nimm mich hin. Ich bin mit Leib und Seele vor Gott und Menschen in Zeit und Ewigkeit dein dich liebender u. s. w. Dann aber überlegte ich, daß es viel schöner sei, zu warten, bis ich es ihr mündlich sagen könne, und den Anblick ihres von Freude und Staunen verklärten holden Gesichtes dabei zu genießen. Ich durfte meine Vorlesungen nicht unterbrechen, die mir, da ich ein neues Colleg las, viel zu thun gaben; Weihnachten mußte bald herankommen; inzwischen hatte ich etwas, worauf ich mich im Stillen wie ein Kind auf die Christbescherung freuen konnte.

Der ersehnte Tag erschien endlich. Ich hatte den halben Koffer vollgepackt mit allerlei Schmuck- und Putzsachen, die ich dem geliebten Mädchen aufbauen wollte, wenn ich ihr erst mich selbst beschert haben würde. Es war trotz meiner fieberhaften Ungeduld eine wundervolle Fahrt, schöne, stille Schneelandschaften flogen an mir vorbei, ich saß allein in meinem Coupé und lachte in den silbernen Decemberhimmel hinauf und führte unsinnige verliebte Gespräche mit meinem Schatz, den ich mir gegenüber träumte, wie ein blutjunger Mensch, der zum ersten Stelldichein fährt.

Und dann nahm ich mir im Gasthofe noch einmal die Zeit, meine etwas erstarrten Glieder mit einer Tasse Thee aufzuthauen. Nur den Koffer ließ ich in das Zimmer hinauftragen, in welchem ich jenes denkwürdige Gespräch mit ihr gehabt hatte. Ich selbst machte mich, nachdem ich dem Kellner auf die Seele gebunden, mein Incognito vorerst noch zu wahren, durch die helle Schneenacht auf nach dem Ziele meiner Sehnsucht.

Ohne einem bekannten Gesicht zu begegnen, langte ich bei dem Zaun des Waldhorns an. Die Tische und Bänke standen dickbeschneit unter den schwarzen Stämmen, das Haus war todtenstill. Einen Augenblick erschrak ich, da ich dachte: am Ende ist's im Winter unbewohnt. Doch auf mein Anläuten am Thor unter den mit einer hohen Schneelast überhäuften Hirschgeweihen öffnete bald eine vertraute Gestalt, das Mütterchen, das mich verwundert anstarrte. Ich stammelte einen Gruß, und dann, ohne mich auf weitere Vorreden einzulassen, fragte ich: Kann ich die Emerenz wohl sprechen?

Die Alte hustete ein Weilchen, da der scharfe Luftzug von draußen ihr auf die Brust fiel. Kommen Sie doch herein, sagte sie. Es ist so kalt, Sie sind gewiß durchgefroren, wenn Sie von der Reise kommen. Die Emerenz, sagen Sie? Mit der wollen Sie sprechen? O, du meine Güte, so wissen Sie noch nicht –

Ich will es Ihnen ersparen, ausführlich zu erzählen, wie ich gefoltert war. Das Kurze und das Lange von dem Berichte der Alten war, daß die Emerenz schon seit sechs Wochen verschwunden sei und nichts mehr habe von sich hören lassen. Anfangs November sei ein Reiseprediger – sie wußte nicht zu sagen, von welcher Secte – bei ihnen aufgetreten, der nicht sehr Viele bekehrt habe, da er eine strenge Lehre predigte.

Die Emerenz aber habe keine seiner Versammlungen versäumt und sei ganz hintersinnig geworden. Der Mann habe etwas Gefährliches, Unholdes und Ueberspanntes in seinem Wesen gehabt, was aber das Mädchen nicht gehindert habe, ihm anzuhängen. Auch sei er weder jung noch sehr beredt gewesen, schon mit grauen Haaren und von hinfälligem Leibe. Dennoch habe er die Emerenz sich nachgezogen. Sie habe ihren Pflege-Eltern ruhig erklärt, es sei ihre Bestimmung, diesem Manne zu dienen und ihm die Beschwerden seines Amtes zu erleichtern. Liebe fühle sie nicht für ihn, nur eine tiefe Hochachtung für seine Aufopferung zum Besten der Menschheit. Und so habe sie sich ihr kleines Vermögen ausliefern lassen und sei trotz alles Abmahnens und des Geredes der Leute dem Unhold in die weite Welt gefolgt.

Seitdem hatte sie Nichts von sich hören lassen.

Ich war wie von einem Schlage auf Kopf und Herz betäubt. Das arme, holde, unselige Geschöpf! So fortgerissen von seinem Dämon in ein unbekanntes Geschick, in jedem Falle dem Elend und der Reue überliefert! Ich aber war Schuld daran. Ich hatte sie mit meiner kühlen Abweisung in eine stille Desperation gebracht, und wenn es auch wohl kaum ein dépit amoureux zu nennen war, was sie zu dem lebensgefährlichen Schritt getrieben: ohne meine Dazwischenkunft hätte sie vielleicht noch Jahre so hingelebt und am Ende doch wohl ein heiteres Loos gefunden. Nun war ihr Stolz gekränkt, ihre Lebenshoffnung vernichtet worden, und sie hatte das Erste Beste ergriffen, was sich ihr bot, nur um vor sich selbst den Beweis zu liefern, daß es doch nichts Anderes als der Drang nach dem »Höheren« gewesen, was sie zur Hingabe an mich getrieben. Aber wenn das Opfer, das sie sich auferlegt, doch zu schwer für ihre zarten Schultern sich erwiese, sie ihren unwürdigen Herrn und Meister in seinem wahren Lichte sähe und eines Tages sich zurücksehnte in ihr altes freud- und kümmerloses Leben –

Ja, sie mußte einmal still stehen und sich umwenden auf ihrer abenteuerlichen Bahn. Und dann, wenn dann keine rettende Hand sich nach ihr ausstreckte –

Der Gedanke wollte mich vernichten. Ich saß wohl eine Stunde lang, ohne ein Wort zu sprechen, in dem dumpf überheizten Zimmerchen der Alten, die nicht wußte, was sie aus mir machen sollte. Zuletzt raffte ich mich auf. Ich ließ mir feierlich geloben, daß sie mir Nachricht von Allem geben wolle, was auch immer ihr zu Ohren kommen würde. Nicht die flüchtigste Spur sollte sie mir verhehlen. Meine eigentliche Absicht dabei verschwieg ich. Sie mochte glauben, ich hätte eine passende Stelle für die Entschwundene gefunden. Der Verdacht, daß es sich um mein Lebensglück handle, schien ihr nicht von fern aufzusteigen.

Es ist eine ungewöhnliche Natur, die Emerenz, sagte ich beim Abschiede. Wir müssen eben hoffen und warten. Zum Ueberfluß will ich einen Aufruf an sie in die Zeitungen setzen lassen. Aber wird sie Zeitungen lesen, da sie mit einem Apostel der Ewigkeit durch die Welt zieht? – –

Seitdem habe ich gehofft und geharrt; es geht nun, wie gesagt, ins zwölfte Jahr. Manchmal, wenn ich einsam bei meiner Studierlampe sitze und unten die Hausthür geht, fahre ich auf und denke zitternd, es sei mein verscherztes Glück, das leise mich beschleichen und die Arme um meinen Hals schlingen werde. Es ist immer nur das Gespenst des Glücks. Aber in welcher Gestalt es auch kommen möge, wie bleich und abgehärmt und sich selbst unähnlich geworden, ich würde es immer mit einem Jubelruf an das Herz drücken, aus dem sein Bild keine Stunde meines Lebens entschwunden ist.

 

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