Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Reise nach dem Glück

(1864)

 

Zu der Zeit, als man noch nicht auf Eisenschienen nach Regensburg fuhr, kam eines schönen Frühlingsabends ein junger Mann mit der Post in der alten Reichsstadt an und ließ sich seinen schweren, mit vielen Stricken umschnürten Koffer auf einem Schiebkarren in den Gasthof »zum weißen Hahnen« nachfahren. Die Stadt war, eines Marktes wegen, von Fremden überfüllt, und der Oberkellner im »Hahnen« bedauerte, den neuen Ankömmling, der feine Kleider trug und guter Leute Kind zu sein schien, in ein kleines und unfreundliches Zimmerchen führen zu müssen, das letzte, das noch zu haben sei. Der Gast aber sagte, es sei ihm völlig gleichgültig, da er morgen früh weiter wolle. Er fragte im Hinaufsteigen, ob sein Koffer, an dem das Schloß zersprengt worden war, über Nacht ausgebessert werden könne. Als ihm dies bereitwillig zugesichert war, machte er sich sogleich daran, in seinem engen Gemach den Koffer auszupacken und vorerst die vielen Stricke wieder aufzuknüpfen. Während dieses lästigen Geschäfts verlor er aber seine gute Laune nicht, lachte sogar still für sich über einen Einfall, der ihm durch den Kopf ging, und summte ein Thema aus der Zauberflöte, worin er sich auch durch den Eintritt der Magd, die frisches Wasser heraufbrachte, keinen Augenblick stören ließ. Nur ein kurzes »guten Abend!« warf er dem Mädchen hin und sah sich nicht einmal nach ihr um, als sie mit reinem Linnen wiederkam, um das Bett für die Nacht herzurichten. Sie that auch alles mit einer so geräuschlosen Art, daß ein Mensch, der den Kopf voll eigener Gedanken hatte, ihre Anwesenheit leicht vergessen konnte. Nur als sie jetzt, da es stark nachtete, die zwei Kerzen vor dem Spiegel stillschweigend anzündete, sah er auf zu ihr, nickte ihr dankend zu und konnte nicht umhin, von seinem hastigen Thun etwas auszuruhn, um das Mädchen zu betrachten. Sie war nicht mehr in der ersten Jugend, auch keine regelmäßige Schönheit. Aber ein fremdartiger Reiz mußte jeden fesseln, der nur ein paar Minuten lang in dies ernsthafte Gesicht sah. Und so geschah es auch, daß der Fremde, als er den letzten Knoten gelös't hatte, mit verschränkten Armen vor dem Koffer stehen blieb und ihr zusah, wie sie mit den kräftigen, schöngebildeten Armen, die bis über den Ellbogen nackt waren, das Laken überbreitete, die Pfühle lockerte, immer ihm abgewendet, so daß er nur im Schatten an der hellgetünchten Wand den Umriß ihres Gesichts und den schlanken Nacken hin und her wanken sah.

Ja so! sagte er plötzlich halb vor sich hin, man hat mich ja schon unterwegs davor gewarnt, der Kellnerin im Weißen Hahnen nicht zu tief in die Augen zu sehen. Das ist doch hübsch von dir, liebes Kind, daß du selber die Gefahr von den unschuldigen Fremden nach Möglichkeit abwendest, indem du ihnen den Rücken kehrst. Uebrigens brauchst du mit mir nicht soviel Umstände zu machen; ich bin so ziemlich feuerfest.

Das käme noch erst auf die Probe an, sagte das Mädchen, ohne sich nach ihm umzusehen. Aber seien Sie ganz ruhig, ich bin gar nicht begierig, Sie oder irgendeinen Menschen in mich verliebt zu machen. Auch bin ich nicht Ihr »liebes Kind«. Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, nennen Sie mich bei meinem Namen, Lena.

Du scheinst ein stolzes Mädchen zu sein, Lena, sagte er mit einem lustigen Ton.

Stolz? erwiederte sie. Und wenn ich es wäre, brauchte ich es mir übel zu nehmen? Aber freilich, die Männer sehn es lieber, wenn ein armes Mädchen eitel ist, als stolz. Die Eitelkeit kommt ihnen entgegen, der Stolz läßt sie stehn. Das können sie uns nicht verzeihen.

Er horchte betroffen auf. Sie sind nicht immer in diesen Verhältnissen gewesen, sagte er freundlich. Sie sprechen nicht, als ob sie zum Dienen erzogen worden wären.

Freilich nicht, erwiederte sie, und ihre Stimme wurde milder. Aber warum wollen wir davon reden? Jetzt bin ich einmal, wo ich bin. Wie lange es noch so bleiben soll, ist meine Sache.

Dann schwiegen sie wieder, und er begann, während sie ihre Arbeit ruhig weiter that, den jetzt geöffneten Koffer am Boden kniend auszupacken. Allerlei Frauenputz kam dabei zum Vorschein, Schmucksachen in ledernen Etuis, meist schon alt und unansehnlich, ein Karton mit schönen gemachten Blumen, ein großes Spitzentuch, ein langer, mit Goldfäden durchwirkter türkischer Schal. Das alles lag in ziemlicher Unordnung, offenbar bei dem Sturz des Koffers unsanft durcheinander gerüttelt. Er lachte, da er den ganzen Schatz auf einem Sessel aufgehäuft hatte und daran dachte, wie er ihn morgen wieder sauber einpacken sollte.

Sie könnten mir einen rechten Gefallen thun, Lena, sagte er zu dem Mädchen, das eben das Lager fertig aufgeschlagen hatte. Sehen Sie, wie alle die schönen Sachen zugerichtet sind. Sie werden sich besser darauf verstehen als ich, einen Frauenschal wieder in die richtigen Falten zu legen.

Nun erst wandte sie sich nach ihm um und warf einen raschen Blick auf ihn selbst und den wunderlichen Inhalt seines Koffers. Damit sind Sie arg umgegangen, sagte sie mit einem stillen Lächeln. Ihre Frau wird Sie schelten, wenn Sie ihr die kostbaren Sachen so zerknüllt ins Haus bringen.

Davor bin ich gottlob noch sicher, erwiederte er heiter, daß meine Frau mich schelten wird, denn ich bin noch so unverheirathet, daß ich mir's gar nicht vorstellen kann, wie eine Frau, wenn ihr lieber Mann von der Reise zurückkommt, ihm irgend etwas übel nehmen sollte, und wenn er in der ersten Freude ihr ein neues seidenes Kleid zerrisse oder ein frisches Blondenhäubchen zerknitterte.

Sie haben recht, sagte sie; eine gute Frau dürfte das nicht übel nehmen. Aber wenn das Frauenzimmer, dem diese Sachen gehören –

Sie gehören noch Niemand, unterbrach er sie; das ist eben das Spaßhafte und Ernsthafte an der Sache, und wenn Sie rathen können, wie es sich damit verhält, so schenk' ich Ihnen was von dem bunten Trödel, das schöne Tüchlein hier, oder diese gestickten Manschetten – oder was sagen Sie zu diesem Strickbeutel?

Ich meine, er wäre leicht verdient, wenn ich überhaupt Freude an solchen Sachen hätte. Wenn das alles noch Niemand gehört, so sind Sie vielleicht ein Kaufmann und reisen mit diesen Mustern herum, um für Ihr Geschäft neue Kunden zu werben.

Er lachte hell auf. Getroffen! rief er – und dennoch gefehlt. Ein Kaufmann bin ich allerdings, aber ich handle nicht mit so vergänglichen Artikeln, sondern mit schwerem, grobem Eisen und Stahl. Und dennoch will ich diese Waren hier um jeden Preis an den Mann, will sagen an ein Frauenzimmer bringen.

Sie machte eine nachdenkliche Miene.

Geben sie sich keine Mühe, fuhr er fort; das Geheimniß ist nicht zu enträthseln. Aber ich sehe nicht ein, warum ich's Ihnen nicht verrathen soll. Ich reise nämlich – unter uns gesagt – auf gut Glück, und da das Glück eines Mannes ein Frauenzimmer zu sein pflegt, so hab' ich meiner guten Mutter nicht gewehrt, als sie mir den halben Koffer mit Putzsachen und Spitzenkram vollpackte. Es ist der alten Frau natürlich nicht eingefallen, zu glauben, daß sich das rechte Glück von solchen Dingen bestechen ließe. Aber es damit zu schmücken, wenn es mir freundlich entgegengekommen wäre, das schien ihr nur in der Ordnung. Mit einem Wort: sie will ihre künftige Schwiegertochter gleich von Kopf bis zu Fuß nach ihrem Geschmack herausputzen. Da sehen Sie, ihren eigenen altmodischen Schmuck habe ich mitschleppen müssen, und hier, diese allerliebsten Pantöffelchen – nun für die hätte sie am wenigsten zu sorgen brauchen – und ein ganzes Dutzend der zierlichsten seidenen Strümpfe – und der Himmel weiß, was sonst noch für Herrlichkeiten!

Sie hat Ihre Braut wohl sehr lieb? sagte das Mädchen, während sie den Inhalt des Koffers sorgfältig herausnahm und das Verknitterte geschickt zu glätten suchte.

Freilich, erwiederte er, immer mit derselben übermüthigen Lustigkeit. Sie ist nämlich, obgleich so klug wie der Tag und auch noch gar nicht so altersschwach, doch in dem bedauerlichen Wahn befangen, daß ihr Sohn die Krone der Schöpfung sei, und daß er alles, was er unternähme, mit der höchsten Vortrefflichkeit, Weisheit und Glückseligkeit hinausführen müsse. Da ich ihr nun kürzlich gesagt habe, daß ich eine Brautfahrt antreten wolle, hat sie sich schnurstracks in meine Zukünftige verliebt und sich Tag und Nacht den Kopf zerbrochen, was sie dem holden Mädchen, das sie noch mit keinem Auge gesehen, Liebes und Gutes anthun solle. Ich habe ihr, wie gesagt, das Vergnügen nicht verderben wollen. Ich kenne schon aus eigener lebenslanger Erfahrung ihren Eigensinn im Vergöttern. Aber jetzt will mich's doch fast gereuen; denn da es leicht möglich ist, daß ich auf der Reise nach dem Glück nicht ans Ziel komme, wie bitter wird es der guten Frau sein, wenn ich den ganzen schönen Koffer so wieder mit heimbringe, wie sie ihn mir vollgepackt hat!

Ich verstehe Sie nicht, sagte das Mädchen und sah ihn groß an. Warum sollte sich Ihre Zukünftige nicht gerne von einer so gütigen Mutter beschenken lassen?

Sehr einfach, sagte er, weil sie vielleicht gegen den Sohn dieser Mutter Einwendungen zu machen hat.

Also sind Sie Ihrer Braut noch nicht gewiß?

So ungewiß, sagte er plötzlich ernst werdend, daß es mir in lichten Augenblicken vorkommt, als sei es ein Wahnsinn, mir überhaupt Hoffnungen zu machen.

So ist es eine ganz große Leidenschaft, sagte das Mädchen still vor sich hin. Dann wünsche ich Ihnen, daß Sie nicht umsonst auf die Reise nach dem Glück gegangen sein möchten. Denn wenn Sie es dort nicht fänden, würden Sie es nirgends wieder finden und das Leben hassen.

Sie haben recht, sagte er. Ich kann mir nicht denken, daß es mehr als ein ganzes und wirkliches Glück für jeden geben sollte. Aber wenn man es verfehlt, soll man darum das Leben hassen? Ich weiß es nicht. Muß man denn gerade unglücklich werden, wenn man auch nicht glücklich wird? Es gehen so viele Menschen auf Gottes Erde spazieren und wissen nicht recht warum. Zu denen würde ich mich dann halten. Ich glaube sogar, daß ich nicht ohne Frau und Kinder bleiben würde – sehen Sie, so kalte Vorausdenker sind die Männer. Aber freilich seh' ich auch voraus, daß ich dann jede Minute meines Lebens ohne Kummer bereit sein würde, diesem ganz gleichgültigen Thun und Treiben hier unten den Rücken zu wenden, während man vom Glück, wenn man es besitzt, nicht so leichten Kaufs sich losreißt – ich habe gesehen, wie mein guter Vater starb, der sehr glücklich war.

Er schwieg und sah ernst zu Boden. Plötzlich sagte er: Was reden wir da für wunderliche Sachen! Wie bin ich nur auf all das gekommen?

Jawohl, warf sie hin, und mit einer Magd!

Sie erhob sich von den Knien, der Koffer stand geleert vor ihr. Sie wollte gehen.

Bleiben Sie, sagte er mit warmer Freundlichkeit. Sie sollten sich von Ihrem Stolz nicht bitter und ungerecht machen lassen. Habe ich nicht aus Ihren ersten Worten gefühlt, daß Sie nur durch schwere Schicksale hierher verschlagen sein können? Und hätte ich der ersten besten all diese seltsamen Bekenntnisse gemacht?

Sie stand ins Leere blickend ihm gegenüber, das Gesicht den beiden Kerzen zugekehrt, zwischen denen er am Pfeilertischchen lehnte. Er betrachtete theilnahmsvoll das anziehende Gesicht, auf dem eine seltsame Müdigkeit und Ueberwachtheit lag, ein Fertigsein und eine Wunschlosigkeit, wie auf den Zügen einer Klosterfrau, denen nach und nach das sanfte Leidwesen auf den Gesichtern der Heiligenbilder sich eingeprägt hat. Nur wenn sie die Lippen zu einem flüchtigen Lächeln öffnete, zuckte es wie ein Blitz von leidenschaftlicher Lebenskraft durch alle Züge; dann glänzten die weißen kleinen Zähne um so reizender, und die schwarzen großen Augen, deren Oeffnung nicht eben groß war, so daß der dunkle Stern sie fast ganz ausfüllte, erschienen um so feuriger. Es war dem jungen Manne nicht mehr wunderbar, daß seine Reisegefährten, Regensburger Stadtkinder und muntere Gesellen, ihn davor gewarnt hatten, nicht zu tief in diese Augen zu sehen.

Lena, sagte er, Sie kennen mich nicht, und ich kenne Sie nicht. Aber es steht Ihnen an der Stirn geschrieben, daß Sie nicht glücklich sind. Ich will in Ihre Geheimnisse nicht eindringen. Aber wenn guter Wille Ihnen helfen kann –

Er stockte und hielt ihr die Hand hin. Sie nahm sie nicht. Sie stand regungslos und sagte mit einer müden, gleichgültigen Stimme: Ich danke Ihnen, aber mir kann Niemand helfen.

Ei was! sagte er, so dürfen Sie nicht sprechen. Es sind noch keine vier Wochen, da saß ich zu Hause in meinem Kontor und schrieb große Zahlen in mein Buch und achtete es kaum, daß sie von Jahr zu Jahr größer wurden, und dachte auch bei mir selbst: Mir kann Niemand helfen. Und heute bin ich unterwegs auf der Reise nach dem Glück. Courage, liebes Mädchen! Sie werden auch noch dahin kommen!

Sie schüttelte den Kopf. Ich war schon einmal so nah am Ziel, sagte sie, daß ich es mir mit Händen greifen konnte. Da bin ich so unklug gewesen, mich vom geraden Weg abschrecken zu lassen. Nun habe ich die Straße verloren, die zeigt mir Niemand wieder.

Indem klopfte es an die Thür; der Kellner trat herein und fragte, ob der Herr zum Speisen in den Saal hinunterkomme. Der Fremde bejahte und übergab ihm den leeren Koffer, das Schloß ausbessern zu lassen. Gehen Sie nur immer voran, sagte er, als der neugierige Mensch mit einem schlauen Blick auf das Mädchen an der Thür zögerte. Ich möchte Sie bitten, Lena, fuhr er fort, mir diese Sachen in die Kommode zu schließen; ich kann nicht schlafen, wo es so unordentlich aussieht.

Sie haben nur zu befehlen, erwiederte sie zerstreut.

Nein, Kind, sagte er herzlich, unter guten Freunden wird nicht befohlen; gieb mir immerhin die Hand, und laß mich Du zu dir sagen. Du weißt jetzt wohl, wie ich's meine.

Er hielt ihre Hand eine Zeitlang in der seinigen und sah sie ernsthaft an, bis sie unwillkürlich die Augen niederschlug. Gutes Mädchen, sagte er, du bist krank, und ich wollte, ich wüßte die Arznei, die dich gesund machte. – Dann strich er ihr mit der Linken leicht über das braune Haar, ließ aber plötzlich ihre Hand fahren, denn er sah, wie sie erblassend bei seiner Berührung zusammenfuhr. Auf Wiedersehen, sagte er mitleidig. Dann ging er in den Speisesaal hinunter.

Er fand unten an langer Tafel eine bunte Gesellschaft, die sich bei vollen Krügen lärmend unterhielt, so daß er sich mit dem Abendessen eilte, den Schoppen Wein zur Hälfte stehen ließ und eine Zigarre anzündend auf die Straße hinaustrat. Draußen war es schön still und kühl, kein Lüftchen ging; die Sterne sahen schimmernd in die uralten Gassen hinab, wo nur wenige, trübe Laternen brannten. Der Fremde schlug aufs Geratewohl die nächste Quergasse ein und schlenderte langsam dahin ohne Gedanken, Wunsch oder Ziel. Zuweilen blieb er am hellen Fenster eines Erdgeschosses stehen und sah einen Augenblick ins Innere einer niederen Stube, wo zufriedene Gesichter um den runden Tisch saßen, essend oder plaudernd und sich an der abendlichen Ruhe erlabend. Die sind schon da, wo ich erst hin will, sagt er bei sich; die haben die Reisestrapazen schon überstanden. – Unter den Hausthüren sah er junges Volk Paar und Paar beieinander stehen in angelegentlichem Flüstern und Kosen, und dachte, indem er rascher vorüberging: Die sind auch schon weiter als ich. Wer weiß aber, wie mancher von ihnen wieder vom Wege verschlagen wird, eh' er das Ziel erreicht, wie das arme Mädchen im Gasthof! – Nun dachte er eine Weile an die Lena und all ihre Reden und traurigen Augen. Er war jetzt auf die Donaubrücke hinausgekommen und hörte unten den Strom um die Pfeiler brausen und die Glocken vom alten Dom dareintönen. Gegenüber lag die Vorstadt mit wenigen Lichtern, dahinter die dunkle Anhöhe mit der kleinen Kirche, die ihren Gipfel bekrönt, unten die Strominsel, in der Ferne nach Osten zu die ersten Höhenzüge des bayrischen Waldes. Nun blieb er an der Brüstung stehen und sah die Wellen in die schwarze Nacht hinaus gen Sonnenaufgang fließen und dachte, daß sie vor ihm bei dem Hause ankommen würden, wo sein Glück wohnte.

Sein Glück? Und wer verbürgte ihm, daß er nicht auf dem Wege war, ihm für immer den Rücken zu kehren? War es wirklich, wie die Lena gesagt hatte, eine große Leidenschaft, die ihn nicht hatte ruhen lassen, bis er die entscheidende Reise antrat? Darüber war er selbst am wenigsten im Reinen; denn sein Leben, das ihn früh mit ernsten Pflichten überhäufte, hatte nicht dafür gesorgt, auch sein Herz in die Schule zu schicken, so daß er mit achtundzwanzig Jahren den Frauen gegenüber ein Neuling war. Die Abgeschiedenheit des fränkischen Thales, in welchem das große Hütten- und Hammerwerk seines Vaters lag, eine kleine Welt für sich, vom nächsten Ort eine Stunde weit entfernt, mehr noch der angespannte Eifer, mit dem er sich bei des Vaters frühem Tode als ein Siebzehnjähriger in das Geschäft hineinarbeitete, um der Mutter bald alle Sorge abzunehmen, hatten ihn darum gebracht, in ernsten oder leichtsinnigen Erfahrungen die Welt wie ein Anderer kennenzulernen. Seine Mutter, von der er ein heiteres Temperament geerbt hatte, sah mit wachsendem Kummer Jahr um Jahr vergehen, ohne daß der geliebte Sohn etwas zu vermissen schien und daran dachte, in das bei aller Geschäftigkeit einsame Haus eine junge Frau einzuführen. Sooft sie diese ihre Herzenssache aufs Tapet brachte, wußte er immer mit einem Scherz auszuweichen und versicherte sie lachend, daß sie seine erste und letzte Liebe sei, wobei die gute Frau, so gerne sie es hörte, sich doch nicht beruhigte. Sie drang in den Arzt, daß er ihn auf Reisen schicken sollte. Auch dies Mittel war mehrere Sommer ohne Erfolg geblieben, bis er im vorigen Herbst von einer Wanderung durch die Schweiz in einer nachdenklichen Stimmung zurückkam, die dem scharfen Auge der Mutter nicht entging. Er war mit der Familie eines höheren österreichischen Offiziers, der in Linz in Garnison stand, auf dem Rigi zusammengetroffen und dann mehrere Tage ihr Reisegefährte geblieben. All das Schöne, was man gemeinsam genoß, hatte die Fremden bald zu einer heiteren Vertraulichkeit gebracht, und die stolze, etwas verwöhnte und stets von einem kleinen Hofstaat umgebene Tochter schien sich aufs Gnädigste zu ihm herabzulassen. Ja, sie schlug zuweilen einen wirklich freundschaftlichen Ton gegen ihn an, der ihm bis ins Mark drang, um dann freilich im nächsten Augenblick ihn nicht besser als ihre übrigen Anbeter ihre Laune fühlen zu lassen. Da sie aber wirklich ein ungewöhnlich reizendes Geschöpf war, that sie es ihm noch ernstlicher als den Andern an, und er konnte, obwohl er in seiner Unerfahrenheit alle günstigen Gelegenheiten der Reisetage unbenutzt ließ und ohne jede Hoffnung von ihr schied, den Eindruck nicht so bald wieder loswerden. Gegen die Mutter schwieg er sorgfältig von diesem Ereigniß. Es war auch etwas in ihm, das ihn über die Flüchtigkeit dieses Glückes damit tröstete, es sei doch schwerlich die Rechte für ihn. Wie sollte er es diesem verzogenen Kinde zumuthen, sich nur um seinetwillen in die arbeitsame Einöde seines Lebens zu vergraben, ihr, die an gesellige Triumphe jeder Art gewöhnt war? Und so wäre auch dieses Bild wie andere vor ihm, nur etwas langsamer, wieder verblichen, hätte ihm nicht eines Tages ein Freund, der in Linz auf einem Balle jene Familie getroffen und mit der Tochter getanzt hatte, in einem eiligen Briefe gemeldet, daß er durchaus noch nicht vergessen sei, vielmehr bei Eltern und Tochter in großer Gunst stehe, so sehr, daß man ihm sein Verstummen, da er doch zu schreiben versprochen, ernstlich übel nehme.

Dieser Brief hatte ihn in eine wunderliche Bestürzung zwischen Freude und Bangigkeit gebracht, so daß es ihm zuletzt nicht länger möglich war, der Mutter ein Geheimniß daraus zu machen. Die gute Frau, die nichts Besseres wünschte, war ihrem Liebling mit Freudenthränen um den Hals gefallen und hatte dann, ohne ihn erst weiter zu fragen oder auf seine Einwendungen zu achten, den berühmten Koffer gepackt und den Sohn auf Reisen geschickt, unter Androhung ihres mütterlichen Zornes für den Fall, daß er dennoch ohne Frau nach Hause käme. Er hatte auch nicht ernstlich widerstrebt. Aber hier auf der letzten Station vor seinem Ziel, der Entscheidung so nahe, überfiel ihn wieder seine Scheu und Unruhe, die um so stärker waren, als sein kühler Verstand ihm heimlich zwischen all seine Liebesgedanken hineinraisonnirte und es ihm vorhielt, daß er auf dem geraden Wege sei, nicht sowohl sein Glück, als einen halsbrecherischen dummen Streich zu machen. Was hätte er jetzt darum gegeben, irgendein Orakel fragen zu können oder einen deutlichen Wink des Schicksals zu erhalten! Einen Augenblick war er schon geneigt, das zerbrochene Schloß am Koffer sich symbolisch auszudeuten. Wenn ich es aber wirklich morgen schon wieder brauchen kann? sagte er bei sich selbst. Nun, so zwingt mich doch nichts, mich gleich am ersten Tag in Linz auf Gnade und Ungnade zu ergeben. Ich kann ja erst mit eigenen Augen prüfen, obwohl freilich, wenn ich dort bin –

Er vertiefte sich in den Gedanken, sie wiederzusehen, und mußte sich sagen, daß er dann so gut wie verloren sein würde. So stand er lange an dem Brückengeländer, und es war ihm wohl dabei, daß ihm über dem Klingen und Brausen da unten zuletzt die Gedanken vergingen und nur eine dumpfe Empfindung der lauen Nacht, des Sternenlichts und der stillen, sehnsüchtigen Einsamkeit in seinem Herzen zurückblieb. Erst als er es elf Uhr schlagen hörte, riß er sich empor, trat auf die Mitte der Brücke und sah nach der Stadt hinüber, wo die mächtigen Münsterthürme über den Dächern hervorragten. Dann warf er noch einen Blick nach Osten über das dunkle Stromthal, winkte mit der Hand hinaus, wie zur guten Nacht, und ging langsam nach dem Ufer zurück.

Er glaubte des Weges sicher zu sein; aber bald hatte er sich in dem Gewinkel kleiner Gassen völlig verirrt und traf nirgends einen Menschen, der ihn hätte zurechtweisen können. Es war ihm nicht leid; seine Sinne glühten, sein Herz klopfte stark, an Schlaf konnte er so bald noch nicht denken. Als er endlich auf den Münsterplatz kam, stand er eine lange Zeit vor dem riesenhaften Portal. Es war ihm, als sähe er die Thürflügel weit geöffnet und zahllose Menschen aus- und einströmen. Sie alle hatten auf Erden ihr Glück gesucht, und wie viele waren einsam oder Hand in Hand diese Stufen hinaufgeschritten, das Glück, das sie gefunden, drinnen einsegnen zu lassen, einen Lebensgenossen, ein Kind, oder den ewigen Frieden des Todes. Und wie Viele unter diesen Unzähligen konnten sich rühmen, daß sie ihren Durst nach Glück an einer reinen Quelle gelöscht hatten? Wie Viele mochten sich den Tod getrunken haben, wo sie in vollen Zügen Leben zu schlürfen glaubten?

Es überlief ihn kalt, als er es dachte. Er wandte sich plötzlich erschrocken von dem stummen schwarzen Zeugen so vieler Täuschungen hinweg und suchte eiliger den Heimweg. Ein alter Mann, der als Wache zwischen den Marktbuden herumschlich, zeigte ihm, wo er zu gehen habe. Im Gasthof aber schien alles längst zur Ruhe zu sein. Er fand im Speisesaal bei einem verglimmenden Licht nur noch den jüngsten Kellner, der auf dem Sopha ausgestreckt in festem Schlafe lag. So ließ er ihn ungestört, zündete an dem zuckenden Docht eine frische Kerze an und stieg allein die Treppe hinauf zu dem obersten Geschoß, wo sein Zimmer gelegen war.

Als er eintrat, fand er es drinnen hell; die Lena war mit dem Koffer beschäftigt. Das Schloß ist schon ausgebessert, sagte sie; ich habe Ihnen gleich alles wieder eingepackt. Es wird Ihnen doch recht sein? Im Augenblick bin ich fertig. – Er nickte und sah ihr zu, in Gedanken versunken. Alles, was sie angriff, jede Bewegung der schönen Arme, jede Biegung des Halses und Nackens war von einer eigenthümlichen Sicherheit, Kraft und Anmuth. Doch sah er jetzt, da ihr eine der Flechten losgegangen war und vorne über der Schulter herabhing, daß ein breiter grauer Streif zwischen dem braunen Haar hinlief, und wie ihr, während sie sich zum Koffer niederbeugte, der Lichtschein über die Stirne kam und ging, wechselte ihr Ausdruck seltsam zwischen Jugend und Alter, Muth und Entsagung.

Sie war nun fertig und richtete sich auf, Athem schöpfend und die Flechte wieder befestigend. Es ist spät geworden, sagte sie, da er immer noch schwieg. Sie müssen schlafen gehen und ich auch. Gute Nacht!

Lena, sagte er, gehen Sie noch nicht. Ich bin von dem späten Gang viel zu munter geworden, um schon ruhen zu können. Ich habe auch an Sie gedacht.

An mich? Hatten Sie gar nichts Besseres zu denken?

Er schwieg eine Weile und ging das Zimmerchen auf und ab. Setzen Sie sich doch, sagte er, ohne sie anzusehen, und schob den Tisch vom Sopha zurück, um ihr Platz zu machen. Ich möchte noch gerne mit Ihnen plaudern. Oder sind Sie müde?

Nein, erwiederte sie. Aber was kann Ihnen an meinem Gespräch liegen? Sie sind ja glücklich, oder doch auf dem Wege dazu. Lassen Sie sich was Schönes träumen.

Liebes Mädchen, sagte er, eben weil ich mein Glück zu finden hoffe, thut es mir weh, daß ich nicht allen helfen kann, die es verloren haben. Aber Manchem, der selbst daran verzweifelt, ist wohl zu helfen, wenn er sich nur helfen lassen will. Sie sind noch so jung, so schön und haben eine so gute Erziehung genossen – wer weiß, was Ihnen noch vorbehalten ist! Und wenn Sie mir eine rechte Freude machen wollen, so nehmen Sie jede Hülfe an, die in meinen Kräften steht. Wollen Sie, Lena?

Sie sah still zu Boden. Warum sind Sie nur so gut mit mir? sagte sie. Solche Sprache habe ich lange nicht mehr gehört, es greift mich ordentlich an, und was soll ich Ihnen antworten? Ich habe es Ihnen schon gesagt, daß mir nicht zu helfen ist. Aber das Warum ist eine lange Geschichte. Und am Ende würden Sie sie doch nicht verstehen. Wenn man glücklich ist, versteht man ja nicht, daß einem Andern das Leben zur Last sein kann. Ich war auch einmal glücklich und hätte keinen Tag aus meinem Leben hergeben mögen, denn ich dachte, es müsse nun immer so fortgehen und immer noch besser kommen. Und wenn es anders gekommen ist, wen darf ich darum anklagen? Es ist ganz allein meine eigene Schuld.

Nein, nein! sagte sie dann plötzlich; wozu sollte es auch führen? Sie müssen früh aufstehen morgen; die Post geht bald nach sechs. Wenn Sie mit Ihrer jungen Frau hier wieder durchkommen, werden Sie mich wohl nicht mehr finden. Machen Sie sich dann weiter keine Gedanken um mich. Was ist an einem Menschen mehr oder weniger auf Erden gelegen? Reisen Sie glücklich und – gute Nacht!

Darauf ging sie, ehe er ein Wort zu erwiedern fand, rasch hinaus und ließ ihn in einer wunderlichen Stimmung zurück, in der er sich nicht entschließen konnte, sich niederzulegen. Er öffnete mechanisch den Koffer und freute sich, wie sie alles sauber zusammengelegt hatte. Obenauf lag jener bunt und prächtig gewirkte Schal, den ihm seine Mutter als das kostbarste Stück der ganzen Ausstattung besonders gepriesen hatte. Er verstand nicht viel von Frauenputz, aber es stiegen ihm doch schwere Zweifel auf, ob sich die glänzende junge Schönheit entschließen würde, ein Gewebe zu tragen, das vor vierzig Jahren das Neueste und Seltenste gewesen war. Nun zum ersten Male dachte er, wie manches in ihrem alten Hause gar sehr veraltet sei, wie vieles geändert werden müsse, woran die Mutter ihr Herz gehängt hatte, und die Lach- und Spottlust des verwöhnten Mädchens war ihm von jener Reise her noch zu gut in der Erinnerung, um auf Schonung von ihrer Seite zu rechnen. Uebrigens, tröstete er sich, wenn sie mich wirklich lieben sollte – – Aber über dieses Wenn kam er eben nicht hinaus, und je mehr er alles, was sie miteinander getheilt hatten, sich in Gedanken zurückrief, um so abenteuerlicher, ja lebensgefährlicher erschien ihm diese über Hals und Kopf angetretene Reise nach dem Glück und er sich selbst wie ein irrender Ritter, der in die Welt zieht, um einen Schatz zu heben oder eine Prinzessin zu rauben, von denen er nur eine ferne, dunkle Sage vernommen hat.

Als er endlich die Lichter gelöscht und die Augen geschlossen hatte, folgten ihm diese peinlichen Gedanken in den Traum. Er hatte seine schöne Braut am Arm und fühlte einen Augenblick nichts als Glück und Zufriedenheit, obwohl es ihm seltsam schien, daß sie sich immer mit einem bunten Papagei unterhielt, der auf ihrer Schulter saß, statt auf seine Fragen zu antworten. Wer ist die alte Frau vor der Hütte da? fragte sie plötzlich. Da sah er seine Mutter vor ihrem Hause sitzen, und zwar auf seinem Reisekoffer, den sie sorgfältig zu hüten schien. Da bring' ich dir deine Tochter, sagte er, und die alte Frau stand auf, das Paar zu umarmen. Der Papagei aber war zu dem Koffer hingeflogen, hatte mit seinem krummen Schnabel wie mit einem Schlüsselhaken das Schloß geöffnet und zerrte nun Stück für Stück heraus, und die Braut fing laut zu lachen an und rief: Wollen wir eine Komödie aufführen? Die Alte da soll die Zigeunermutter sein, und ich bin Preciosa! Und darüber lachte sie, daß ihr die Thränen in die Augen traten, und der Papagei lachte mit auf eine fatale, hämische Art wie ein Mensch, die Mutter aber sprach kein Wort, sondern winkte ihrem Sohn ein Lebewohl zu und ging dann wieder ins Haus. Und wie er ihr nacheilen wollte, kam er in eine Menge leerer Zimmer, in denen ihm das Lachen des Vogels draußen widerlich nachhallte, und im letzten saß die Lena an einem Spinnrade und sagte: Störe mich nicht, das Todtenhemd soll heute noch fertig werden. Und so in hastigem Wechsel toller und ängstlicher Bilder die ganze Nacht hindurch, bis ihm die Morgensonne aufs Bett schien. Er war so abgemattet von diesen Träumen, daß er den Hausknecht, der ihn an die Postzeit zu erinnern kam, wieder wegschickte: er werde diesen Morgen nicht abreisen. Dann lag er noch stundenlang wach im Bett und konnte mit keinem Entschluß ins Reine kommen.

Als er dann aufgestanden war und mißmuthig gefrühstückt hatte, verirrte er sich absichtlich in den Gängen und Fluren des Hauses, in der Hoffnung, der Lena zu begegnen. Aber sie blieb beharrlich unsichtbar. Erst zu Mittag, da er von einem ziellosen Herumstreifen durch die Stadt ermüdet nach Hause kam, ging sie auf der Treppe an ihm vorbei mit einem ruhigen Blick, ohne Neugier und ohne besondere Vertraulichkeit. Ich bin noch nicht fortgekommen, sagte er halb verlegen. – Nun, erwiederte sie, das Glück wird ja hoffentlich einen Tag warten können, wenn Sie es übers Herz bringen.

Damit war sie an ihm vorüber. Sie erschien ihm bei Tage in ihrer sauberen Kleidung und unter den Kellner- und Mägdegesichtern dieses Hauses noch anziehender und vornehmer, aber auch noch geheimnißvoller als gestern, und er mußte stehenbleiben und ihr nachsehen, wie die große schlanke Gestalt gelassen die Stufen hinabstieg und unten in den Wirthschaftsräumen verschwand, ohne den Kopf noch einmal nach ihm umzuwenden.

Während er noch so stand, kam ein alter, behaglicher Herr, den er schon gestern an der Wirthstafel gesehen und »Herr Kreisphysikus« hatte nennen hören, von einem Besuch im oberen Stockwerk zurück und grüßte den Fremden, indem er einen Augenblick bei ihm anhielt. Nicht wahr, sagte er, eine herrliche Person und in jeder Beziehung ein seltenes Wesen. Ich kenne den Gasthof nun an dreißig Jahre; aber er war nie so im Stande, als seitdem sie hier dient, obwohl sie sich eigentlich niemals ein besonderes Ansehen anmaßt. Es ist meinem guten Freunde, dem Wirth, nicht zu verdenken, wenn er sich auf seine alten Tage noch einmal gründlich vernarrt hat und das Mädchen heirathen möchte. Und sie fände auch so bald keine bessere Versorgung. Aber es ist nicht ganz richtig mit ihr. Schade, schade! murmelte er, indem er dem jungen Manne seine Dose anbot.

Was weiß man über sie? fragte dieser.

Nicht das geringste Nachtheilige, erwiederte der Andere. Aber sie muß manches hinter sich haben, denn jetzt – obwohl man es ihr im Verkehr nicht anmerkt – ist da oben (er deutete auf die Stirn) nicht alles, wie es sein sollte.

Wie? rief der junge Mann bestürzt. Sie glauben –

Nichts Arges, Verehrtester, nur eine unschuldige kleine Monomanie, so, was man fixe Ideen nennt. Es ist damit wie mit dem Bandwurm. Viele Menschen haben ihn, ohne es nur zu wissen und werden steinalt damit.

Und was ist der Gegenstand dieser fixen Idee?

Da fragen Sie mich zu viel, versetzte der alte Herr und schnupfte bedächtig. Meine ganze Diagnose wird an diesem verschlossenen Wesen zu Schanden. Liebesgeschichten müssen die Ursache sein, man weiß ja, wie das geht. Aber daß sie jetzt die besten Partien ausschlägt und lieber in dieser dienenden Stellung bleibt – glauben Sie einem alten Arzt und Menschenkenner, es muß sich da oben etwas verrückt haben, und ich fürchte immer, sie nimmt noch einmal ein klägliches Ende. Schade, Schade!

Damit steckte er die Dose wieder in die Westentasche, griff an den Hut und entfernte sich mit einer höflichen Verbeugung.

Der Fremde blieb in tiefem Nachdenken zurück. Die Luft im Hause schien ihm plötzlich so beklommen, daß er wieder hinunterstieg und seine Schritte der Brücke zulenkte, wo er Nachts zuvor seinen Zukunftsträumen nachgehangen hatte. Heute im Tageslicht schien ihm alles nüchtern und kalt. An nichts lag ihm mehr, als an einem Gespräch mit dem räthselhaften Mädchen, das ihm, er wußte nicht wie, so nahegerückt war, als hätte er ihretwegen allein sich auf den Weg gemacht. Da aber im Lauf des Tages keine Hoffnung dazu war, sie allein zu sprechen, schlug er den Weg am Ufer hin nach der Anhöhe ein, von der ihm der mächtige Tempelbau der Walhalla entgegensah. Die Mittagshitze, der Staub und der einsame Gang konnten ihn nicht heiterer machen, und oben angelangt, blieb er in der hohen Marmorhalle so theilnahmlos, wie der weiten Aussicht gegenüber, die ihn sonst wohl ergötzt hätte. Er setzte sich auf eine der Treppenstufen in den Schatten der Säulen und schlief zuletzt, von seinem ratlosen Grübeln ermüdet, ein.

Da er etwas nachzuholen hatte von der letzten unruhigen Nacht, erwachte er erst, als es schon dämmerte. Ein Wagen, der nach der Stadt zurückfuhr, nahm ihn auf, und so kam er noch bei guter Zeit im »Weißen Hahnen« wieder an und bestellte sein Abendessen im Gastzimmer unten, in der Hoffnung, den alten Arzt dort wiederzufinden, den er gern weiter ausgefragt hätte. Er erwartete ihn aber vergebens und mußte statt seiner sich vom Wirth unterhalten lassen, gegen den er eine heimliche Abneigung empfand, obwohl es kein übler Mann war. Aber daß er den Gedanken gefaßt hatte, um die Lena zu werben, erschien dem jungen Fremden als eine unverzeihliche Anmaßung. Sobald er sein Mahl beendigt hatte, empfahl er sich kurz und suchte sein Zimmer wieder auf.

Das Herz klopfte ihm heftig, als er, gerade da er eintreten wollte, die Lena den Gang daherkommen sah. Guten Abend, sagte er. Noch immer so beschäftigt?

Für heute ist alles gethan, erwiederte sie. Sie werden einen schönen Tag genossen haben, denn vermuthlich waren Sie drüben in der Walhalla.

Ich habe den ganzen Tag an Sie denken müssen, Lena. Es wäre mir lieb, wenn Sie ein wenig Zeit hätten, mit mir zu plaudern. Oder fürchten Sie, setzte er hinzu, da sie nicht sogleich antwortete, daß man darüber reden würde, wenn Sie zu mir aufs Zimmer kämen?

Sie warf den Kopf etwas in die Höhe. Ich habe Niemand zu fürchten, sagte sie; meinethalben mag geredet werden, was da wolle. Gehn Sie voran. Ich komme sogleich.

Wirklich sah er sie bald darauf bei ihm eintreten. Er hatte schon Licht angezündet und ging ihr in großer Aufregung entgegen, ihr die Hand darbietend. Sie sah ihm fragend ins Gesicht.

Lena, sagte er, Sie müssen Vertrauen zu mir fassen, wenn ich auch keinen anderen Anspruch darauf habe, als den lebhaften Antheil, den ich an Ihnen nehme. Es ist mir ganz unmöglich, von hier abzureisen, ohne mehr von Ihnen zu wissen, als daß Sie unglücklich sind. Halten Sie das nicht für eine bloße Neugier. Man sagt, daß Liebe im Augenblick entstehe und Freundschaft eine lange Probezeit durchmachen müsse. Wenn ich nach der schnellen Entstehung urtheilen soll, muß ich denken, daß es Liebe sei, was mich hier zurückhält. Dann möchte ich wieder glauben, da mich nur Ihr Schicksal beschäftigt und ich kaum an mich dabei denke, es sei eben nur Ihre Freundschaft, nach der mich verlangt. Geben Sie mir dreist Ihre Hand. Sehen Sie, ich will weder Sie noch mich belügen.

Ich weiß, sagte sie, daß Sie dessen nicht fähig wären, darum komme ich zu Ihnen, denn auch ich möchte nicht, daß Sie sich täuschen. Sie haben mir schon gestern so freundlich Ihre Hülfe angeboten, aber glauben Sie mir, es ist mir nicht zu helfen. Wozu soll ich Ihnen meine Geschichte erzählen? Da Sie ein gutes Herz haben, würden Sie nur traurig dabei werden, und Sie sind ein Bräutigam und sollen sich um das verlorene Glück einer ganz fremden Person keine trübe Stunde machen.

Während sie so sprach, hatte sie sich dennoch auf das Sopha gesetzt, als sei es ihr nicht eben Ernst mit ihrer Weigerung. Er schwieg und betrachtete sie unverwandt; er wußte nicht, warum ihn dies Gesicht so unwiderstehlich fesselte. Er glaubte nie ein ähnliches gesehen zu haben, so bescheiden und so vornehm zugleich. Besonders die Augen, die immer etwas in weiter Ferne zu suchen schienen, und der schöne, nicht zu kleine Mund, dessen Ausdruck seltsam zwischen Strenge und Schwermuth wechselte, zogen ihn geheimnißvoll an, und wenn sie dann plötzlich die Augen zu ihm aufschlug, fühlte er sein Herz erbeben. Er schwieg auch beharrlich still, er fürchtete etwas zu sagen, was ihr mißfallen könnte.

Ich weiß, was Sie denken, sagte sie jetzt; Sie glauben, ich scheute mich, von meiner Vergangenheit zu sprechen, weil ich eine große Schuld begangen hätte. Es ist auch wohl nicht viel besser, aber anders, als es die Welt zu verstehen pflegt, die würde mich freisprechen, und doch war's eine große Sünde, eine Todsünde, denn was bleibt übrig, als zu sterben, wenn man sein Glück selbst von sich gestoßen hat?

Ich will es Ihnen lieber Alles erzählen; ich weiß, Sie sind nicht wie die Andern, Sie werden mir Recht geben. Sie müssen wissen, ich bin aus einer kleinen Stadt am Rhein, aus der meine Eltern aber nicht herstammten, und darum habe ich nicht erfahren können, wo mir etwa noch Verwandte leben; denn mein Vater sprach nie von seiner früheren Zeit. Ich habe hernach, als er schon todt war, aus ein paar Briefen, die er zu verbrennen vergessen hatte, mir sein Leben zusammenzureimen gesucht. Er muß schon einmal verheirathet gewesen, und die Frau ihm untreu geworden sein. Damals war er schon über vierzig Jahr, und da brach der Völkerkrieg gegen Napoleon aus, und er ließ sein zerstörtes Lebensglück im Stich und zog mit als gemeiner Soldat. Er hatte auch sonst nicht eben viel zu verlieren, er war Cantor und Lehrer an einer kleinen Bürgerschule und ohne Vermögen. So ging er mit über den Rhein, und ich glaube wohl, er suchte den Tod, aber er fand nur Wunden, so daß er nach dem Einzug in Paris ein paar Wochen daran zu heilen hatte. Während der Zeit lernte er meine Mutter kennen, eine arme junge Näherin, aber unbescholten und von fröhlicher Gemüthsart; sie sang den ganzen Tag über bei ihrer Arbeit alte französische Liedchen, und mein Vater stand am Fenster gegenüber und hörte ihr zu und vergaß dabei seine Wunden, die vom Kriege, und die älteren, die noch weher thaten. Was soll ich Ihnen viel davon sagen? Genug, als mein Vater als Halbinvalide seinen Abschied bekam – er hatte es bis zum Wachtmeister gebracht – und wieder nach Deutschland zurückging, nahm er sich seine junge französische Frau mit, und sie reisten ganz vergnügt hin und her, bis ihnen das Geld ausging. Das war gerade in jenem Städtchen am Rhein, da blieben sie liegen, und meine Mutter fing wieder zu nähen an, mein Vater aber bewarb sich um eine Stelle als Zollwächter am Thor, und da er Bildung, mehr als dazu nöthig war, und einen so ehrenvollen Abschied hatte, wurde sie ihm endlich bewilligt.

Nun war er ganz glücklich und fing sein Leben noch einmal von vorn an, denn er liebte die Mutter übermenschlich, obwohl er in den ersten Monaten fast gar nichts mit ihr sprechen konnte. Mit seinem Französisch sah es fast so übel aus wie mit ihrem Deutsch. Man braucht aber nicht Konversation zu machen, wenn man sich liebt. Er hat mir oft erzählt, wenn sie am Fenster gearbeitet und ihre Liedchen gesungen habe, seien die Kutschen mit Reisenden so gut wie die Frachtwagen am Thor still gestanden, und vornehm wie gering habe sich nicht satt daran hören können. Und die ganze Stadt hatte die junge Frau lieb und sagte ihr nur Gutes nach, obwohl die Stutzer zu Fuß und zu Pferde beständig an ihrem Fenster vorbei paradirten.

Zwei Jahre lang hat er das Glück besessen, dann mußte er es hingeben und in die dunkle Erde begraben. Ich war erst ein Jahr alt und habe also keine Erinnerung an meine liebe Mutter. Ich soll ihr aber zum Verwechseln ähnlich geworden sein und trug auch ihren Namen, Madeleine, und so nannte mich auch der Vater, und ich hörte es lieber als Lena. Ich hatte aber nicht nur das Gesicht von der Mutter geerbt, sondern auch ihre Lustigkeit und die Freude am Singen und die Liebe zum Vater. Denn wie ich erst ein wenig zu Verstande gekommen war und begriff, welch guten Vater ich hatte, hing ich mein kleines Herz ganz allein an ihn und war nur zufrieden, wenn ich bei ihm sein, für seine Bequemlichkeit sorgen und ihn mit meinem Singen erheitern konnte. Da er mich nicht in eine Schule schickte, sondern selbst unterrichtete, gewöhnte ich mich so ganz an ihn, daß ich mich auch mit den Nachbarskindern wenig abgab. Eine alte Magd lehrte mich Nähen und Kochen, und als ich beides verstand, redete ich dem Vater zu, mir unsere kleine Wirthschaft anzuvertrauen, obwohl ich erst vierzehn Jahre alt war. Da war es mir erst recht wohl, daß ich ihn nach Herzenslust bedienen und pflegen konnte, und es blieb doch noch Zeit übrig, etwas zu lernen. Ich hatte ihm zugeredet, daß wir uns eine französische Grammatik und Lesebücher kaufen sollten, und nun saßen wir manchen Abend und überhörten uns unsere Aufgaben in meiner »Muttersprache«, und ich lernte heimlich französische Liedchen und sang nun nichts Anderes. Als ich ihm das erste vorsang, wurde er todtenblaß und fing dann laut an zu weinen, daß ich erschrocken inne hielt. Er hieß mich aber fortfahren und sagte hernach, die Thränen täten ihm wohl, ihm wäre gewesen, als sähe er meine Mutter leibhaft vor sich, wie sie damals in Paris an ihrem Mansardenfenster gesessen sei und er sich auf der Stelle in sie verliebt habe.

Da erzählte er mir zum ersten Male, wie er ihr, so gut er gekonnt, einen französischen Brief geschrieben und ihr seine Neigung gestanden habe. Den Brief habe er durch einen kleinen Burschen hinübergeschickt und am Fenster stehend selber mit angesehen, wie sie ihn erhalten und gelesen habe. Ein Weilchen habe sie dann ganz still fortgenäht und ein ernsthaftes Gesicht dazu gemacht. Plötzlich aber habe sie den Kopf halb nach ihm umgewendet und ein Liedchen gesungen, das damals zwischen Deutschen und Französinnen aufgekommen war, das habe gelautet:

Que je vous aime
Das muß ich gestehn;
Sans papa, sans mama,
So ganz allein – ach ja;
Que je vous aime
Das muß ich gestehn!

Und dazu habe sie gelacht und ihm zugenickt, und von Stund an sei alles in Richtigkeit gewesen und sie hätten mit der Hochzeit keine vierzehn Tage mehr gewartet. Dann ermahnte er mich, so gut und tugendhaft zu werden wie meine Mutter. Ueberhaupt sprach er viel von der Tugend, und ich mußte ihm oft Geschichten vorlesen, worin tugendhafte Frauen und Jungfrauen vorkamen. Ich wußte gar nicht, was damit gemeint sei, und mochte auch nicht fragen. Denn ich merkte wohl, daß die Tugend eine sehr ernsthafte Sache sei, und ich selbst war lustig und sang und lachte lieber, als daß ich mir ernstliche Gedanken gemacht hätte.

Später begriff ich's freilich besser, als ich nun soweit herangewachsen war, daß die jungen Leute mir ins Fenster sahen, wie sie's meiner Mutter gethan hatten, und ich oft, wenn ich über die Straße ging, hinter mir reden hörte, daß ich schön sei, und was sonst die jungen Herren schwatzten, die gerne mit mir angebunden hätten. Ich hörte es auch gar nicht ungern, aber es ging mir doch nicht tiefer zu Herzen, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich einen Menschen je lieber haben könnte als meinen guten alten Vater. Wenn ich ihm Sonntags seine dünnen grauen Härchen gescheitelt und die Krawatte umgeknöpft hatte, und das ehrliche, liebe alte Gesicht aus dem weißen Hemdkragen mich so treuherzig ansah, mußte ich ihm immer um den Hals fallen und ihn küssen und redete allerlei närrisches Zeug, er sei doch der Hübscheste und Jüngste in der ganzen Stadt, und er solle nur die armen Mädchen nicht allzusehr in sich verliebt machen. Da lachte er und hob die Finger auf: Du bist une tête solle, Madeleine, sagte er; das hast du auch von deiner Mutter. Nun, sagte ich, dann kann es ja nichts Böses sein. Und so sah ich ihm nach, wenn er mit seinem Stock langsam die Straße hinunterging nach der Kirche, und dann lief ich an den Herd, ihm etwas zu kochen, was er gerne aß, und dachte, so müsse es ewig fortgehen.

Einmal aber kam das Ende, auch an einem Sonntage, da brachten sie ihn mir aus der Kirche nach Hause, ein Schlag hatte ihn getroffen mitten unter der Predigt, er lebte nur noch wenige Stunden. Aber noch in der letzten, als ich seine Hand hielt, die schon kalt geworden war, sprach er von der Tugend zu mir, daß er mir nichts Anderes hinterlassen könne als meine guten Grundsätze, und daß es mir im Leben nie ganz schlecht gehen könne, wenn ich nur tugendhaft bliebe und auf meine Ehre hielte. Das sollte ich ihm vor seinem Scheiden noch einmal mit Hand und Mund geloben. Und als ich es gethan, verklärte sich sein Gesicht, und er seufzte noch einmal auf, und ich hatte ihn verloren.

Ich war damals schon einundzwanzig Jahr, gesund, unerschrocken und in allerlei Arbeit geschickt, so daß mir um meine Zukunft bei aller Armuth nicht bange war. So schlug ich auch einen Freier, der sich mir wenige Wochen nach dem Begräbnisse antrug, einen wohlhabenden Bürgersohn, unbedenklich aus, obwohl ich nichts Anderes an ihm zu tadeln fand, als daß ich nicht die geringste Neigung zu ihm fühlte. Auch aus dem Kopfschütteln der Nachbarinnen, die davon hörten, machte ich mir nicht das Geringste. Ich trauerte um meinen guten Vater und sah dazwischen mit einem seltsam freudigen Herzklopfen zum Thor hinaus in die weite Welt, die mir nun offen zu stehen schien. Vorderhand aber nahm ich das Anerbieten einer alten Dame an, als eine Art Kammerjungfer oder Gesellschafterin zu ihr zu kommen. Sie wohnte seit Kurzem in unserem Städtchen, und man sagte, daß sie sehr wunderlich sei. Ich dachte, ich könne es mit ihr so gut wie mit jeder Anderen versuchen. Ich sollte aber bald genug merken, wie hart das Brod der Dienstbarkeit ist, und wie dieselben Pflichten, die man gegen einen Vater ganz leicht getragen hat, schwer drücken, wenn man sie einem Fremden schuldet.

Es würde Sie nur langweilen, wenn ich Ihnen haarklein erzählen wollte, wie es mir dort ergangen ist. Es war keine böse Frau, aber das ganze Jahr hindurch, das ich bei ihr aushielt, hatte ich keine ruhige Stunde. Sie war einmal eine gefeierte Schönheit gewesen und konnte sich nun nicht darein finden, eine garstige alte Frau zu sein, die so viel Launen als Runzeln auf der Stirn hatte. Und das hätte noch hingehen mögen. Was mir aber am schwersten wurde, war, die Geschichten aus ihrem Leben, von ihren Triumphen und dem vielen Unglück, das sie angerichtet, immer von neuem mit anhören zu müssen. Dabei vergaß sie auch ganz, daß sie ein unerfahrenes junges Mädchen vor sich hatte. Wenn sie sich so recht in ihre Erinnerungen vertiefte, konnte sie Abenteuer zum Besten geben, die mir das Blut ins Gesicht trieben. Und Sie können wohl denken, wie aufregend diese Geschichten auf mich wirkten, da ich meiner natürlichen Lustigkeit nicht mehr wie früher durch Springen und Singen Luft machen konnte, sondern still bei der Alten meine Tage versitzen mußte, während meine Phantasie die halsbrechendsten Wege ging.

Ohne diese Unterhaltung, vor der mir selber freilich dann und wann ein Grauen ankam, hätte ich es wohl nicht so lange ausgehalten, ganz ohne andere Gesellschaft zu sein. Und nun weiß ich noch, wie sie mir eines Abends ein ganz besonders verfängliches Kapitel ihrer Memoiren anvertraut hatte und selber darüber eingeschlafen war, und ich lag auch so im halben Traum auf meinem niedern Lehnstuhl, da war mir's, als gehe plötzlich die Thür auf und mein guter Vater kommt herein, gerade wie er sonst aus der Kirche nach Hause zu kommen pflegte, das Gesangbuch unterm Arm, den Stock in der Hand, und das ehrliche Gesicht mit den hübschen rothen Wangen aus dem weißen Hemdkragen sieht mich ganz steif und stille eine Zeitlang an, daß ich zu Tode erschrecke. Da schüttelt er den Kopf und sagt: Denk, was du mir gelobt hast, Madeleine, daß du tugendhaft bleiben willst. Und dann sagte er noch den Vers von Schiller, den er oft im Munde führte: Die Tugend ist doch kein leerer Wahn! – und sah dabei mit einem so strengen Blick auf meine Alte, daß ich sie auch immerfort ansehen mußte. Und in dem Augenblick kam sie mir so abscheulich vor wie noch nie, häßlich und furchtbar zugleich, und ich begriff nicht, daß ich dies Gesicht so lange hatte ertragen können. Wie ich aber wieder nach meinem Vater blicken wollte, war er verschwunden, und nur seine Worte hörte ich deutlich im Ohre nachklingen und konnte die halbe Nacht davon nicht schlafen.

Gleich am andern Morgen las ich in der Zeitung, daß eine Herrschaft auf dem Lande eine Kammerjungfer suche, und ohne mich zu besinnen, schrieb ich dorthin und ward auf der Stelle angenommen. Ich nenne Ihnen die Namen nicht, weder von der Gegend, noch von den Menschen. Das ist Ihnen ja auch gleichgültig. Es war ein schönes Rittergut, rings viel Wald und Hügelland, auch der Rhein in der Nähe, aber keine größere Stadt, desto mehr Burgen und Schlösser reicher, meist adliger Familien. Meine Herrschaft lebte auf einem großen Fuß; der Mann, der ein Bürgerlicher war, hatte das Vermögen selbst erworben, galt aber im Hause nicht viel, denn die Frau, eine vom Adel, war sehr stolz und wollte mit Gewalt den Fehler wieder gutmachen, den sie durch die unebenbürtige Heirath begangen hatte. So lebte sie mit den zwei Töchtern am liebsten auf dem Rittergut, da sie dort mit den Nachbarn leichter Verkehr unterhielt als in der Residenz, wo sie nicht mehr hoffähig war. Der Mann ließ sie gewähren; er liebte sie sehr, sie muß eine Schönheit gewesen sein. Denn auch die Töchter waren reizende Fräulein, und von dem Sohn, der auf Reisen war, als ich hinkam, sprachen alle, die ihn kannten, als von einem bildschönen Menschen. Und was mehr ist, sagte Amélie, die älteste Schwester, er ist ein perfekter Cavalier. Das Mädchen hatte den hochfahrenden Sinn der Mama geerbt, die jüngere, Fanisca, glich dem Vater. Ich war noch nicht acht Tage im Hause, so fiel sie mir um den Hals, küßte mich und sagte: Du sollst mich wie eine Freundin betrachten, Madeleine. Die Andern hier verstehen mich nicht, und mein Bruder, der der Beste von uns allen ist, kommt erst über Jahr und Tag wieder nach Hause. Du glaubst nicht, wie einsam ich mich fühle. Aber dir habe ich gleich angesehen, daß du ein gefühlvolles Herz hast. Du mußt mich Du nennen, wenn wir allein sind.

Das that ich nun freilich trotz all ihrer Bitten nicht, aber ich gewann das harmlose schwärmerische Mädchen von Herzen lieb und ertrug um ihretwillen manches, was mir peinlich war. Die Mutter und Fräulein Amélie bemerkten meine Gegenwart nur, wenn sie mir etwas befahlen oder an meiner Arbeit etwas zu tadeln fanden. Dagegen faßte die alte Gouvernante ein Herz zu mir wegen meines bischen Französisch. Und ich war klug genug, mir das zu Nutze zu machen. Während Faniscas Lehrstunden wußte ich's immer so einzurichten, daß ich mit meiner Näharbeit mich dazu setzen konnte, und so lernte ich alles, was meine junge Herrschaft lernte, und vielleicht noch etwas mehr. Nicht, daß es mich besonders glücklich gemacht hätte; aber es beschäftigte mich, so daß ich darüber nachzudenken vergaß, ob ich glücklich sei. Und wenn ich mich umsah, schien mir auch nichts zu fehlen. Denn keinen, der mir nahekam, hätte ich um irgend etwas, das er vor mir voraus hatte, beneidet. Manchmal dachte ich an meinen Vater und was er immer von der Tugend gesagt hatte, daß man mit ihr nicht unglücklich sein könne. Nun war ich gewiß so tugendhaft, wie er es nur wünschen konnte. Aber ein besonderes Glück, das davon abgehangen hätte, konnte ich nicht entdecken.

Es war oft große Gesellschaft im Haus, und meine Damen fuhren alle Augenblick über Land, den Besuch zu erwiedern. Keiner von den jungen und älteren Herren, die ich zu sehen bekam, machte einen Eindruck auf mich, außer dann und wann einen widerwärtigen, wenn sie mich wie ein gewöhnliches Kammerkätzchen mit ihren übermüthigen Galanterien verfolgten, wo sie mir allein begegneten. Ich wußte sie mir wohl vom Leibe zu halten. Aber das alles half nur so viel, daß ich mich in der Meinung bestärkte, es sei mit der Tugend eine ganz leichte Sache, und daß ich's nicht begriff, was mein guter Vater so Feierliches damit gemeint haben könne.

Sie lächeln über meine kindischen Gedanken. Hören Sie nur weiter. Es ist ohnedies bald zu Ende, und ich will es kurz zu machen suchen.

Eines Nachmittags, als ich bei meinem jungen Fräulein im Zimmer saß und einen rothen Sammetaufsatz für die Frau Mama zusammenstellte, – die Gouvernante las eben ein Kapitel aus Charles XII. Satz für Satz vor, und das Fräulein mußte es ins Englische übersetzen – da hören wir unten im Hof ein Posthorn schmettern, und ein rascher Wagen rollt durch das gewölbte Burgthor herein. Gaston! ruft Fanisca und stürzt ans Fenster, reißt es auf, winkt mit beiden Armen hinunter und huscht dann wie eine Schwalbe zur Thür hinaus, dem Bruder in die Arme. Die alte Gouvernante folgte ihr, ich blieb oben am Fenster stehen und sah, wie ein schlanker junger Herr leicht aus der Kalesche sprang, meine Fanisca hoch in seinen Armen aufhob und über und über küßte. Die Mama kam dazu, dann Fräulein Amélie und nach und nach das ganze Dienstpersonal. Und wie sich der erste Sturm gelegt hatte, verschwand alles drinnen im Haus, und ich hörte nur einen ungewohnten Lärm von Schritten und Stimmen unten im Korridor, bis auch das zur Ruhe kam. Nur ich stand immer noch auf demselben Fleck am Fenster, und das Herz war mir recht schwer. Ich hatte erlebt, was das Glück bedeute, einen Menschen, den man liebt, nach langer Trennung wieder in die Arme zu schließen, und hatte doch selbst keinen Theil daran. Ich war eben nur die Kammerjungfer, die einen rothen Sammetaufsatz in einer bestimmten Zeit fertig machen mußte und weiter nichts dafür verlangen konnte, als daß man ihr zur richtigen Zeit ihren Lohn auszahlte. Zum ersten Mal beneidete ich andere Menschen.

Die englische Stunde war natürlich für heute zu Ende; ich blieb aber ganz allein bei meiner Arbeit. Nur Fanisca sah noch einmal herein, um ihr Zeichenbuch zu holen. Sie sagte mir im Fluge allerlei von ihrem Bruder, er sei noch schöner geworden, und so gut – so gut! Er habe ihr eine Menge der schönsten Sachen mitgebracht und erzähle die lustigsten Geschichten von seiner Reise, die Mama habe gleich an den Vater geschrieben, und nun werde es erst recht herrlich werden, und dergleichen mehr. Ich schwieg zu dem allen; was sollte ich auch sagen? Und ich hatte sie auch so lieb, ihr alle Freude zu gönnen.

Verzeihen Sie, daß ich Ihnen doch wieder so weitläufig erzähle, was mir freilich bis ins Kleinste immer noch vor Augen steht. Aber da ich einmal angefangen habe, wo soll ich aufhören? Wenn ich Ihnen sage, daß ich die Nacht schlecht zugebracht und schon daran gedacht habe, auch von hier wieder wegzugehen, werden Sie doch nicht begreifen, wie unglückselig mir zu Muthe war, jetzt zum ersten Mal nach einem einförmigen, gleichgültigen Leben. Es dauerte nicht lange. Am Morgen, als die Herrschaften unten im Saal beim Frühstück saßen, mußte ich die Briefe, die in der Frühe gekommen waren, hineintragen, auf einem silbernen Teller, wie es die Mama eingeführt hatte. Der Sohn saß neben der Mutter auf dem Sopha, Fanisca neben ihm auf einem Taburett, und hielt seine linke Hand in ihrem Schooß. Ich schämte mich, daß ich nicht das Herz hatte, ihn unbefangen anzusehen. Doch merkte ich wohl, daß er plötzlich mitten im Reden abbrach und seiner Schwester etwas zuflüsterte. Es ist unsere Madeleine, erwiederte sie halblaut und fügte noch etwas hinzu, das ich nicht verstand. Aber ich fühlte, daß er mich mit seinem Auge verfolgte, so lang ich im Zimmer war, und ärgerlich über mein verlegenes Rothwerden, machte ich, daß ich hinauskam.

Draußen waren mir die Thränen nahe. Aber mein Stolz kam mir zu Hülfe. Ich gelobte mir fest, fortzuleben, als wenn nichts geschehen wäre, und diesem Auge weder auszuweichen, noch es zu suchen. Ich wurde auch nicht auf allzu harte Proben gestellt. Gaston schien von diesem Morgen an mich ganz so vornehm zu übersehen wie seine Mutter und die ältere Schwester. Es fing nun ein glänzendes Leben an mit Festen, Jagdpartieen, Wasserfahrten und Feuerwerken, und überall war der Sohn des Hauses der Held, und ich hörte oft, wenn ich in meinem Stübchen saß, sein Lachen bis in meine Einsamkeit herauf, und bildete mir ein, ein herzloseres Lachen noch nie im Leben gehört zu haben. Das machte mich so kühl und trotzig, daß ich nun, wenn ich ihm zufällig im Haus oder Garten begegnete, nicht mehr die Augen niederzuschlagen brauchte, sondern mit einem ruhigen, fast stolzen Gruß vorbeigehen konnte. Er erwiederte ihn immer freundlich – ich nannte es herablassend – und ich merkte wohl, daß er gewöhnlich stehn blieb und mir nachsah. Das eine nur rechnete ich ihm zur Ehre an, daß er, obwohl er ein »perfekter Cavalier« war, keinen Versuch machte, mich wie die erste beste Zofe mit zweideutigen Scherzen zu begnaden und etwa auf vier Wochen eine Liebschaft mit mir anzuspinnen.

Endlich hieß es, er müsse wieder fort, um nach dem Wunsch des Vaters auf der Universität noch ein Jahr lang sich zu einer Staatscarriere vorzubereiten. Fanisca war sehr traurig, die Mutter sogar behandelte die Angelegenheit ihrer Toilette nicht mehr mit der gewohnten Wichtigkeit. Fräulein Amélie allein schien gleichgültig zu sein. Sie war vor kurzem die Braut eines ziemlich betagten Freiherrn geworden und spielte die schwärmerische Liebende, die nur an ihr Glück zu denken vermöge. Am Tage vor der Abreise – es war gegen den Herbst – kam noch die ganze Nachbarschaft zu einem großen Diner auf unserm Schloß zusammen. Ich sah des Abends von Faniscas Zimmer aus die Kutschen fortrollen und wußte nicht, wie mir zu Muth war. Halb schien es mir eine Erlösung, daß nun morgen alles wieder in das ruhige alte Geleise zurückkehren sollte. Und dann wieder, wenn ich mir das Haus ohne ihn vorstellte, meint' ich, es könne in der entsetzlichen Leere Niemand mehr Athem holen, geschweige sprechen und lachen wie sonst.

Eben hatte ich in solchen Gedanken das Fenster geschlossen und trete in die halbdunkle Stube zurück, da geht die Thür auf und er tritt selber herein. Ist meine Schwester nicht hier? sagte er. Und da ich nur mit einer Gebärde antworten konnte, fuhr er fort: Ich habe sie auch nicht eigentlich gesucht, ich habe Sie gesucht, Madeleine. – Mich? sagte ich und zitterte heftig. – Ja Sie, Madeleine, sagte er darauf. Sie haben was gegen mich, ich habe es all diese Zeit über wohl gemerkt. Hab' ich Ihnen etwas zu Leide gethan? Ich möchte nicht fortgehen, ohne es wieder gutgemacht zu haben. – Mir war's, während er sprach, als fingen hundert Glocken um mich her an zu läuten, und doch hörte ich jede Silbe ganz deutlich. Und nun sagte er wieder: Sie schweigen, Madeleine; ist es denn etwas so Großes, daß Sie mir's nicht einmal sagen mögen? – Da faßte ich mich und antwortete so ruhig, als ich konnte: Sie haben mir nichts zu Leide gethan; wie könnten Sie auch? Man kann sich ja nur beleidigen, wenn man einander gleichsteht! – Da trat er näher zu mir und faßte meine Hand. Madeleine, sagte er, ich wollte, Sie hätten mir so wenig zu Leide gethan, wie ich Ihnen. Aber es ist nun einmal nicht zu ändern, wenn es die Zeit nicht ändert. Sie sollen mich noch einmal besser kennen lernen. Und nun leben Sie wohl. Bleiben Sie meiner kleinen Fanisca treu; nicht wahr, das können Sie mir nicht abschlagen? – Ich verstummte, die Thränen stürzten mir plötzlich heiß aus den Augen. Ich konnte vor ihnen sein Gesicht nicht mehr sehen und hörte nur undeutlich, wie er sagte: Stolzes Mädchen! diese Thränen habe ich nicht verdient. – Dann fuhr er mir mit der Hand über das Haar, – Sie wissen nun, warum ich gestern zusammenschreckte, als auch Sie es thaten; aber es war noch anders damals, es zuckte wie ein elektrischer Schlag aus seinen Fingerspitzen durch meinen ganzen Körper, daß ich unwillkürlich einen Schritt zurückfuhr. Und wie ich mich wieder sammeln und besinnen konnte, war er schon aus dem Zimmer.

Ich sah ihn auch den Abend nicht wieder, und am andern Morgen ritt er noch vor Sonnenaufgang hinweg. Nun aber kamen seine Briefe, die schrieb er freilich nicht an mich, sondern an seine kleine Fanisca, aber daß sie für mich waren, hörte ich ihnen wohl an. Die Schwester war glücklich mit ihnen, er hatte ihr früher nur zu ihrem Geburtstage geschrieben, wie man einem Kinde schreibt; jetzt kamen allwöchentlich zwei, drei Bogen, die immer lustig anfingen und Studentenstreiche erzählten, dann schlug plötzlich der Ton um wie Tag in Nacht, und das gute Kind las mir die ernsthaften letzten Seiten mit einem seltsamen, verwunderten Ausdruck vor und sagte mehr als einmal: Es ist, als ob er seine Briefe von einem Andern fertig schreiben ließe. – Oder an eine Andere! sagt ich bei mir selbst. Und wenn ich allein war, schrieb ich in Gedanken die Antworten, bogenlang, aber nicht eine Zeile kam aufs Papier. Ich dachte nicht einmal daran, ihn durch die Schwester von mir zu unterhalten, oder nur ihn grüßen zu lassen.

Nicht einen Augenblick, seit er jene Worte zu mir gesagt, hatte ich mich darüber getäuscht, wie es mit mir stand. Ich war fest entschlossen, nur noch den Winter zu bleiben. Um Ostern sollte er wiederkommen, Fanisca sprach täglich davon, ich wußte, daß ich darüber zugrunde gehen würde, und beschloß, um Neujahr seiner Mutter zu sagen, daß ich eine andere Stelle suchen wolle. Wo mich das Schicksal hin verschlagen würde, war mir gleichgültig.

Es kam aber anders.

Um Weihnachten, der Schnee lag im Park, es waren schöne klare Tage, Fanisca hatte nicht im Zimmer bleiben wollen und mich mit hinausgezogen. Wie wir so in unsere Mäntel vermummt die große Allee hinabgehen, die nach der Landstraße führt, sehen wir auf einmal eine Gestalt dunkel durch das bereifte Holz herankommen, einen Fußpfad entlang, der ein großes Stück des Weges abschneidet. Fanisca, die etwas kurzsichtig war, wollte vorbei. Ich erkannte ihn auf der Stelle und blieb stehen. Schwesterchen! rief er und winkte. Einen Augenblick darauf hing sie an seinem Halse. Aber er sah über ihren Kopf hinweg nach mir hin, mit einem Blick – ! Er zuckte mir geradeso durch Mark und Bein, wie damals die Berührung seiner Hand.

Was soll ich Ihnen viel davon sagen? Sie haben es wohl selbst einmal erlebt, wie man umeinander herumgeht, wenn man sich eine Welt zu sagen hätte, und bringt kaum einen guten Tag über die Lippen. Dazu war er ein so guter Schauspieler, Niemand im Hause merkte ihm was Besonderes an, oft nicht einmal, was das Schlimmste war, ich selbst. Ich sah, daß er mich suchte und mir böse war, weil ich ihm auswich. Ich dachte, es ihm und mir schuldig zu sein. Und doch zitterte ich, wenn mich einmal ganz flüchtig ein trauriger Blick aus seinen Augen streifte.

So waren acht Tage vergangen, die Festtage selbst in großen Fêten auf dem Schlosse, während deren ich für mich allein saß und an meinen bitteren Gedanken zehrte. Er hatte am heiligen Abend alle beschenkt, nur mich nicht; seine kleine Schwester schalt ihn deshalb, ich dankte es ihm. Ich wollte nicht als ein Dienstbote von ihm bedacht werden, und als was sonst konnte ich auf eine Freundlichkeit von ihm rechnen? Nun saß ich und arbeitete bis in die Nacht an dem Putz für meine Damen, den sie auf einem großen Ball am dritten Feiertag tragen sollten. Das gräfliche Schloß lag fast drei Stunden weit von uns entfernt. Man sprach von einer Heirath zwischen Gaston und der Tochter des Grafen, Fanisca selbst ließ dergleichen fallen, und ich sah, wie lebhaft sie es wünschte. Jener Ball wäre auch wohl unterblieben, wenn ihr Bruder nicht in den Ferien nach Hause gekommen wäre.

So sah ich denn am Nachmittag zu, wie sich der große Schlittenzug mit Peitschenknall in Bewegung setzte, vier Schlitten und ein paar Reiter. Denn außer den Herrschaften fuhr auch fast die ganze Dienerschaft mit, nur der alte Gärtner, ein kleiner Stallknecht und ich hüteten das Haus. Die Gouvernante war über die Feiertage bei ihrer Familie in einer französischen Grenzstadt.

Sobald der Zug mir aus den Augen war und ich mich frei fühlte, überfiel mich mein Schicksal mit Gewalt, und ich mußte lange und heftig weinen. Dann aber ward es besser, ich dachte sogar, ich hätte den letzten Schmerz ausgeweint, und traute mir zu, wenn ich ihn wiedersähe, würde er mir fremd und gleichgültig erscheinen, wie ein längst verschollener Name. Ich ging im Zwielicht durch das ganze Haus, auch in sein Zimmer. Ich saß lange im Sessel vor seinem Schreibtisch und betrachtete die Sachen, die darauf herumlagen, und immer war es mir, wie wenn er selbst nicht mehr auf der Erde wäre und diese Dinge noch allein von ihm sprächen. So wurde es über meine Träumerei dunkle Nacht, nur der Schnee glänzte noch durch die Bogenfenster herein; ich fühlte, daß die Kälte zunahm, und huschte auf mein kleines Stübchen, wo ich mir noch ein Feuer auf die Nacht anzündete. Dann merkte ich, daß die Erschöpfung meiner Kräfte all die Tage her sich rächte; ich wurde sterbensmüde, daß ich fast vor dem prasselnden Ofen kniend eingeschlafen wäre und Noth hatte, mich noch auszukleiden und ins Bett zu kommen.

Ich schlief auch sogleich ein und mochte bis Mitternacht geschlafen haben, als mich ein ängstlicher Traum weckte. Ich hatte ihn in Lebensgefahr gesehen und war froh, als ich mich darauf besann, daß er jetzt wohlbehalten tanze und nur mein eigenes Lebensglück in Gefahr sei. So großmüthig blieben freilich meine nächtlichen Gedanken nicht lange. Ich sah ihn mit der jungen Gräfin und anderen Schönen und gönnte ihn keiner. Was mir allein noch tröstlich schien, war das Gefühl in mir, daß ihn keine so glücklich machen würde, wie ich mir's zutraute. Sie müssen nicht glauben, daß ich eine zu geringe Meinung von mir hatte. Ich hatte mich oft genug mit den Andern vergleichen können und mir gesagt: Ohne eure Brillanten und schönen Kleider sähe euch kein Mensch die Vornehmheit an. – Auch wußte ich wohl, daß ich das letzte Jahr schöner geworden war, als ich je zuvor gewesen; jetzt kann ich ja davon reden, wo es vorbei ist und mich nicht mehr freuen würde, auch wenn es noch wäre. Und es war das Blut meiner Mutter in mir, das nach Freude und Glück und Lebenslust verlangte, und ich wußte, wenn ich hätte glücklich sein können, hätte ich auch glücklich zu machen verstanden.

Es soll aber nicht sein; so gehe es denn seinen Gang! sagte ich ganz trotzig bei mir selbst. Ich wurde darüber so munter, daß an Einschlafen nicht mehr zu denken war, sondern ich lag in meinem Bett, und mir war mitten in meinem Elend ordentlich wohl und behaglich, wie ich die Ofenwärme empfand und durch das Fenster mir gegenüber in die bleiche Winternacht hinaussah, wo die Sterne eisig flimmerten und keine Nadel an den Tannen drüben sich rührte. Dabei war es so still im Haus, daß ich unten im Boudoir der gnädigen Frau die kleine Stockuhr schlagen hörte, Stunde für Stunde, zwei, drei – endlich vier Uhr. Da plötzlich war es mir, als hörte ich aus weiter Ferne Hufschlag herankommen, die große Allee herauf, und ich fahre erschrocken in die Höhe. Und richtig, es ist keine Täuschung, es wird lauter und lauter, jetzt kommt's in den Schloßhof gesprengt; mit einem Schrei stürze ich aus dem Bett und ans Fenster und sehe: Er ist's! Er springt vom Pferde, führt es am Zügel sich nach bis an das kleine Nebengebäude, wo der alte Gärtner schlief, da klopft er und bindet den Zügel an einen Stab des Wein-Spaliers. Mehr sah ich nicht, denn ich hatte genug zu thun, in der Bestürzung meine Kleider zu suchen. Und kaum war ich angezogen, da höre ich schon seinen Schritt auf der Treppe und stehe wie gebannt mitten im Zimmer. Er steht auch draußen eine Weile still, ich konnte seinen raschen Athem hören, und jetzt klopft er leise an und rief meinen Namen. – Wer ist da? sagte ich in meiner Verwirrung, und wußte es doch nur zu gut. Aber wie er zum zweiten Mal Madeleine! rief, konnte ich ihn nicht länger warten lassen. Ich schob den Riegel zurück, und wir standen einander gegenüber, einen Augenblick nur. Denn im nächsten Augenblick lag ich in seinen Armen, und alle Qual und Sorge war vergessen.

Als wir uns wieder in die Augen sehen konnten, mußte ich mitten in meiner Erschütterung lachen, so von Eis umstarrt war sein Gesicht, in Haar und Bart hingen ihm die schweren weißen Zapfen. Auch er lachte, als ich ihm über seine Locken fuhr, daß sie klirrten. Ja Kind, sagte er, ich bringe dir einen Eisbären ins Haus, du mußt ihn nun auftauen. Komm! Und er wollte mich in mein Zimmer führen. Ich zog ihn sanft von der Thüre weg. Laß uns hinuntergehen, sagte ich. Ich zünde ein Feuer an im Kamin, es wird gleich warm werden. Und so gingen wir Arm in Arm die Treppe hinunter, sehr langsam, denn wir mußten alle Augenblicke still stehen, uns anzusehen, uns zu fragen, ob es denn möglich sei, daß wir uns im Arme hielten, daß uns dies ganze Schloß gehörte und Niemand kommen könnte, Eins vom Andern zu scheiden.

Endlich traten wir unten in den dunklen Saal, und ich zündete sogleich im Kamin ein helles Feuer an, und er warf Scheit auf Scheit aus dem Korbe in die Flammen, bis sie hoch aufprasselten. Es stand da noch der große Weihnachtsbaum und um ihn herum die vielen Tische mit den Geschenken, ein ganzer Bazar, und drüben an der Wand hingen die Familienbilder, seine Ahnen von mütterlicher Seite, und der große Flügel stand noch aufgeschlagen vor der hohen Balkonthüre. Als nun das Feuer brannte und das Eis in seinen Locken thaute, rückte er einen Lehnstuhl vor den Kamin, setzte sich und zog mich auf seine Knie, und es that mir so wohl, wie ich den Kopf an seine Schultern gelehnt in seinen Armen ruhte, zu fühlen, wie die schmelzenden Tropfen auf meine heiße Stirn fielen. Stolzes Kind, sagte er, nun hab' ich dich doch bezwungen. Ich schwieg und schloß die Augen. Ich dachte, nach dieser Stunde gebe es kein Leben mehr, kein Glück und kein Unglück.

Dann sagte er plötzlich: Du hast meine Briefe doch alle gelesen und kennst mich, so gut wie ich selbst mich kenne. Aber von dir weiß ich noch nicht viel, bis auf die Hauptsache, daß du mich liebst. Erzähle mir, wie du gelebt hast, ehe du zu uns kamst. – Da fing ich denn an, wie es mir gerade einfiel, von meinen Eltern und von den Liedern meiner Mutter, und mußte ihm welche singen, auch das » Que je vous aime!«, und das wollte er immer von neuem hören und küßte mir die Worte vom Munde weg, bis ich aufsprang und, um ihn zu necken, davonlief um die Tische herum, er mir nach, und haschte mich und hielt mich mit seinen beiden Armen fest, und wir lachten beide wie die Kinder. Dann wurde er ernst und sagte: Ich habe dir noch nichts zu Weihnachten geschenkt, obwohl ich dir etwas mitgebracht habe und ja nur, um es dir zu geben, von der Universität weggereist bin. – Damit zog er einen kleinen Ring hervor, ganz golden – ich habe ihn hier am Finger – , und wie ich den Kopf schüttelte, sagte er: Warum willst du ihn nicht tragen? – Ich schwieg still, aber eine große Angst überfiel mich, ich mußte jetzt zuerst an die Zukunft denken, und plötzlich sagte ich: Ist es denn dein Ernst, Gaston? – Kind, sagte er, wäre ich nur zum Spaß vom Feste weggeritten, die zwei Stunden in dem schneidenden Frost? – Und ich wieder: Es ist unmöglich. Sie werden es niemals zugeben! – Ja, wenn man sie fragt! sprach er lachend. Wer viel fragt, bekommt viel Antwort. Ich habe nur dich gefragt: und du kannst nicht mehr Nein sagen. – Ich konnte es wirklich nicht, ich hielt ihm die Hand hin und er steckte mir den Ring an den Finger, und als ich den kleinen Reif küßte, schloß er mich in die Arme, hob mich vom Boden auf und trug mich wie ein hülfloses Kind im Saal herum zu den grämlichen alten Familienbildern. Geben Sie auch Ihre Einwilligung, Herr Urgroßvater? Darf ich um Ihren Segen bitten, Frau Großtante? Sie werden doch nichts einzuwenden haben, Herr Oheim? Nun siehst du, Kind, diese Ehrenmänner und Anstandsdamen sind sämtlich mit mir zufrieden, und der Onkel da im blauseidenen Frack mit Diamantknöpfen, der ein großer Frauenkenner gewesen sein soll, sieht mich sogar mit einem stillen Neide an und denkt bei sich: Wie kommt der Teufelsjunge zu diesem feinen Geschmack, da sein Vater doch nur ein » roturier« ist? – Und dabei lachte er herzlich und ließ mich sanft wieder auf den Teppich nieder, und wir gingen Arm in Arm durch den weiten Saal und sprachen von unserer Liebe.

Wie flog die Zeit! Ich wollt' es nicht glauben, als die Stockuhr im Boudoir Sechs schlug, daß er schon zwei Stunden bei mir gewesen sei. Draußen war es noch stockfinster, das Feuer im Kamin war auch zusammengebrannt, und nur die Kohlen glühten noch, wärmten aber nicht mehr. Ich zitterte und drückte mich an seinen Arm, ich dachte, wenn er jetzt ginge, müßte mir das Blut in allen Adern erstarren. Bist du müde? sagte er; komm, ich bringe dich wieder zu Bett. – Ich schüttelte nur den Kopf. Mußt du wirklich fort? fragte ich dann. Du wirst mir erfrieren unterwegs, der Morgenwind ist so schneidend, ich fühle es bis hier herein, wie er gegen die Balkonthüre weht. Da lachte er und sagte: Ich habe gefroren auf dem heißen Ball, als ich mit der jungen Gräfin tanzte; und nun erzählte er, wie er das Ende des Festes kaum habe abwarten können, und als die Andern in die Fremdenzimmer des Schlosses gegangen waren – denn alle Geladenen blieben über Nacht – sei er in den Stall hinunter und habe sein Pferd selbst gesattelt. – Was werden sie denken, wenn sie es vermissen, und du kommst erst bei Tage wieder zurück? – Laß sie denken! sagte er. Der Gärtner hier und der kleine Jean verrathen mich nicht. Und wenn auch, ich lache nur dazu, und wer dich etwa weinen machen wollte, dem würd' ich ein Lied singen! Damit setzte er sich an den Flügel und spielte und sang: » Que je vous aime!« und dann sprang er plötzlich auf und sagte: Komm, es ist Zeit! Ich folgte ihm willenlos, das Herz wollte mir zerspringen. So führte er mich, den Arm um meine Schulter gelegt, die Treppe wieder hinauf. Wir sprachen beide kein Wort. Auf der obersten Stufe, gerade meiner Thür gegenüber, blieb ich stehn. Laß uns hier Abschied nehmen, bat ich ihn. – So kalt? sprach er leise. Willst du mich im Zugwind verabschieden, auf der dunklen Treppe? – Du mußt ja gehn, sagte ich. – Wenn du drinnen wärst, ließe ich dich nicht wieder fort in den eiskalten Morgen – und doch mußt du gehn. – Muß ich? sagte er, und ich fühlte, wie er mich stärker an sich zog. Ich will nicht, ich will hier bleiben. Diese Stunde ist unser! Wer weiß, wann wieder eine kommt, die uns gehört. Madeleine! – Da übermannte mich eine jähe Angst, ich riß mich aus seinem Arm, flog in mein Zimmer und riegelte die Thüre hinter mir zu.

Aber meine Knie brachen unter mir zusammen, ich sank hart an der Schwelle nieder, den Kopf gegen den Thürgriff gedrückt und rang die Hände in meinem Schooß. Meine Augen fielen auf die Wand gegenüber, da hatte ich eine Silhouette hingehängt, die meinen Vater vorstellte als jungen Mann, und es war noch so dunkel im Zimmer, daß ich nur den schwarzen Fleck auf dem weißen Papier unterscheiden konnte, aber weil ich's Zug für Zug kannte, glaubte ich das Gesicht deutlich vor mir zu sehen und in demselben Augenblick ihn zu hören, wie er von der Tugend sprach und daß man nicht unglücklich werden könne, solange man tugendhaft sei. Ich hörte es, als ob er es neben mir sagte, und doch hörte ich auch Gastons Stimme durch die Thür und fühlte mich so elend, daß ich am liebsten gleich gestorben wäre. Gute Nacht! war das letzte, was Gaston sagte. Es wird dich noch reuen, Madeleine, daß du mich so fortgeschickt hast! – Dann ging er die Treppe hinunter, und ich brach in Thränen aus und hörte unterm Schluchzen, wie unten der Hufschlag erklang. Ich konnte mich nicht aufraffen, vom Fenster aus ihm nachzusehn! Es war mir zu Muth, als wäre ich es nicht werth, daß er um meinetwillen gekommen sei. – –

Das Mädchen schwieg eine Weile und saß mit geschlossenen Augen wie in einen magnetischen Schlaf versunken. Ihr Gesicht war, während sie erzählte, bleicher und bleicher geworden, die schwarzen Augensterne größer und lebloser, der Mund hatte einen wilden, fremden Ausdruck bekommen. Ihr Zuhörer, der neben ihr zurückgelehnt im Sopha lag, fuhr jetzt empor und faßte ihre Hände. Ich mache mir Vorwürfe, sagte er, daß ich in Ihr Vertrauen eingedrungen bin. Diese Erinnerungen thun Ihnen zu weh, liebe Madeleine! Ihre Hände sind feucht und kalt. Warten Sie! Und er stand auf und goß aus seiner Reiseflasche Wein in ein Glas, das er ihr reichte. Das wird Sie erwärmen, es ist guter alter Portwein; trinken Sie, Madeleine, mir zuliebe! – Sie nahm das Glas und trank mechanisch. Es ist schon besser, sagte sie dann. Ich danke Ihnen. Aber machen Sie sich keine Vorwürfe; es erleichtert mir das Herz, daß ich einmal nach so vielen Jahren einem Menschen diese Geschichte erzählen kann, die ich immer nur mir vorgesagt habe, bis zum Wahnsinnigwerden. Es ist nun das erste und letzte Mal. Wen geht es auch etwas an? Ich habe ja Niemand, dem daran läge, ob ich auf der Welt bin oder nicht.

Sprechen Sie nicht so, Madeleine, unterbrach er sie. Was haben Sie denn gethan, sich die Achtung und Liebe der Menschen zu verscherzen? Glauben Sie wirklich, wenn Sie anders gehandelt hätten –

Hören Sie mich nur aus, sagte sie kopfschüttelnd. Das Schwerste ist noch zurück. Ich habe es damals überlebt, warum sollt' ich jetzt die Kraft nicht haben, es zu sagen? Aber ich darf mich nicht dabei aufhalten. Manchmal, wenn ich mich wieder so recht deutlich zurückdenke in jene Nacht, wie ich wach und weinend im Bette lag und fror und bei jedem Geräusch auffuhr, ob er nicht etwa wiederkäme und noch einmal an meine Thüre klopfte – und dann, wenn es mein Leben gekostet hätte, dann hätte ich ihm sicher geöffnet – und indessen sah ich, wie es draußen stärker und stärker schneite und ein eisiger Sturm sich aufmachte, den ich bis in mein Bett hinein zu fühlen glaubte – wenn mir das alles wieder gegenwärtig wird, mein' ich nicht anders, als hier ums Herz lege sich eine eisige Last, immer kälter, schwerer und schwerer, und ich muß aufspringen und mich an irgendeiner schweren Arbeit abmüden, damit es drinnen nur wieder etwas aufthaut und das Blut wieder fließen kann.

Denn so den Schneesturm heulen zu hören und sich sagen zu müssen: du bist Schuld, wenn er den Menschen trifft, der deinetwegen durch Frost und Nacht geritten ist, um dir zu sagen, daß er dich mehr liebt als alles in der Welt, und wenn du ihn nicht hinausgestoßen hättest, so könnten deine Augen jetzt ihn sehen und deine Hände ihn fassen, und wer weiß, wann das je wieder geschehen kann – und dazwischen klingt es draußen im Winde wie Menschenstimmen, und Nachtvögel schreien, und die Aeste brechen im Park unter der Schneelast, und bei jedem Schall auffahren und denken: Ist er's? und das eine halbe Ewigkeit, und wie es noch immer dunkel blieb – da klopfte wirklich etwas, aber nicht an meiner Thür, sondern unten am Hoftor, schwere, harte Schläge wie mit einer stumpfen Axt, und dann eine Weile still, und dann wieder – und jetzt – das Herz stand mir still bei dem Ton – jetzt höre ich deutlich Pferdegewieher, und daß es der Schlag eines Hufes war, was ans Thor hämmerte. Warum überfiel mich gleich eine so furchtbare Ahnung? Hätte ich nicht denken können: Er hat sich unterwegs besonnen und kehrt doch wieder um zu dir? Keinen Augenblick dachte ich das, ich fühlte nichts als Angst und Elend, meine Kleider rafft' ich im Dunkeln zusammen, und ohne erst Licht zu machen, ohne ein Tuch über den Kopf zu nehmen, die Treppe hinunter mehr gestürzt als gegangen und über den tiefverschneiten Hof ans Thor, wo es immer noch hämmerte. Da wollte ich den Riegel zurückschieben, aber ich riß mir die Hand blutig und brachte es nicht zustande. Glauben Sie, daß ich es über die Lippen gebracht hätte, Gaston zu rufen? Wenn nun Niemand antwortete! sagte eine furchtbare Stimme in mir. Und das Pferd wieherte noch ein paar Mal, das weckte endlich, während ich mich verzweifelt abmühte, den Gärtner, den ich mit einer Laterne aus seiner kleinen Wohnung kommen sah. Wir sprachen beide kein Wort, er mochte dasselbe denken, was mir die Zunge lähmte. Mit einem einzigen Ruck hatte er das Thor geöffnet und leuchtete hinaus. Da stand das Thier zitternd und schäumend trotz des Wintersturms, – ohne seinen Reiter! Wie es uns so kläglich anwieherte und auf das Zureden des Alten doch nicht ruhiger wurde und sich immer wieder nach dem Wege umwendete, als ob es uns bäte: Kommt doch und seht, was geschehen ist! – – mir war, als müßte ich mich vor dem Thiere schämen, wie menschlich es fühlte, wie es Mitleiden hatte mit seinem armen Herrn, den ich fortgestoßen und in den Tod geschickt hatte.

Er muß gestürzt sein, sagte der Alte. Da sehen Sie, auf dieser Seite ist das Thier im Schnee gelegen. Wenn nur weiter kein Unglück passirt ist. Bleiben Sie hier, ich will den Waldweg hinunter gehn; am Ende kann er mich brauchen.

Nein, sagte ich, ich gehe mit. – Ich ließ mich nicht abbringen, nur eine alte Decke drang er mir noch auf, da ich ohne Hut und Mantel war. Der Schnee wurde gelinder, und wie wir eine Weile hinter dem Pferde durch den Wald gegangen waren, hörte es ganz zu stürmen auf, und man sah hier und da einen Stern. Wir gingen hastig, der alte Mann sah nach links, ich nach rechts in die beschneiten Gründe hinein, und so stundenlang, ohne nur ein Wort zu wechseln, bis er auf einmal sagte: Da kommt eine böse Stelle. – Ich sah hin und verstand ihn gleich. Es war eine hölzerne Brücke über einer Senkung des Weges, wo in Regenzeiten das Wasser sich sammelte. Und da wieherte wieder das Pferd, und ich mußte wieder stehenbleiben, denn meine Knie trugen mich nicht weiter. Herr Gaston! rief der Alte. Aber es blieb furchtbar still. Halten Sie das Pferd, sagte er und gab mir den Zügel; ich will einmal da hinuntersteigen. Die Brücke ist glatt überfroren. – Gleich darauf hörte ich ihn von unten rufen: Kommen Sie! er ist hier! Sie müssen mir helfen!

Ich ließ den Zügel fahren und stürzte nach der Tiefe zu. Der Schnee leuchtete genug, daß ich schon von oben sehen konnte, wer da unten lag. Neben seinem Haupt war ein dunkler Fleck auf dem weißen Grunde und dunkle Flecke auf dem beschneiten Mantel. Wie ich das sah, verging mir das Bewußtsein und ich fiel neben ihm zu Boden. Aber ich weiß noch deutlich, daß ich bald wieder zu mir kam, und da war ich mit ihm allein, und es war mir alles wie ein Traum. Auch konnt' ich noch kein Glied bewegen. Nur in sein Gesicht mußt' ich immer starren und auf die rothen Flecken im Schnee. Mir war's, als wär' es nun auch mit mir zu Ende; nur noch die letzten Blutstropfen in mir, wenn die zu Eis geworden sind, so ist alles gut! dachte ich, und von Schmerz fühlt' ich nichts, so stille war es in mir und um mich her.

Da hörte ich wieder die Stimme des Alten und anderer Leute, und plötzlich rüttelte es mich auf, und ich rief ihnen zu, und während sie mit einem kleinen Wagen oben halt machten, versuchte ich Gaston aufzurichten und fühlte erst, wie ich ihn im Arm hatte, daß alle Hülfe zu spät sei. Die Leute trugen ihn dann den Abhang hinauf und hoben ihn in den Wagen, vor den sie das Pferd spannten. Es waren Bauern aus dem nächsten Dorf, die ihn alle kannten, und den Bader hatten sie gleich mitgebracht. Der setzte sich zu ihm in den Wagen und war während der ganzen Fahrt mit ihm beschäftigt. Ich und die Andern gingen nebenher. Es hatte aber keiner das Herz, zu fragen, ob er wieder aufgewacht sei. Erst als wir im Schloßhof angekommen waren, faßte ich mir den Muth. Gehen Sie nur zu Bette, Fräulein, sagte der Mann. Wir können ihm doch nichts mehr helfen. Er muß im Augenblick an seinem Blutsturz verschieden sein. – –

Sie hatte die Augen geschlossen, als sie das Letzte erzählte. Jetzt öffnete sie dieselben weit und sah mit einem unheimlichen Lächeln umher. Nicht wahr, sagte sie, das ist eine Geschichte, die man nicht überleben sollte. Wenn man doch einmal so stark war, oder so schwach, muß man sich alles Andere selbst zuschreiben, was einem dann noch an erbärmlichen Erfahrungen übrig bleibt. Schlimm ist es nur, daß man nicht immer so gefühllos bleibt wie in der ersten Betäubung, daß einem späterhin wirklich wieder armselige Kränkungen und Entbehrungen zu schaffen machen können! Wenn ich so geblieben wäre wie am ersten Tag nach jener Nacht, so starr und steinern, wäre es auch wohl schon rascher mit mir zu Ende gegangen. Damals hätte man mir glühende Nadeln ins Fleisch bohren können, ich hätte kaum gezuckt. Was ich habe hören müssen, als um Mittag die Mutter und die Töchter wiederkamen, die elendesten Beleidigungen, mit denen man mich aus dem Hause jagte, als eine verworfene Person, die den Unglücklichen in ihr Netz gelockt, als eine herzlose Mörderin, die nicht eine Stunde länger unter diesem Dach geduldet werden könne – das Alles rührte mich keinen Augenblick. Ich sprach nicht ein Wort zu meiner Rechtfertigung. Hätte ich die ganze Wahrheit gesagt, Niemand hätte mir geglaubt, und was lag mir auch daran? Wenn Alle mich freigesprochen hätten, wäre ich mir darum weniger schuldig erschienen, und hätte es den Todten wieder aufgeweckt? Ich konnte nicht einmal diese armen Menschen hassen, die mich mißhandelten. Hatte ich sie denn nicht wirklich beraubt und um ihr Liebstes, ihren Stolz und ihre Freude gebracht? Was half es mir nun, daß ich, als ich zu Fuß wie eine Bettlerin fortging, mich in meine Tugend hüllen konnte? Sie war heil und ganz und durchaus nicht fadenscheinig, und doch fror mich darin bis ins innerste Herz, und es dauerte Wochen und Monate, bis mich der Frost einmal wieder eine Nacht schlafen ließ, wie Andere in meinen Jahren.

So lebte ich die erste Zeit von meinen wenigen Ersparnissen in den Tag hinein und dachte nicht anders, als daß es auf eine oder die andere Art ein rasches Ende mit mir nehmen würde. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, sagte ich mir: Hoffentlich ist es der letzte! – Aber es ist unglaublich, wie zäh so ein Leben ist. Als ich das letzte Geld ausgegeben hatte, fing ich wahrhaftig an, darüber nachzudenken, wie ich mir nun weiter helfen wollte. Ich hatte mir in einer kleinen Residenzstadt ein Zimmerchen gemietet bei guten Leuten, die mich gepflegt hatten, als ich dort an einem schweren Fieber liegen geblieben war. Nun verschaffte mir die Frau, die ich um Rath fragte, Arbeit für fremde Damen im Hause, und ich brachte es wirklich übers Herz, wieder zu sticken und zu nähen wie sonst. Und wäre es nur das gewesen! Aber denken Sie, das Jahr war noch nicht um, da ertappte ich mich einmal selber darauf, daß ich bei der Arbeit zu singen anfing. Bist du so ein Abgrund von Leichtsinn, dachte ich, oder hast du ihn nie geliebt? Ich mußte wohl das erste glauben, denn das andere wußt' ich nur zu gut. Ach, es war noch so viel Jugend in mir und dazu das Blut meiner Mutter, und ein Jahr in solcher Oede und Enge zugebracht, immer nur den einen Gedanken in der Seele, das ist, wie sonst zehn Jahre! Aber ich sang doch nicht wieder.

Und so verging der nächste Winter, und es wurde wieder Sommer, und mit mir war noch Alles beim Alten, nur daß ich fühlte, es müsse anders werden oder ich ginge in dieser Todtenstille zugrunde. Ich habe einmal von Schiffbrüchigen gelesen, die alle Lebensmittel in ihr Boot gerettet hatten, nur keinen Tropfen Wasser, und so mußten sie endlich verschmachten. So hatte ich alles, mein Brod, meine Arbeit, meinen guten Namen, meine Jugend und Gesundheit und die liebe Tugend obenein – und doch keinen Tropfen Glück, und mich dürstete danach, und weil ich es einmal verfehlt hatte, sollte ich schon für immer verzweifeln?

Damals kam ein Verwandter meiner Hausleute zum Besuch bei ihnen an, ein artiger, bescheidener Mann, dessen Lob ich schon lange vorher hatte singen hören. Ich weiß nicht, was er für Geschäfte in der Stadt hatte, aber als sie schon längst abgemacht waren, blieb er noch immer, und ich hatte bald gemerkt, daß er um meinetwillen blieb. Er war mir nicht zuwider, und auf die Länge gewöhnte ich mich an seine stille, ernsthafte Huldigung, und der Gedanke erwärmte mich, wie glücklich er war, wenn ich mich ihm freundlich zeigte. Vielleicht ist das der sicherste Weg zum Glück, dachte ich, einen Andern glücklich zu machen. Ich will Ihnen auch gestehen, daß mich die sorglose Lage reizte, die er mir zu bieten hatte, und das Verlangen, aus meinem einförmigen Tagelöhnern befreit zu werden. Als ich ihm auf seinen schriftlichen Antrag mündlich mein Jawort gab und der gute Mensch mit Thränen in den Augen und sprachlos vor Freuden mir fast zu Füßen stürzte, schien es mir zum ersten Mal, als rege sich wieder ein Lebensatem in meiner versteinerten Brust. Aber schon acht Tage darauf nahm die ganze Herrlichkeit ein Ende. Er hatte seine Verlobung mit mir nach allen Seiten herum verkündigt, und aus den Briefen, die er dagegen erhielt, sah ich, daß ihm alle Menschen das beste Glück gönnten. Er zeigte sie mir freudestrahlend. Dann aber kamen einige, die ihn sichtbar niederschlugen. Auf meine Fragen wich er aus. Als ich es endlich als mein Recht in Anspruch nahm, auch seine Sorgen zu theilen, war er schwach genug, mir seine Verwandte, meine Hausfrau, zu schicken, die mich bisher auf Händen getragen hatte und nun plötzlich mit der feindseligsten Miene von der Welt bei mir eintrat, um mich mit Anklagen zu überhäufen. Ich hätte sie aufs Schändlichste betrogen und eine heuchlerische Komödie gespielt. Jetzt wisse man aber zum Glück, wer ich sei und warum ich hier so in der Stille gelebt und kein Wässerchen getrübt hätte: nur um einen arglosen Ehrenmann mit meinen listigen Künsten zu fangen, mit denen ich schon vornehmere Liebhaber ins Verderben gelockt hätte. Aber es gebe noch eine himmlische Gerechtigkeit auf Erden, die das Laster bestrafe und die Tugend beschütze, und was der erbaulichen Reden mehr waren, die damit endigten, daß mein Bräutigam mir den Verlobungsring wieder abfordern ließ, da er mich nie mehr sehen wolle. Ich blieb ruhig und begehrte mit ihm zu sprechen. Er sei abgereis't, hieß es, und so war es wirklich, obwohl ich es erst nicht glauben wollte. Der schwache Mann war den tugendhaften Vorstellungen seiner biederen Verwandten gewichen, die nun nichts Eiligeres zu thun hatten, als ihr unbescholtenes Haus von diesem Schandfleck zu reinigen. Sie können denken, daß ich die Trennung nicht verzögerte. Zuerst stieg ein bitteres Gefühl von Kränkung und Schmerz in mir auf. Es that mir wahrlich auch um den guten Menschen leid, in dem ich doch einen Freund zu haben glaubte. Dann kam mir aber dies ganze Erlebniß so unermeßlich lächerlich vor, daß ich, wie ich aus dem Stadtthor fuhr, in einen förmlichen Lachkrampf ausbrach. Meine schöne Tugend nahm ich wieder unbeschädigt mit fort. Daran hast du nun was Rechtes, sagte ich bei mir; an der erquicke dich jetzt in der Fremde, wo du wieder lieblos und heimathlos herumfahren sollst. Aber nein, wir wollen es anders angreifen. Daß ich wieder das Glück verfehlt habe, war doch meine eigene Schuld. Wenn einem nicht das eigene Herz den Weg weist, läuft man immer in die Irre. Ich bin schon einmal elend geworden, weil ich nicht hören wollte, ob auch mein Herz noch so laut schrie. Jetzt will ich aufmerken, wenn es nur halblaut flüstert, und für alles Andere kein Ohr haben.

Ja, wenn es nur überhaupt wieder gesprochen hätte! Ich habe es oft genug gefragt; es blieb immer stumm! Ich hatte es einmal zu tief beleidigt.

In Dienst zu treten bei einer Familie oder einer einzelnen Dame fiel mir nicht ein. Aber auch in der Stille arbeiten um das tägliche Brod, war mir verleidet. Auch reiste ich ja nach dem Glück und durfte mich von der Landstraße nicht zu weit entfernen, um es gleich, wie es heißt, am Stirnhaar zu fassen, wenn es endlich doch vorbeikäme. Also nahm ich eine Stelle an in einem großen Gasthof, wo ich meine zugewiesenen Pflichten versah und mir weiter von Niemand etwas kommandieren ließ. Ich hatte das Silber und Leinenzeug unter mir und schaltete ganz frei, da die Wittwe des Wirths, dem das Haus gehörte, die meiste Zeit krank zu Bette lag. Weil man mich schön fand, mehrte sich der Fremdenbesuch. Ich dachte: unter so vielen wird doch einer sein, der mir den Weg zum Glück zeigen kann. Aber ich betrog mich sehr. Es fehlte mir nicht an Bewerbern aus allen Ständen, jungen und alten, mit guten und schlimmen Absichten, und ich fragte nach Nichts mehr, als ob mein Herz spräche. Wenn es nur einen Laut von sich gegeben hätte, ich sage es Ihnen geradeheraus, Sie mögen davon denken, was Sie wollen: um meine Tugend wäre es mir nicht leid gewesen.

Aber wie gesagt, es blieb todtenstill. Ein einzig Mal dachte ich, es rege sich wieder. Ein junger Prinz stieg im Hause ab, der incognito reiste, ein bildschöner, ritterlicher und, wie man sagte, den Frauen sehr gefährlicher Herr. Als er mir auf der Treppe begegnete, blieb er stehen und grüßte mit einer Art von Ehrerbietung, die mir zu denken gab. Bald darauf suchte mich der Kammerdiener auf und wußte nicht genug zu sagen, welchen Eindruck ich auf seinen Herrn gemacht habe. Er ließ deutlich durchblicken, daß es mir ein leichtes sein würde, in der Residenz die glänzendste Rolle zu spielen. Ich hörte das mit Entrüstung an und würdigte den Menschen keiner Antwort. Aber ich kann nicht leugnen, daß mir die schlanke Gestalt des Prinzen, seine feurigen Augen und der schmeichelnde Ton seiner Stimme den ganzen Tag nachgingen. Auch sah er mich, als ich ihm noch einmal begegnete, mit einem so ernsten, fast kummervollen Blick an, daß er ein guter Schauspieler gewesen sein muß, wenn ihm nicht wenigstens in dem Augenblick so zu Muth war. Dann kam's, wie ich es wohl gefürchtet hatte. Tief in der Nacht klopfte es an meine Thür. Ich hatte noch kein Auge zugethan vor Aufregung und Erwartung. Aber dieses Klopfen entschied. Ich wußte nur zu klar, daß die Unruhe, in der ich lag, nur in meinem Blut, nicht in meinem Herzen steckte. Wie? sagte ich mir, den Einzigen, den du je geliebt hast, hast du vergebens klopfen lassen, daß er darüber zu Grunde gegangen ist, und hier könntest du an den Fremden verschleudern, was dir für deinen einzigen Freund zu kostbar war? – Wer ist da? fragte ich plötzlich ganz laut. Er nannte leise seinen Namen. Sie haben die rechte Thüre verfehlt, Durchlaucht, sagte ich mit erhobener Stimme. Ihre Zimmer liegen eine Treppe tiefer. Soll ich nach dem Kellner klingeln, daß er Ihnen leuchte? – Er blieb noch eine Weile und suchte nach Vorwänden. Ich erwiederte nichts als »Gute Nacht!« Dann hörte ich ihn endlich leise hinuntergehen.

Sie schwieg einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf. Nein, sagte sie, das wäre das Glück nicht gewesen, und ich hoffte noch auf ein besseres. Und so habe ich fünf, sechs Jahre gehofft und immer gedacht, es liege nur am Ort, daß ich's nicht finden könne, und bin darum immer aufgebrochen, wenn ich wieder Jahr und Tag vergebens hingelebt hatte. Dies ist nun wohl die letzte Station; denn ich fühle, daß es zu spät ist, um noch zu hoffen, und es verlangt mich nur nach Ruhe vor den ewigen Gedanken, daß ich nicht mehr im Traum auffahre und meine, ich hörte das Glück draußen an meiner Thür pochen, oder das Pferd wiehern in der Nacht, das mir meinen einzigen Freund zu Grabe getragen. Gaston mußte recht behalten: Es sollte mich reuen!

Sie starrte vor sich hin mit einem Blick der Angst, der ihm durch die Seele ging. Madeleine, sagte er, Sie sagen, das Glück habe an Ihre Thüre geklopft. Wissen Sie das so gewiß? Wenn es nun die Untreue, das Elend und die Schande gewesen wäre und Sie hätten geöffnet? Würde Sie's dann nicht doppelt reuen?

Sie schlug plötzlich die Augen groß zu ihm auf. Schande? sagte sie. Was ist Schande? Die zu betrüben, die man liebt und die uns lieben, das halte ich für schändlich. Ja, wenn mein Vater noch gelebt hätte, so wäre es mir leichter geworden, auf mein Glück zu verzichten, ich hätte doch gewußt, wofür, und dann wäre die Tugend kein leerer Wahn gewesen. Aber was fremde Menschen denken und sagen, was haben wir davon? Meine Tugend lästerten und verleumdeten sie, und wenn sie das gepriesen hätten, was mir als ein feiges Verbrechen ewig nachgeht, wäre es mir darum leichter zu tragen? Sie meinen, er hätte mich am Ende verlassen und mir die Treue gebrochen. Es ist möglich. Es giebt mehr Kinder in der Welt, die keinen Vater haben. Aber wenn sie eine Mutter haben, die ist doch nicht mutterseelenallein in der Welt, und wenn das Gerede der Leute ihr nahe kommt, kann sie sich doch trösten, daß sie ein Wesen besitzt, das nur Liebes zu ihr sagt, das sie auf dem o halten kann und ihm vorsingen: Que je vous aime!

Bei diesen Worten sprang sie auf, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und ging wie außer sich im Zimmer herum. Etwas lieben! sagte sie dumpf vor sich hin, einen Hund, einen Vogel – alles, was ich habe, gäbe ich darum hin! Ist es denn zu ertragen, das Leben ohne Glück? Aufstehen und zu Bette gehen, den Leinenschrank auf- und zuschließen, ein neues Kleid anziehen und hören, daß es einem gut steht – und das einen Tag wie alle Tage – wie lange noch? Jetzt bin ich dreißig; nein, noch nicht, aber was liegt daran? Siebzig Jahre sind ein schönes Alter, sagen die alten Weiber. Eine furchtbare Aussicht! Meinen Sie nicht auch?

Liebes, armes Mädchen! sagte er und ging zu ihr, zog ihr die Hände vom Gesicht und hielt sie in den seinen. Sie stand still und sah ihn mit verwilderten Augen an. Nicht wahr? sagte sie, es ist nichts dagegen einzuwenden, und wer will es einem armen Menschen verdenken, wenn er sich schon am frühen Morgen todmüde gelaufen hat und legt sich darum mittags schlafen, statt erst am Abend, mitten auf der Landstraße, wo es ihn gerade überkommt? Kann es unser Herrgott selbst übelnehmen? Hielte er's denn aus in der Welt, wenn er sie nicht lieb hätte? Würde er nicht auch ein Ende machen, wenn ihm keine Seele gehörte, er keine glücklich zu machen hätte und ihm das ganze Treiben von einem Sonnenaufgang zum andern so gleichgültig wäre, wie mir?

Er hatte hundert Antworten auf der Zunge und schwieg doch still. Schon während sie erzählte, hatte er ihr einwenden wollen, daß sie sehr Unrecht thue, ihr Herz anzuklagen. Nicht ein kahler Pflicht- und Tugenddünkel habe sie abgehalten, sich ihrem Geliebten rückhaltlos in die Arme zu werfen, sondern ein tiefes und lebendiges Gefühl, daß man ein Lebensglück nicht auf den Rausch einer Stunde bauen dürfe, daß, wenn sie einander werth bleiben sollten, das Bewußtsein, sich gewonnen zu haben, ihnen in jener Nacht höher stehen mußte als alles leidenschaftliche Verlangen. Ob denn Treue nichts sei und Leidenschaft alles? Ob ein Glück dauern könne ohne den Austausch von Pflicht gegen Pflicht? Und ob denn der Erfolg der Maßstab unseres Handelns sein dürfe?

Aber er fühlte wohl, daß die freundlichste Beredsamkeit nichts über ihr Gemüth vermögen würde. Die Worte des Arztes kamen ihm wieder in den Sinn. Er mußte wirklich glauben, daß in ihrem Geist eine Wunde zurückgeblieben sei aus den Schrecknissen jener Nacht, die kein Vernünfteln, kein noch so herzliches Zureden heilen möchte, nur ein wirkliches volles Glück, dessen sie ihm nach allem, was sie ihm so offen gebeichtet, nur noch werther schien. Wie sie jetzt, da sie seinen ernsten Blick auf sich geheftet fühlte, zu lächeln versuchte, mußte er sich halten, um sie nicht in seine Arme zu ziehen und sie mit Liebkosungen und Versprechungen, wie ein Kind, das man trösten will, zu überschütten.

Was sehen Sie mich so an? sagte sie. Sie begreifen nun wohl, daß ich Recht hatte, Ihnen vorauszusagen, Sie könnten mir mit all Ihrem guten Willen nicht helfen. Und doch bin ich Ihnen dankbar, daß Sie mir wie ein Freund entgegengekommen sind; und daß ich Ihnen meine Geschichte erzählt habe, war mir eine Erleichterung. Jetzt aber ist es spät. – Sie sah nach einer kleinen goldenen Uhr, die sie unterm Gürtel verborgen trug. Zwei Uhr! Und morgen werden Sie nun jedenfalls fortreisen.

Vielleicht doch nicht, erwiederte er ernst. Dann, halb unwillkürlich, setzt er hinzu: Es kommt mir vor, als wäre ich hier schon am Ziel und hätte weiter die Donau hinunter nichts mehr zu suchen.

Sie verstand ihn sogleich und suchte es nicht zu verbergen. Nein, sagte sie, Sie müssen reisen; Sie täuschen sich jetzt über sich selbst, aus Güte und Mitleiden, vielleicht auch, weil ich hier Ihnen nahe bin und die Andere fern. Aber glauben Sie mir, das wird morgen schon unterwegs anders werden, und wenn Sie wirklich am Ziel sind, werden Sie diese Umwandlung kaum begreifen. Es ist also besser, gleich abzubrechen.

Gut denn! sagte er. Es mag sich dort erst entscheiden und wird wohl nicht lange Zeit brauchen. Finde ich Sie jedenfalls noch hier im Hause, wenn ich zurückkomme?

Sie schüttelte den Kopf. Der Wirth hat mir einen Heirathsantrag gemacht, sagte sie. Ich habe ihn ausgeschlagen, und nun ist meines Bleibens hier nicht länger. Zu Pfingsten geh' ich.

Und wohin? fragte er hastig.

Schlafen! sagte sie tonlos. Ich halte es nicht länger aus.

Madeleine! rief er in höchster Bewegung. Das darf nicht dein Ernst sein. Sage mir nur eins: Wenn ich wiederkomme, ehe deine Zeit abgelaufen ist, und habe das Glück, das ich draußen suchte, nicht gefunden, darf ich dann hoffen, es hier zu finden?

Schwerlich, sagte sie. Aber warum von Dingen reden, die doch nicht geschehen werden?

Du weichst mir aus, drang er in sie und faßte ihre Hand. Sage mir, ob es dir möglich scheint, daß du das Leben wieder liebgewinnen könntest, wenn du es mit mir theiltest. Nur das eine sollst du mir sagen und dann – dann könnte ich freilich gleich hierbleiben, denn ich für mein Theil weiß nur zu gut, was ich zu hoffen und zu wünschen habe.

Sie schwieg eine Weile und vermied seinen Blick, entzog ihm aber nicht ihre Hand. Erlassen Sie mir die Antwort, sagte sie dann. Sie wissen genug. Ich habe Ihnen mehr von mir gesagt als je einem Menschen. Reisen Sie glücklich. Wenn Sie wirklich wiederkommen sollten, dann ist noch immer Zeit, zu fragen und zu antworten. Leben Sie wohl!

Er drückte ihre Hand an seine Lippen und blieb in heftiger Aufregung allein. Als der Kellner am andern Morgen ihn zu wecken kam, fand er ihn in den Kleidern auf dem Sopha eingeschlafen. Er ermunterte sich sogleich, verschloß seinen Koffer und übergab ihn dem Wirth, daß er ihn aufheben möchte, bis er wiederkäme oder ihn sich nachschicken ließe. In den Postwagen nahm er nur eine leichte Tasche mit, und so reiste er, ohne die Lena noch einmal gesehen zu haben, in den sonnigen Morgen hinein. – –

Vier oder fünf Tage mochten nach diesem Gespräch vergangen sein, da fuhr gegen Abend eine Extrapost mit schmetternder Hornfanfare am »Weißen Hahnen« vor, und heraus sprang, vom Wirth respektvoll empfangen, unser wohlbekannter Gast, der alsbald fragte, ob sein altes Zimmerchen frei sei und sonst inzwischen Nichts im Hause sich verändert habe. Die einzige Antwort, an der ihm gelegen war – die Lena ist noch hier! – kam ihm gleich unten im Hausflur entgegen: sie selbst, im Gespräch mit einer freundlichen alten Bürgersfrau, die sie eben besucht zu haben schien. Als sie die Stimme ihres Freundes hörte, erblaßte sie sichtbar, hatte aber so viel Selbstbeherrschung, seinen Gruß zu erwiedern, als wäre es ihr nicht auffallender als sonst, einen Durchreisenden auf dem Rückweg wieder einkehren zu sehen. Er vermied es auch, sogleich mit ihr ein Gespräch zu suchen, und wartete, so geduldig er konnte, die Nachtstunden ab. Als sie aber auch um zehn Uhr noch nicht an seiner Thür vorübergegangen war, entschloß er sich, dem Zimmermädchen zu sagen, er habe wegen seiner Wäsche noch einen Auftrag an die Lena zurückgelassen und möchte mit ihr darüber reden.

Bald darauf trat sie bei ihm ein. Er sah wohl, daß sie sich vergebens Mühe gab, eine bange Beklommenheit vor ihm zu verbergen.

Sind Sie wirklich wiedergekommen, sagte sie, und allein? Hoffentlich habe ich keine Schuld daran, wenn Sie Ihrem Glücke nahe gewesen sind und sich selbst dagegen blind gemacht haben.

Nein, sagte er mit der herzlichsten Miene, ich habe im Gegentheil die Augen so groß und weit aufgemacht, wie nur möglich, und wenn mir die Schuppen davon abgefallen sind, so ist es die Schuld einer andern Person. Mein sogenanntes Glück sieht ganz anders aus an den niedrigen Ufern der Donau, als viele tausend Fuß überm Meeresspiegel zwischen Gletschern und Sennhütten.

Hat sie Ihnen nicht mehr gefallen?

Wohl! aber sich selbst noch weit mehr, was immerhin für ihren Geschmack spricht, da sie wirklich das schönste Mädchen der Stadt ist. Nur schade, daß ihr darüber manches andere gleichgültig scheint, woran mir nicht wenig gelegen ist. Meinen Besuch, den ich ihr als etwas ganz Zufälliges darzustellen suchte, empfing sie mit so zuversichtlicher Miene, wie ein Astronom das Eintreten einer Mondfinsterniß, die er auf die Minute berechnet hat. Es schien ihr ganz selbstverständlich, daß man es ohne sie nirgend in der Welt auf die Länge aushalten könne, und Gott weiß, was sie dazu vermochte, von all ihren Opfern gerade mich begnadigen zu wollen. Daß dies nämlich ihre Absicht war, sah ich bald, weniger aus ihrem Benehmen als aus der Art, wie mich die Eltern bewillkommneten. Aber wenn ich auch nicht so eitel bin, dies Glück auf meine Liebenswürdigkeit zu schieben, sondern eher glaube, ich sei erwählt worden, weil man mich für den lenksamsten und unterthänigsten von allen Anbetern hielt, so kam ich mir denn doch zu gut vor, nur so eine bequeme Ziffer in einer kaltblütigen Rechnung abzugeben. Und daher gewann ich bald Unbefangenheit genug, die Sache von der heitern Seite zu nehmen, das schöne Wesen wie ein Meisterstück in einer Bildergalerie mit aller Bewunderung zu betrachten und mich, nachdem ich es einigermaßen studiert, dankbar wieder zu empfehlen, was freilich den Besitzern einen Strich durch die Rechnung machte. Lieber Himmel, wenn ich mir vorstelle, ich hätte in einer schwachen Stunde mich wirklich fangen lassen, und wäre jetzt mit dieser anspruchsvollen Kostbarkeit unterwegs nach meinem einfachen Hause zu meiner guten altmodischen Mama – ich wäre der unglücklichste Mensch von der Welt, während ich jetzt –

Er stockte und sah ihr forschend ins Gesicht. Madeleine, sagte er leise, Sie haben mich nicht ganz ohne Hoffnung entlassen. Bin ich in diesen wenigen Tagen Ihnen wieder ein Fremder geworden?

Nein, sagte sie, ich weiß, daß ich nie einen besseren Freund hatte als Sie, und eben deshalb käme es mir wie ein Verbrechen vor, wenn ich Schuld daran wäre, daß Sie nicht so glücklich würden, wie Sie es verdienen.

Laß mein Glück nur meine Sorge sein, bat er innig. Wenn du etwas in dir fühlst, das dir verspricht, neben mir mit der Zeit alles abzuschütteln, was dich drückt –

Das ist es eben, unterbrach sie ihn und sah mit einem bittern Ausdruck vor sich hin. Es giebt Dinge, die man nicht wieder los wird. Was sagen Sie, daß ich Nacht für Nacht, seit Sie fort waren, von ihm geträumt habe? Ich will es Ihnen nur gestehen: gleich als ich Sie sah und Sie mir anders als alle andern, weder verlegen noch unbescheiden, nahe traten, sprach etwas für Sie in meinem Herzen. Hätte ich noch nichts erlebt und erlitten, so glaube ich, ich würde Sie von ganzer Seele lieben. Aber es ist ordentlich, als ließe das den Todten nicht ruhen, als müsse er halb aus Eifersucht, halb aus Rache mir mein Glück verderben, und ich weiß es, er wird es mir verderben. Darum bitte ich Sie, geben Sie mich auf! Glauben Sie mir, es ist besser für uns Beide.

Nein, rief er, nichts mehr von Zweifeln und Bedenken! Du bist mein, Madeleine; Niemand, keinem Lebenden und keinem Todten gehörst du noch an, nur mir, und was dahinten liegt, wird sich auch an dich nicht heranwagen, wenn du erst erfahren hast, was ein volles Glück ist. Vertraue mir, wie ich mir selber vertraue, daß ich all das heilen werde, was du noch an kranken Erinnerungen in dir trägst. Meine Geliebte! Mein theures geliebtes Glück!

Er zog sie stürmisch an seine Brust und küßte ihren stillen Mund, ohne daß sie ihm widerstrebt hätte. Aber plötzlich fühlte er, daß ein Zittern durch ihre Glieder flog und ihre Lippen sich losrissen. Was hast du? fragte er bestürzt.

Still! sagte sie und horchte auf den Gang hinaus. Hast du nicht klopfen hören?

Wo? Ich habe nichts gehört. Wer sollte auch –

Und es hat doch geklopft, hier an der Thür, dreimal, und mit einem Finger – den ich wohl kenne. Siehst du, daß ich recht habe? Es soll nicht sein!

Er suchte sie auf alle Weise zu beruhigen, und es gelang ihm auch endlich durch die zärtlichsten Worte und tausend Versicherungen, daß dies alles nur Einbildung und Aberglaube sei. Sie ließ sich sogar bewegen, sich neben ihn auf das Sopha zu setzen, aber jede Liebkosung wehrte sie nun mit ängstlichen Bitten ab, wobei ihre Augen unwillkürlich die Thür suchten, als fürchte sie, daß sie sich öffnen würde. Er sah das wohl, und nicht ohne Kummer. Aber er hoffte, schon durch eine neue Umgebung ihre Stimmung von solchen Einflüssen zu befreien, und redete ihr zu, daß sie gleich morgen zusammen abreisen sollten. Davon wollte sie aber durchaus nichts hören. Sie kamen endlich überein, daß er erst nach Hause reisen, der Mutter einen unverhohlenen Bericht von Allem abstatten und ihre Einwilligung erbitten solle. Wer weiß, sagte sie, ob sie mich aufnehmen wird, wenn sie meine Geschichte kennt und hört, daß du mich aus einem Gasthof gefreit hast. – Sie berechneten dann genau den Tag, wann er zurück sein könnte, um sie zu holen. Da es erst nach Pfingsten sein würde und sie nicht länger hier im Hause bleiben konnte, wollte sie so lange zu jener alten Bürgersfrau ziehen, deren Tochter sie eine Zeitlang in feinen Handarbeiten unterrichtet hatte. Die Wittwe sei ihr zugethan und jetzt allein, in einem kleinen Häuschen unten an der Donau, da ihre Tochter sich kürzlich nach auswärts verheirathet habe. Er mußte ihr dann noch von seiner eigenen Mutter, von seinem Hause und Geschäft und der Lebensart in seiner Heimath erzählen, was sie alles mit stiller Heiterkeit anhörte, seine Hand in der ihren, aber die Augen beständig in den Schooß gesenkt und dann und wann die Stirne faltend, als ob ein fremder Gedanke sie beunruhige. Zuletzt stand sie auf und nahm mit einem Händedruck Abschied. Ich küßte dich gern, sagte sie, aber ich fürchte mich. Es wird wohl anders werden, wenn der Segen darüber gesprochen ist. Ich hoffe es wenigstens.

Es wurde ihm schwer, sie so zu entlassen, aber er sah ihren eigenen Kampf und wollte ihr jeden neuen Schrecken ersparen. Nur auf der Thürschwelle drückte er sie noch einmal an sich und sah ihr nah und lange in die Augen. Da, im tiefsten Grunde, sagte er, ist noch eine dunkle Stelle. Die wollen wir schon noch lichten. Schlaf süß, mein Weib!

Er berührte flüchtig mit den sehnsüchtigen Lippen ihre Wange und gab ihre Hand frei. Dann leuchtete er ihr nach und weidete sich an der herrlichen Gestalt, wie sie, mit den Armen und Augen oft zurückwinkend, den Flur hinunterging, vor ihrer Kammer noch einmal stehen blieb und eine »gute Nacht« flüsternd seinen Blicken entschwand.

Er hatte sich das Haus der Wittwe genau bezeichnen lassen, und am andern Tag war sein erster Ausgang dorthin. Es war eines der ältesten Häuser der Stadt, auf hoher Grundmauer dicht an den Fluß gebaut, der zur Zeit des Hochwassers in das untere Geschoß einzudringen pflegte. Nach der Straße zu öffnete sich eine breite Hausthür, im Rundbogen mit einer kunstreichen Steinhauerarbeit geschlossen, statt der Hausglocke ein großer eiserner Klopfer, eine Zunge, die aus einem Löwenrachen heraushing. Drinnen aber sah alles wohnlich und blank aus, und die Hausfrau mit ihrem munteren Wesen schien ihm die beste Gesellschaft für seine schwermüthige Braut. Er weihte sie in das Geheimniß ein und empfahl ihr den Gast, indem er ihr Geld einhändigte, daß sie es ihr ja an Nichts fehlen ließe. Davon wollte die Frau erst Nichts hören; sie sei ihr mehr schuldig als das, und es sei ihr eine Herzensfreude, daß sie gerade zu ihr kommen wolle. Nun ergoß sie sich in Lobsprüchen, die der Bräutigam gern anhörte, obwohl sie ihm nichts Neues sagten. Hüten Sie sie nur, daß sie nicht Grillen fängt und sich um Dinge ängstigt, die nur Einbildungen sind, bat er beim Abschied. In so und so viel Tagen bin ich jedenfalls zurück. Dann möchte ich sie gerne heiter finden.

Die Frau versprach, auf alle Weise für ihren Pflegling zu sorgen, und der glückliche Bräutigam eilte in den Gasthof zurück, um noch desselben Vormittags die Reise nach Haus anzutreten. Das Mädchen drängte selbst dazu, mit einer wunderlichen Hast, an der er aber, da er desto früher zurück sein konnte, keinen Anstoß nahm. Vor den Leuten im Hause mußten sie sich Zwang anthun, und so stieg er, ohne so, wie er gewünscht hatte, Abschied zu nehmen, in den Wagen.

Von dieser seiner Reise ist nun Nichts zu berichten, als daß er ohne Unfall bei der Mutter ankam und nach einer ausführlichen Beichte ihren Segen für die neue Braut empfing, nicht ganz so freudig, wie er gehofft hatte, da der klugen alten Frau nicht alles so rosig scheinen wollte wie ihrem verliebten Sohne, aber doch aus vollem Herzen, da sie das feste Zutrauen zu ihm hatte, er könne keine Wahl treffen, die seiner unwürdig sei. So betrieb sie selbst seine rasche Umkehr und stimmte ihm bei, als ihm einfiel, lieber mit Extrapost in einem schönen neuen Wagen zu reisen, den er kürzlich für die Mutter angeschafft hatte, da er besonders weich in den Federn hing. Nur eine Nacht, genau wie es mit der Lena verabredet war, blieb er im eigenen Hause, dann trat er in raschen Tagereisen den Rückweg nach Regensburg an.

Wie schlug ihm das Herz, als er am letzten Morgen aufstand und sich sagte, daß er nur noch um eine Fahrt von zwölf Stunden von seinem Glück getrennt sei! Er hatte ihr nicht schreiben können, da der Brief erst nach ihm angekommen wäre. Wie malte er sich nun nach der stummen Prüfungszeit das Wiedersehen aus, wie ungeduldig war er, durch die gute Botschaft, die er von der Mutter brachte, die letzten Schatten von ihrem Gesicht zu verscheuchen und sie endlich ohne Rückhalt und Vorbehalt als sein geliebtes Eigenthum in die Arme zu schließen!

Er trieb die Postillone durch freigebige Trinkgelder unermüdlich zur Eile an; kaum daß er sich zu Mittag Zeit gönnte, ein hastiges Mahl zu nehmen. Sie hatten ausgerechnet, daß er um sieben Uhr Abends eintreffen könne, wenn alles gut gehe und er mit Courierpferden reise. Nun hoffte er noch ein paar Stunden zu gewinnen und sie desto früher zu überraschen. Auch machte es ihn keinen Augenblick irre, daß, noch etwa zwei Stationen vor seinem Ziel, bei dem tollen Jagen, das er anstellen ließ, das eine Vorderrad brach und der Postillon erklärte, es sei unmöglich, hier in der Gegend ein Nothrad aufzutreiben, das zu dem zierlichen Gestell dieses Wagens passe. Sie waren in einer wohlangebauten Gegend, wo es leicht war, ein Bauernpferd zum Reiten zu mieten und den Wagen einstweilen sicher unterzubringen. Keine halbe Stunde nach diesem Zwischenfall, und der ungeduldige Liebhaber saß im Sattel und spornte seinen munteren Klepper zu scharfem Trabe, um das Versäumte wieder einzubringen. Eine Zeitlang blieb er auf der Landstraße. Dann, da er sie im Bogen ablenken und später wieder hereinbiegen sah, beschloß er, sich einem Richtweg anzuvertrauen, der ein gut Stück abzuschneiden versprach. Auch fand er sich richtig nach zehn Minuten wieder auf einer Landstraße, der er nun, in seine Träumereien versunken, ohne weiter Acht zu geben, folgte. Erst als es schon dämmerig wurde und die Sterne vortraten, fuhr er erschrocken auf, da die Straße sich entschieden nach Süden wendete. Der nächste Bauer, den er befragte, bestätigte ihm, daß er vom rechten Wege stundenweit abgekommen sei und wies ihm die Richtung, in der er sich zu halten habe, um die Straße nach Regensburg wieder zu gewinnen. Nun jagte er, seinen Fehler verwünschend, in athemloser Eile in die Nacht hinein, und ein kalter Schweiß trat ihm auf die Stirne. Er wußte sich's nicht zu deuten, warum ihm so bange wurde. Sein Glück war ihm ja gut aufgehoben; warum sollte es auf ein paar Stunden früher oder später ankommen? Und wirklich wurde er ruhiger, je näher er der Stadt kam. Als er endlich die Münsterthürme in den Nachthimmel ragen sah, gönnte er seinem schweißbetrieften Pferde ein mäßigeres Tempo und athmete selber hoch auf. Es war noch früh genug, die Braut aufzusuchen, noch nicht viel über Neun. Wenn sie sich ein wenig um ihn geängstigt haben sollte, wie viel seliger würde sie ihm ans Herz stürzen! So ritt er das letzte Stück Weges in fröhlichen Gedanken und lenkte, da er die Stadt erreicht hatte, sein Thier sogleich nach der Straße am Fluß, die nur mit wenigen Oellaternen erleuchtet und völlig menschenleer war. Der Hufschlag lockte hier und da ein Gesicht ans Fenster, aber er sah Niemand, dem er sein Pferd hätte zu halten geben können, als er endlich vor dem Häuschen der Wittwe angekommen war. So sprang er aus dem Sattel, band den Zügel an einen losen Ring in der Mauer, der vor Zeiten oft diesen Dienst geleistet hatte, und klopfte mit einem eisernen Thürhammer nachdrücklich an das verschlossene Haus. Es wunderte ihn, daß es so lange darauf still blieb. Erst nachdem er zum drittenmal den Klopfer hatte schallen lassen, hörte er Schritte die Treppe herabkommen und den Schlüssel drehen, und gleich darauf sah er in das Gesicht der guten Alten, das ihn aber in sichtbarer Verstörung grüßte.

Sie sind es! rief die Frau. Gott sei Lob und Dank, daß Sie kommen! Ich hab' es ja freilich nicht anders gedacht, aber Sie wissen wohl, so etwas steckt an –

Wie geht's? Was macht meine Braut? unterbrach er sie und trat hastig ins Haus ein. Es ist doch nichts vorgefallen? Warum machen Sie so ein Unglücksgesicht?

Nichts ist vorgefallen, erwiederte die Alte, und jetzt, da Sie endlich da sind, wird auch wohl Alles gut werden. Aber ich habe meine liebe Noth gehabt mit der Lena, und heut' war's am Ärgsten. Glauben Sie, daß sie eine Nacht unter meinem Dach geschlafen hätte? Sie wollte es nicht gestehen, um mich nicht zu beunruhigen, aber ich schlafe selbst wenig mehr und habe sie stundenlang behorcht, wie sie wach im Bett lag und mit sich selber sprach oder seufzte. Ich ging dann zu ihr hinein, konnte aber nichts aus ihr herausbringen, als daß es ihr unheimlich sei und sie nicht warm werden könne trotz aller Decken und Federbetten. Sie stand dann auf und nahm beim Licht ein Buch vor oder eine Arbeit. Dann wurde es besser, und am Tage ging es so leidlich, bis auf heute, wo sie vom frühen Morgen an keine Minute an einem Ort Ruhe hatte. Als es nun sieben war und Sie noch nicht zurück, da sagte sie: Ich hab' es ja wohl gewußt, es soll nicht sein. – Was soll nicht sein, liebe Lena? fragte ich sie und suchte ihr all das Grübeln und Schwarzsehen zu vertreiben, indem ich sie tüchtig ausschalt, daß sie einem so guten Menschen, wie Sie sind, nicht mehr Vertrauen schenke. – Ihm wohl, sagte sie dann, aber mir nicht. Und warum soll ich noch Einen unglücklich machen? Geben Sie acht, die Mutter wird es nicht zugeben wollen, und so wird es auch das Beste für ihn sein. – Lieben Sie ihn denn nicht? fragte ich. – Und sie: Von ganzem Herzen! sagte sie und mit einem Ton, wie vor dem Altar, und dann fuhr sie plötzlich zusammen und sagte: Hören Sie nichts? – Nein, sagte ich, was soll ich hören? – Es kommt ein Pferd herangejagt, sagte sie, aber es ist noch weit. – Wie weit denn? – Noch eine gute Stunde. – Ach, sagte ich, was Sie auch für Ohren haben wollen! und dann suchte ich ihr was vorzuschwatzen, um sie auf andere Gedanken zu bringen: von meiner verheiratheten Tochter, und daß sie sie auf der Hochzeitsreise besuchen sollte, und was für ein schönes Leben sie führen würde, und sie hörte auch alles ruhig mit an, nur zuweilen sagte sie: Hören Sie noch immer nichts? Und wenn ich dann Nein sagte, war sie wieder still. Endlich aber sprang sie vom Stuhl auf: Jetzt – jetzt ganz nah! rief sie. Und wirklich, nun hörte ich den Hufschlag auch und sagte: Freilich, es ist ein Pferd, was ist da Besonderes? – Es kommt gerade auf unser Haus zu, sagte sie. Es hält! Himmlischer Vater, ich hab' es ja gewußt! – Ich verstand kein Wort, was sie meine, aber als sie nun unten klopften, ich weiß nicht, wie es kam, überlief auch mich ein kalter Schauer. Das kann doch nur Ihr Bräutigam sein, sagte ich. Ich will gehn und öffnen. – Um Gottes willen, rief sie und umklammerte mich mit einem ganz entgeisterten Gesicht, gehn Sie nicht hinunter, öffnen Sie nicht! – Warum nicht? fragte ich. Ich werde doch Ihrem Bräutigam das Haus aufschließen? – Wissen Sie denn, daß er es ist? fragte sie ganz leise; glauben Sie mir, es ist – der Andere! – Wer? fragte ich. Aber sie schüttelte den Kopf, und da Sie wieder und wieder klopften, machte ich mich endlich mit Gewalt von ihr los und lief aus dem Zimmer. Ich getraute mich ohne Sie nicht wieder zu ihr hinauf.

In großen Sätzen, ohne abzuwarten, daß die Frau ihm leuchte, sprang er die Treppe hinauf und riß die Thür zu dem Wohnzimmer auf. Ich bin es, Lena, rief er. Ich bin es! Jetzt soll uns nichts mehr trennen! – –

Auf dem Tisch stand die Lampe, und er sah ihre angefangene Arbeit auf dem umgestürzten Sessel liegen. – Sie wird in ihr Stübchen gegangen sein, sagte die Hausfrau, die jetzt ihm nachgekommen war. Lena! rief sie und leuchtete in das anstoßende Gemach. Warum verstecken Sie sich? Da bring' ich ihn ja, Ihren Bräutigam, frisch und gesund.

Keine Antwort kam, aus keiner von all den Kammern und Stuben, die sie bis unter das Dach hinauf miteinander durchsuchten. Sie muß doch im Hause sein! rief er, außer sich. Sie hätte uns doch an der Treppe vorbeikommen müssen, wenn sie zum Hause hinausgeflohen wäre.

Die Alte stand still und setzte das Licht aus der Hand, die stark zitterte. Ach, du barmherziger Gott! Ach, wenn es doch so wäre! sagte sie mit stockendem Athem, und die Thränen schossen ihr plötzlich in die Augen. Aber Sie wissen nicht, daß noch eine Stiege im Hause ist, die führt freilich nur – in die Donau hinunter.

Er schrie auf, als hätte ihn eine Kugel ins Herz getroffen. Im nächsten Augenblick war er wie ein Rasender aus der kleinen Thür, auf die sie stumm hindeutete, und die schmale steinerne Hintertreppe hinunter. Da stand er unten am Rande des tiefen, schwarzen Wellenspiegels und sah in Verzweiflung in die Nacht hinaus, während ihm die Fluth die Füße überspülte. Die Frau war ihm nachgeschlichen. Sehen Sie was? fragte sie, hinter ihm stehend und mit der Lampe über den Fluß hinausleuchtend. Er gab keine Antwort. Plötzlich zuckte er auf, riß ihr die Lampe aus der Hand und hielt sie weitübergebeugt in die Höhe. Im nächsten Augenblick hatte er sie hastig wieder zurückgegeben, die Stiefel und den Rock abgestreift und sich ohne Besinnen in den Fluß geworfen.

Ein Arm war aufgetaucht nicht gar weit vom Ufer, gleich darauf das Gesicht bis an den Hals, und wie er jetzt mit aller Macht nach der Stelle hinruderte, glaubte er von ferne schon deutlich zu unterscheiden, daß das Auge sich öffnete und der Mund sich bewegte, wie um Hülfe zu rufen. Er schrie ihr zu, und es war ihm, als drehe sie den Kopf ein wenig nach ihm hin.

Mit verdoppelter Anstrengung theilte er die Wellen, denn er sah, daß sie von neuem zu sinken begann. Nur noch die weiße Stirn ragte heraus, da erreichte er sie und tauchte augenblicklich unter, um sich die Bewußtlose auf die Schultern zu laden und mit ihr wieder emporzurudern. Es gelang ihm so gut, daß er schon alles gewonnen glaubte. Ihr rechter Arm hatte sich, im Sinken einen Halt suchend, krampfhaft um seinen Hals geschlungen, ihr schwerer Kopf ruhte auf seinem Nacken, die schwarzen Haare schwammen fessellos auf den Wellen, und er fühlte, während sie zusammen hintrieben, daß noch Leben und Willenskraft durch ihre Glieder zuckte. Aber die Strömung hatte ihn vom Ufer weggerissen, und das Gewicht ihres Körpers hinderte ihn, seine Arme frei zu gebrauchen. Er sah nach der Insel hinüber und glaubte, Lichter und Nachen dort zu erblicken. Ein paar Mal rief er hinüber, sie sollten eilen und herbeirudern. Er wußte nicht, ob man ihn gehört habe, und der Gedanke durchfuhr ihn: Es ist vorbei! Aber er erschrak kaum, da er ihn dachte. Es schien ihm nur in der Ordnung, daß der Strom das Grab seines Glückes werden sollte. Wenn er sie wirklich ans Land rettete und sie flöhe wieder vor ihm, was wäre ihm dann das Leben? Nur noch ein Wort von ihr, einen Abschied. – Lena! rief er leise, während sie schon nach der Brücke zutrieben. Es war ihm, als rege sich der Arm um seinen Hals. Die Besinnung schien ihr wieder zu erwachen. Aber die dumpfe Todesangst, mit der sie sich nur fester an ihn klammerte, hemmte seine Bewegungen, und indem er verzweifelt strebte, ihren Arm loszumachen, der ihn zu ersticken drohte, fühlte er, daß die Fluth über ihm zusammenschlug und er unaufhaltsam mit seiner Last in die Tiefe sank.

Als ihm die Besinnung zurückkehrte, war sein erstes Gefühl ein dunkles Behagen, daß er nicht mehr das Strudeln des Wassers um seine Schläfe empfand. Er lag irgendwo weich und warm, die Haut brannte ihm über und über, es dauerte lange, bis er die Augen öffnen konnte, denn im Kopf dröhnte es ihm wunderlich und seine Brust athmete noch schwer. Erst als er die Stimme der guten Wittwe vernahm und jetzt deutlich neben seinem Lager ihr Gesicht wiedererkannte, kehrte ihm die Erinnerung allmählich wieder zurück.

Wo ist Lena? fragte er endlich.

Die Alte deutete auf das Zimmer nebenan. Seien Sie ohne Sorge, sagte sie. Gott sei Dank, daß wir Sie beide wieder so weit haben. Was haben Sie uns für Schrecken und Noth gemacht!

Sie erzählte ihm nun, daß sie selbst, sobald sie ihn habe in den Fluß springen sehen, ihren kleinen Kahn an der Wassertreppe losgemacht und ihm zugerufen habe, auf sie zu warten. Er aber sei wie ein Fisch davongeschwommen, und da sie selbst mit dem Rudern nicht zum Besten Bescheid wisse, sei sie bald weit abgetrieben worden. Nun habe sie gerufen und die Leute auf der Brücke auf das Unglück aufmerksam gemacht, und habe Gott gedankt, daß noch eben zur rechten Zeit von beiden Ufern zugleich Kähne zu Hülfe gekommen wären, die sie herausgefischt hätten, ehe es zu spät war. Auch so freilich sei es erst nach langer Angst und Mühe gelungen, sie wieder zu sich zu bringen. Sie habe auch nach Aerzten geschickt; als die aber gekommen, sei der Athem ihnen beiden schon wieder aus- und eingegangen, so daß keine Gefahr mehr gewesen. Nun sollte er sich nur ruhig verhalten. Er habe doch auch nicht wenig Wasser geschluckt. Wenn er aber nachher aufstehen wolle, da liege ein completer Anzug noch von ihrem Seligen (denn der seine werde vor vierundzwanzig Stunden nicht wieder trocken werden), und ein Hemd ihres Mannes habe sie ihm schon angezogen.

Nun sah er erst, daß er über und über in Betten und Decken vergraben auf dem Sopha in ihrer Wohnstube lag, ringsumher die Spuren des Aufruhrs, den das Ereigniß in die stille Wittwenwohnung hereingebracht hatte. Er drückte statt aller Worte der guten Alten die Hand und lag noch eine Weile in seinen traumartigen Gedanken. Dann sagte er: Ich bitte Sie, lassen Sie mich einen Augenblick allein; ich will doch versuchen, aufzustehen.

Trotz ihres Abmahnens beharrte er darauf und warf, als sie ihn verlassen hatte, die schweren Federbetten zurück, verwundert, daß er von dem ganzen Abenteuer kaum noch eine Ermüdung in seinen Gliedern spürte. Im Nu war er angekleidet und schlich nun klopfenden Herzens nach der Thür, hinter der sein theuer erkauftes Glück ruhte. Er trat ohne anzupochen ein. Da lag sie schön und blaß in ihrem Bett, die schwarzen Haare weit ausgebreitet über das Kopfkissen, die Augen still ihm entgegengekehrt. Die Alte saß neben ihr, außerdem war nur noch der Kreisphysikus im Zimmer, dem er schon im »Weißen Hahn« begegnet war. Als der Bräutigam eintrat, überflog eine rasche Gluth das Gesicht seiner Braut, zugleich ein Lächeln, wie er es nie so friedlich und süß an ihr gesehen hatte. Sie blieben aber beide stumm einander gegenüber.

Ich gratuliere Ihnen von Herzen, sagte der alte Arzt mit einem halb geheimnißvollen Ton, indem er dem jungen Manne die Hand reichte. Sehen Sie sich einmal dies Gesicht an. Das Sturzbad hat Wunder gethan, sage ich Ihnen. Nicht wahr, Kind, fuhr er zu Lena gewendet fort, da oben sieht es nun anders aus, keine Grillen mehr, keine dunklen Flecke, alles in schönster Ordnung. Nun, so bin ich hier überflüssig und wünsche allerseits eine wohlschlafende Nacht!

Damit ging er, und die Frau gab ihm mit der Lampe das Geleit, die Treppe hinunter.

Die Liebenden waren allein.

Lena, sagte er, indem er ihr näher trat und eine ihrer Hände ergriff, kann ich daran glauben, daß wir uns nun nicht mehr verlieren werden?

Sie drückte statt aller Antwort seine Hand und sah ihm voll und innig in die Augen.

Und doch hast du vor mir fliehen können? setzte er leiser hinzu.

Nicht vor dir, erwiederte sie; nur vor einem Schatten. Aber das ist vorbei. Sieh meine Hand hier: der Ring, den ich so lange zu meiner Qual getragen habe, ist verschwunden. Er liegt jetzt unten im Fluß und wird nie wieder ans Licht kommen.

Und du fürchtest dich nun nicht mehr, mich zu küssen?

Sie erwiederte nichts. Sie streckte die Arme nach ihm aus und zog ihn über und über glühend an ihr Herz. Que je vous aime! flüsterte sie. Dann schloß sein Mund ihr die Lippen.

——————


 << zurück weiter >>