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(1875)
Mitternacht war vorüber, eine rauhe, sternlose Novembermitternacht. Ein dünner erster Schnee, der über Tag auf den Dächern und Fenstergesimsen gelegen, wurde vom Nachtwind in kurzen Stößen durch die Straßen gefegt und füllte die Luft mit unsichtbarem, krümligem Eisstaube. Dennoch ging ein junger Mann mit hastigen Schritten, deren Schall er sorgfältig zu dämpfen suchte, in einem engen Gäßchen der Stadt unermüdlich auf und ab und sah immer von Zeit zu Zeit nach der Wand des Hauses gegenüber, an der sich das Lichtbild eines kleinen, fast viereckigen Fensters malte, mit dunklem Stabwerk und zurückgezogenen Gardinen. Manchmal erschien ein Schatten in dem hellen Felde und stand dort eine Weile still; ein weiblicher Kopf war zu erkennen, von einer Haube eingerahmt. Dann hielt der Wandelnde unten den Schritt an und drückte sich in die Nische der nächsten Hausthür, als fürchte er, das Fenster oben möchte geöffnet werden und die Gestalt sich hinausbeugen, um besser hinunterzuspähen. Das geschah aber nicht, und nach einiger Zeit verschwand auch wieder der Schattenriß droben im Lichtschein an der Mauer. Dann schüttelte der Jüngling die Erstarrung ab, die ihn überfallen wollte, vergrub seufzend die Hände tief in die Rocktaschen und begann von Neuem seinen rastlosen Schildwachenschritt auf der Schattenseite.
Auch die Frau in dem Stübchen droben ging ruhelos hin und her. Sie war klein und zart gebaut, das schlichte Haar unter ihrer Haube so weiß wie die Tüllkrause, die es einfaßte, das sehr blasse Gesicht zeigte einen ängstlichen Ausdruck von Horchen und Harren; aber wenn sie die blauen Augen aufschlug und zufällig auf einem großen Bildniß ruhen ließ, das hinter dem Sopha die ganze schmale Wand einnahm, war etwas in dem Aufleuchten ihres Blicks, das die weißen Haare und das verblühte Gesicht Lügen strafte, obwohl auch die Farbe dieser Augen ausgeblichen war, wie es hellen Augen geschieht, wenn sie zu viel weinen.
Das Bild stellte einen schönen, hochgewachsenen, breitbrustigen Mann dar, in schmuckem Jagdkostüm, die Flinte am Riemen über die Schulter gehängt. Eine leichtsinnige Munterkeit und verwegene Lebenslust blitzte ihm aus den Augen, und die vollen Lippen schienen sich eben zu einem trotzigen Scherz zu öffnen. Die eine Hand hatte er auf den glatten Kopf eines Hundes gelegt, in der andern hielt er eine rothe Rose. Auf diese fiel der volle Schein des Lämpchens, das auf dem Tisch vor dem Sopha stand, während der Kopf des Mannes nur einen Halbschimmer erhielt. Gerade in dieser Dämmerung aber erschienen die Züge um so geisterhaft lebendiger.
Sonst war kein Bilderschmuck in dem niedrigen Stübchen, auch alles Geräth überaus einfach und altmodisch. Aber die geblümten Ueberzüge über Sopha und Stühlen waren peinlich sauber gehalten, das Bett im Alkoven, das schon lange für die Nacht hergerichtet war, mit schneeweißen Linnen überdeckt, auf der rundausgebauchten Klappe des alten Secretärs kein Stäubchen, so wenig wie auf dem Gehäuse der Wanduhr, die, im Winkel stehend, bis an die Decke reichte, und deren zinnerner Pendel mit hartem Geräusch hin und her schlug, so ruhelos, wie das Herz der kleinen Frau, während sie immer von Neuem den Weg zwischen Thür und Fenster dem großen Bilde vorüber wandelte.
Der Ofen war längst ausgebrannt. Auf einmal erlosch auch die Lampe. Nun war es so finster in dem niedren Zimmerchen, daß kaum noch die weiße Masse des Bettes aus der Tiefe des Alkovens hervordämmerte. Aber die einsame Frau hatte die Schritte zwischen Thür und Fenster zu oft gemessen, um ihre Wanderung wegen der plötzlichen Finsterniß einzustellen. Was hätte es ihr auch geholfen, so lange ihr Herz nicht ruhiger wurde, als der Pendel an der Wanduhr!
Nun schlug die Uhr halb Eins, einen harten, heiseren Schlag. Die Frau fuhr leicht zusammen und blieb unwillkürlich stehen. Mein Gott, ach mein Gott! sagte sie vor sich hin, es ist nichts Gutes, nichts Gutes, sonst ließe er mich nicht darauf warten! – Sie horchte wieder in die Gasse hinaus, jetzt um so geschärfteren Ohrs, da das Auge unthätig blieb. Die Fenster schütterten leise unter den Windstößen, ein feines Winseln klang durch den hohen Schlot in den Ofen herab, dann und wann hörte man aus einem Hofe in der Nachbarschaft einen Hund heulen, den in seiner Hütte fror. Aber jetzt – der Zeiger war auf drei Viertel gerückt – wurde nicht unten ein Schlüssel sacht in die Hausthür gesteckt und behutsam das Haus geöffnet und wieder verschlossen – Alles in Pausen, um das Geräusch dazwischen wieder einschlafen zu lassen? Und nun kam es die Treppe herauf mit Diebestritten, und oben, auf dem Flur des zweiten Stocks, hielt es an und schien hineinzulauschen, ob drinnen wirklich Alles zur Ruhe sei. Und jetzt legte sich eine Hand auf den Griff der Thür, die das kleine Mittelzimmer zwischen den beiden Wohn- und Schlafstuben öffnete, – da aber wurde diese Thür von innen aufgerissen, und der Verspätete, der hier Niemand mehr wach zu finden hoffte, stand erschrocken vor der alten Frau, die trotz der Finsterniß jeden Zug seines jungen Gesichts deutlich zu erkennen schien.
O Hubert, bist du's endlich! sagte sie, indem sie tastend seine Hände ergriff und ihn hineinzog. Mein Gott, wie eisig du bist! Und nun ist der Ofen kalt – und den Thee hat die Dora längst ausgetrunken, – aber wer dachte auch – und übrigens kann ich ja in fünf Minuten – die Spiritusmaschine steht noch im Zimmer, – o Kind, was für eine Nacht!
Sie war, sobald sie ihn in Sicherheit hatte, auf einen Stuhl neben der Thür gesunken, die Füße hatten ihren Dienst nur so lange nicht geweigert, als sie ihm noch entgegeneilen mußten. Jetzt war Alles in ihr wie auf einen Schlag gelähmt, so überwältigte sie, was sie doch so lange erwartet und – gefürchtet hatte: daß er kam und stumm blieb.
Er schien sich einzubilden, daß er von der Finsterniß Vortheil ziehen und alles Schwere, was noch durchzumachen war, auf morgen vertagen könne; als ob ihr sein Gesicht und sein stummes Betragen nicht trotzdem gesagt hätten, wie es um ihn stand.
Laß nur, Mutterchen, sagte er. Ich werde gleich wieder warm. Bist du denn wirklich aufgeblieben? Ich – ich konnte noch nicht gleich nach Hause gehen – du begreifst, wenn man so aufgeregt ist, – schlafen kann man ja noch genug, – und der Gruß, den dir Cilly schickt, hat ja wohl bis morgen –
Er hatte im Finstern die Thür nach seinem Zimmer gefunden und schien geradewegs mit einem flüchtigen »Gutenacht!« auf der Schwelle die Mutter verlassen zu wollen. Aber schon hatte diese sich tapfer wieder aufgerichtet und war ihm nachgeeilt.
Kind! sagte sie hastig, kannst du glauben, ich ließe mich so abspeisen? Sei doch nicht so wunderlich. Als könntest du mir was verbergen, was dich selber drückt. Meinst du, ich hätte es nicht gewußt, wie ich nur unten deinen ersten Schritt auf der Stiege hörte? Hab' ich nicht lange genug meinen lieben Jungen in froher und trauriger Zeit nach Hause kommen hören, um schon an seinem Gang zu wissen, wie ihm zu Muth ist? Die alte Treppe hat mehr Zutrauen zu mir, als mein eigener Sohn; die beichtet mir Alles.
Es war gut, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte, während sie diesen trübseligen Scherz hervorstammelte. Auch daß sie sich am Thürpfosten halten mußte, bemerkte er nicht. Er war auch zu sehr mit seinem eigenen Gemüth beschäftigt, um ganz klar zu begreifen, wie der alten Frau zu Muth sein mochte.
Mutterchen, sagte er endlich und klinkte die Thür leise auf, es ist spät, – du hast schon gestern über Tag so schlecht ausgesehen, – wenn du nun auch um deinen Schlaf kommst – Und was ich dir zu erzählen habe, ist eine lange Geschichte, eine sehr einfältige Geschichte, – aber du brauchst nicht zu erschrecken, – es ist gar nichts entschieden bis jetzt, und da zwischen mir und Cilly Alles geblieben ist, wie es war, – und auch die Eltern genau so viel von mir halten, wie früher, – du siehst, liebste Mutter, es ist gar nichts Verzweifeltes dabei, – dumme kleine Rücksichten und Vorurtheile, die eine rechte Liebe nicht unterkriegen dürfen –
Hubert – du willst mich täuschen! O mein Kind, – mein schweres Herz diese letzte Woche, – ich wüßt' es wohl, das würde Recht behalten –
Sie faßte wieder seine Hand. Ihre war kalt und zitterte.
Gewiß nicht, Mütterchen. Thu mir jetzt nur die einzige Liebe und geh zu Bett. Ich soll morgen um Neun ins Gericht, – du weißt, der Prozeß, wo ich zu plaidiren habe, – und darum bin ich so lange durch die Stadt gerannt, um noch ein paar Stunden schlafen zu können und morgen einen freien Kopf zu haben. Wenn wir jetzt den hellen Tag heranschwatzen – thu mir's zu Liebe, Mutterchen!
Sie ließ sogleich seine Hand los.
Gute Nacht, mein Kind, sagte sie. Du hast Recht, wir müssen schlafen. Morgen ist auch ein Tag. Schlaf' wohl, lieber Junge!
Damit zog sie seinen Kopf zu sich herab, küßte ihm das Gesicht und drängte ihn dann selbst in sein Zimmer. Erst als die Thür hinter ihm zugefallen war, tappte sie leise, als ob er sofort eingeschlafen wäre und nicht mehr gestört werden dürfte, in ihr eigenes Gemach, dessen Thür sie aber nur anlehnte. Sie wollte horchen können, ob er auch wirklich schlafe.
Es blieb Alles ganz still. Dennoch konnte sie sich erst nach einer langen Pause, die sie am Thürpfosten lehnend verbracht, entschließen, in den Alkoven zu schleichen und sich zu entkleiden. Auch das geschah zaudernd; zwischen jedem Stück, das sie ablegte, saß sie ein Weilchen unthätig, horchte um sich her und in sich hinein und seufzte: Ach mein Gott! Als sie dann endlich im Bette lag, starrte sie mit weit offenen Augen in die Finsterniß, aus der nur wenige hellere Punkte auftauchten, die weiße Glocke der kleinen Lampe vor dem Sopha, ein Streif des goldenen Rahmens um das große Bild, der messingene Griff an der Thür, die ins Vorzimmer führte.
Immer hingen ihre Augen an dieser Thür, sie wußte selbst nicht, warum. Denn drüben blieb es ja still. Auch die Nachtstimmen beruhigten sich, der Wind hörte auf zu heulen und im Kamin zu winseln, der Hund in seiner Hütte schien endlich eingeschlafen zu sein, nichts regte sich als der Pendelschlag in der Wanduhr, den sie sonst vor alter Gewohnheit nicht mehr vernahm. Heute aber überdachte sie, was Alles an ihr vorübergegangen war, seit diese eintönige Zunge das alte Lied von Werden und Vergehen sang; und darüber konnte sie nicht zur Ruhe kommen.
Es hatte Eins geschlagen – ein Viertel – halb – drei Viertel, – da sah sie den gelben Punkt an der Thür sich sacht bewegen, die Thür that sich geräuschlos auf, und Der, den sie schlafend geglaubt hatte, stand als ein dunklerer Schatten – noch völlig angekleidet, wie er gekommen war, nur ohne Mantel, – in dem finsteren Rahmen der Thür.
Er bewegte sich nicht; er wollte horchen, ob sie schlafe. Hubert! rief sie halblaut, – siehst du nun wohl, daß es doch nichts hilft?
Im nächsten Augenblick war er an ihrem Bett niedergesunken, er hatte die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, ergriffen und an seine Lippen gedrückt, sie fühlte, daß seine Wange naß war, und zuckte zusammen.
Nein, sagte er, als sie sich hastig aufrichten wollte, du mußt ganz still liegen bleiben, meine geliebte Herzensmutter. Ich komme nur, weil ich auch nicht schlafen konnte, – und von dir wußte ich's wohl, – da ist es gescheidter, dacht' ich, man versucht es mit einander, sich erst noch ein wenig zu beruhigen. – So! ich sitze hier ganz gut auf dem Schemel an deinem Bett, laß mir nur deine Hand, sie thut mir wohl. Und ich habe auch gedacht, so in der Dunkelheit kann ich mir eher ein Herz fassen, – denn ich müßte mich schämen, Mutter, am helllichten Tag von so albernen Gespenstern zu sprechen, wie sie mir heut in den Weg getreten sind, und wenn ich so feig und kindisch war, nur einen Augenblick daran zu glauben, nicht wahr, Mutterchen, du verzeihst es mir? Nicht wahr?
Liebes Kind, erwiderte die Frau, indem sie sacht die Hand des Sohnes streichelte, wie soll ich dir verzeihen, was ich gar nicht weiß? Aber laß es nur gut sein, sprich nicht davon, wenn es dir peinlich ist, oder sag gleich Alles heraus, wenn es dich erleichtert. Daß ich wissen möchte, was dir Kummer macht, kannst du wohl denken, – obwohl ich sonst nicht neugierig bin. Aber Alles, wie es dir lieb ist, mein armer Junge.
Es war wieder eine Weile still in dem Alkoven. Dann sagte die Mutter:
Ich wette, du hast nichts zu Nacht gegessen. Du gingst schon so früh hin, dann habt ihr gewiß gleich über die Hauptsache zu reden angefangen, und dann hast du alles Andere vergessen. Geh doch an das Wandschränkchen, da steht noch die Flasche mit dem alten Wein, die du mir neulich gebracht, und ein Teller mit Zwieback. Thu es um meinetwillen, mein Junge, du erträgst es sonst nicht, und morgen bist du krank. Siehst du wohl, deine Hand ist ganz heiß und trocken.
Er schüttelte still den Kopf.
Mich hungert nicht ein bischen, Mutter, und wenn ich heiße Hände und heißen Kopf habe, kommt es von ganz anderen Dingen. Aber es geht schon vorüber, wenn du mir nur –
Er stockte und brütete eine Weile vor sich hin. Plötzlich sprang er auf und machte einen Gang durch das Zimmer, bis er endlich vor dem Bild über dem Sopha stehen blieb. Er sah es in der Dunkelheit so unverwandt und lange an, als ob er jede Linie des Gesichts aus den dichten Schatten herausfinden wollte.
Wann ist das Bild gemalt worden, Mutter? fragte er hastig.
Ein Jahr ehe du auf die Welt kamst. Warum fragst du jetzt auf einmal darnach? Ich meine, ich habe es dir oft gesagt.
Es kann wohl sein – es kam mir nur so – es war heut von dem Bild die Rede, – auch von Dem, den es vorstellt, – ist es wahr, Mutter, daß ich ihm so ähnlich sehe?
Zug für Zug, Kind, bis auf den Bart, für den du noch zu jung bist, und bis auf die Augen, die du von mir hast. Mußt du's nicht selber sagen, wenn du nur in den Spiegel siehst? Aber wie kam es denn, daß sie vom Vater zu reden anfingen? Und – was sagten sie denn von ihm?
Der Sohn antwortete nicht gleich. Er ging wieder mit tastenden Schritten durch das Zimmer, stand jetzt vor der Uhr still und sagte: Darf ich wohl den Zeiger anhalten? Es macht einen ganz toll, in der Stille das harte, klirrende Ticktack zu hören. Mich wundert, wie du es aushältst.
Wie du willst, Kind.
Er öffnete den Kasten, plötzlich aber schien er in seinen Gedanken wieder auf etwas Anderes zu gerathen, denn er berührte den Pendel nicht, sondern wandte sich ab und ging wieder nach dem Alkoven, um sich auf seinen alten Platz niederzukauern.
Nein, sagte er, es ist nicht möglich!
Was, mein lieber Sohn?
Soll uns die Stimme der Natur so jammervoll belügen können? Wenn ich denke, wie ich schon als kleiner Junge, wenn der Vater nur ins Zimmer trat, – aber nein, auch jetzt nicht, auch nicht einen Augenblick, ich schwör' es dir, Mutter, hab' ich es im Ernst geglaubt – auch nur so lange wie man es ausspricht, um gleich zu sagen, daß es unmöglich ist. Nicht wahr, Mutterchen, das traust du mir nicht zu?
Wieder eine Stille, die wohl fünf Minuten anhielt. Die Hand der Mutter ruhte sanft auf dem buschigen Haar des Sohnes, der seinen Kopf dicht neben sie an das Kissen geschmiegt hatte.
Armer Junge! flüsterte endlich ihre traurige Stimme. Also doch! Es hat dir also nicht erspart werden sollen! Ich wußte es gleich, wie es hieß, sie wollten sich's noch eine Woche überlegen, sich erst noch erkundigen. Man soll nur bei fremden Menschen herumfragen, ob sie einem erlauben, glücklich zu sein, da wird einem die reinste Freude vergiftet. Sage jetzt nur Alles, Kind; du sagst mir schwerlich etwas Neues.
Sie zog ihre Hand leise von seinem Kopf zurück und stützte sich im Bett auf, so daß sie ganz gerade saß, die Hände vor sich auf der Decke gefaltet.
Mutterchen, fragte er stockend, muß ich wirklich Alles sagen, – auch wenn es dir nichts Neues ist?
Sag es nur, Kind, sag es nur! Wenn dumme Menschen alte Geschichten erzählen, lügen sie doch immer was Neues hinzu. Ich sage das nicht von Cilly's Eltern, die sprechen nur so nach, und haben auch die Pflicht, für ihr einziges Kind – aber eine Woche ist lang, da kann man sich viel einfältiges Zeug erzählen lassen, – ach Gott! ach mein Gott!
Ich danke dir, Mutter, daß du nicht schlecht von ihnen denkst. Sie haben dich beide sehr lieb, besonders der Papa hält große Stücke auf dich, der Mama bist du nicht zuthulich genug; sie glaubt, es sei aus einem heimlichen Stolz wegen unseres Adels, den wir doch selbst aufgegeben haben, und weil sie nur Kaufleute sind. Aber warum hast du mir auch nicht den Gefallen thun wollen, öfter hinzugehen, als gerade durchaus nothwendig war! Sie kennten dich jetzt, Mutterchen, so genau, daß sie sich gar nichts in den Kopf setzen ließen, und was die Tante Veronika schreibt –
So – so! Die Tante Veronika! Hab' ich's doch gewußt! Ach Gott! ach mein Gott!
Sie haben bei ihr anfragen müssen, einmal weil sie die ältere Schwester des Papa ist und von der ganzen Familie verehrt wird wie ein Weltwunder an Tugend, Weisheit und Frömmigkeit, und dann, weil sie Cilly's Pathin ist und ihr ganzes Vermögen, das jetzt im Geschäft angelegt ist, einmal an ihre Nichte fallen soll. Cilly selbst, die gar keine Ader von ihrem Vater hat, gar keinen Geschäftsverstand, – schon als die Tante noch hier bei ihnen gelebt hat, war sie ihr nur mäßig zugethan. Das Moralisiren und Schelten über die Welt, der altjüngferliche Tugenddünkel hielt sie von ihr fern, und jetzt, seit sie nach B. übergesiedelt ist, mußte sie sich zu jedem Pflichtbrief an die Pathin mit Gewalt drängen und treiben lassen. Nun vollends, seit die Tante ihr's so übel nahm, daß sie den jungen Stadtpfarrer, ihren Protégé, nicht hat heirathen wollen. Noch das letzte Mal, als sie ihr einen Geburtstagsbrief schreiben sollte, fand ich sie in Thränen, es gehe ihr gegen das Blut, schöne Worte zu machen, wo sie nichts fühle; – ich lachte noch und sagte, wir Advocaten hätten ein weiteres Gewissen, wir schrieben eine halbe Seite mit sogenannten Kurialien voll, bei denen noch nie ein Mensch etwas gefühlt habe, – und so dictirt' ich ihr die schönste Kurial-Gratulation, die eine Tante sich nur wünschen kann.
Ich erzähl' dir das Alles nur, Mutterchen, daß du siehst, wenn die Mama bei der Tante anfragte, ob sie gegen Cilly's Verlobung mit einem Doktor Hubert Horst, der ehemals Horst von Halden geheißen, nichts einzuwenden habe, so war kein Schatten von einem Mißwollen oder Mißtrauen gegen dich oder mich dabei, nur eine unerläßliche Form, und Niemand ließ sich träumen, daß eine ernste Einsprache erfolgen könnte.
Mich hat das alte Fräulein wohl kaum einmal gesehen. Ich war noch auf der Universität, als sie im Hause ihres Bruders lebte, und wenn ich dich in den Ferien besuchte und schon damals an Cilly's Fenster vorbeistrich, so wenig ich ahnte, daß sich's dabei um mein ganzes Lebensglück handle, macht' ich mich eilig davon, sobald das verdrossene, hochmüthige Altjungferngesicht sich nur von ferne blicken ließ.
Ob sie dich gesehen und irgend eine Abneigung gegen dich gefaßt, weiß ich nicht. Es ist aber nicht glaublich, erstens, weil man dich nicht sehen kann, meine kleine Mutter, ohne dich lieb zu haben, und dann bist du ja erst nach ihrem Fortgang und ihrer Uebersiedlung nach B. in die Stadt gezogen, weil ich mich hier etablirte und doch meinen Clienten den Weg bis nach unserem Landhäuschen hinaus nicht zumuthen konnte.
Also war's wohl keine persönliche Bosheit gegen uns, nur eine kleine Schadenfreude, daß sie der Cilly, die jenen geistlichen Freier so geradezu abgewiesen, einen Possen spielen kann und ihr den Liebsten, den sie wirklich liebt, nun auch nicht zu gönnen braucht.
Er sprang wieder von seinem niedrigen Sitz am Bett auf, der Gedanke an die Tücke und Erbärmlichkeit der Menschen, die ihn um sein Glück bringen wollten, schien ihm schwül um die Stirn zu machen, daß er sein Blut wieder beruhigen mußte durch einen Gang im Zimmer auf und ab.
Erst nach einer langen Pause hörte er die leise Stimme ans dem Alkoven:
Nun? Und was hat sie geschrieben?
Er fuhr fort, hin und her zu schreiten.
Ha! sagte er, sich nach dem Fenster wendend, während ihm das Blut in die Wangen stieg, einen Brief voll der absurdesten Geschichten, aufgewärmten, längst verjährten Klatsch, ohne die Spur eines Beweises oder auch nur des Versuchs dazu. Man braucht nicht einmal Jurist zu sein, um diesen armseligen Wisch zu verachten, – nicht einmal die Schrift lesen zu können, die auf deinem Gesicht steht, um zu wissen –
Was aber stand denn darin, in Gottes Namen? Du sollst es mir sagen, Kind, hörst du? Ich kann ja sonst nicht –
Mutter, rief er, – glaube doch um Alles in der Welt nicht, daß du nöthig hättest, mir gegenüber, oder Cilly, – oder selbst den Eltern, – wenn sie dich auch wenig genug kennen, – auf so handgreifliche Lügen, so alberne Verleumdungen auch nur mit einem Wort dich zu rechtfertigen! Wenn du selbst nicht zu stolz dazu warst: ich, dein Sohn, der dich kennt wie seine eigene Seele, – und dann, selbst wenn wir uns erniedrigen und jene tückischen Anklagen bestreiten wollten, – wo ist denn etwas Greifbares für oder wider, nach sechzehn Jahren, alle Zeugen verstorben oder verschollen? – Es ist lächerlich, und nur das verschrobene Gehirn einer alten Jungfer kann auf so einen ganz unqualifizirbaren Gedanken kommen, der ebenso dumm wie perfid ist.
Es blieb still im Alkoven.
Nach einer Weile fuhr der Jüngling fort:
Der Papa, der ein praktischer Mann ist, nebenbei seine Tochter abgöttisch liebt und mich sehr schätzt, seit ich ihm seinen Prozeß gewonnen habe, der war auch gleich der Meinung, seine arme Schwester habe im Umgang mit allerlei Betschwestern und skandalsüchtigen Heiligen das letzte Restchen ihrer gefunden Vernunft eingebüßt. Die Mama aber, obwohl sie gleichfalls die Achseln zuckte, sagte, man dürfe sie doch nicht geradezu vor den Kopf stoßen, man müsse es leiser und diplomatischer angreifen. Wenn sie nun aus Aerger und gekränkter Eitelkeit, ihre Stimme im Familienrath ganz mißachtet zu sehen, ihre alte Drohung wahr machte, ihr Vermögen aus dem Geschäft zurückzöge und statt ihrer Nichte Gott weiß welchen leisetretenden geistlichen Hausfreund zum Erben einsetzte?
Ich erklärte, daß ich am liebsten mein Mädchen ohne einen Heller Mitgift heimführen würde. Der Papa aber war still geworden und sagte nach einiger Zeit: von allen äußeren Vortheilen abgesehen, widerstrebe es ihm, seine einzige Schwester sich geradezu für immer zu entfremden. Schon wenn sie weiter nichts thäte, als, wie sie geschrieben, nicht zur Hochzeit hieherzukommen, um nicht der Mutter des Bräutigams ihres geliebten Pathenkindes begegnen zu müssen – hast du einen Begriff, Mutterchen, von einer so abgeschmackten Einbildung? So ein sitzengebliebenes vierundfünfzigjähriges Herz, – der reine Petrefact –
Er war wieder an das Bett getreten. Es schien, als lausche er ängstlich, trotz seiner gezwungenen Munterkeit, auf ein tröstliches Wort der Mutter.
Ich weiß immer noch nicht, was Alles in dem Briefe steht! sagte jetzt die leise Stimme.
Nun denn, wenn du es mir durchaus nicht ersparen willst, dir dies kindische Märchen wiederzuerzählen: sie habe sich bei Leuten, die uns vor sechzehn Jahren intim gekannt, erkundigt, was du für eine Frau seiest und was für ein Mann der Vater gewesen, und ob man ein Mädchen wie Cilly auch mit ruhigem Herzen in unsere Familie hineinheirathen lassen könne, da die ihre, die Webers, seit zweihundert Jahren fast lauter Pastoren aufzuweisen habe und in ihrem Bruder den ersten Kaufmann, der aber auch in diesem Stande Gott vor Augen und im Herzen behalten habe. Und da habe sie zu ihrem Schrecken und Kummer gehört, daß du damals – vor sechzehn Jahren, Mutterchen, als ich ein Bursch von elf, ein grüner Tertianer war – aus B. weggezogen seiest, nicht, wie du gesagt, um dich einzuschränken und hier auf dem Landgütchen in aller Stille zu leben, während ich auf der Schulpforte etwas strammer gehalten werden sollte, sondern weil du dem Stadtgerede über den Tod des Vaters hättest aus dem Wege gehen wollen, – müssen, schreibt die Tante, da all deine alten Freunde und Bekannten von dir abgefallen seien. Denn der Vater – aber das Uebrige kannst du dir vielleicht hinzudenken, Mutterchen. Ich schäme mich wahrhaftig, daß ich's übers Herz bringe, diese niederträchtigen Klatschgeschichten –
Weiter, mein Kind! Sage nur Alles. Es muß doch einmal zur Sprache kommen.
O Mutter, warum hab' ich nur überhaupt davon angefangen! Nun bring' ich dich noch vollends um deinen Schlaf. Ich hätte meinem ersten Gefühl folgen sollen und ihnen einfach sagen: wenn sie euch schreibt, ihr habt zu wählen zwischen mir und dieser Frau, so kann ich euch nur sagen: Cilly hat zu wählen zwischen dieser Frau und der Schreiberin dieses Briefs. Und Gott ist mein Zeuge, Mutter: wenn sie auch nur eine Miene gemacht hätten, als ob sie selbst an diese elende Verleumdung glaubten, so hätt' ich ihnen Alles vor die Füße geworfen und ihre Schwelle nie wieder betreten. Aber gerade weil ihnen selbst daran gelegen schien, dir eine recht gründliche Genugthuung, eine recht vollständige Ehrenrettung selbst in den Augen der bösen Schwätzerin zu verschaffen – Mutter! dir nachsagen zu können, du hättest jemals dem Vater gerechten Grund zum Argwohn gegeben, die Kugel, die seinem Leben so früh ein Ende gemacht, sei nicht aus einem Jagdgewehr gekommen durch einen unglückseligen Zufall, sondern aus der Pistole eines Dritten, gegen den der Vater seine – seine Ehre zu vertheidigen gehabt – o Mutter, verzeih mir, daß ich diese erbärmlichen Lügen über meine Lippen gebracht habe! Du hast sie mir abgezwungen, du selbst! Und nun kein Wort mehr davon!
Er war neben dem Bett auf die Kniee niedergesunken, hatte ihre Hand gehascht und drückte seinen heißen Mund gegen ihre schmalen, kühlen Finger.
So blieben sie eine Zeitlang, und die Hand gab kein Zeichen erwiedernder Zärtlichkeit. Endlich regte sie sich nur, um sich zurückzuziehen.
Steh auf, Kind, sagte die Mutter. Zünd ein Licht an und stelle es dort auf den Tisch vor das Bild des Vaters. Was ich dir noch zu sagen habe, dabei soll er mein Zeuge sein, – und du mußt mir klar ins Gesicht sehen können.
O Mutterchen, sagte er, indem er zögernd that, was sie von ihm verlangte, wozu der curiose Apparat wie beim Schwören vor Gericht? Auch wenn ich deine Augen nicht sehe, weiß ich ja doch, daß du mir nie die Unwahrheit sagen kannst.
Nein, nein, mein Junge, das ist es eben, du hast eine zu gute Meinung von mir. – So! das Licht nur ein wenig mehr nach rechts, ich kann sonst gerade den Kopf des Bildes nicht sehen. Und nun sollst du wissen, so viel als ich dir sagen darf, und zuerst, daß ich dir doch eine Unwahrheit gesagt habe. Verzeih' mir's Gott, ich würde es wieder thun, wenn Alles wäre wie damals, du noch ein elfjähriges Knäbchen, und ich allein mit dir in der Welt, die so schlimm ist und immer noch Schlechteres schwatzt, als sie selber glaubt. Es hätte dich um deine ganze fröhliche Jugend gebracht, wenn all die Lügen dir zu Ohren gekommen waren. Was ist dagegen die Lüge einer Mutter? War dennoch eine Sünde dabei, die nahm ich auf mich, und sie hat mich bis heute nicht gedrückt. Nun aber schäme ich mich doch, und gräme mich auch, weil du vielleicht von jetzt an nicht mehr so blindlings auf jedes Wort deiner armen Mutter schwören wirst, da du weißt, sie kann auch die Unwahrheit sagen, sogar ihrem einzigen Kind. Aber nicht wahr, das denkst du nicht, daß ich lügen könnte, wenn ich das Andenken deines armen Vaters dabei anrufe und ihm fest in die Augen sehe?
Mutter, rief er und stürzte zu ihr hin, ich bitte dich –
Still! wehrte sie ihn ab. Störe mich jetzt nicht. Ich will dir nur ganz kurz sagen, was wahr und falsch ist an jenem Brief des alten Fräuleins. Dein Vater ist freilich nicht auf der Jagd verunglückt, wie ich dir damals vorerzählte, damit du nicht weiter darüber nachgrübeltest, sondern das Unglück hinnähmst, wie Etwas, das Gott gefügt, aus seinem unerforschlichen Willen. Nein, er ist von uns fortgereis't bis nach Belgien hinein, um drüben jenseits der Grenze mit einem alten Freunde, der ihm ein Todfeind geworden war, einen Gang auf Leben und Tod zu machen. Das Todesloos fiel auf ihn, sein Gegner entfloh nach England und ist nie wieder zurückgekehrt.
Es war so still im Zimmer, daß man das leise Knistern der Kerze hören konnte.
Erst nach einer langen Pause fuhr die Mutter mit noch leiserer Stimme fort: Ich wollte nicht, daß dir deine Jugend vergiftet würde, wenn wir in der Stadt blieben und jedes erste beste Zeitungsblatt dir unter Unglücksfällen und Mordthaten erzählen konnte, wie kläglich dein armer Vater dahinstarb, den du so leidenschaftlich lieb hattest, dessen einzige unverbitterte Lebensfreude du gewesen bist. Darum brachte ich dich ohne Zaudern fort nach Thüringen in die stille Klosterschule, und als du sie verließest, war längst Gras gewachsen über all diesem Traurigen, und ich hoffte, es würde für immer begraben bleiben. Der Mensch denkt und Gott lenkt. Nun hab' ich es doch nicht mit mir ins Grab nehmen können!
Ihre Blicke hingen still an dem Bilde, ihre Hände lagen gefaltet auf der weißen Decke, aber ihr Herz klopfte noch immer stürmisch; sie wußte, daß das Gespräch noch nicht zu Ende war.
Und darfst du mir jetzt nicht auch sagen, Mutter, weßhalb die alte Freundschaft in so tödtlichen Haß umschlug?
Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort.
Nein, sagte sie dann leise, aber mit ganz festem Ton, nein, mein Sohn, ich darf nicht. Ich habe es deinem Vater gelobt, nie würde ein Wort davon über meine Lippen kommen. Das darf ich sagen, ohne mein Gelübde zu brechen: ich selbst war unschuldig an dem entsetzlichen Schicksal, so unschuldig, daß ich meine Hand gen Himmel heben und einen Eid thun könnte bei dem Glück und Leben meines einzigen Sohnes. Soll ich den Eid schwören, Kind? Ich bin dazu bereit, wenn du es für nöthig hältst, dich zu beruhigen.
Er wandte sich rasch nach ihr um. Sein Blick begegnete dem ihren, der von einer stillen, traurigen Hoheit glänzte. Mutter! rief er, du thust mir sehr weh, daß du so fragen kannst. Ich – und wenn ich dein Sohn nicht wäre – nur so mit dir gelebt hätte, wie wir gethan haben diese drei Jahre, seit ich die Universität und meine Reisen hinter mir hatte, – o, auch ein ganz Fremder, auch Cilly's Eltern, wenn du ihnen das Alles nur so sagen wolltest, wie jetzt mir, – kein Hauch von Mißtrauen könnte in ihnen zurückbleiben! Vergieb mir nur, daß ich dir überhaupt das Herz schwer gemacht habe mit dieser traurigen, längst begrabenen Geschichte. Aber siehst du, es klebt Jedem Etwas an von seinem Handwerk. Ich bin nun einmal ein Aktenwurm; ich dachte, wie ich nach Hause kam: wer weiß, ob sie nicht mit irgend einem einfachen Aktenstück die ganze erbärmliche Verleumdung beschämen kann, daß nicht bloß Cilly's Eltern, sondern auch die heilige Frau Base, die Tante Veronika, ihr auf den Knieen abbitten muß, was sie jemals gegen ihre Vergangenheit gesagt oder gedacht haben. Darum fing ich davon an, Mutter, und es ist nun freilich schade, daß es so einfach nicht geht, daß du das Dunkel über dem Tode des Vaters nicht aufhellen darfst. Aber sei nur ruhig, es wird sich dennoch Alles lichten. Morgen, sobald ich mich vom Gericht losmachen kann, gehe ich zu den Eltern und berichte ihnen Alles, und wenn ihnen meine moralische Ueberzeugung von der Nichtigkeit und Nichtswürdigkeit jenes Geschwätzes nicht genügt, erkläre ich ihnen gerade heraus, daß ich lieber auf die Ehre, ihr Schwiegersohn zu werden, verzichten will, als es dulden, daß meine liebe Mutter –
Du wirst mir versprechen, Kind, etwas so Tollköpfiges nicht zu thun, hörst du? Du wirst nicht zu den Eltern gehen und in deiner Hitze und selbstlosen Aufwallung einen Schaden anstiften, der vielleicht nie wieder gut zu machen ist. Vom Gericht wirst du nach Hause kommen, hörst du wohl? und abwarten, was du hier von mir erfahren wirst. Denn ich selbst werde zu Cilly's Mutter gehen, und verlaß dich darauf, meine Worte werden eindringlicher sein, wenn sie auch sanfter klingen werden, als all dein heißblütiges Herausfahren und stolzes Pochen auf unsere Unschuld. Und jetzt nimm nur das Licht vom Tisch und gehe damit in dein Zimmer. Gute Nacht, Kind. Komm! laß dich noch einmal an mein altes Herz drücken. So! Und nun schlafe gut. Deine Mutter steht dir dafür, daß der Morgen Gutes bringen wird!
*
Spät war es Tag geworden. Die Novembersonne hatte Mühe, den zähen Nebelschleier zu lüften, der an den spitzen Giebeln der alten Häuser sich festgehakt hatte. Und vollends in dem Alkoven der Mutter schien es heut überhaupt nicht Tag werden zu wollen. Dreimal hatte der Sohn sich herangeschlichen und, die Thür verstohlen öffnend, hineingehorcht. Er hörte immer die gleichen stillen Athemzüge und winkte der alten Dienerin, der ein solches Verschlafen ihrer stets vor Tag schon sich rührenden Frau unerhört vorkam, sich ja ruhig zu verhalten. Er habe mit der Mutter bis gegen den Morgen zu reden gehabt. Nun hole sie das Versäumte nach.
Kaum aber war er aus dem Hause, so regte sich's hinter dem Vorhang, und die kleine Glocke erscholl, die jeden Morgen der alten Dora das Zeichen gab, daß sie Feuer im Ofen anmachen solle. Die getreue Dienerin pflegte während dieses Geschäfts mit ihrer Herrin zwanglos zu plaudern, den Tagesbefehl für Küche und Haus entgegenzunehmen und allerlei Neuigkeiten aus der Nachbarschaft zu berichten. Heute, da sie nur einen flüchtig forschenden Blick auf das ernste Gesicht und die fest vor sich hin starrenden Augen gethan, verging ihr alle Versuchung zum Schwatzen. Sie glaubte, die Frau sei überhaupt noch nicht recht wach, sondern träume noch fort mit offenen Augen. Also sputete sie sich, so viel sie konnte, stellte das Frühstück auf den Tisch und ging wieder in ihre Küche.
Die Frau hatte aber überhaupt nicht geschlafen, nur so lange das Bett gehütet, um das nächtliche Gespräch nicht gleich in der Frühe fortspinnen zu müssen. Nun stand sie auf, in tiefen Gedanken, zog sogleich das schwarze Seidenkleid an, in welchem sie Besuche zu machen pflegte, und setzte sich dann mechanisch zu ihrem Frühstück. Sie hatte aber kaum ein paar Bissen genossen, als sie wieder aufstand, nach dem alten rundbauchigen Secretär ging und mit einem Schlüssel, den sie in ihrem Geldtäschchen verwahrte, die gewölbte Klappe öffnete.
Ein unruhiger, zweifelnder Geist arbeitete sichtbar hinter ihrer sonst so klaren Stirn, als sie in die dunkle Höhlung des Schränkchens hineinblickte. Sie zauderte eine ganze Weile, ehe sie eines der Seitenfächer öffnete und eine alte Brieftasche herausnahm. Mit leise bebenden Händen zog sie einen vergilbten Brief daraus hervor, der noch in seinem Umschlag steckte. Die Adresse zeigte ihren eigenen Namen.
Wie oft hatte sie diesen Brief, den sie einst in ihrer jammervollsten Stunde auf dem Tisch neben dem Sterbelager ihres Mannes gefunden, wie oft hatte sie ihn aus dem Couvert genommen, gelesen und Thränen aufgetrocknet, welche die Schriftzüge hie und da zu verwischen drohten. Sie wußte jedes Wort auswendig. Warum las sie ihn jetzt dennoch wieder wie zum ersten Mal?
»Mein armes, unglückliches Weib, meine getreueste Freundin, ich muß dir schreiben, denn ich weiß nicht, ob du noch zeitig genug kommen kannst, um meinen Abschied und die letzte Bitte, mir zu verzeihen, von meinen Lippen zu hören. – O Karoline, fast wünschte ich, du möchtest zu spät kommen. Wie soll ich sterbender Schächer in meinen letzten Augenblicken Kraft finden, deinen Anblick zu ertragen! Du weißt es ja, daß ich selbst in meinen übermüthigsten Tagen vor deinem stillen Blick, der mir niemals strafend und anklagend, höchstens traurig begegnete, mich gefürchtet habe wie ein Schulknabe. Gerade weil du mit deiner Engelsseele mich es nie wolltest fühlen lassen, wie wenig ich deiner werth war, gerade darum ertrug ich deine Nähe so schwer. Der Dämon in mir riß mich mit Gewalt von dir weg, dem Teufel ist's nicht geheuer an einem geweihten Ort. Hättest du mir Scenen gemacht, mir Alles ins Gesicht gesagt, was ich mir selbst dir gegenüber im Stillen sagen mußte, so wäre mir's minder drückend gewesen. So aber mied ich dich und suchte mir Gesellschaft, die nicht besser war als ich selbst. Gerade den Einzigen, gegen den ich jemals dein Auge in hellem Zorn hatte blitzen sehen, als du ihm wegen seiner galanten Zudringlichkeit unser Haus verbotst, gerade an Den mußte ich wieder gerathen. Es war ein seltsam gemischtes Gefühl von Schadenfreude und Kameradschaft, das mich zu ihm zog. Er war von dir ausgestoßen, und ich wäre es werth gewesen, mehr als er, denn ich kannte ja noch besser deinen ganzen Werth, und dein ganzes Leben hattest du mir geschenkt, und ich Wahnsinniger – Das Schreiben wird mir zu schwer, um hier noch einmal zu sagen, was du ja Alles weißt. Verzeihung, Karoline! Verzeihe dem Sterbenden, was du dem Lebenden nie vorgeworfen, als durch das stille Bild deines Kummers. Seit jener ersten Untreue an dir, zu der mich – Gott ist mein Zeuge! – kein Funke einer wirklichen Leidenschaft, nur der Uebermuth eines von den Frauen verwöhnten Weltmannes, nur der teuflische Tik verleitet hatte, nicht den plötzlich zur Tugend bekehrten Ehemann zu spielen, da ich einen Engel an meiner Seite hatte, – seit jener ersten Sünde an deinem Frieden habe ich immer mit getheiltem Herzen mein Leben geführt, hundertmal Willens, ein Ende zu machen und zu deinen Füßen all meine schnöden Thorheiten abzuschwören, und immer wieder – –
Ich habe inzwischen viel Blut verloren – zwei Stunden lang in der Ohnmacht gelegen. Meine Augenblicke sind gezählt. O Karoline, nur das Letzte noch: ich bin einer nichtswürdigen Kabale jenes Menschen zum Opfer gefallen, der unter der Maske leichtfertiger Vertraulichkeit seinen tiefen Haß versteckte, seine wüthende Begierde, sich an mir dafür zu rächen, daß meine Frau ihn beschämend abgewiesen. Er hatte eigens zu diesem Zweck ein Verhältniß angeknüpft mit einem ebenso reizenden als verworfenen Weibe. Er führte mich bei dieser Frau ein, gegen die ich anfangs vollkommen kalt blieb. Aber im Einverständniß mit ihm bot sie alle Künste ihrer Koketterie, alle Listen der Hölle auf, mich aus meiner Gleichgültigkeit herauszulocken. Als es endlich gelungen war und ich mich, wie hundert andere Narren vor mir, als ein schmachtender Wurm zu ihren Füßen krümmte, trat der »Freund«, der um Alles wußte, wie zufällig herein, da sie mich gerade mit Hohn von sich stieß, und übernahm in ihrem Spottlied die zweite Stimme. Ich durchschaute auf der Stelle das tückische Possenspiel – mein heißes Blut wallte über – ich warf dem Triumphirenden meine Reitpeitsche ins Gesicht, – das Ende der Komödie vollzieht sich auf diesem blutigen Bette. –
– – Es flimmert mir vor den Augen. Kaum daß ich die Züge meiner eigenen Schrift noch unterscheiden kann. Es ist gut so! Ich sehne mich nach dem letzten Augenblick, um die qualvollen Stimmen nicht mehr zu hören, die mir zurufen: du hast das edelste Weib elend gemacht, und wenn es eine Ewigkeit giebt, wird der Gedanke dich mehr darin martern, als alle Höllengeister thun könnten. Mein Weib, meine hochherzige, starke, reine Karoline! – ich weiß, du wirst diese meine Flecken mit deinen Thränen auslöschen. Aber ich bitte dich noch um Eins: wenn es irgend möglich ist, sorge, daß unser Sohn nie erfährt, wie jämmerlich sein Vater gelebt und gestorben. Mein prächtiger Junge – ich sehe in diesem Augenblick seine ernsthaften, ehrlichen Augen auf mich gerichtet, – deine Augen, Karoline! Wenn ich denken müßte, die stürmische Liebe, mit der er sich mir an den Hals warf, so oft er mich sah, verkehrte sich in – Verachtung – Abscheu – o, das ist mehr als Hölle – das, Karoline, bei deinem Mutterherzen beschwöre ich dich, – das darf, das wird nie geschehen, – nicht wahr? Diese angstvolle letzte Bitte eines von Reue gefolterten Sterbenden – – –«
Hier brach es ab, die letzten Zeilen waren kaum noch leserlich, Auge und Hand schien die Nähe des Todes bereits überschattet zu haben. Was blieb auch noch zu sagen? Das Herz dieser Frau hätte wohl auch ohne Wort verstanden, was der letzte Wunsch des Sterbenden sein mußte.
Wort für Wort wußte sie den Brief auswendig. Und in den langen dunklen Nachtstunden nach dem Gespräch mit ihrem Sohn war es ihr als ganz natürlich und gut erschienen, das verhängnißvolle Blatt zu sich zu stecken, wenn sie den Gang zu Cilly's Mutter anträte. Ihr allein, die Mutter der Mutter, wollte sie, nach feierlichem Gelöbniß unverbrüchlicher Verschwiegenheit, dieses unter so viel Entsagungen und Schmerzen behütete Geheimniß offenbaren. Sie konnte sich dann bei der übrigen Familie, vor Allem bei jener gefürchteten Erbtante in B. für die völlige Unschuld und Unantastbarkeit der Verleumdeten verbürgen.
Das schien ihr, wie gesagt, so leicht und richtig in ihrem einsamen nächtlichen Denken, daß sie ein fröhliches Ende voraussah. Und nun – ein einziger Blick auf den Brief, wie er da vor ihr lag, hatte ihr allen Muth gelähmt.
Nein, sagte sie vor sich hin, es ist unmöglich. Dieser Frau, die mich nicht liebt, die auch mein Kind sich nur so aus Gnaden gefallen läßt, um ihrem eigenen Kinde nicht das Herz zu brechen, – dieser ganz Fremden mein heiligstes Geheimniß ausliefern, das Andenken an das unselige Geschick eines guten, nur leider schwachen Menschen, – nein, in ihren Augen wäre es nur eine gerechte Buße für arge Sünden, – sie hat ihn ja nicht gekannt, sie ahnt und begreift ja nicht, warum man ihn trotz alledem lieben mußte, wie man ein ganzes Leben lang ihn betrauern kann!
In solche rathlose Gedanken versunken stand sie noch vor dem Secretär, als die alte Dora leise hereintrat, ein Bündel Schriften in der Hand.
Der Bote vom Armenpflegschaftsrath habe die Akten gebracht. Wenn die Madame sie gleich durchsehen wolle, könne er darauf warten. Sie müßten noch bei drei anderen Damen vom Vorstand circuliren, und es sei pressant; übermorgen habe der Herr Stadtpfarrer eine Sitzung anberaumt.
Frau Karoline warf einen zerstreuten Blick auf die Papiere. Es war eine ansehnliche Menge von Zeugnissen, Briefen und Bittgesuchen um Unterstützung, die sie alle sorgfältig zu prüfen hatte, da sie es mit ihren Pflichten als Vorstandsmitglied des städtischen Hülfsvereins nicht leichtsinnig nahm.
Lege die Akten nur auf den Tisch, Dora, sagte sie. Der Mann soll Nachmittag wiederkommen. Ich habe etwas Anderes vor, das mehr Eile hat.
Die Alte that mit stillem Kopfschütteln, wie ihr geheißen war. Es war noch nie vorgekommen, daß irgend Etwas auf der Welt ihrer Frau pressanter schien, als ihre Armensachen.
Frau Karoline aber ging noch eine ganze Viertelstunde in ihrem Stübchen auf und ab. Dann erst schien ihr Entschluß sich ganz befestigt zu haben. Sie trat vor das Bild des unglücklichen Mannes, der aus seinem goldnen Rahmen so zuversichtlich lebensfroh zu ihr herabsah, als ob nie ein ernster Kummer diese offene Stirn furchen könne. Wie die kleine blasse Frau jetzt zu ihm aufblickte, war Etwas im Ausdruck ihres Mundes, als wiederhole sie im Stillen ihr altes Gelübde, nie zu verrathen, was die letzten Stunden dieses trostlos hingestürmten Lebens verbittert hatte.
Sie nahm dann mechanisch das Bündel Papiere vom Tisch, trug es zum Secretär und legte es in dieselbe Schublade, wo sie auch den Brief beim Eintritt ihrer Dienerin rasch wieder verborgen hatte. Sorgfältig schloß sie die runde Klappe wieder zu und steckte den Schlüssel in ein eigenes Fach ihres Geldtäschchens. Darauf klingelte sie ihrer Dora und ließ sich Hut und Mantel bringen.
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Wie sie so rasch und ohne rechts noch links zu blicken durch die bereiften, nebligen Straßen hinging, sah der resoluten kleinen Frau wohl Niemand an, wie sauer dieser Gang ihr wurde. Sie hatte das Mädchen, das ihr Sohn liebte, so wenig sie bisher mit ihr zusammengekommen, tief ins Herz geschlossen. Mit der Mutter hatte sie öfter verkehrt, unter Anderm in jenem Armencomité. Sie empfand aber, eine geborene Großstädterin wie sie war, von echt vornehmer Familie und in den besten Kreisen aufgewachsen, eine stille, unüberwindliche Abneigung gegen diese Frau, die bei aller Gutmüthigkeit einen kleinstädtischen Honoratiorendünkel besaß und als Gattin eines der reichsten Männer der Stadt der Pflicht, zu repräsentiren, sich lebhaft bewußt war. Dieser Frau sollte sie nun gegenübertreten und sie bitten, die Ehrenerklärung, die sie sich selber geben mußte, auch ohne weitere Zeugnisse für voll anzunehmen!
Als sie das stattliche blanke Haus am Markt erreicht hatte, mußte sie all ihren Muth zusammennehmen, um nicht wieder umzukehren. Ach Gott! ach mein Gott! seufzte sie, indem sie die teppichbelegte Treppe hinaufstieg. Droben wurde sie in das Besuchszimmer geführt und hatte hier eine Weile Zeit, sich zu sammeln. Wie sie die prunkvollen Möbel und schweren Seidenstoffe musterte, mit denen dies Gemach nicht eben im besten Geschmack ausgestattet war, kehrte ihr angeborener echter Stolz, der allen Schein verachtete, in ihre Seele zurück, und sie besann sich, daß sie ja keine Gunst zu erbitten komme, vielmehr der Besitzerin dieses Hauses eine Ehre damit anthue, wenn sie ihren einzigen Sohn ihr zum Schwiegersohn gönnen wollte.
Sie war kaum mit dieser Erwägung fertig geworden, als Cilly's Mutter hereintrat, in einem reichen Morgenanzug, sichtbar erregt und im Zweifel darüber, mit welcher Miene sie den frühen Besuch, den sie halb und halb mit heimlicher Angst erwartet, zu begrüßen habe. Sie glaubte sehr klug zu verfahren, wenn sie alle übrigen Beziehungen beiseite ließ und nur das collegiale Verhältniß von der Armenpflegschaft her betonte.
Ich komme in ganz persönlichen Angelegenheiten zu Ihnen, sagte die kleine Frau sofort mit einem Ton, der alle Umschweife abschnitt. Mein Sohn war gestern bei Ihnen, um Ihre und Ihres Herrn Gemahls Entscheidung über sein Lebensglück –
O meine verehrte Frau Collegin, unterbrach sie Cilly's Mutter, Ihr Herr Sohn ist ein so vortrefflicher junger Mann, Sie glauben nicht, wie mein Gatte ihn schätzt; ich selbst – obwohl Cilly Partieen hätte machen können, die äußerlich weit glänzender gewesen wären, – ich selbst bin ganz verliebt in ihn, und wenn dieser Eine Umstand nicht wäre – aber ich bitte doch Platz zu nehmen – es ist noch ein wenig kalt hier – der Salon wird so schwer durchwärmt, – wir wollen es nun mit einem russischen Ofen versuchen – ich bitte dringend –
Ich habe Ihnen nur wenige Worte zu sagen, erwiderte Frau Karoline, und – verzeihen Sie – in einem Hause, wo eine so schwere Beschuldigung gegen meine Ehre ausgesprochen worden ist, mag ich mich nicht als Gast betrachten, ehe dieser Makel wieder von mir genommen ist. Ich habe meinem Sohn, als er mir von dem Einspruch des alten Fräuleins und Ihren Rücksichten auf diese reiche Verwandte erzählte –
Aber ich bitte Sie, beste Frau, was sollen wir mit dem besten Willen thun? Es hängt so viel davon ab – versetzen Sie sich in unsere Lage – von allem Geschäftlichen abgesehen – die natürlichen Beziehungen zu einer einzigen Schwester und Schwägerin – übrigens war Ihr Herr Sohn heut schon in aller Frühe bei meinem Mann und hat ihm mitgetheilt, was Sie in der Nacht ihm eröffnet haben. Ich muß gestehen –
Mein Sohn? Er war hier? Ich hatte ihn doch gebeten –
Er wollte Ihnen gewiß einen Gang ersparen, der Ihnen wohl nicht leicht wurde. Mein Gott, Sie sind ja so exclusiv – so menschenscheu – man muß ja geradezu ein Armer oder Kranker sein, damit Sie einem die Ehre erweisen, einen aufzusuchen! – und Ihr Herr Sohn, der Sie förmlich vergöttert, das können Sie nur glauben –
Wollen Sie die Güte haben, mir zu sagen, was mein Sohn Ihnen von unserem Gespräch berichtet hat?
Nun, was wir uns denken konnten: daß Sie Alles für eine böswillige Verleumdung erklären, bis auf das Duell, dessen Veranlassung Sie allerdings nicht aufklären dürften, zu dem Sie selbst aber nicht in der entferntesten Beziehung gestanden hätten. Der arme Hubert! Er war noch ganz unter dem Eindruck dieses aufregenden nächtlichen Gesprächs. Und er ist ein so guter Sohn, jede Mutter könnte stolz darauf sein, – ein solches Herz, ein so klarer Verstand – er wird gewiß noch eine schöne Carrière machen und so glücklich werden, daß er es leicht verschmerzt, wenn auch wirklich ein jugendlicher Wunsch ihm unerfüllt geblieben ist!
Sie hatte so eifrig gesprochen, daß ihr rundes, vor Zeiten gewiß recht hübsches Gesicht über und über geröthet war. Nun schwieg sie in sichtbarer Verlegenheit, wandte sich einen Augenblick ab und fegte ein paar Stäubchen von der kostbaren Decke des Tisches, neben welchem die beiden Frauen standen.
Es entstand eine peinliche Stille. Dann hörte man die Stimme der kleinen Frau mit den weißen Haaren, die jetzt ein wenig gepreßt klang, als habe sie Mühe, ihre Aufregung zu bemeistern.
Sie haben vielleicht Recht. Ein junger Mann, wie mein Sohn, dem ein reiches Leben bevorsteht, der an keiner Thür, wo er auch anklopfen mag, befürchten muß, abgewiesen zu werden, – ich glaube wohl, daß er mit den Jahren selbst eine so tiefe Neigung, wie die zu Ihrer Tochter, verwinden wird. Aber glauben Sie dasselbe auch von Fräulein Cilly? Ich habe sie nicht oft gesehen, aber doch den Eindruck von ihr empfangen, als ob sie zu den Naturen gehörte, die in unserem Geschlecht zwar selten, aber doch noch immer zu finden sind, die ein für alle Mal ihr Herz hingeben, und wenn es ein Irrthum war oder das Schicksal dazwischentrat, nie wieder ganz glücklich werden, auch nicht durch die glänzendste Partie, mit der man später sie zu entschädigen versuchte.
Ja wohl, nickte Cilly's Mutter, indem sie an dem Strauß künstlicher Blumen in der großen Krystallvase ein paar Blättchen zurechtzupfte, Cilly ist ein ungewöhnliches Kind, ein seltenes Geschöpf, wie mein Mann immer sagt. Aber bei alledem – mein Gott, das Leben bringt so Vieles mit sich – Sie begreifen, beste Frau, die Pflicht der Eltern, die kühler und unbefangener urtheilen, – nicht als ob wir irgend etwas von dem in Zweifel zögen, was Ihr Herr Sohn uns mitgetheilt –
Sie stockte. Es machte sie immer verwirrter, daß sie die stillen Augen der kleinen Frau so fest auf sich gerichtet fühlte. Wenn es nur auf uns ankäme – stotterte sie
Hat mein Sohn Ihnen auch gesagt, daß ich bereit war, mit einem feierlichen Eide Alles zu bekräftigen, was ich in dieser Nacht zum ersten Mal mit ihm besprochen habe?
Ich weiß wahrhaftig nicht, ob er meinem Mann auch das gesagt hat. Aber, beste Frau, was würde es helfen? Denn, sagt mein Mann mit Recht, was wir glauben oder nicht, kommt ja nicht in Betracht. Veronika muß überzeugt werden – da sie sich nun einmal die verrückte Marotte in den Kopf gesetzt hat, so eine rechte Betschwestern-Marotte, – Sie sehen, mein Mann beurtheilt seine Schwester nicht gerade schonend, – die nämlich, sich von der Familie loszusagen, wenn Sie, meine Liebe, an der Hochzeit Theil nähmen oder ihr sonst hier im Hause begegneten. Und wie sie nun einmal ist – und einer einzigen Schwester, auch wenn sie keine Erbtante wäre, kann man doch nicht geradezu das Haus verbieten, – würde sie sich nicht dabei beruhigen, wenn wir die moralische Ueberzeugung von Frau Karolinens vollkommener Unschuld erhielten – sagt mein Mann –, und selbst wenn Frau Karoline einen sogenannten Reinigungseid schwören wollte, mein Gott, wie oft hat man erlebt, daß eine Mutter, um ihr geliebtes Kind glücklich zu machen, ein Verbrechen begangen, eine Todsünde auf ihr Gewissen genommen hat, ohne an ihr eigenes Seelenheil zu denken. So, sagt mein Mann, könnte Veronika sagen, nicht entfernt als ob er selbst oder ich einen solchen Gedanken –
Ich bitte, sich ja keinen Zwang anzuthun – brach es jetzt der kleinen Frau von den entfärbten Lippen, die sich während der letzten langen Rede immer fester zusammengepreßt hatten. Nach Allem, was ich so eben gehört, muß ich leider gestehen, daß mir auch auf Ihre eigene moralische Ueberzeugung nicht viel mehr ankommt. Ich bitte mir nur noch eine Frage zu beantworten: wenn ich den Tod meines Gatten nicht überlebt, oder überhaupt nie die Ehre gehabt hätte, Ihre Bekanntschaft zu machen, sondern etwa in einer sehr entfernten Stadt lebte und Ihnen die Versicherung geben könnte, daß ich Ihrem Fräulein Schwägerin niemals durch meine anstößige Nähe unbequem werden würde, – wäre dann jedes Hinderniß für die Ehe unserer Kinder beseitigt?
Die runden Augen der Kaufmannsfrau richteten sich mit einem betroffenen Ausdruck auf ihren Besuch.
Was wollen Sie damit sagen? Was nützt es, von Möglichkeiten zu reden, die ja vorläufig –
Es ist gut, unterbrach sie Frau Karoline. Sie haben Recht, vorläufig bin ich eben noch da, und da ich leider schon Manches überlebt habe, wird mich auch diese neue Erfahrung nicht aus der Welt schaffen. Uebrigens kommt Zeit, kommt Rath. Ich bitte um Entschuldigung wegen meiner langen Störung zu so unschicklicher Stunde. Leben Sie wohl!
Sie machte einen förmlichen, eher herablassenden, als höflichen Knix und war aus dem Zimmer, bevor die verdutzte Herrin des Hauses noch ein Abschiedswort an sie richten konnte.
So eilig sie es aber hatte, das Gespräch, das sie nicht länger ertrug, abzuschneiden und diesem Hause für immer den Rücken zu kehren, so mußte sie dennoch draußen in dem glänzenden Treppenflur einen Augenblick stehen bleiben, die Hand um das Mahagonygeländer geklammert, die Augen eingedrückt, da das erregte Blut ihr zu heftig gegen die Schläfen pochte und ein plötzlicher Schwindel sie um ihre Besinnung zu bringen drohte. Es dauerte nur einige Secunden. Der Gedanke, wie beschämend es für sie sein würde, wenn man sie hier ohnmächtig fände, als ob ihr Stolz die Demüthigung, die sie so eben erlitten, nicht hätte überwinden können, kam ihrer Kraft zu Hülfe. Aber ehe sie sich noch besinnen konnte, fühlte sie sich von zwei zarten Armen umfaßt und unwiderstehlich fortgezogen nach einer Thür neben dem großen Vorzimmer und sah mit tiefer Rührung in ein junges, über und über glühendes Mädchengesicht, aus dem zwei Augen in zärtlichster Verwirrung sie anlächelten.
O Cilly, du bist es! sagte sie leise abwehrend. Ich danke dir, Kind, daß ich dich noch einmal sehen darf. Und dabei schien sie das reizende Gesicht zu studiren, wie wenn sie es noch nie gesehen, und athmete wie von einer Angst befreit auf, als sie keinen Zug darin fand, der der Mutter glich.
O liebste Mutter, flüsterte das Mädchen, kommen Sie doch in mein Zimmer – bitte, bitte – ich habe Ihnen so viel zu sagen. Denn schelten Sie mich nur, aber – ich habe Alles mit angehört, was Sie mit der Mama gesprochen haben – die Thür vom Salon war offen geblieben – Sie glauben nicht, wie weh es mir gethan hat, aber nicht wahr, das ist ja unmöglich! – Was kümmert uns diese böse Tante? An ihr Geld habe ich nie gedacht, an sie selbst nur aus Pflicht, so oft die Mama es für nöthig fand, – Sie aber, liebste Mutter, seit dem ersten Tage, wo ich Ihnen mit Hubert im Stadtwäldchen begegnet bin, – o nicht wahr, Sie wissen es, nicht bloß, weil Sie seine Mutter sind, hab' ich Sie lieb gehabt, Sie wissen auch –
Meine geliebte Tochter, unterbrach sie die kleine Frau, während das Mädchen seine Thränen an ihrer Brust ausweinte, du mußt dich fassen, ich muß es ja auch. Hier ist meines Bleibens nicht, und dir würde man es übelnehmen, wenn man dich so in meinen Armen fände. Sei ruhig, es wird noch Alles gut. Versprich mir nur, ihn immer so zu lieben, wie heut; du wirst sehen, er wird es immer werth sein. Gieb mir deine Hand darauf – so! – und nun laß dich noch einmal recht mütterlich küssen und segnen!
Ein Geräusch unten auf der Treppe riß die Beiden, die sich fest umschlungen hatten, auseinander. Bald darauf sah man die kleine Frau langsam, aber mit ganz gefaßter Haltung die Treppe hinuntergehen und die Hausthür mit fester Hand öffnen, ohne die Hülfe des herbeieilenden Portiers abzuwarten.
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Eine gute halbe Stunde von der Stadt entfernt und von dem nächsten Dorf recht geflissentlich durch ein Wäldchen geschieden, lag ein schlichtes einstöckiges Landhaus mitten in einem großen Obst- und Gemüsegarten, der den eigentlichen Werth dieser Besitzung ausmachte. Vor sechzehn Jahren hatte Frau Karoline, als sie aus ihrer Vaterstadt fortzog, dies Gütchen gekauft und in tiefster Zurückgezogenheit hier gelebt, bis ihr Sohn von seinen Reisen zurückkam und sich als Advocat in der Stadt niederließ. Da war der Garten dem bisherigen Gärtner in Pacht gegeben worden, und von dem Hause hatte sich die Besitzerin nur den oberen Stock vorbehalten, um dort die heiße Jahreszeit zuzubringen.
Der Gärtner, ein schon betagter und etwas wunderlicher Mann, hauste seit einigen Monaten mutterseelenallein in einem Hinterzimmer des Erdgeschosses. Seine alte Frau und ein einziger blühender Sohn, der ihm im Geschäft geholfen, waren ihm rasch nach einander weggestorben, und in seiner wortlosen, fast ingrimmigen Trauer um diese beiden einzigen Angehörigen mochte er kein fremdes Gesicht um sich sehen. Auch konnte er, was die Pflanzungen im Winter an Pflege erforderten, da er noch rüstig und ein umsichtiger Mann war, füglich ohne Hülfe beschicken.
Er saß eben an dem Herd seiner kleinen Küche auf dem Block, auf dem er sein kleines Holz zu spalten pflegte, und tauchte den Löffel trübsinnig in die Suppe, die er sich selbst hatte kochen müssen, als er einen Schritt über den Kiesweg herankommen und gleich darauf den Hund, der draußen im Flur bei seinem Mittagmahl kauerte, freudig aufheulen hörte.
Gleich darauf wurde die Küchenthür leise aufgemacht, und Frau Karoline erschien auf der Schwelle.
Der alte Mann hing sehr an seiner gütigen Herrin, die noch in der letzten schweren Zeit seinem armen Weibe beigestanden und dem Sohne selbst die Augen zugedrückt hatte. Als er ihrer jetzt ansichtig wurde, schoß ihm diese Erinnerung wieder mächtig gegen das Herz, daß er sich zuerst gar nicht verwunderte, die Frau an einem so rauhen Nebeltage hier draußen zu sehen.
Guten Tag, Veit, sagte sie, anscheinend mit ganz gleichmüthiger Freundlichkeit, wie immer. Laßt Euch nicht stören in Eurem Mittagessen. Ihr sollt mir hernach selbst noch etwas kochen – nicht jetzt, es ist noch nicht meine Stunde – aber vor allen Dingen: Niemand darf wissen, Veit, daß ich hier im Hause bin. Könnt Ihr lügen, Veit? Ich weiß wohl, es wird Euch sauer, aber dießmal müßt Ihr's dennoch übers Herz bringen. Es ist möglich, fuhr sie leiser fort, – daß man mich vermißt, daß mein eigener Sohn mich hier draußen sucht. Wenn er kommen sollte, Veit, – Ihr versteht mich – Ihr habt seine Mutter seit drei Wochen nicht gesehen; die Sünde, die Ihr damit thut, nehm' ich auf mein Gewissen, – und wenn er Euch nicht glaubt, da Ihr vielleicht trotz Eurer zweiundsechzig Jahre noch roth dabei werdet, – wenn er das Haus nach mir durchsucht, – zu der alten Kammer auf dem Speicher, wo Ihr sonst Eure Sämereien und Zwiebelknollen überwintert, habt Ihr schon seit Jahr und Tag den Schlüssel verloren, hört Ihr? – Und jetzt macht mir oben die blaue Stube auf und bringt mir Feder, Tinte und Papier, ich habe einen eiligen Brief zu schreiben.
Dem einsamen alten Manne, der immer wortkarg gewesen, war vollends in der letzten Zeit der Mund versiegelt geblieben. So nickte er nur zu Allem, was er geheißen wurde, führte die Herrin in das obere Stockwerk, öffnete die Läden in dem blauen Zimmer und war nicht eher zu bewegen, sein unterbrochenes Mahl fortzusetzen, bis er in dem Ofen ein Feuerchen angemacht, das die dumpfe, frostig beklommene Luft des lang verschlossenen Raumes ein wenig verbesserte.
Aber selbst als dies geschehen und die Schreibsachen zusammengesucht waren, konnte Frau Karoline sich nicht gleich entschließen, den Brief aufzusetzen, den sie auf dem traurigen Wege hier heraus schon hundertmal in Gedanken geschrieben hatte.
Sobald der Alte sie droben allein gelassen hatte, veränderte sich der Ausdruck ihres Gesichts. Eine tiefe Trostlosigkeit, eine schmerzliche Erschöpfung sprach aus jedem Zuge ihres Mundes, und die Augen wanderten unstät an den wohlbekannten Wänden herum, wo jetzt von der früheren behaglichen Einrichtung ihres Wittwensitzes nur noch dürftige Reste zurückgeblieben waren. Ach Gott! ach mein Gott! sagte sie immer von Zeit zu Zeit vor sich hin, während sie über die weißgescheuerten Dielen hin und her ging, den Hut noch immer auf dem Kopf und den Mantel umgebunden, obwohl der Ofen schon seit einer halben Stunde eifrig prasselte. Dann kam der alte Veit wieder herauf, fragte, ob die Frau zu essen wünsche, und wurde wieder fortgeschickt. Dann schlug der Hund im Hausflur an, daß sie zusammenschrak, hastig das Schreibgeräth in die Schublade warf und sich auf dem Sprung hielt, ihr Versteck auf dem Speicher aufzusuchen. Erst als diese Gefahr vorüber war, konnte sie so viel Muth und Kraft zusammenraffen, um sich an das Tischchen zu setzen und die folgenden Zeilen mit leidlich fester Hand aufs Papier zu werfen:
»Mein geliebtes Kind! Es bleibt nichts Anderes übrig, als sich der Nothwendigkeit zu beugen. Daß es mir nicht ganz leicht wird, mich in diese Trennung zu finden, will ich nicht zu leugnen versuchen. Was würde es helfen, da du meine Liebe zu dir kennst? Aber ich habe schon Härteres überwunden, und dies wird mich Gott ja wohl auch überleben lassen. Wenn nur die ersten Jahre vorüber sind, wird man es mir wohl nicht mehr mißgönnen, mich an eurem Glück zu freuen. Bis dahin denke ich bei meiner Schwester in Hamburg zu leben. Du magst allen Denen, die sich über meine plötzliche Abreise etwa wundern, sagen, daß ich zu ihr gerufen sei, um sie in ihrer Krankheit zu pflegen. Daß sie mich schon längst sehr gut hätte brauchen können, ist ja die reine Wahrheit. Dir aber war ich noch nöthiger; das hat jetzt aufgehört; du wirst dein Mutterchen kaum vermissen, als glücklicher junger Ehemann. Grüße unsere Cilly von mir, sie hat ein goldenes Gemüth, ich liebe sie, wie wenn ich sie unterm Herzen getragen hätte.
Lebwohl, mein lieber Junge. Du hörst bald wieder von mir. Dein getreues
Mutterchen.
Ich mache den Brief noch einmal auf, um dir zu sagen: denke nur nicht daran, mich etwa aus übertriebenem Stolz und Ritterlichkeit in meinem Vorhaben wankend machen zu wollen, reise nicht etwa nach Hamburg, mich von da mit Gewalt wieder nach Hause zu holen. Ich komme fürs Erste noch gar nicht hin, reise auf einem weiten Umwege, Geld genug hab' ich mitgenommen, bin so gesund wie ein Fisch, auch gar nicht einmal sehr betrübt, daß es so hat sein müssen. Du weißt ja, wie es meine Art ist, über Dinge, die nicht zu ändern sind, mir rasch einen Vers zu machen.
Also sei gutes Muths, liebster Junge, und hoffe mit mir auf bessere Zeiten. Wir stehen alle in Gottes Hand und müssen's nehmen, wie er's schickt.
Lebwohl! Ich küsse dich und Cilly, und bin eure alte resolute
Mama Karoline.«
Herrgott, ich muß wahrhaftig ein drittes Couvert daran wenden. Mir fällt ein, du möchtest am Ende, wenn du meine Spur nicht findest, auf den wahnsinnigen Gedanken kommen, ich hätte in einem Anfall von gottloser Schwermuth mir selbst – wer weiß, ob man mich etwa, da ich ziemlich lange spazieren gegangen bin, auch in der Nähe des Flusses gesehen hat, – aber nicht wahr, Kind, so etwas Sündliches traust du deiner alten, von Gott hartgeprüften Mutter nicht zu, – es wäre ja nicht bloß frevelhaft und gottlos, sondern würde auch meinen Zweck, dir nicht zu deinem Glücke hinderlich zu sein, verfehlen. Wie könnte mein lieber Sohn ein Glück genießen, das mit einem Verbrechen seiner Mutter erkauft wäre!
Also – nicht wahr? – du bist ganz ruhig um mich. Wir sehen uns wieder, vielleicht früher als wir denken. – Empfiehl mich auch den Schwiegereltern. Sie können ja nichts dafür, daß sie gewisse Rücksichten zu nehmen haben.
Leb tausendmal wohl und sei gesegnet!«
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Ihre Hand zitterte, als sie den Brief zum letzten Male schloß; ein kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Aber sie zauderte nun keinen Augenblick mehr. Sie rief den alten Veit und trug ihm auf, sich nach einen, sicheren Boten umzuthun, der den Brief nach der Stadt tragen sollte. Sie band ihm auf die Seele, dem Boten einzuschärfen, daß er auf keinen Fall verrathen dürfe, von welchem Ort man ihn abgeschickt habe. Dann ging sie mit dem Alten in die Küche hinunter und wartete dort, auf dem Hauklotz am Herde sitzend, auf seine Rückkehr.
Er blieb nicht lange aus, es war Alles aufs Beste und Zuverlässigste besorgt worden. Nun redete er der Herrin zu, etwas zu essen, und bediente sie, als sie sich endlich, um ihn zu beruhigen, dazu verstand, in seiner stillen, einsilbigen Art, ohne sie mit Fragen zu belästigen, da sein eigener Kummer ihm die Neugier abgestumpft hatte. Erst als sie ihn fragte, ob wohl für morgen früh ein Wagen aufzutreiben sei, bei einem sicheren Mann, der reinen Mund zu halten verstehe, wagte er zu fragen, wohin die gnädige Frau denn in der bösen Jahreszeit verreisen wolle. Er hörte mit stillem Kopfschütteln, da ihm jetzt erst ihr ungewohntes Wesen verdächtig ward, daß sie es selbst noch nicht genau wisse, die Nacht sei lang genug, sich's zu überlegen, sie werde dem Kutscher dann schon Bescheid sagen. Aber den Rückstand von der Pacht müsse er ihr mit auf den Weg geben; er werde die Summe, wenn er sie nicht gleich im Hause habe, leicht auftreiben können in der Nachbarschaft, und wenn es ihm gerade schwer falle, bis zum neuen Jahr das Geld zu entbehren, wolle sie ihn, vom Ziel ihrer Reise aus, wo sie Geld zu finden denke, das Nöthige schicken. – Das Alles verwunderte ihn mehr und mehr. Er war aber zu sehr gewohnt, den Willen der gütigen Frau als weise und gerecht zu verehren, um irgend eine Einwendung zu machen.
Auch brachte er schon eine Stunde später Beides, das Geld und die Nachricht, daß ein Fuhrwerk für morgen früh bestellt sei, das sie vor Thau und Tage davonführen werde. Sie hatte sich wieder in die blaue Stube zurückgezogen, wo der Ofen inzwischen ausgebrannt war, und saß in einem Lehnstuhl am Fenster, den Blick auf die kahle Straße gerichtet, die nach der Stadt lief.
Veit, sagte sie plötzlich, da kommt er, ich hatte es wohl geahnt. Sein erster Gedanke mußte sein, mich hier draußen zu suchen. Geht hinunter und erinnert Euch, was Ihr mir angelobt habt. Ich darf Euch die Gründe nicht sagen, aber Ihr werdet begreifen, daß es sich um nichts Kleines handelt, wenn ein Sohn seine Mutter sucht und sie muß sich vor ihm verleugnen lassen. Schließt mich hier ein und steckt den Schlüssel zu Euch. Im Nothfall bleibt noch immer die Bodenkammer.
Der Alte nickte und ging. Frau Karoline hörte den Schlüssel im Schloß umdrehen und seufzte tief auf. Sie konnte jetzt, durch die staubblinden Scheiben spähend, deutlich das Gesicht ihres lieben Sohnes erkennen, wie er mit verstörten Zügen daherkam, – also hatte er schon ihren Brief; – es war ihr einen Augenblick, als habe sein Blick, die oberen Fenster streifend, ihre Augen getroffen, erschrocken schmiegte sie sich hinter die Mauer zurück und horchte mit Herzklopfen hinunter. Der Hund schlug an und stieß dann sein Freudengebell aus, als er den jungen Herrn eintreten sah. Dann hörte sie Hubert's Stimme und schlich an die Thür, um zum letzten Mal zu hören, was ihr Kind sagte, aber die Worte verhallten in dem tiefen Treppenflur. Ein langes Gespräch wurde unten geführt, einen Augenblick schien es, als ob sich die Sprechenden der Treppe näherten, um heraufzusteigen, schon war die Mutter von der Thür zurückgeflohen und im Begriff durch eine Seitenpforte nach dem Speicher hinaufzuhuschen, als es unten still ward, die Hausthür wieder aufging und Schritte sich vom Hause weg nach der Straße hin entfernten. Im nächsten Augenblick war die Frau wieder nach dem Fenster hingestürzt und sah nun die schlanke Gestalt ihres Lieblings gerade noch am Gartenzaun stehen, dem Alten die Hand reichend, und dann mit einem letzten hoffnungslosen Blick auf das Haus langsam den Weg nach der Stadt einschlagen.
Da sank sie in den Sessel, drückte beide Hände vor das Gesicht und weinte sich von Herzen aus.
*
Sie überhörte es, als der Alte heraufkam und die Thür wieder aufschloß. Da er sie drinnen leise schluchzen hörte, wagte er nicht einzutreten. Erst nach einer Stunde schlich er wieder hinauf, klopfte behutsam an und getraute sich endlich in das Zimmer zu schleichen. Da lag sie in einem sanften Schlaf, der sich ihrer erschöpften Seele erbarmt hatte.
So vergingen mehrere Stunden. Die Stille hier draußen in der winterlich verödeten Gegend ließ sie ruhig fortschlummern, so erquicklich traumlos, daß, wie sie endlich durch das Peitschenknallen eines vorüberfahrenden Kärrners geweckt wurde, sie ganz heiter die Augen aufschlug. Da sah sie in die unwohnliche Stube und die dunkle Nebellandschaft vor dem Fenster, und die ganze Last ihres Schicksals fiel ihr plötzlich wieder auf die Brust. Ach Gott! ach mein Gott! seufzte sie und besann sich rasch auf Alles, was geschehen war und noch kommen sollte. Und jetzt erst, wie ihr Eins nach dem Andern Alles wieder vorüberging, fuhr sie, plötzlich von einem qualvollen Gedanken erschreckt, in die Höhe: sie hatte ja den Brief nicht bei sich, an dem Alles hing, der vor keines Menschen Auge kommen durfte, den sie heute früh offen, wie sie ihn in der Hand gehalten, wieder in das Schubfach des Secretärs verschlossen hatte! Wenn sie nun nicht nach Hause kam, Wochen, Monate, Jahre lang, – wie sollte sie es anstellen, zu diesem so eifersüchtig bewachten unseligen Document ihrer Unschuld und ihres Unglücks zu gelangen!
Ein kalter Schauer überlief sie bei dem Gedanken, der Brief möchte auch nur erst nach ihrem Tod gefunden werden. Warum hatte sie ihn nicht heut am Morgen, wie sie einen Augenblick vorgehabt, verbrannt! So konnte sie jetzt ruhig sein, alles Andere war so schön geordnet, Niemand litt, als sie selbst, und sie war ja an Leiden gewöhnt. Nein! es durfte nicht so bleiben. Sie mußte das Papier haben, um jeden Preis. Und noch war es ja nicht schwer, das Versäumte wieder gut zu machen.
Der alte Veit riß die Augen weit auf, als er die Herrin die Treppe herunterkommen sah, wieder in Hut und Mantel, und hörte, sie habe noch ein eiliges Geschäft in der Stadt abzuthun. Die frühe Novembernacht brach schon herein, der Schneewind pfiff ums Dach, und es war bitter kalt auf der Landstraße neben dem hoch mit Eis gehenden Fluß. Lassen Sie mich gehen, Frau, murmelte der alte Mann. Sie werden sich eine Krankheit zuziehen, und wenn Sie morgen ohnehin fort wollen –
Aber sie schüttelte entschlossen den Kopf und erlaubte auch nicht, daß er sie begleitete. Wenn man den Himmel nicht leichtsinnig herausfordert, sondern thut, was Gottes Wille ist, schadet einem kein bös Wetter, sagte sie, und trug ihm auf, oben noch einmal nachzulegen und für heißes Wasser zu sorgen, daß sie, wenn sie zurückkäme, sich ihren Thee bereiten könne. Dann schlug sie den Weg nach der Stadt ein.
Sie hatte Zeit, sich Alles wohl zu überlegen. Ihrem Hause gegenüber war ein kleiner Kramladen, dessen Besitzerin allerlei Gutes von ihr genossen hatte, in gesunden und kranken Tagen. Bei Der wollte sie vorsprechen, in Deren Hinterstübchen abwarten, bis sie ohne Gefahr drüben in ihrer Wohnung einbrechen und den Schatz entwenden könnte. Auch die alte Dora, vor deren Thränen und Bemühungen, sie nicht wieder fortzulassen, sie sich fürchtete, konnte durch die Nachbarin, die ein kluges und gewandtes Weibchen war, aus dem Hause gelockt und so lange festgehalten werden, bis sie ihren Zweck erreicht hatte. Wie sie durch die nächtliche Dämmerung und den scharfen Wind dahineilte und all diese Anschläge überdachte, trat ihr das Erbärmliche ihrer Lage so ans Herz, daß ihr die Augen übergingen. Sie kam sich als das unseligste aller irdischen Geschöpfe vor, daß sie so gezwungen war, mit Noth und Gefahr, durch Sturm und Winterschauer darum kämpfen zu müssen, von ihrem einzigen Lebensglück sich zu trennen, und in ihrer Verlassenheit auf der unwirthlichen Landstraße schien es ihr jetzt auch unmöglich, daß diese Trennung einmal ein Ende nehmen würde. Ach Gott! ach mein Gott! seufzte sie aus tiefer Brust. Dann stand sie still, schöpfte eine kleine Weile Athem und faßte sich neuen Muth. Auch das noch! dachte sie. Dann ist Alles gethan, und ich kann ruhig schlafen, er wird nie erfahren, was mich selbst sechzehn Jahre hindurch so unselig gemacht hat.
Niemand begegnete ihr, der sie erkannt hätte. Auch in den Straßen der Stadt, die sie endlich erreichte, wurde sie von keinem Begegnenden aufgehalten. Sie strich zitternd und trotz des eisigen Windes in Schweiß gebadet an den Häusern hin und bog jetzt in die Straße ein, wo sie wohnte – gewohnt hatte, wie es ihr jetzt schon vorkam. Ihr erster Blick fiel auf die Wand des Hauses gegenüber, an welcher sich gestern bis nach Mitternacht das schwarze Kreuz ihres Fensters in dem ruhigen Lichtschein abgeschattet hatte. Heute war die Wand dunkel, es brannte also kein Licht in ihrem oder ihres Sohnes Zimmer, Niemand war zu Hause, – höchstens die Magd, deren Kammer nach dem Hofe lag.
Ein schwerer Stein fiel ihr vom Herzen. Sofort gab sie all die künstlichen Pläne auf, die sie nur mit Hülfe der Nachbarin hätte ausführen können. Mit der Dora allein fertig zu werden, schien ihr jetzt ein Spiel. Sie stand einen Augenblick auf der Treppenstufe vor der Hausthür und betete still und wortlos zu Gott um das Gelingen ihres Vorhabens. Dann drehte sie behutsam den Schlüssel, den sie immer bei sich trug, im Schloß, öffnete und schlüpfte geräuschlos in den dunklen Flur und die alte Treppe hinauf.
Alles blieb ganz still im Hause. Auch oben, vor dem Eingang zu ihrer Wohnung, hörte sie keinen Laut, und es schien fast, als ob auch die Nora nicht in ihrer Kammer sei; denn das Kammerfenster war unerleuchtet. Da schloß sie mit klopfendem Herzen die Thür auf und betrat so leise, wie gestern Nacht der Sohn heimgekommen war, die Räume, die sie nun für immer meiden sollte.
Auf den Zehen, mit verhaltenem Athem schlich sie durch den dunklen Flur; denn sie hörte nun wohl, daß ihre getreue Dienerin in der Küche hantierte, aber vor dem Lärm, den sie dort mit Tellern und Pfannen machte, das Oeffnen der Thür überhört hatte. Auch in das Vorzimmer gelangte sie geräuschlos, zitternd am ganzen Leibe; denn ihr war zu Muth, wie wenn sie eine Diebesthat begehen wollte, ja noch unheimlicher, wie wenn sie zu einem Gespenst geworden wäre, das eine versäumte irdische Pflicht noch einmal in die Stätten des alten Lebens zurückzwingt. Kaum eine schwache Dämmerung schimmerte durch die Schneestreifen draußen an Dächern und Fenstersimsen in ihr grauliches Wohnstübchen, wo aus der schwarzen Höhle des Alkovens die Erinnerung so mancher kummervollen Nacht sie anblickte. Nur die Uhr hielt ihr eintönig heiseres Selbstgespräch, und über dem Sopha stand die dunkle Gestalt des Todten, für den sie all das litt und wagte, – das hielt sie aufrecht, daß sie, ohne erst einen Augenblick von dem hastigen Gang auszuruhen, so sehr ihre Kniee wankten, nach dem Secretär schlich, um ihren Schatz zu heben. Aber wie sie mit der Hand, in der sie den Schlüssel hielt, nach der bauchigen Klappe tastete, griff sie ins Leere – der Deckel stand offen – auch das Schubfach zur Rechten war halb herausgezogen, ihre suchende, wühlende Hand, die blindlings sich hier zurechtzufinden wußte, – nach Brief und Brieftasche tastete, griff und wühlte sie vergebens. Da vergingen der ärmsten Frau die Sinne; ehe sie noch sich zusammenreimen konnte, wer ihr hier zuvorgekommen, brach sie von dem Schrecken überwältigt in die Kniee zusammen und lag bewußtlos auf dem Teppich vor dem alten Möbel, Finsternis; um sie her und in ihrem von allen Schmerzen dieses Tages übermannten Gemüth.
Doch währte es nicht lange, so fing sie wieder an, ihr Bewußtsein zu sammeln; durch alle Betäubung der Sinne hindurch dämmerte in ihr das Gefühl der Gefahr und der Pflicht, ihr zu begegnen, wenn es noch irgend möglich wäre. Mühsam erhob sie sich vom Boden und wollte eben wagen, ein Kerzchen anzuzünden, das zum Siegeln neben dem Schreibzeug stand, um noch einmal ihre Augen in jedem Winkel herumgehen zu lasten, da hörte sie draußen eine Stimme, die sie vom Kopf bis zu den Füßen zittern machte, als ob ein Fieber sie schüttelte. Er war's, – er kam nach Hause, – die Dora leuchtete ihm durch das Vorzimmer herein, – ehe die Mutter noch daran denken konnte, etwa in den Alkoven zu flüchten, hörte sie ihn schon an der Schwelle sprechen: Ist Niemand dagewesen? Die Thür zu Mutters Zimmer steht ja auf! – und jetzt stand er auf der Schwelle und sah die stille kleine Frau an dem offenen Secretär, – und mit einem Ausruf, der wie der Schrei eines Geretteten klang, stürzte er auf sie zu und schlang seine beiden Arme so heftig um ihre wehrlose Gestalt, daß er jeden Laut von ihren Lippen erstickte.
Die alte Dienerin hatte das Licht auf den Tisch gestellt und war, ihre Augen mit der Schürze trocknend, wieder in die Küche geschlichen. Nichts regte sich in dem Stübchen als der zinnerne Pendel der Uhr, und er mußte eine gute Weile hin und her schwingen, ehe der Sohn endlich die Mutter, die leise weinte und mit stillen Geberden und halben Worten bat, daß er sie freigeben möchte, aus seinen Armen losließ. Nun stand sie vor ihm, sah ihn aber nicht an; sie knüpfte, als ob sie gleich wieder fort müsse, die Hutbänder fest, die er in seiner stürmischen Umarmung gelockert hatte. Endlich, da er sie mit seinen Blicken förmlich wie eine Geliebte verschlang und immer noch kein Wort über die Lippen brachte, dachte sie es sehr klug zu machen, wenn sie sich zu einem mütterlich vorwurfsvollen Tone zwang, und sagte, mit einer Geberde nach dem offenen Secretär hin: O Kind, warum hast du mir das gethan!
Er aber, dem sonst das leiseste verweisende Wort von ihr sehr zu Herzen ging, er schüttelte diesmal nur den Kopf und sagte: Komm, Mutterchen, jetzt ist die Reihe zu schelten an mir. Aber erst wollen wir uns hinsetzen. Du stellst Dinge an, die einem in die Glieder fahren.
Dann zog er einen Stuhl heran, stellte ihn vor den offenen Schreibtisch und setzte sich darauf, seine kleine Mutter aber hob er auf seinen Schooß, so viel sie sich sträubte, und sagte, halb lachend, halb mit erstickten Thränen:
Du darfst nun gar nicht mehr einen eigenen Willen haben, du böse Mutter, du mußt unter strenge Aussicht und Curatel; denn wer so leichtsinnige Geschichten macht und plötzlich auf und davon geht, den muß man dingfest machen, und einstweilen halt' ich dich hier auf meinem Schooß, bis du Zeichen ernstlicher Reue und die heiligsten Versprechungen giebst, dich zu bessern. Siehst du, wie ich heute deinen Brief bekam, da bin ich so wild und betrübt und dir so gram gewesen, wie ich nie geglaubt hatte daß man gegen eine solche Mutter werden könne. Und dann hab' ich draußen im Landhause nach dir gesucht –
Ich war auch da, sagte sie ganz scheu und ohne ihn anzusehen, aber du durftest mich eben nicht finden, und daß du mich jetzt so überrascht und ertappt hast, und hier gegen meinen ausdrücklichen Willen –
Er schloß ihr mit zärtlicher Gewalt den Mund, indem er sein Gesicht dagegen drückte. Sprich nur ja nichts, sagte er; es ist Alles dummes Zeug, was du sagen willst, und es muß weit gekommen sein, daß ein Sohn seiner Mutter den Mund verbieten darf. O du hartherzige Frau! Sieht und hört mich kommen in ihrem Versteck da draußen und ist mit dem alten grauen Sünder, dem Veit, verschworen, mich ablaufen zu lassen wie einen Narren! Und ich guter Tropf glaube auch wirklich, der Erdboden habe diese kleine Frau verschlungen; und wenn ich in meiner rasenden Desperation mir gleich ein Leids angethan hätte, wessen Schuld wäre es gewesen? Siehst du, jetzt fährst du doch zusammen bei dem bloßen Gedanken an diese Möglichkeit, die du in deiner unsinnigen Weisheit dir gar nicht vorgestellt hast. Aber ich bin zum Glück ein weit vorsichtigerer und besonnenerer Mensch, als meine böse Mutter. Ich lief nur auf die Polizei, um gleich, unter dem Siegel der tiefsten Heimlichkeit, eine allgemeine Spähe auf Wegen und Stegen nach dir zu veranlassen. Und dann kam ich heim und war wie ein lebendig Begrabener, daß ich dachte, ich müsse ersticken vor Angst um dich – ja, streichle mir jetzt nur die Hände – nie werde ich diese Stunde vergessen – und da klingelt es, und der Bote vom Armenpflegschaftsrath ist draußen, wegen der Papiere, die heut früh die Nora dir hereingebracht hatte, – es habe Eile, wurde mir bestellt; und weil ich sie nirgends fand, dachte ich mir gleich, du habest sie da in der Höhle verschlossen neben deinen Wirthschaftspapieren, und da du sonst nie Geheimnisse vor mir gehabt, – wie ich wenigstens mir einbildete – schickte ich nach einem Schlosser, – da fand ich denn bald, was ich suchte, – o, und weit mehr, als ich gesucht hatte! O Mutter, was bist du für eine einzige, kluge, thörichte, anbetungswürdige Heilige! Und nun hast du deine Schelte, und jetzt setz dich ganz still da hin und laß dir Hände und Füße küssen.
Er war aufgestanden, hatte die kleine Frau auf seinen Stuhl niedergelassen und lag nun vor ihr auf dem Teppich, das Gesicht unter strömenden Thränen in ihre Hände gedrückt.
Kind, sagte sie nach einer Weile, wir wollen nichts mehr davon reden. Geschehen ist geschehen; so wahr mir Gott helfe, deine Vorwürfe rühren mich gar nicht, ich thät' es genau so wieder und stellt' es vielleicht nur ein bischen vorsichtiger an. O mein lieber Junge, was ist denn nun gewonnen? Beisammenbleiben können wir jetzt so wenig, wie vorher, und mir hast du's nur erschwert –
Er richtete sich vom Boden auf und stand ihr mit einem seltsam stillen Lächeln gegenüber. Mutter, sagte er, weißt du, woher ich eben komme?
Sie sah ihn fragend an.
Von Cilly's Vater komm' ich. Den Brief, Mutter, den du mir so sorgsam vorenthalten hast, ob dir auch das Herz darüber brechen wollte, den hab' ich verbrannt. Aber erst, nachdem ich ihn dem trefflichen Mann gezeigt hatte, der dich stets mit einer wahren Schwärmerei verehrt hat und jetzt vollends dich für die Krone aller Frauen hält. Du wirst böse sein, Mutter, und mich eigenmächtig schelten; aber es ist nun ganz recht so, auch ich habe dir ja etwas zu vergeben: daß du mir nur einen Augenblick zugetraut hast, ich würde glücklich sein können ohne dich, auf deine Kosten. Siehst du, Mutterchen, so sind wir quitt. Mein Schwiegervater hat mir sein Ehrenwort gegeben, daß der Inhalt dieses Briefs ein Geheimniß bleiben soll zwischen uns Männern, und daß er nun der Schwester gegenüber sein feierliches Wort verpfänden werde, an deinem Leben hafte nicht der Schatten eines Makels. O Mutter, nicke mir nur wieder zu, sage mir nur, daß ich wieder dein guter Junge sein soll, wenn ich auch bei dir eingebrochen bin und dein theuerstes Geheimniß entwendet habe! Und wenn du glaubst, daß ich von nun an das Bild da mit andern Augen ansehen werde, – ja, es ist wahr, Mutter, ich habe jetzt erst einen Begriff davon, wie unglücklich mein armer Vater war, da er deinen ganzen Werth kannte, und doch durch sein Verhängniß so früh dir von der Seite gerissen wurde. Ich aber, Gott sei Dank, ich lebe noch, und noch Eine lebt, die gerade so denkt, wie ich, und wenn du je wieder so böse Gedanken hast, als ob du zu dem Glück deiner Kinder nicht unumgänglich nöthig wärst, – vier Arme werden schon im Stande sein, dich zu hindern, daß du nicht wieder in die weite Welt fliehen kannst, um den Todten treuer zu sein als den Lebendigen!