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Franz Alzeyer.

Eine Geschichte aus den Befreiungskriegen.

(1863)

 

Zu Anfang unseres Jahrhunderts lebte in der Haupt- und Residenzstadt eines bescheidenen mitteldeutschen Fürstenthums ein Mann, Franz Alzeyer mit Namen, dem die stockende Luft seines Vaterländchens von Jahr zu Jahr beschwerlicher ward, so daß er keinen Anlaß versäumte, sich durch Hohnreden über Alles, was seinen Mitbürgern ehrwürdig schien, die Brust zu erleichtern. In seinem ansehnlichen Hause am Stadtgraben, das nur mit einem schmalen Giebel in die Straße schaute, dünkte er sich wie in einem Gefängniß, obwohl er aus der Hinterthür frank und frei zu den Bäumen drüben am eingesunkenen Burgwall spazieren konnte, ohne die Thorstunde einzuhalten. Er hatte aber als ein junger Gesell viele Jahre auf der Wanderschaft verbracht, war durch Frankreich gestreift und sogar über die Berge ein Stück ins Spanische hinein, von wo viel zu früh, da das wilde Blut noch lange nicht verbraus't war, der Tod seines Vaters ihn heimgerufen hatte, damit er das verwais'te Geschäft, eine große Meerschaumschnitzerei, in die Hand nähme. Gekommen war er freilich, aber ein Stück Herz hatte er drüben in der Fremde hängen lassen, wo es auch verblieb, selbst nachdem er eine liebe und schöne Frau genommen hatte, die ihm zwei Kinder gebar, einen Sohn und eine Tochter, beide der Mutter ähnlicher als dem Vater. Den Knaben nannte er nach dem einzigen Deutschen, den er für einen großen Mann gelten ließ, Friedrich; für das Mägdlein war er lange um eine würdige Taufpathin in Verlegenheit, da er eine tiefe Geringschätzung aller deutschen Weiber zur Schau trug. Zuletzt warf er seine Augen auf die russische Zaarin Katharina, von der er viel erstaunliche Abenteuer gehört und gelesen hatte, und nannte sein blondes zartes Kind nach dieser gewaltigen Dame, in der Hoffnung, daß ihr Name und Vorbild etwas Gescheiteres aus dem Mägdlein machen werde, als eine langweilige deutsche Hausfrau.

Indessen wuchsen die Kinder unter der mütterlichen Pflege heran und schienen beide die Hoffnungen des Vaters zu Schanden zu machen. In dem Knaben, den seine Mitschüler bald den langen Fritz nannten, zeigten sich durchaus keine Spuren, daß auch ein großer Fritz in ihm stecke: weder Herrschergaben, noch Flötenspiel, geschweige etwas von französischem Witz und dichterischem Feuer. Er war eine redliche, starke, eher träge Natur, blieb weder Schläge noch Antworten schuldig, theilte aber beides mit einer gewissen pflicht- und geschäftsmäßigen Kürze aus, die überall zum Ziele traf. Eine entschiedene Anlage zeigte er nur für das kunstreiche Handwerk der Meerschaumschnitzerei, ohne sich damit bei dem grillenhaften Vater Dank zu verdienen. Denn dieser hätte am liebsten in dem Sohn einen Soldaten und künftigen Feldherrn heranwachsen sehen. Der Tochter, dem schönen Käthchen, wie man sie in der Folge nannte, schien er zärtlicher zugethan, scheuchte sie aber mit unablässigem Brummen und Hofmeistern wegen ihrer blöden Sitten von sich weg und brachte es dahin, daß er, wie unter seinen Mitbürgern, so auch in der Familie mehr und mehr allein stand. Zuletzt verkehrte er nur noch mit einem französischen Friseur des regierenden Fürsten, Monsieur Tourbillon, der viele Muße hatte, da Serenissimus beständig auf Reisen war und die Regierungssorgen in der Hand des Ministers, des Domänenraths und der städtischen Behörden wohl aufgehoben glaubte.

Wer in jene Zeit als in seine Jugend zurückdenkt, oder aus Briefen und Büchern sich das Bild einer kleinen, von den Weltstraßen abgelegenen Residenz vergegenwärtigt, wird mit dem starrsinnig übermüthigen Manne, der sich in die heimathliche Enge nicht zu finden wußte, milder ins Gericht gehen, ja ihm ein aufrichtiges Mitleiden nicht versagen. Es mag dahinstehen, ob er mit den Honoratioren des Städtchens, denen sein Wohlstand und altbürgerlicher Name ihn zugesellten, nicht einen ersprießlicheren Verkehr gepflogen hätte, als mit dem windigen Haarkünstler, der kein anderes Verdienst hatte, als das bischen erwanderte Französisch des Meister Alzeyer vor dem Einrosten zu bewahren und bei mancher Flasche Landweins, die das schöne Käthchen aus ihres Vaters Keller holte, stundenlang auf die deutsche Misere zu schimpfen. Aber dem Bürgermeister, Pfarrer, Domänenrath und Schulrath gegenüber fühlte sich unser Meister mit seiner unstudirten Weltkunde und heißblütigen Großsprecherei allzusehr gedrückt und gedämpft, um diesen Ehrenmännern nicht lieber auszuweichen. Auch war es ihm unlieb genug, daß sein Fritz die lateinische Schule besuchte. Der staubige Kram könne den Buben nur vollends zu einem löschpapiernen Philister und Ofenhocker machen, schalt er in häufigen Tischreden, die jedoch ohne Wirkung blieben. Denn in diesem Punkt bestand die sanfte, gefügige Mutter fest auf ihrem Sinn, und der Junge selbst, obwohl er in den Schulwissenschaften nur die allermäßigsten Fortschritte machte und die meiste Zeit unter dem Tisch sein Meerschaumschnitzwerk betrieb, bäumte doch heftig in die Höhe, als der Vater einmal ernstlicher damit drohte, ihn aus der »Verdummungsanstalt« wegzunehmen. Franz Alzeyer war viel zu froh über dieses erste Zeichen von Trotz und Eigenwillen, um nicht die Sache im alten Geleise gehen zu lassen. Er wäre noch zufriedener gewesen, wenn er gewußt hätte, daß seines Herrn Sohnes zähes Festhalten an der Schule nur aus einer romantischen Schülerliebe zu der Tochter des Rectors herrührte, einem hoffnungsvollen, liebenswürdigen Kinde, Molly genannt, zu dem die drei oberen Klassen des Lyceums in gemeinsamer Verehrung wie zu ihrer Muse aufblickten, da es bekannt war, daß sie Lateinisch verstehe und heimlich Verse mache.

Hiervon wird fernerhin noch zu reden sein, wenn wir erst eines merkwürdigen Zwischenfalls gedacht haben. Um diese Zeit nämlich war das verderbenschwangere Meteor des napoleonischen Ruhmes so hoch über dem deutschen Himmel aufgestiegen, daß seine Strahlen selbst in den versteckten Winkel jenes weltvergessenen Ländchens drangen. Der Landesfürst hatte sich beeilt, Frieden und Freundschaft des Gewaltigen zu erkaufen, und seine getreuen Unterthanen blieben, Dank ihrer geographischen Winzigkeit, von den Schrecken und Wirrnissen der österreichischen Feldzüge verschont, einige Durchmärsche französischer Truppen abgerechnet, die auf die Phantasie der wackeren Bürger nur mit dem Reiz eines abenteuerlichen Schauspiels wirkten. So oft dergleichen sich ereignete, gerieth Franz Alzeyer in eine fieberhafte Aufregung, die auch nach dem Abzuge der Fremden unter vier Augen mit Monsieur Tourbillon fortloderte, bis eines Tages die Kunde durch die Stadt lief, der Meister habe Frau und Kinder im Stich gelassen, um abermals ins Spanische hineinzuwandern und dort unter dem größten Manne dieses und aller Jahrhunderte den Flecken seiner kleinstädtischen Herkunft mit Heldenblut von der Seele zu waschen.

Er blieb mehrere Jahre fort und schrieb niemals an die Seinigen, die indessen ihr ruhiges Leben in Behaglichkeit und ohne allzu sehnsüchtige Herzensangst um den verschollenen Vater fortführten. Der lange Fritz saß schon das zweite Jahr in Prima, unzugänglich für jeden höheren Ehrgeiz, als den, nach wie vor in dem Zauberkreise der heimlich Angebeteten geduldet zu werden. Seine Schwester, das schöne Käthchen, war auf das Erfreulichste herangeblüht und pflog einer leidenschaftlichen Busenfreundschaft mit der jungen Muse, deren Verse sie auf bunte Briefblätter zierlich abschrieb und nur aus besonderer Gnade dann und wann dem Bruder zu lesen gab. Sie selbst war ebenfalls nicht ohne Bewerber, hatte aber eine tiefversteckte Neigung zu einem jüngeren Freunde ihres Fritz, dem Bürgermeisterssohn, einem leichtblütigen braven Jungen in rothblonden Locken, mit Namen Ludwig, oder »der rothe Lutz« geheißen, der wiederum nur Augen für ihre Freundin hatte, so daß sich diese vielverschlungenen Herzensfäden am Ende gar zu einem tragischen Knoten geschürzt hätten, wenn die windstille Luft der kleinen Stadt die Leidenschaften nicht gedämpft und die jugendlichen Flammen gezügelt hätte.

Da erschien plötzlich, Allen unerwartet, da der spanische Krieg noch fortwüthete, der verschollene Meister Franz Alzeyer wieder in der Heimath, in gar trauriger Gestalt, hinkend, am linken Arm verstümmelt, über der Stirn eine breite rothe Narbe, die tief ins Haar hineinlief, die französische Uniform übel zugerichtet, bei alledem ungebrochenen Geistes und an Trotz und Vaterlandsverachtung nur schlimmer eingeteufelt. Niemand schien sehr erfreut, ihn wiederzusehen, und so war es auch ihm nicht zu verdenken, daß er das alte Wesen forttrieb und seinen Nachbarn und Mitbürgern desto verbissener die Zähne zeigte, je weniger sie ihm seine spanischen Siege und Großthaten zum Ruhme rechnen wollten. Er war also von Neuem auf die Gesellschaft des alten Friseurs und die Lectüre einiger französischer Zeitungen angewiesen, die er aus Frankreich mitgebracht hatte und, da sie von Schlachten berichteten, die er selber mitgefochten, unermüdlich immer wieder von A bis Z durchstudirte.

Die Seinigen ertrugen ihn in alter Geduld. Die Frau, die ihn getreulich pflegte und seine Wunden mit gelinden Hausmitteln zum Heilen brachte, starb schon nach einem halben Jahr; darauf führte das schöne Käthchen das Hauswesen, nicht so sorgenlos freilich, als es vormals geschehen. Denn theils hatte die Drangsal der Zeit den Flor des edlen Handwerks beschädigt, theils war das unstäte saumselige Wesen des Meisters Schuld an dem einreißenden Verfall. Er nahm zwar den Sohn, der sich diesmal dem väterlichen Machtspruch willig fügte, sofort aus der Schule und übertrug ihm die Aufsicht über die wenigen Gesellen, ließ ihm aber nicht freie Hand und versah es vollends durch seinen ebenso unzweckmäßigen als unpatriotischen Eifer, in zahllosen Exemplaren den Kopf seines vergötterten Kaisers und der berühmtesten seiner Feldherren in Meerschaum schneiden zu lassen, um, wie er sich ausdrückte, dem deutschen Volk zu zeigen, wie Männer aussähen. Diese französische Waare fand aber im Städtchen selbst immer spärlicheren Absatz, und auch die auswärtigen Geschäftsfreunde schickten sie häufig mit Protest zurück und bestellten die Bildnisse des Freiherrn von Stein und anderer Patrioten, auf die man mit wachsender Hoffnung und Ungeduld blickte. Die Folge davon war, daß sich nach und nach Franz Alzeyer's Laden mit einer ansehnlichen Sammlung französischer Heldenköpfe füllte und das Geschäft gar ins Stocken gerathen wäre, hätte der lange Fritz nicht unverdrossen das scharfe Profil des großen Königs, dessen Namen er trug, in den weichen Thon geschnitten, ein Gesicht, zu dem sich glücklicherweise noch immer Liebhaber fanden.

Aber auch die Napoleon's, die Mürat's, Ney's, Massena's und Soult's sollten bald von ihrem Ladenhüterposten abgelöst werden. Schon während der spanischen Episode war das kleine Land in die Leiden des Krieges tiefer eingeweiht worden und trotz aller Vasallentreue seines Fürsten mit Contributionen, Einquartierungen und den Raubzügen kecker Marodeurs nicht verschont geblieben. Der österreichische Krieg des Jahres Neun streifte unheilvoll an dieser Gegend vorbei, und der russische Feldzug raffte manchen guten Bekannten des langen Fritz dahin. Die schwüle düstere Gährung, die der Erhebung von 1813 voranging, bemächtigte sich auch in diesem frommen Erdenwinkel aller Gemüther, und die Gäste von der großen Nation, die zahlreich vorsprachen, begegneten mehr und mehr einer verhaltenen Erbitterung, die sehr gegen die harmlos neugierige Gastlichkeit früherer Jahre abstach. Nur Meister Alzeyer kam den Durchzüglern in demselben Maße aufopfernder und herzlicher entgegen, als seine Mitbürger sich ihnen feindseliger zeigten. So oft ein neues Corps einrückte, hinkte er in der französischen Uniform mit dem Bande der Ehrenlegion und dem Säbel an der Seite auf das Quartierbureau und bat sich die doppelte Einquartierung aus, vollends guter Dinge, wenn er einen höheren Offizier bewirthen konnte. Man sah ihn dann seinen Hausgenossen durch die Stadt führen, zu den drittehalb Sehenswürdigkeiten, die man Fremden vorwies, und hörte ihn mit erhobener Stimme sein Campagne-Französisch an den Mann bringen, völlig blind dagegen, daß all seine Bemühungen ihm bei den Fremden selbst nicht übermäßigen Respekt eintrugen. Brachen endlich die Gäste wieder auf, so ließ er keinen ziehen, ohne ihm einen Meerschaumkopf, nach eigener Wahl, zum Andenken zu verehren, was desto freundlicher gedankt wurde, je massiver das Exemplar mit Silber beschlagen war.

Nur in einem Punkte konnte er sich der kleinbürgerlich deutschen Vorurtheile nicht ganz erwehren. Sobald nämlich Franzosen in Sicht waren, schickte er seine Tochter, das schöne Käthchen, auf eine Mansardenkammer zu oberst unter dem Dach, zu der eine bewegliche Treppe hinaufführte. Man hatte droben die lachendste Aussicht über den Wall und die nahen Hügel und ein Stück der fruchtbaren Ebene, und in gewöhnlichen Zeiten haus'te hier der lange Fritz, der einen Hang zur Beschaulichkeit und landschaftlichen Romantik hatte. Das Käthchen saß minder gern auf dieser hohen Warte. Es war voll weiblicher Tugenden, liebte die Wirthin zu machen und zugleich einen neugierigen Blick in das rege Treiben der fremden Soldateska zu thun, und mußte sich nun damit begnügen, das Ohr an die geschlossene Thür zu lehnen und in das Haus hinunterzulauschen, wo der Vater mit seinen Gästen trank und parlirte und das eigene Kind standhaft verleugnete. Bei Nacht stahl sich der Bruder hinaus, brachte ihr zu essen, zuweilen auch ein Brieschen ihrer Freundin Molly, die das Käthchen glücklich pries, daß sie dem Anblick der welschen Zwingherren entrückt blieb, da sie selbst ihrem Vater, dem Rector, die Last der Fremdherrschaft tragen helfen und die Feinde der deutschen Freiheit bedienen mußte. Der lange Fritz schien an diesen Briefen, zumal wenn sie in Versen geschrieben waren, ein weit größeres Gefallen zu finden, als die gefangene Schwester. Er blieb sehr einsilbig, wenn sie ihn nach Namen und Rang der Einquartierung ausfragte, und eilte nur, sich der kostbaren Musenbriefe unter einem Vorwande zu bemächtigen und die Schwester zur Beantwortung anzutreiben, da er dann selbst natürlich den Boten machen und die geliebten Räume des Lyceums wieder einmal betreten durfte. Es war beiden Geschwistern sehr verschieden ergangen. Die wilde wechselvolle Zeit hatte in dem nunmehr einundzwanzigjährigen Bruder die kindliche Neigung seiner Schuljahre nur noch befestigt, während die Schwester ihren Jugendfreund, den rothen Lutz, der seit einigen Jahren auf Universitäten abwesend war, wie aus den Augen, so auch aus dem Sinn verloren zu haben schien.

So standen die Sachen, als die Nachricht von dem verhängnißvollen Winterfeldzug und dem Brande Moskau's die Welt erschütterte und bald darauf die vorüberfluthenden Trümmer der großen Armada auch unserer kleinen Residenz das gescheiterte Kriegsglück des Weltkaisers vor die Augen brachten. Franz Alzeyer, so tief der Schlag ihn traf, blieb doch seiner Ueberzeugung von der Unüberwindlichkeit des Corsen treu, sprach von der Verschwörung aller Elemente gegen die Heldengröße des Einen Mannes und nahm sich der Unglücklichen, die in stumpfsinniger Verzweiflung die Straße zurückgingen, auf der sie voll Uebermuth hinausgezogen waren, mit verdoppelter Hingebung an. Den ganzen December, Januar und Februar pflegte er unter seinem Dache zwei arme junge Muttersöhne, einen Lieutenant und einen Sergeanten, die vor seiner Thüre zusammengebrochen waren und zuletzt frisch und fröhlich wieder abzogen. Diesmal war es auch nicht wohl thunlich gewesen, das Käthchen auf die Mansardenkammer zu consigniren. Er brauchte sie allzu nöthig im Hause, hielt aber ein scharfes Auge auf sie, und die jungen Reconvalescenten betrugen sich auch so wohlgesittet, daß er, als er sie endlich getrosten Muthes entlassen konnte, sie zärtlicher als die eigenen Kinder umarmte und jedem eine vollständige Pfeife, Prachtstücke seiner Nationalgallerie, mit schwerem silbernem Beschlag mit auf den Weg gab.

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Fritz war ihnen in der ganzen Zeit nicht eben hold gewesen, athmete auf, als sie fort waren, und schalt die Schwester, die einen Tag mit rothgeweinten Augen und viele folgende sehr niedergeschlagen herumging. Aber all diesen Dingen nachzuhängen verwehrte die Zeit, die nun mit ungestümer Mahnung an Thür und Herz jedes guten Deutschen anpochte und aufforderte, mit Menschenkraft und Mannesmuth das Werk zu vollenden, das die Elemente so gewaltig begonnen hatten. Dem sechszehnten März, der Preußens Kriegserklärung an Frankreich brachte, folgte jener siebzehnte, der des Königs Aufruf an sein Volk verkündete, und es konnte nicht fehlen, daß die hohe Bewegung der Geister sich auch in die Nachbargebiete fortpflanzte und die Jugend unseres kleinen Städtchens in heller Begeisterung mit fortriß.

Es war eines Sonnabends, als ein preußischer Offizier durch das Thor der Residenzstadt hereinsprengte, vor dem Hause des Bürgermeisters hielt und sich mit dem wackeren Manne, dem Vater des rothen Lutz, einige Stunden lang über das, was geschehen sollte, besprach. Bald verbreitete sich das Gerücht durch alle Häuser, die kriegstüchtige Jugend werde morgen von der Kanzel herab aufgefordert werden, dem Ruf des preußischen Monarchen zu folgen, um zu dem Bülow'schen Corps einen freiwilligen Zuzug zu leisten, da man allerwegen nicht gesonnen war, erst die Entschließung des abwesenden Landesherrn zu erwarten. Der preußische Oberst habe Vollmachten, die Sache zu ordnen und die freiwilligen Kämpfer ohne Verzug zu der Hauptmacht zu führen, wo für ihre Bewaffnung und Montirung Vorsorge getroffen sei.

Der Aufruhr, den diese große Zeitung im Städtchen hervorrief, ist unbeschreiblich. Alles war auf den Straßen, stand und ging in buntem Gewirre durcheinander, die Alten mit Gesichtern, aus denen es wie eine zweite Jugend leuchtete, die Jungen, als hätte sie der Ernst des großen Schicksals plötzlich zu Männern gereift. Man sah verfeindete Nachbarn, die sich seit Jahren gemieden, im Schatten einer Hausthür heimlich wie Neuverlobte beisammenstehen und sich immerfort die Hände schütteln; Kranke, die längst nicht mehr ausgingen, hatten sich an die offenen Fenster geschleppt und sahen in die Gasse hinab, als sollte ein großer Siegesfürst seinen Umzug halten; hie und da kam eine Schaar halbwüchsiger Schüler Arm in Arm im Sturmschritt vorbei unter Absingen eines frischen Schlachtgesanges, dessen Rundreim die alten Mütterchen mit Thränen in den Augen und gefalteten Händen nachlallten, und wo vollends einer der Väter der Stadt sich blicken ließ, war ein ehrfurchtsvolles Spähen und Lauschen, als erschiene ein Herold des alten heiligen Reichs deutscher Nation, um der getreuen Bürgerschaft die Wiederkehr verschollener Macht und Herrlichkeit und dem Erzfeinde den Spruch des Völkergerichts zu verkünden.

Das graue klosterähnliche Gebäude des Lyceums, das sonst um diese Nachmittagsstunde die Schaaren munterer Jugend aus seiner Pforte herausströmen sah, lag heut mit seinem schattigen Ulmenhof völlig verödet. Denn Lehrern und Schülern stand der Sinn nach anderen Dingen, und selbst der Rector hatte den Julius Cäsar »vom gallischen Kriege« zugeklappt und sich mit der langen Pfeife und dem grünen Sammtmützchen auf die Straße begeben, um sich vom neuesten gallischen Kriege zu unterrichten.

In dem großen Hause mit den hallenden Gängen war nur Ein menschliches Wesen zurückgeblieben, das blonde Rectorskind, dessen Stübchen hinter den Ulmenwipfeln oben im zweiten Geschoß gar still und heimlich gelegen war, wie es sich für den Wohnsitz einer jungen Dichterin geziemt.

Es war aber wahrlich kein Zeichen von Kaltsinn, daß am Tage, wo Jeder sein Herz gegen einen Freund und Nachbar zu erleichtern strebte, das Jungfräulein sich von den Andern abschloß. Denn war es einsam, so war es doch nicht allein; der Geist der Dichtung hatte es heimgesucht, und während die Anderen auf der Gasse schwatzten, flüsterten oder sangen, saß das begeisterte Kind an seinem Schreibtischchen und dichtete ein schönes Sieges- und Befreiungslied. Die runden Wangen glühten ihr bis unter die Augen, die schweren blonden Flechten schwankten nach vorn fast bis auf das Blatt herab, von dem sie nur zuweilen aufblickte, um sich an dem silbergrauen Märzhimmel hinter dem kahlen Ulmengezweig den Sinn zu lichten, wenn ein bedenklicher Reim ihr Noth machen wollte; und sehr zierlich war es anzusehen, wie ein kleiner Kanarienvogel, den ihr der rothe Lutz beim Fortgehn zur Universität in die Pflege gegeben, zutraulich um sie her flatterte, auf dem Tisch herumspazierte und ihrem Schreiben ernsthaft und kunstverständig zunickte.

Da ging plötzlich die Thür auf und ein wohlbekanntes Paar trat herein, zwei Jugendfreunde, aber mit seltsam verstörten, unwirschen Gesichtern: der lange Fritz und der rothe Lutz, welcher letztere vor Kurzem wieder nach Hause gekommen war, da es ihm nicht an der Zeit schien, dem römischen Recht länger seinen Fleiß zu widmen, wo es sich um das brennende fränkische Unrecht und die große Völkerjustiz handelte. Er war aber mit seinem alten Kameraden, Fritz Alzeyer, nicht eher zusammengetroffen, als draußen auf der steinernen Lyceumstreppe, die sie beide mit stummem Gruß erstiegen, um eben so stumm nach dem wohlbekannten Stübchen der Rectorstochter zu wandern. Jeder wußte auf der Stelle, was den Andern hieher geführt hatte, und grollte darum dem Andern. Denn schon vor Jahr und Tag hatten sie sich in einer bösen Stunde der Jugendgeliebten wegen entzweit, seitdem allen Verkehr gemieden, und nun führte der Zufall in dieser bewegten Stunde die Nebenbuhler zugleich vor das Angesicht des schönen Kindes, dem sie beide Willens waren ihr Herz zu Füßen zu legen, ehe eine französische Kugel ihnen vielleicht für immer die Lippen schloß.

Also traten sie neben einander in das Stübchen und blieben beide vor Herzensbangigkeit und Groll den Gruß schuldig. Auch das schreibende Mägdlein erhob sich stumm und erschrocken von seinem Sitz; denn da es eine ahnungsvolle Dichterseele hatte, las es in den verstörten feindseligen Mienen der Besucher mehr als ihm lieb war. Und so hätten die Drei wer weiß wie lange einander gegenüber gestanden, ohne den kleinen Vogel, der, sobald er seines früheren Herrn ansichtig wurde, mit einem hellen Freudeschmettern auf den rothen Lutz zuflog, sich ihm aus den Kopf setzte und in das dichte Lockenhaar mit dem Schnabel hineinpickte, dann ihm auf die Finger herabhüpfte und eine so spaßhaft rührende Scene des Wiedersehens ausführte, daß sein Herr durch allen Aerger, Verlegenheit und Eifersucht hindurch auf einmal lachen mußte. Da er aber ein munterer Bursch und die beste Seele von der Welt war, hatte er nun auch die Selbstüberwindung, das einmal gebrochene Eis nicht wieder zufrieren zu lassen.

Liebe Molly, sagte er, wir wollen es uns nur alle drei eingestehen, daß Jeder dem Andern sehr ungelegen gekommen ist. Du – oder Sie, verbesserte er sich eilends, haben zu schreiben vorgehabt, und ich zu reden, und, wie mir scheint, hat mein alter Kamerad, der Fritz, auch etwas sagen wollen, was der Mensch nur unter vier Augen über die Lippen bringt, und nun stehen wir beisammen und Jeder wünscht den Andern zum Teufel, das heißt dich – oder Sie natürlich nicht, sondern ich den Fritz, und der Fritz mich. Aber da Keiner hier seinen Posten gutwillig räumen wird, und morgen wir beide, wie ich vermuthe, andere Dinge zu schaffen haben, so will ich mir herausnehmen, was wohl der Drang solcher Umstände entschuldigt, und Ihnen gestehen, liebe Molly, daß Sie schon lange zwischen uns alten Jugendfreunden bitterböse Feindschaft gestiftet haben. Mir hat das schwer aufs Herz gedrückt, und ihm wohl nicht minder, und es ist doch nicht zu ändern gewesen. Indessen weil es nun in den Krieg geht und Jeder vorher so was wie ein Testament zu machen pflegt, wär' es wohl gut und schön, wir trügen den alten Zwist mit einander aus, daß wir mit freiem Herzen im Kugelregen neben einander stünden. Und da kann Niemand besser dazu helfen, als du, liebe Molly, weil es eben um dich gekommen ist. Hier stehen wir Beide vor dir, und du kennst uns von Klein auf und wirst längst wissen, ob du Einen von uns lieber hast, als den Andern, oder uns Beide gleich viel und gleich wenig im Herzen trägst. Wenn du es uns nun sagtest, so wäre dem Uebel geholfen. Denn ich für mein Theil wenigstens gelobe, daß ich dem Fritz da, wenn er es sein sollte, nicht eine Stunde länger gram sein will, und wie ich sein ehrliches Gemüth allezeit gekannt, glaub' ich mich desselben auch von ihm versehen zu können. Nicht wahr, Fritz?

Damit schwieg er und fuhr sich mit der Hand über die erhitzte Stirn und lockte dem Vogel, während sein Freund sprachlos vor sich nieder sah und das tieferglühte Mädchen wie eine Bildsäule vor ihrem Tisch am Fenster stand. Ein Glück war's, daß der Vogel sich ins Mittel schlug und mit lustigem Flöten und Trillern die verlegene Pause ausfüllte.

Nun aber faßte sich das Mädchen ein Herz und erwählte das Klügste, indem sie einen Schritt auf die feindlichen Jugendfreunde zu that, ihnen beide Hände mit der lieblichsten Zutraulichkeit entgegenstreckte und sie, ohne die peinliche Frage sofort zu berühren, in alter Weise willkommen hieß. Als sie sich der beiden Hände bemächtigt hatte, näherte sie dieselben sacht und unwiderstehlich einander und sprach von dem großen Ereigniß des Tages, das alle Herzen bewege, und wie hoch und herrlich es sei, über dem Vaterlande sich selbst zu vergessen und in dem Einen Wunsch, Deutschland zu retten und zu rächen, alle eigenen Wünsche aufgehen zu lassen. Dabei hielt sie die Hände so tapfer und kräftig in den ihrigen fest, daß Jeder im Stillen glaubte, er sei der Rechte, obwohl sie selbst kein Arg dabei hatte. Denn die feierliche Stunde entzündete ihren Geist, daß sie wirklich am Ende den Anlaß des zwiefachen Besuches ganz vergaß und, so bescheiden sie sonst im Gespräche war, mit feuriger Beredsamkeit den heiligen Kampf und die glorreiche Zukunft vor ihnen aufrollte, als sei von ihr selbst und ihrer Wahl zwischen den Freunden überhaupt nicht die Rede gewesen. Ihr blühendes Gesicht war unter dem Gespräch, das endlich auch den schweigenden Fritz mit fortriß, immer verklärter geworden, so daß es den beiden Jünglingen, als sie nach einer Stunde die Lyceumstreppe, jetzt aber Arm in Arm, wieder hinabstiegen, ganz wunderlich war, als kämen sie auf einer Jakobsleiter aus überirdischen Gefilden zurück, wo sie mit einem Engelsbilde sich über die ewige Seligkeit unterredet hätten.

Auch waren sie viel zu bewegt, um sich sogleich zu trennen oder unter andere Menschen zu gehen, vielmehr schlenderten sie noch lange im alten Schulhof unter den Ulmen auf und ab, in jener doppelsichtigen erhöhten Stimmung, die Jeden anwandelt, der auf den Stätten seiner Knabenspiele Stunden ernster Entscheidung durchlebt, wo ihm dann die vergangene Zeit plötzlich wieder auflebt, und was damals noch Zukunft war, die Wirklichkeit von heute, hinter der gegenwärtigen Erinnerung sich fast zum Traum verflüchtigt. Der Wind sauste stark in den kahlen Baumwipfeln, ein feiner Regen kühlte endlich die Stirnen der Freunde, oben das Fenster, aus dem der Schlag des Kanarienvogels lange herabgeschmettert hatte, wurde verhängt und der Sänger still. Ich muß zu den Eltern heim, sagte der rothe Lutz. Höre, Fritz, was wird aber dein Vater sagen, wenn du mitgehst? Er soll immer noch der Alte sein.

Ich denke wohl, daß er's bleiben wird, sagte der Jüngling mit einer ernsten Miene. Ich aber bin auch der Alte geblieben, darauf verlaß dich! Ich habe über die Sachen seit Jahren schon kein Wort mehr mit ihm gesprochen, und er weiß doch, wie ich denke. Das Vaterland ist über allen Vätern. Gute Nacht, Lutz!

Sie drückten sich herzlich die Hände, und Jeder ging durch die trotz des Regens belebten Gassen nach seinem Haus. Das alte Lyceum stand wieder öde, nur in dem Musenstübchen des zweiten Stocks brannte ein Licht, bei dessen Schein das Jungfräulein die letzten Verse ihres Freiheitsliedes niederschrieb, während der Vogel neben ihr sich schon zum Schlafen zurechtgesetzt hatte.

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Ueber Nacht klärte sich der Regenhimmel auf, und die Bürger des guten Städtchens hielten ihren Kirchgang an einem Frühlingsmorgen, wie er nicht sonniger hätte aufgehen können, um die hoffnungsvoll begeisterten Herzen vollends zum Himmel zu erheben. Die alte Stiftskirche konnte den Zudrang nicht fassen. Bis weit aus den Markt hinaus stand in den offenen Pfordten gedrängt die Gemeinde, heute ohne allen Unterschied des Standes und Ranges, und kaum ist es zu viel gesagt, daß in den Häusern außer den Kranken nur Zwei zurückblieben, Monsieur Tourbillon, der Friseur, der nicht zur Kirche ging, weil er katholisch war und auch wenig deutsch verstand, und Franz Alzeyer, weil er keine Götter anbeten wollte als den Schlachtengott, dem er in Spanien sein Blut geopfert hatte.

Fritz aber war in die Kirche gegangen und stand neben seinem Freunde an die Thür gedrückt. Da sah er über die dicht gedrängten Köpfe hinweg nach einem blonden Mädchenscheitel dicht unter der Kanzel; denn mehr war von dem Jungfräulein nicht zu sehen. Aber die Gedanken des wackern Jünglings waren trotz dieser heimlichen Augenweide dennoch bei der großen Sache, von welcher der Stadtpfarrer sprach. Der alte Mann, der sonst wohl mehr sich selbst als seine Gemeinde erbaute, glühte heute von einem ungewohnten Feuer, das sein starker und streitbarer Text je länger er sprach zu desto helleren Flammen in ihm und den Zuhörern anschürte. Waren doch die Worte im zweiten Kapitel des ersten Makkabäerbuchs vom zweiundsechzigsten Verse an wie Prophetenworte erschollen, die da lauten:

»Darum fürchtet euch nicht vor der Gottlosen Trotz, denn ihre Herrlichkeit ist Koth und Würmer.

»Heute schwebt er empor, morgen liegt er darnieder, und ist nichts mehr, so er wieder zur Erde geworden ist, und sein Vornehmen ist zu nichte geworden.

»Derhalben, liebe Kinder, seid unerschrocken und haltet fest ob dem Gesetz, so wird euch Gott wiederum herrlich machen.«

Ueber diesen Text war gut predigen, denn die Erinnerungen eines Jeden predigten im Stillen mit, und die Hoffnungen eines Jeden sagten Amen. Und war nicht zur Hälfte schon das Prophetenwort erfüllt? Hatten sie ihn nicht emporschweben sehen und aus den Eisfeldern Rußlands darniederliegen, daß sein Vornehmen zu nichte geworden war? Und sie sollten zweifeln, daß auch das Letzte sich erfüllen und Gott sie wiederum herrlich machen werde? Aber der eifrige Prophetenmund, der ihnen von der Kanzel herabtönte, ließ auch eine Warner- und Weckerstimme erschallen und lenkte den Blick der Hörer von der Geschichte dieser Zeit in die eigene Brust zurück. Seid unerschrocken, lautete der Ruf, und haltet fest ob dem Gesetz, dann erst wird euch Gott wiederum herrlich machen. Denn ein heiliger Krieg sei es, in den sie auszögen, und heiligen müsse sich, wer des Sieges theilhaftig werden wolle. Nicht gottloser Trotz werde den Trotz der Gottlosen niederwerfen, sondern ein reiner demüthiger Sinn, der unter den Gräueln des Krieges festhalte ob dem Gesetz und sich nicht mit dem Koth beflecke, der die Herrlichkeit Jener gewesen sei. »Sieget erst über den Feind in euch selbst, auf daß ihr unüberwindlich werdet; machet euch würdig, für die große Sache zu sterben, auf daß ihr gewürdigt werdet, für die große Sache zu leben. Und so ziehet hinaus, ihr Jünglinge, und kämpfet einen guten Kampf mit guten Waffen, und ihr, Väter und Mütter, lasset eure Söhne ziehen und seid getrost; denn ob sie bleiben oder wiederkehren, sie werden festhalten an dem Gesetz, in welchem ihr ihre Jugend auferzogen habt, und was ihrer auch warten mag und wo ihr sie wiedersehen werdet, hüben oder drüben, ihr werdet sie in Freuden wiedersehen, denn Gott wird sie herrlich machen.«

Athemloser hatte nie eine Gemeinde ihrem Seelenhirten gelauscht und inbrünstiger niemals im stillen Gebet sich gesammelt, als da jetzt der ehrwürdige alte Mann seine dürren Hände erhob und über die Ausziehenden und Zurückbleibenden den Segen sprach. Auch war keine heilige Handlung jemals andächtiger begangen worden, als die, deren Schauplatz nun, nachdem Gesang und Orgel verstummt waren, das Gotteshaus wurde.

Drei Sessel standen vor dem Altar, ein Tisch mit Schreibgeräth davor, an welchem der Pfarrer zwischen dem Bürgermeister und dem preußischen Major Platz nahm. Fast die ganze Bürgerschaft blieb auf ihren Sitzen versammelt, und nur eine schmale Gasse öffnete sich zwischen den Kirchenstühlen, durch welche die freiwilligen Kämpfer einer hinter dem andern langsam dem Altar zuschritten, um dort ihre Namen aufzeichnen und sich mit einem Handschlag von dem Offizier anwerben zu lassen für den heiligen Krieg. Man hörte nichts während des ganzen stundenlangen Vorgangs, als die Namen der wackeren Söhne der Stadt und dann und wann ein unterdrücktes Weinen ihrer frommen Mütter, wenn der Gedanke an die überstandenen Nothjahre, an früher hingeopferte Kinder, oder auch nur an die Größe der feierlichen Stunde ihr Gemüth überwältigte.

Die beiden Freunde, der Sohn des Bürgermeisters und der lange Fritz, waren, da sie an der Thür gestanden, unter den letzten, die an den Altar heranschritten. Sie gingen neben einander, das Gesicht des rothen Lutz flammte von freudigem Jugendmuth, sein Waffenbruder sah mit stillerem Ernst vor sich nieder. Der Freund hatte so eben den Handschlag geleistet, nun trat Fritz an den Tisch heran und nannte seinen Namen, den der Major, mit Wohlgefallen die stattliche Gestalt betrachtend, niederzuschreiben im Begriff war, als eine unerwartete Störung ihn plötzlich die Feder senken ließ.

Man hörte nämlich einen hastigen, ungleichen Schritt und das Aufstoßen eines schweren Stockes durch die gelichteten Reihen der Gemeinde sich nähern, und unwillkürlich traten die Umstehenden zurück, als scheuten sie die Berührung mit dem unwillkommenen Eindringling. Es war freilich eine Gestalt, die in diesen Räumen und an diesem Tage zu erblicken sich Niemand hätte träumen lassen: der alte Parteigänger jenes Erzfeindes, gegen den die Feldpredigt des Makkabäerworts erschollen war. Was führte Franz Alzeyer, den Abtrünnigen und Vaterlandsfeind, in diese Versammlung? Die unheimliche Frage schwebte auf allen Angesichtern; auf dem des Sohnes aber stand eine Blässe, die von einer düstern Ahnung sprach. Er war unwillkürlich einen Schritt zurückgewichen und sah mit einem Blick tödtlichen Schreckens dem Alten entgegen, der bis dicht an den Tisch vortrat und mit militärischem Anstand den Major begrüßte.

Aller Augen waren auf das graue Haupt gerichtet, das mit eiserner Starrheit auf den breiten Schultern saß. Der Alte trug die französische Uniform mit dem Bande der Ehrenlegion, die linke Hand an den Säbel gelegt, die rechte auf den Stock aufgestemmt; die Narbe über der Stirn, die dunkelroth zwischen dem grauen Haar verlief, gab der Erscheinung etwas Wildes und Gefährliches, so daß selbst der Bürgermeister, der sich in seinem Sessel erhoben hatte, das Wort, das ihm auf den Lippen schwebte, nicht vorbringen konnte.

Auch dem Alten freilich stockte die Rede. Er blickte den Sohn nicht an, noch die Männer, die hinter dem Tisch saßen; er hatte das Auge auf seine Uniform gesenkt und betrachtete das Ehrenzeichen auf seiner Brust. Endlich aber schien er sich zu besinnen, weshalb er gekommen sei, warf einen durchdringenden Blick auf den fremden Offizier und sagte mit lauter, durch die ganze Kirche vernehmbarer Stimme:

Herr Major, Sie haben einen Namen auf Ihrer Werbeliste verzeichnet, den ich auszustreichen bitte. Franz Alzeyer hat sein Blut nicht für den großen Kaiser vergossen, um zu erleben, daß Fritz Alzeyer auf die Fahnen schießt, unter denen sein Vater gesiegt hat. Mein Sohn ist minderjährig, und der Herr Bürgermeister wird mir bezeugen, daß ich nur mein Recht wahre, wenn ich diesen Rekruten zurückverlange. Ich befehle ihm, die Kirche mit mir zu verlassen und abzuwarten, was ich ihm weiter zu sagen habe.

Als er das gesprochen, wollte er kurzweg Kehrt machen und den Rückzug antreten; aber da er die hundert entgeisterten Augen auf sich gerichtet sah, schien es ihm selbst nicht ganz geheuer zu sein und er blieb wieder stehen und sah jetzt zu seinem Sohn hinüber, der wie eingewurzelt am Kirchenstuhl lehnte und nur mit einem furchtbaren Auge den Mund anstarrte, aus dem diese vernichtenden Worte erschollen waren. Und jetzt faßte sich der Bürgermeister zuerst und begann dem Franz Alzeyer kräftig ins Gewissen zu reden, daß er freilich wohl das Recht habe, zu handeln, wie er gesagt, daß aber dieses Recht in dieser Zeit auszuüben das schwerste und ein dreifaches Unrecht sei, nämlich gegen das Vaterland, gegen den Sohn und gegen ihn, den Franz Alzeyer, selbst. Denn er werde hinfort mitten unter seinen Mitbürgern wie ein Geächteter und Aussätziger leben, wenn er dieses Vorhaben ausgeführt, das keine Reue je wieder gut machen könne, und so vernichte er mit der Zukunft und Hoffnung seines Sohnes die eigene, und weder Gott noch Menschen würden es ihm je verzeihen können.

Der starre Mann hörte dem Allen zu, ohne eine Miene zu verziehen. Nur die Narbe überm Schädel wurde immer dunkler, und unwillkürlich hob er zuweilen den Stock und stieß ihn gegen den Estrich der Kirche, daß es schallte.

Herr Bürgermeister, sagte er jetzt, Sie reden, wie Sie's verstehen, und nun lassen Sie mich auch reden, wie ich es verstehe. Wissen Sie so accurat, was der liebe Gott verzeihen wird und was nicht? Haben Sie einen aparten deutschen lieben Gott, der jetzt auf einmal mit den Franzosen und ihrem großen Kaiser brouillirt ist, nachdem er ihnen lange Zeit beigestanden, die Welt zu überwinden? Ich meine, es sei noch derselbe, der Seine Majestät Kaiser Napoleon den Großen in die Welt geschickt hat, um zu zeigen, was ein einziger großer Mann ausrichten könne, wenn die übrige Menschheit die Schlafmütze über die Ohren gezogen hat. Warum soll es jetzt auf einmal gottlos sein, zu Hause zu bleiben, wenn die Hasen sich aufmachen, um den Löwen zu jagen? Sie reden so viel von einer heiligen Sache, für die das junge Volk ins Feld ziehen solle. Aber ich habe auch eine heilige Sache, und ich müßte mir das Band von der Brust reißen, das mir mein Kaiser selbst darauf geheftet hat, wenn ich leiden wollte, daß mein eigenes Blut mitzöge, um gegen den großen Mann einen Bubenstreich auszuführen, jetzt da Unglück über ihn gekommen und Wasser und Feuer ihm ein großes Heer hingerafft haben. Als ihm noch nichts Menschliches widerfahren war, da war hier Alles still von der heiligen Sache, da bettelten wir um seine Gnade und Freundschaft und der deutsche liebe Gott wurde nicht mit Predigen und Liedersingen incommodirt. Da war Alles froh, daß es in der alten ledernen Langeweile und Duckmäuserei so fortging, und wenn euch jetzt – und er erhob den Blick über die ganze Gemeinde, die in den Kirchenstühlen stand – wenn euch jetzt der Kamm schwillt, daß ihr mit dem großen Kaiser anbinden wollt, als wäret ihr seinesgleichen, so ist es nur, damit ihr hernach wieder die Bärenhäuter werden könntet, die ihr vorher gewesen seid, und nicht über eure Nase hinaus in die Welt zu sehen braucht, wenn Andere sich rühren. Ja wohl, sagte er mit starker Stimme, da sich ein verhaltenes Murren hören ließ, die heilige Sache, um die es euch zu thun ist, das ist das Ofenhocken und Schoppenstechen, und die großen Männer, von denen ihr regiert sein wollt, sind die Polizei-Sergeanten und der Nachtwächter, und die großen Dinge, von denen ihr schwatzen mögt, sind Hochzeiten und Kindtaufen, und was darüber ist, das ist vom Uebel. Ihr hattet wohl einmal die Witterung, daß es noch etwas Anderes gebe, was über eure Köpfe hinausgehe, und als der erste Konsul seine ersten Schlachten schlug, da war er euch ein Wunderthier, das ihr gern für Geld gesehen hättet. Nun ist es euch auf die Länge unbequem geworden, daß ihr euch die Hälse verdrehen sollt, um zu ihm hinaufzusehen, und nun rottet ihr euch zusammen und schreit: Nieder mit ihm! und ruft euren lieben Gott zu Hülfe, weil ihr wohl merkt, daß ihr selbst nicht zu ihm hinauflangen könnt. Thut meinetwegen, was ihr nicht lassen könnt. Ich hab' euch auch bisher nicht daran gehindert, vielmehr schon lange wie ein »Geächteter und Aussätziger« unter euch gelebt. Aber mein Haus ist mein, und mein Blut gehört mir; und ich wenigstens will es nicht erleben, daß ein Alzeyer mit darunter sei, wenn der Löwe die Hasen heimschickt mit blutigen Köpfen, wie sich's gebührt und wie's nicht fehlen kann, so lange Hasen Hasen sind und der Löwe der König und Kaiser aller vierfüßigen Kreatur. Dies hab' ich sagen müssen, und jetzt komm nach Hause, Fritz; die Suppe wird kalt! –

Das war auch eine Predigt, wenn auch über einen Text, der in keiner deutschen Bibel stand. Und die Anfangs gemurrt hatten, schwiegen jetzt mäuschenstill, denn es war viel Wahres in den bösen Worten, und Jeder sah auf den Bürgermeister und den Pfarrer, ob sie nicht den Mund aufthun würden, Wahres und Falsches zu sondern und den unberufenen Einsprecher zu widerlegen. Auch wollte der Bürgermeister, ein heftiger Mann, dem längst die Zornader geschwollen war, so eben das Wort nehmen, als der Pfarrer es ihm abschnitt. Der ehrwürdige Greis hatte, während der Vater redete, beständig auf den Sohn geblickt, der wie von Sinnen dreinstarrte, für den Zuspruch seines Freundes taub schien und eben jetzt mit einer gewaltsamen Antwort loszubrechen drohte, als sich der Stadtpfarrer erhob und kraft seines Amtes ermahnte, den ärgerlichen Hader nicht länger innerhalb dieser Mauern fortzuspinnen, sondern den Frieden des Gotteshauses zu ehren. Fritz Alzeyer, sagte er, sei dessen eingedenk, was du heut von der Kanzel herab vernommen hast: Halte fest ob dem Gesetz, und wenn du deinen Vater nicht bewegen kannst, von seinem harten und ungerechten Willen abzustehen, so erinnere dich, daß du vor Allem deinen Vater zu ehren hast, auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden, und daß es keinem Sohne jemals Schande bringt, seinen Vater zu ehren, selbst wider die edelsten Wünsche des eignen Herzens. Und das wisse, Fritz, daß wenn dein Vater, wie ich nicht hoffen mag, sich wirklich gegen die Stimme des ganzen Vaterlandes verstocken und dich zurückhalten sollte vom heiligen Kampf, daß du dann auch zurückbleibend mitkämpfest, einen Kampf, in dem zu siegen Gott nicht minder wohlgefällig ist, ja daß er auch dich herrlich machen wird nach aller Trübsal, so du nur fest geblieben bist ob dem Gesetz. Amen! –

Der Jüngling zuckte zusammen, als dies Amen erklang. Dann richtete er sich auf und ging hinter dem Vater, der mit ungerührter Miene den Heimweg antrat, durch die Reihen seiner Mitbürger, aus denen hundert Blicke des herzlichsten Mitgefühls ihm folgten. – –

Ueber den Glanz dieses Tages war ein Schatten gefallen, das fühlte Jeder. Mochten auch die Hausväter bei Tische sich und ihren Söhnen, die das letzte Sonntagsmahl im Kreise der Ihrigen genossen, die Predigtworte des Makkabäertextes zurückrufen und Jeder seine eigne vaterländische Hausandacht daranschließen – auch die dreisten Anklagen und höhnischen Prophezeihungen der Gegenpredigt klangen Allen noch im Ohr, und es war ein Zeugniß für den wackeren freundnachbarlichen Sinn, der in dem Städtchen heimisch war, daß selbst die abendliche Vereinigung aller jungen Kämpfer im Rathhaussaal, wo sie ein bewegtes Abschiedsbankett feierten und von Eltern und Vorgesetzten ihnen zugetrunken ward, nicht über die Verstimmung des Tages völlig hinweghalf. Des armen Fritz Alzeyer Name ward oft von Mund zu Mund geraunt, und ein Zorn wuchs an gegen den unnatürlichen Vater, daß diesem wohl eine böse Lection zu Theil geworden wäre, wenn er sich irgend wo hätte blicken lassen.

Es bekam ihn aber Niemand zu Gesicht, nicht einmal der rothe Lutz, der sich im Zwielicht ins Haus schlich. Das Käthchen hatte wieder seinen schwermüthigen Tag und schloß sich hastig vor dem Jugendfreunde ein. Oben in dem Mansardenzimmer fand er den langen Fritz. Sie fielen sich stumm um den Hals, der rothe Lutz mit verbissenen Thränen, der Andere, wie es schien, ganz entschlossen und abgekühlt. Verlaß dich drauf, sagte er, ich komme euch nach. Der Pfarrer hat gut reden; mit seinen weißen Haaren wollt' ich mir auch getrauen, den Kampf zu kämpfen, zu dem er mich ermahnt hat. Jetzt fühl' ich nur, daß ich dabei zu Grunde gehen würde. Ich will freilich festhalten ob dem Gesetz. Aber hier steht Ein Gesetz gegen ein anderes, das eine ist menschlich, das andere unmenschlich. Das unmenschliche kann Gottes Wille nicht sein. Geh zu den Andern, Lutz, sag aber Keinem, was ich dir gesagt, ich führ's schon hinaus, und ist's nicht morgen, so dauert's doch keine drei Tage, so bin ich bei euch. Auf Siegen oder Sterben, Lutz, und »Das Vaterland sei unser Stern und leucht' uns vor, wir folgen gern,« – wie es die Molly so schön gedichtet hat. – Kannst sie grüßen, Fritz, erwiederte bewegt der Freund. Ich gehe natürlich ohne Abschied von ihr. –

So hatten die beiden treuen Kameraden droben in der Dachkammer mit einander ausgemacht und waren dann geschieden. Aber es mußte was Unheilvolles dazwischen gekommen sein. Denn vielmal drei Tage verstrichen, ohne daß sich das Wort des Zurückgebliebenen erfüllte. Die Anderen zogen unter dem Geläut aller Glocken und vielen Thränen und Segenswünschen des ganzen Städtchens am Montag in der Frühe durchs Thor, langten nach einem eiligen Marsche bei dem Bülowschen Corps an und schrieben nach Hause, welch ein schlachtenfreudiger Geist durch das ganze Heer wehe, und wie schöne Lieder sie sängen, und an die Molly schrieb der rothe Lutz einen langen Brief, worin nichts von Liebe stand und viel vom Vaterland, und wie er ihre Gedichte Abends beim Wachtfeuer aus seiner Brieftasche vorlese, und zwei oder drei, die auf bekannte Melodieen paßten, würden auch gesungen, und Keiner wolle glauben, daß sie ein Mädchen gedichtet habe. Ferner schrieb er von seinem Kanarienvogel, der ihm nachgeflogen, als sie ausmarschirten, und immer unterwegs auf seiner Schulter sitzen geblieben sei, des Nachts aber neben ihm auf dem Flintenlauf bivouakire und, wenn's weiter gehe, lustig mit drein schmettre in die Regimentsmusik. Am Schluß fragte er nach dem langen Fritz, was denn aus ihm geworden sei, und ließ ihn grüßen und an die Abrede erinnern.

Aber Gruß und Auftrag blieben unbestellt. Denn seit jenem Sonntage war das Haus des Meister Alzeyer wie ausgestorben, und selbst die Magd, wenn sie zu Markte ging, die Einkäufe zu machen, schwieg wie das Grab auf alle geraden oder krummen Fragen. Die beiden Gesellen, die der Alte noch beschäftigt hatte, waren unter den Freiwilligen mit ausgerückt, der Meister selbst ließ Niemand ein, als Monsieur Tourbillon, mit dem er trank und Ecarté spielte, und wies sogar den Besuch des Stadtpfarrers ab, der sich gedrungen fühlte, seinem Beichtkinde, dem langen Fritz, geistlichen Zuspruch zu bringen. Von diesem und seiner Schwester, dem schönen Käthchen, war durchaus nichts mehr zu sehen noch zu hören.

Und so blieb es über den ganzen Sommer. Die ersten Siegesnachrichten kamen und wurden mit Jubel und Freudenschüssen, mit Glockengeläute, Tedeum und Illumination gefeiert. Nur Franz Alzeyer's Haus blieb dunkel und still. Im September endlich – die Schlacht bei Dennewitz war eben geschlagen und die braven Jungen des Städtchens hatten sich Ehre und Wunden erworben, und der rothe Lutz hatte an seinen Vater geschrieben, daß er zum Lieutenant avancirt sei, und der Molly sagen lassen, wie sich der Kanarienvogel so tapfer gehalten und sich mitten in der Schlacht auf eine Kanone gesetzt und Kriegslieder gesungen habe – da lief noch ein anderes Gerücht von Haus zu Haus: das schöne Käthchen werde vermißt, und vor Tage schon sei ihr Bruder mit Monsieur Tourbillon in großer Verstörung auf und davon gezogen, nach dem armen Kinde zu suchen. Vier Wochen blieben sie fort, dann hieß es, sie seien zurückgekehrt, aber ohne eine Spur der Verlorenen gefunden zu haben. Es fiel jetzt erst den mitleidigen Seelen ein, wie das Mädchen, nachdem die beiden Franzosen das Haus des Franz Alzeyer verlassen, ganz tiefsinnig geworden war und kaum noch ein Wort geredet hatte. Viele sprachen von dem Zorn des Himmels, der die Sünden der Väter an den Kindern heimsuche, aber wenn man es auch dem Vater gönnte, – das Schicksal des schönen jungen Geschöpfes und nicht minder seines wackern Bruders ging Allen zu Herzen. Und wieder sah man den Stadtpfarrer in das Haus des Meerschaumschnitzers gehen und wieder den ehrwürdigen Greis unverrichteter Sache herauskommen, da die Thür des Franz Alzeyer nach wie vor verschlossen blieb.

Es wird Niemand wundern, daß dieser traurige Vorfall dem hochherzigen Rectorskinde die schöne Siegesfreude verbitterte. Sie hatte ja ihre liebste Jugendgespielin verloren und wußte überdies nur zu wohl, wie es in der Seele ihres Jugendfreundes, des langen Fritz, aussehen mußte. Also überwand sie alle Scheu und schrieb dem armen, doppelt schwer Geschlagenen einen langen herzlichen Brief, den sie der Magd zu bestellen gab. Das Blatt kam uneröffnet zurück, nicht durch den Vater abgewiesen, sondern durch ihn selbst, an den es gerichtet war. Er hatte der Botin nur einen mündlichen Dank aufgetragen und dabei so wunderliche Augen gemacht, die Magd konnte gar nicht aufhören, zu klagen und zu jammern, wie der schöne junge Mensch verwandelt anzuschauen sei, seine eigene Mutter, wenn sie plötzlich aus dem Grab aufstünde, würde ihn nicht wiederkennen. – Die blonde Molly hörte diesen Bericht mit einem tiefen Seufzer, verschloß sich in ihr Stübchen und kam nach vielen Stunden ebenfalls wie ein Schatten mit trüben Augen und blassem Gesicht wieder zum Vorschein.

Dies Alles, wovon man früher in der redseligen Langenweile des guten Städtchens viel Wesens gemacht und ohne Ende geschwatzt hätte, fiel jetzt nur Wenigen auf, da der Sturm, der befreiend und verjüngend durch die deutsche Welt fuhr, alle kleinen Nöthe, Armseligkeiten und spießbürgerlichen üblen Gewohnheiten wie Spreu hinwegstäubte. Die großen Schlachten wurden geschlagen, der Rheinübergang schwellte alle Herzen mit stolzem Triumph, und als endlich die große Zeitung vom Einzug der Verbündeten in Paris erscholl, da stieg der greise Stadtpfarrer wiederum unter einem endlosen Zudrang der Gemeinde auf die Kanzel und predigte über denselben Text des Makkabäerbuches, indem er die Schicksale des Einen gewaltigen Jahrs vorüberziehen ließ und Gott Preis und Dank darbrachte, daß er das Prophetenwort erfüllt und die Kämpfer, die festgehalten an dem Gesetz, wiederum herrlich gemacht habe.

Freilich war die Herrlichkeit so Mancher, die mitgestritten, nicht mehr von dieser Welt, und nicht alle Thränen süß, die unter der Predigt floßen. Als aber im Hochsommer die Söhne der Stadt, von ihrem heimgekehrten Corps beurlaubt, feierlich von der ganzen Bürgerschaft eingeholt wurden, überwog dennoch der Jubel das Weh, und selbst von den Vätern und Müttern, die den Sieg mit einem theuren Opfer bezahlt hatten, blieb Niemand zurück aus Neid gegen die Glücklicheren. Wohl war es ein Tag, den mitzuerleben hoher Opfer werth war, ein Anblick, der in keines Menschen Erinnerung je wieder erlöschen konnte, wie durch den Triumphbogen von grünen Tannenzweigen Alt und Jung hinauszog, fast eine Stunde weit vor die Stadt, und das tapfere Häuslein ihnen entgegen den Hügel herab mehr rannte als ging, schwebende Kränze an den Bajonetten, die Brust mit manchem Ehrenkreuz geschmückt unter den Sträußen, die man unterwegs schon ihnen angesteckt, und dabei die sanfte Friedensmusik und drüben vom Städtchen herüber die uralten Glocken, die so stürmisch noch nie sich geschwungen hatten, und der erstickte Freudenschrei, mit dem die Sieger ihre Reihen auflös'ten, um den Ihrigen an den Hals zu stürzen. Mitten in dem Tumult aber saß der treue Freiheitskämpfer, der kleine Kanarienvogel, still und ernsthaft auf der Schulter seines Herrn und schien nach so viel großen Dingen, die er miterlebt und mit seinem Gesang begleitet hatte, jetzt erst nachdenklich geworden zu sein und Angesichts der heimathlichen Stadtmauern und grauen Thürme wie vor einem Räthsel zu verstummen.

Sein Herr, der rothe Lutz, so frisch und blühend sein männlicher gereiftes Gesicht unter der Feldmütze hervorsah, war ebenfalls einer der Stillsten. Er schien sogar kaum zuzuhören, als die blonde Molly an der Spitze der anderen Jungfräulein mit lieblichem Erröthen einen gereimten Festgruß sprach, worauf jedes der schönen Kinder einen der Heimgekehrten bekränzte und der Stadtpfarrer mit einer kurzen Ansprache sie segnete, die so Viel erstritten und so Großes dem Himmel zu danken hatten. Als darauf die beiden Züge in bunter Zerstreuung sich durch die Stadt ergossen, hatte der junge Lieutenant nichts Eiligeres zu thun, als auf sein Studentenstübchen zu gehen, Kränze, Massen und Montur abzulegen und in einem unscheinbaren Civilanzug einen Schleichweg zwischen Mauer und Graben einzuschlagen, der ihn ungesehen nach dem Hause Franz Alzeyer's führte. Es war schon gegen Abend geworden; die Hinterthür, die nach dem Wall hinausging, stand der kühleren Luft offen. Mit Herzklopfen, wie er es vor keiner Schlacht gefühlt, trat er in den Flur, wo die Magd, erschrocken, da außer dem alten Franzosen längst kein Besucher mehr hier vorsprach, von ihrem Spinnrade aufstarrte und den Faden aus der Hand fallen ließ. Der Jüngling nickte ihr hastig zu, legte den Finger auf den Mund und stieg auf den Zehen an ihr vorbei, die enge alterthümliche Treppe hinauf, wo er von den Knabenspielen her jeden Winkel kannte. Auf dem Absatz des ersten Geschosses stand er still, denn er hörte ein tiefes Athmen aus der mittleren Stube, die einst das Familienzimmer gewesen war. Auch hier war die Thür, der Hitze wegen, halb offen; er konnte schon von der Treppe aus ein großes Stück des inneren Raumes übersehen. Da sah er den Meister Franz am Tische sitzen, vor ihm ein halbes Dutzend leere Weinflaschen und eine halbgefüllte, aus der sich eben Monsieur Tourbillon sein Glas von Neuem voll schenkte. Er dampfte dazu aus einem großen Meerschaumkopf und sah mit gläsernem, dummtrotzigem Blick in den blauen Rauch. Der Meister aber, der, wie sonst nur an hohen Festtagen, heute die französische Uniform trug, hatte die Hand mit der Pfeife auf den Tisch gelegt, die andere Hand hielt mechanisch das Glas noch fest, das Gesicht aber war auf die Brust gesunken, und schwere Athemzüge ließen erkennen, daß er endlich seine Absicht erreicht und sich für den Festjubel seiner Mitbürger draußen auf einige Stunden taub gemacht hatte.

Den Jüngling, der auf dem Treppenflur stand, überlief es schauerlich, diesem Schlafenden gegenüber. Er seufzte tief auf und mußte sich eine Weile sammeln, ehe er vorbei konnte. Dann stieg er weiter bis zu der Kammer hinauf, in der das schöne Käthchen seine unschuldige Jugend verlebt hatte. Und wieder mußte er stehn und sein Herzklopfen bemeistern, ehe er Athem und Muth gewann, das sauerste Stück des Weges, die Stiege zu der Mansarde, hinanzuklimmen.

Nun stand er endlich oben und hörte, daß es ganz still drinnen war, und hundert bange Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Als er dann aber die Thür öffnete und über die Schwelle trat, stand der lange Fritz mitten im Zimmer, dem Eintretenden zugekehrt, als habe er ihn längst erwartet, und sagte mit einer stillen Stimme: Guten Abend, Lutz! Es ist schön von dir, daß du kommst, ich habe es wohl gewußt – und hielt ihm dabei die Hand hin, ohne sich vom Fleck zu rühren. Dem Lutz fiel ein Stein vom Herzen, aber freilich vergaß er über dem Erstaunen, daß er ihn so ruhig fand, alles, was er sich zu sagen vorgenommen hatte, um ihn zu beruhigen; und so nahm er schweigend die Hand des Schweigenden in seine Hände und drückte sie, als wollte er sie nie wieder loslassen, und sah dabei seinem alten Kameraden forschend ins Gesicht. Da erschrak er freilich noch tiefer, denn es kam ihm vor, als würden ihm diese wohlbekannten Züge, je länger er sie betrachtete, desto fremder, und er mußte mit einem tiefen Schauder an das Gesicht eines Menschen denken, der einmal scheintodt im Sarge gelegen und grade noch aufgewacht war, als man ihn in das Grab versenken wollte, und davon sein Lebtag einen schmerzlichen abgeschiedenen Zug um Mund und Augen behielt. Wie sich der Lutz endlich umsah in der niedrigen Mansarde, in der sie nur eben aufrecht stehen konnten, ward's ihm schwül und furchtbar, als wie in einer Todtenkammer. Komm hinaus, sagte er hastig; wir wollen zu den Hügeln drüben, oder den Wall entlang. Es ist keine gute Luft hier.

Der Fritz schüttelte den Kopf, immer mit dem stillen todtmüden Gesicht. Ich bin diese Luft gewöhnt, sagte er. Aber du sollst sie nicht lange athmen, du hast was Besseres zu thun. Ich habe dir nur was zu sagen, setz dich ein wenig, ich mache die Balkonthür auf, da ist's frischer.

Es ist nicht meinetwegen, antwortete der Andere verwirrt. Aber du solltest nicht so stille sitzen. Ich meine auch, du arbeitest zu viel. Da ist ja ein ganzer Schrank voll Schnitzsachen.

Und er trat an den Schrank heran, um seine Bewegung und die vorbrechenden Thränen zu verbergen.

Hast Recht, sagte der Fritz gelassen vor sich hin, ich habe zu viel gearbeitet dies Jahr, ich will mich nun auch zur Ruhe setzen, ich bin ja alt genug. Ich hätte mir auch schon früher einen Feiertag gemacht, aber es ging nicht, ich hätte nicht ruhig schlafen können, ehe ich mit dir gesprochen. Denn es giebt Dinge, von denen man hernach träumt und die müssen erst von der Seele herunter.

Es war herzzerschneidend, wie ihm Wort für Wort von den Lippen fiel, als läse ein Fremder sein Vermächtniß dem Freunde vor. Und dabei stand er immer mitten im Zimmer, den Rücken gegen die Balkonthür gewendet, durch deren Scheiben der glühende Abendhimmel hereinsah.

Ich hab' dir's schreiben wollen, fuhr er endlich fort, hab' es aber nicht aus der Feder gebracht. Auch in fremde Hände hätt' es nicht kommen sollen. Die Uebrigen mögen denken was sie wollen, aber dir hatt' ich's gelobt, daß ich nachkommen würde, und du solltest nicht denken, ich sei über Nacht ein Feigling und ein Verräther geworden.

Alles hab' ich gedacht, aber das nicht! braus'te der andere auf, der unstät in dem kahlen Gemach herumging. Es war nicht dein Ernst, Fritz; sag's nicht noch einmal; 's ist mir weh genug ohnehin, denn du weißt noch nicht Alles, was ich – – und damit stockte er mitten im Satz.

Fritz schien es ganz zu überhören. Siehe, sagte er, von diesem Balkon aus hab' ich euch vor Jahr und Tag abmarschieren sehn in der Frühe, und blieb ganz guter Dinge dabei; denn nur einen Tagemarsch wollt' ich euch Vorsprung lassen und dann die Nacht zu Rathe halten, daß ich vor Morgengrauen bei euch wäre. Und ich spielte meine Rolle, wie ich meinte, aufs Beste, war im Hause wie sonst bei meinen Geschäften, auch zu Tische nicht anders als sonst. Was ich vorhatte, wußte kein Mensch, nicht einmal die – Schwester, wollte er sagen, schluckte das Wort aber hinunter und sagte nach einer Pause: Ich muß es doch nicht klug angefangen haben. Denn wie ich zwischen Elf und Mitternacht mein Bündel fasse und die Thür leise aufmache, um hinabzuschleichen auf den Socken – die Schuhe trug ich in der Hand, – da seh' ich unten im Flur den Vater stehn, und der Mond schien ihm gerade aufs Haupt, und die Narbe war schwarz, wie geronnenes Blut, und er stand in seiner Uniform und auf den Stock gestützt, so steif und gelassen, wie eine Schildwach auf Posten. Ich bin einen Augenblick unschlüssig worden, hernach hab' ich gedacht, es ist vielleicht besser so, als wenn's heimlich und hinter seinem Rücken geschähe. Also bin ich die Treppe hinuntergegangen und habe stracks und geradewegs an ihm vorbeigehen wollen, auch gute Nacht zu ihm sagen, aber einen Ton aus der Kehle zu bringen, war mir unmöglich. Und wie ich eben vorüber will, hält er mir seinen Stock vor und ruft ganz laut: Qui vive? Da stand ich still, sah ihn fest an und sagte: Sie werden mich nicht zurückhalten, Vater; Sie haben keine Macht dazu; treiben Sie mich nicht weiter in die Verzweiflung, denn es giebt ein Maß und ein Ziel in Allem und auch im Befehlen und Gehorchen – und was ich sonst noch sagte, um in Gutem von ihm loszukommen. Bei alle dem hatte er immer seinen Stock querüber gegen das Treppengeländer gestemmt und sagte keine Silbe. Und war es diese kaltblütige Stille, oder die französische Uniform, oder all die Bitterkeit, die ich in der Kirche hinabgewürgt hatte – auf einmal packt mich's wie Wahnsinn, daß ich seinen Stock mit der Faust wegschlage und den Fuß auf die Treppe setze. Und in dem Augenblick fühl' ich einen Schlag auf meinen Nacken, ich weiß nicht, ob mit der Hand, oder mit dem Stock, und besinnungslos, wie ich war, schlag' ich blindlings zurück mit der Faust, in der ich die Schuhe trug, und fühle mich gepackt und zurückgezerrt und schreie noch: Vater, Gott verzeih's Ihnen und mir! und will ihn von mir stoßen, da verliert er das Gleichgewicht und stürzt die Stufen hinunter, die acht oder zehn, und mit dem Kopf gegen die Mauer, daß er mit einem dumpfen Aechzen liegen blieb.

Die Stimme versagte dem Fritz, als er so weit gekommen war; sein Freund hörte, wie er die Zähne zusammenpreßte, daß sie knirschten, und indem fing draußen eine Schaar junger Leute, die wohl vom Festwein angeregt sein mochten, das Schiller'sche Reiterlied an zu singen, und dazwischen Vivatrufen und Freudenschüsse, und Alles hallte schauerlich wieder zwischen den Wänden des niedern Dachzimmers. Erst als der Schall sich entfernt hatte, fing der Fritz wieder an:

Ich hab' ihn aufgehoben und in sein Zimmer hinuntergebracht; es war ihm nicht viel geschehen, nur daß er plötzlich ganz sanft geworden war und mir weder ein böses Wort noch einen unfreundlichen Blick gab. Ich zündete ihm sein Licht an und stellt' es auf den Tisch, während er wie abwesend im Lehnstuhl saß. Da sah ich erst auf seiner kahlen Stirn dicht unter der Narbe die rothe Spur; alle Nägel, mit denen meine Schuh beschlagen waren, hatten sich eingedrückt; es blutete nicht, aber es brannte mir in die Seele, das entsetzliche Maal. Und wie ich so hinstarre, fallen mir die Worte wieder ein, die der Pfarrer am Morgen von der Kanzel herab gesprochen, daß es ein heiliger Krieg sei, in den wir auszögen, und daß sich heiligen müsse, wer hoffen wolle, den Sieg davon zu tragen. Und da war mir's auf einmal klar, daß ich Kampf und Sieg verscherzt hatte, denn ich hatte die Hand gegen den eigenen Vater aufgehoben und meine gute Sache entheiligt. Und ich wußt' es wohl, jetzt konnte ich frei hinausgehn, Niemand hielt mich; aber die Schuhe, die das Maal zurückgelassen auf dieser Stirne, waren unwürdig, eine Siegesbahn zu wandeln, und kein Schlachtenlärm und Victoriaschießen konnte die Stimme in mir übertäuben, die mir zurief: du hast dich selbst geschändet und bist nicht werth, für das Vaterland zu sterben!

Er schwieg wieder eine Weile und wandte sich dann zu dem Freunde um, der erschüttert in der Thür lehnte. Du weißt nun Alles, sagte er; mir ist etwas wohler, und was noch kommen muß, wird mich ruhiger finden. Gehe aber jetzt, Lutz. Du kannst mir nichts sagen und helfen. Sei auch nur getrost und glaube nicht, mir sei der Lärm und Jubel draußen zuwider. Ich freue mich wahrhaftig, daß ihr's so herrlich hinausgeführt habt; ich wäre ja ein Elender, wenn mich's um meinethalb grämen sollte. Das Vaterland ist frei, es kann mich schon missen. Was nun aus mir werden wird, kümmert mich wenig; schlimmer wird's doch nicht mehr. Geh jetzt in die Stadt hinunter und nimm mir's nicht übel, daß ich dir den schönen Tag mit der bösen Sache verdorben habe. Du bist nun einmal mein Freund, daran ist nichts zu ändern. Und höre, sagte er, damit du siehst, daß ich's ehrlich meine mit der Freude an euerm Sieg – du könntest mir noch einen Gefallen thun. Ich habe von unsrer Magd so was gehört, als wollten die Schüler ein Feuerwerk abbrennen auf den Abend. Da hab' ich mir ein Dutzend Raketen gemacht, sie liegen dort in der Schublade. Wenn du mir auf ein Paar Stunden dein Gewehr leihen wolltest, so könnt' ich hier von meinem Kerkerthurm aus mitfeuern. Es ist doch dasselbe Gewehr, mit dem du auf den Feind losgegangen bist? Nun siehst du, das wird mir eine Art von Freude machen, wenn ich mir einbilde, ich zielte auf die Unterdrücker. Du darfst mir's nicht abschlagen, Lutz; es ist die erste Freude seit einem ganzen Jahr. Und wenn du die Raketen steigen siehst, so denke dran, wie gute Kameraden wir allezeit gewesen sind, und wie wir's auch bleiben werden in alle Ewigkeit.

Jetzt erst sah er dem Freunde voll ins Gesicht, und das Starre seines Blicks wurde weicher. Auch hörte er ohne Einrede, nur zuweilen mit einem unheimlich wehmüthigen Kopfschütteln, Alles mit an, was der Treue ihm sagte, um ihm die Last dieses Schicksals vom Herzen zu wälzen; es schien aber, als dächte er an ganz andere Dinge, so daß der rothe Lutz endlich in großer Bekümmerniß verstummte und nachdem er versprochen, in einer Stunde wiederzukommen und das Gewehr mitzubringen, den armen Abgeschiedenen verließ.

Inzwischen war der Schläfer unten in der Trinkstube, von dem Freudenschießen und Vivatrufen aus der Gasse geweckt, in die Höhe gefahren und mochte wohl häßliche Träume gehabt haben. Denn obwohl ihm Zunge und Glieder schwer waren, trieb es ihn doch im Zimmer auf und ab, und er murmelte heftige Reden vor sich hin, Flüche gegen die halbe Welt, daß sie gegen Napoleon aufgestanden, und gegen die andere Hälfte, daß sie ihm nicht zu Hülfe gekommen sei, Lästerungen gegen Gott und das Schicksal, ja die grimmigsten Verwünschungen gegen den vergötterten Kaiser selbst, daß er wie ein Löwe angefangen habe, um nun auf dem elenden Felsen von Elba wie eine zahme Auster zu enden. Es war erbarmungswürdig, wie der finstere alte Mann seinen Götzen anklagte, daß er von ihm betrogen worden sei um Alles, was der Mensch zum Leben brauche, um einen Winkel, wo er ruhig sterben könne, ohne das verdammte Vivatschreien und Glockenläuten zu hören, um Kinder, ihm die Augen zuzudrücken, um den Glauben an etwas Großes in dieser armseligen Welt, für das sich's lohnte zu leben und zu sterben. Dabei schien es ihn nur noch mehr aufzubringen, daß sein Zechkumpan, der kindische alte Franzose, immer ganz einverstanden mit dem Kopf nickte und so wohlgefällig dazu lächelte, als erzähle ihm der Andere einen lustigen oder galanten Schwank. Er war eben im Begriff, ihn bei der Schulter zu fassen und ihm das alberne Grinsen zu verbieten, als er den rothen Lutz die Treppe herunterkommen sah und plötzlich in einen neuen Zorn verfiel. Holla! rief er überlaut und trat an die Schwelle des Flurs, ist's schon so weit mit mir gekommen, daß ich in meinem eignen Hause nicht mehr sicher bin vor diesen Marodeurs von der heiligen Allianz? Soll ich mir die Bremsen, die sich zusammengerottet haben, um das edle Schlachtroß todtzustechen, vor der Nase herumfliegen lassen? Ich werde einen Fliegenwedel brauchen – und damit erhob er seinen Stock – der mir's Haus fegen und die Luft rein machen soll. Hast du mich verstanden, Kamerad?

Der Jüngling zitterte vor Unwillen und sah ihm mit einem flammenden Blick ins Auge. Doch bezwang er sich noch hinlänglich, um mit gelassenem Ton zu sagen: Ich werde ihr Haus nicht wieder betreten, Herr Alzeyer, außer in einer Stunde zum letzten Mal, weil ich es dem Fritz versprochen habe. Wenn sie nicht sein Vater wären, hätte ich wohl noch eine andere Antwort. Aber da ich Ihnen doch einmal gegenüber stehe, will ich gleich einen Auftrag ausrichten, den mir eine Sterbende an Sie mitgegeben hat. Ich wartete gern eine bessere Stunde dafür ab; aber Sie selbst machen es mir unmöglich. Hier ist ein Brief an Sie von Ihrer unglücklichen Tochter, den sie am Tag vor ihrem Tode geschrieben hat. Und mündlich soll ich Ihnen einen Gruß sagen und die Bitte, die sie auch wohl geschrieben hat: daß Sie ihr den Kummer verzeihen möchten, den sie Ihnen durch ihre Flucht bereitet. Der Vater ihres Kindes, derselbe Lieutenant, den Sie hier verpflegten und der das Gastrecht so schändlich mißbraucht hat, ist bei Arcis gefallen; das Käthchen suchte mich auf am Tag nach unserm Einzug in Paris. Damals lebte das Kleine noch; als es gestorben war, hatte die arme Mutter nichts mehr auf der Welt zu thun, und vierzehn Tage darauf begleiteten wir Kameraden aus der Stadt auch sie zu Grabe. Nehmen Sie nun den Brief, Herr Alzeyer; ich habe Eile.

Der Alte hatte ihm zugehört mit militärisch gerader Haltung, als würde ein Tagesbefehl verlesen. Aber sein Gesicht veränderte sich so unheimlich, daß der Jüngling erschrak und die letzten Worte in viel sanfterem Ton sagte, als er angefangen. Fast bereute er jetzt, so plötzlich mit der Botschaft herausgefahren zu sein. Da nickte der Alte zweimal mit dem Kopf, nahm dem Lutz das Brieschen aus der Hand, sagte nichts weiter, als: C'est ça! grand merci! und kehrte sich um ins Zimmer hinein, dessen Thür er hinter sich zuwarf.

Und noch ein Anderer hatte die traurige Geschichte mit angehört, die freilich nur die alten finsteren Ahnungen bestätigte. Das laute Reden des Vaters hatte den Fritz oben in den Flur hinausgelockt, und erst wie er jetzt den Freund die Treppe hinuntersteigen sah, kehrte er in seine Haft zurück; die Gewißheit, daß auch dies Geschick sich vollendet habe, war der letzte Tropfen in die volle Schale seines Leidens. Er vergoß keine Thräne, er stand vielmehr mit einem Gefühl der Versöhnung und des Friedens an der offnen Thür des Altans, und es that ihm wohl, die Hügel drüben so schön in der Abendsonne glühen zu sehen und aus der Stadt das mannigfache Brausen des Festes herüberklingen zu hören. Erst als sich der Wald entfärbte und der Stadtgraben unten schwarz heraussah, trat er in das niedre Gemach zurück, setzte sich eilends an seinen Schnitztisch und schrieb ein paar Zeilen, die er dann in die Schublade legte, schloß einen Kasten aus, wo er Patronen verwahrte, mit denen er in früheren Jahren nach der Scheibe zu schießen pflegte, und prüfte sie, ob das Pulver noch trocken sei. Nun schlug es acht Uhr vom Thurm der Stiftskirche; die Stunde, nach welcher Lutz wiederkommen wollte, war verstrichen. Auch sah er drüben aus den Hügeln die ersten Vorläufer des Feuerwerks und die Freudenschüsse wurden zahlreicher. Es war aber still in ihm; was er thun wollte an diesem Tage, stand seit Monaten wie eine unabänderliche, aber nicht harte, vielmehr erlösende Nothwendigkeit vor seiner Seele.

Er hörte jetzt den Schritt seines Freundes wieder auf der Treppe und fühlte dennoch eine Bewegung, da er sich bewußt war, daß er ihn täuschen wollte. Er wagte auch nicht ihn anzusehen, als er hereintrat, sagte nur: Guten Abend! und fragte eine Weile später nur wie beiläufig, ob er das Gewehr auch nicht vergessen habe; das Feuerwerk sei bereits im Gang.

Vergessen nicht, erwiederte der Lutz, und die Stimme bebte ihm, aber es ist mir untersagt worden, es dir zu bringen.

Untersagt? Von wem?

's ist eine närrische Geschichte, Fritz, und du wirst, denk' ich, nicht böse darüber sein, aber als ich hier fort ging, trieb mich's, ich weiß nicht wie, nach dem Lyceum, und da bin ich hinaufgegangen, Molly einen guten Abend zu sagen, nicht daß ich noch wie sonst zu ihr stünde, wahrlich nicht. Im Pulverdampf ist mir die Liebe zerstoben, obwohl ich das Mädchen noch immer für die Krone ihres Geschlechts halte. Nur daß sie zu einer Frau für mich taugte, hab' ich mir vergehen lassen. Ich wollt' ihr den Vogel wiederbringen, er soll jetzt auf seinen Lorbern ausruhen in ihrer Pflege. Nun sprachen wir denn von Diesem und Jenem, und so ganz zufällig erzähl' ich ihr, daß ich dir die Flinte versprochen hätte, deine Raketen daraus loszubrennen. Und sie, wie sie denn so Einfälle hat, wurde todtenblaß, und ich konnte sie nicht eher wieder beruhigen, als bis ich ihr gelobte, die Flinte zu Haus zu lassen. Gott weiß, was sie sich dabei denken mag!

Er schwieg und schien eine Antwort abwarten zu wollen. Aber der Fritz saß vor seinem Tisch, das Gesicht in die Hände vergraben, und gab keinen Laut von sich.

Es ist mir heut erst aufgegangen, fuhr der Freund in einem fast muthwilligen Tone fort und schlenderte scheinbar in der besten Laune hinter dem Rücken des Schweigenden durchs Zimmer, – die Molly hat von Anfang an keinen Anderen lieb gehabt, als dich, und wenn ich dir an jenem Sonnabend nicht leider in den Weg gekommen wäre und hätte jenen albernen Spruch in unser Beider Namen nicht vorgebracht, so wäre längst Alles im Reinen zwischen euch. Aber so unter sechs Augen macht man die dummsten Streiche, die man unter vieren gar nicht zu Stande brächte. Und es war freilich ganz in der Ordnung von ihr, daß sie uns Beide so fein kaltblütig abfertigte, aber wenn sie damals gesagt hätte: Ich danke dir, Lutz, und »Ritter, treue Schwesterliebe« und wie's weiter heißt, aber zum Bräutigam will ich Niemand anders, als den Fritz – es wär' doch am Ende gescheiter gewesen und dieses Jahr minder traurig und einsam für dich. Nicht wahr, Bruderherz?

Damit trat er hinter ihn und legte ihm die Hand herzlich auf die Schulter. Fritz aber fuhr plötzlich in die Höhe, wie außer sich: Sei still, Lutz, rief er mit schwerathmender Brust, sprich kein Wort mehr von diesen Dingen, du machst es nur immer ärger! Geh fort, wenn du mich so wenig verstehst, daß du mir das sagen kannst; laß mich allein, ich bin lange genug einsam gewesen, dies war die letzte Täuschung, sie mag denn auch hinfahren! Wenn du noch einen Funken von Freundschaft für mich hast, so geh, wiederholte er sanfter; ich kann dir's nicht sagen, wenn du's nicht fühlst, aber ich muß allein sein, sonst gehe ich aus den Fugen!

Eben weil ich das verhüten will, sagte Lutz und sah ihn fest an, darum bleib' ich hier. Dich nicht verstehn, du närrischer Mensch? Glaubst du, dazu brauche man eine absonderliche Weisheit und Hellseherei? Aber du willst nicht verstehn, und darum muß ich jetzt deutsch mit dir reden: Einen dummen Streich hast du machen wollen, und einen schlechten Streich: dich aus der Welt zu schleichen, ohne Abschied, wie man es nennt »auf französische Manier.« Ich bin aber kein Freund von den französischen Manieren und die Molly eben so wenig, und darum sag' ich dir's in grobem Deutsch, daß du dich schämen sollst. Du hast nicht mitgethan, und was dich daran gehindert hat, ist trübselig genug; aber die Moral davon ist, daß du von heut an mitthun mußt, ist's nicht im Krieg, so ist's im Frieden; denn es sieht in Deutschland nicht darnach aus, daß ein ehrlicher Junge die Hände in den Schooß legen dürfte, und mit einem Raketenschuß sich unter die Sterne befördern; und erst recht nicht, wenn ein Mädel auf der Welt ist, dem dieser Schuß geradewegs mit durchs Herz ginge, von anderen guten Kameraden, die's übel nehmen möchten, ganz zu schweigen. Und darum bin ich jetzt gekommen, dich abzuholen ins Freie hinaus, denn in dieser gottlosen Mansarde ist eine Stickluft, in der man die nichtsnutzigsten Grillen ausbrütet, und die Luft unter den alten Ulmen im Lyceumshof, denk' ich, wird dir gesunder sein. Hab' ich dich nun verstanden, du großes Kind?

Bruder, sagte der Fritz dumpf und schüttelte den Kopf, es ist dennoch unmöglich. Ich will dir glauben, daß es euch leid um mich thut, und daß sie mir jetzt mehr zugethan ist, als dir, weil du glücklich bist und ich ein verlorner Mensch, dessen sich ein Engel, wie sie ist, wohl erbarmen mag. Aber wenn sie erst alles weiß, wie es gekommen, und daß ich den Vater –

Kein Wort mehr! braus'te der Andere auf. Wir verderben die schöne Zeit, und das arme Wesen vergeht indessen vor Angst und Ungeduld. Alles weiß sie, nicht ein Jota hab' ich ihr verschwiegen; sie weiß aber auch, daß du's hart abgebüßt hast, und daß es überhaupt nicht aus dir selber kam, sondern in einer finstern Stunde über dich hereinbrach wie ein Unglück. Und nun erwartet sie, daß du den Kopf wieder aufrichten wirst und wieder anfangen zu leben, für dich und für sie, und ich habe ihr versprochen, noch diesen Abend dich zu ihr zu bringen, damit sie es aus deinem eignen Munde hören könne: was dahinter liege, sei ab und vorbei, und vor dir sei's wieder helle, wie vor uns Andern, die dies Jahr durchgekämpft haben, jeder auf seine Weise.

Er stürzte ihm an den Hals, denn das Wort erstickte ihm, und so hielten sie sich lange fest aneinandergedrückt und schämten sich ihrer Thränen nicht, bis sie sich wieder ermannt hatten und Arm in Arm die Treppe hinabsteigen konnten, hinaus in die wimmelnde Stadt, wo die Leute still standen und den Fritz mit Staunen und Rührung betrachteten, wie einen unschuldig Eingekerkerten, dessen Haft durch ein allgemeines Landesfest gesprengt worden. Er selbst ging neben seinem Freunde durch die Gassen, als wäre ihm Alles fremd, Häuser und Menschen, und seine Augen waren weit voraus und suchten die wohlbekannte Pforte des alten Schulhauses. Als sie endlich davor standen, schien er seinen Füßen nicht zu trauen, ob sie ihn auch über die Schwelle tragen würden. Der Lutz aber schob ihn hinein und raunte: Faß dir ein Herz, großes Kind; es ist ja kein Censurtag. Ich warte hier unten, bis du wiederkommst. –

Wohl eine Stunde hatte er zu warten, sie mochten sich viel zu sagen haben, und die Zeit wurde ihm nicht lang, denn auch er hatte viel zu denken und war zufrieden allein zu sein und unten auf der dunklen Treppe sitzend all die Jahre zurückzuleben und unter manches Frohe und Traurige einen Strich zu machen. Ob ihm wirklich im Pulverdampf Alles zerstoben war, was ihn so oft diese Treppen hinaufbegleitet hatte? Er hörte jetzt Tritte über sich und rief: Bist du's, Fritz? Und der Fritz antwortete: Wir sind es! Und wie nun die drei jungen Verbündeten, eine neue heilige Allianz, in die illuminirte Stadt hinaustraten, Molly und ihr Erwählter mit stillglänzenden Gesichtern und sehr wenig gesprächig, der Lutz aber im redseligsten Uebermuth, hätte wohl Niemand das Schicksal ihnen an der Stirn gelesen, das sie so lange getrennt und heute wieder vereinigt hatte.

Sie suchten aber, freilich nicht auf dem geradesten Wege, den Vater der Molly, damit er der jungen Muse seinen Segen gäbe, und dachten mit Herzklopfen daran, daß sie auch dem Vater des Bräutigams ihren Besuch schuldig seien. So kamen sie, von dem Menschenstrom fortgerissen, nahe an das Thor, vor welchem das Feuerwerk abgebrannt werden sollte. Da faßte plötzlich Jemand den Arm des langen Fritz, und als er sich umsah, erblickte er die alte Magd, die ihm mit ganz verstörtem Gesicht zuflüsterte, sie suche ihn seit einer halben Stunde überall, er müsse heimkommen, der Vater liege in seinem Zimmer, er habe sich mitten durch die Brust geschossen.

Das schlug wie ein Blitzstrahl hinein in ihr Glück. Hier aber zeigte sich die tapfre und hohe Seele des Mädchens in all ihrer Herrlichkeit Sie drang darauf, daß sie mit ihnen in das Haus des Unglücks gehen wolle, und hatte Besonnenheit genug, einen Arzt, der ihnen begegnete, anzurufen und mitzunehmen. So gingen sie alle zusammen die dunkle Stiege hinan, und das Mädchen hielt den Arm ihres Geliebten und stützte ihn auf dem schweren Gang. Die Thür zu der Trinkstube war weit offen, drinnen brannten zwei Lichter auf dem Tisch, daneben standen die Weinflaschen und lag eine noch unabgeschossene Pistole. Der unglückliche alte Mann saß zurückgesunken im Lehnstuhl, auf den ersten Anblick nur wie schlafend, aber das Leben war entflohen und alle Hülfe eitel. Seine Meerschaumpfeife mit dem Napoleonskopf lag in Scherben am Boden neben der zweiten Pistole, mit der er die That vollbracht; auf dem Tisch aber fand man einen von seiner Hand geschriebenen französischen Brief »An den Ex-Kaiser Bonaparte auf Elba,« einen Absagebrief des Betrogenen an den Zerstörer seines Lebensglückes. – Der Brief des schönen Käthchens, den der rothe Lutz ihm gebracht, steckte in der Brusttasche; die Kugel war mitten hindurchgegangen.

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