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Vier Wochen später sah dieselbe schwache Mondsichel, die an jenem Abend unserm blonden jungen Freunde aus dem Walde nach Haus geleuchtet hatte, in eine Straße der großen Hauptstadt, die mitten im Künstler- und Studentenviertel lag. Das Fenster eines kleinen Quartiers im dritten Stock stand offen, und dicht davor, um die letzte Tageshelle noch zu benutzen, hatte ein eifriger junger Mensch ein großes Zeichenbrett gerückt, auf dem sein Tuschpinsel mit kräftigen Strichen ein schönes Ornament in Schattenwirkung brachte.

Die Wirthin trat ein und hatte einen Brief in der Hand. Von zu Hause! sagte sie, legte ihn auf den Tisch und entfernte sich wieder. Im Nu waren Zeichenbrett und Farbenkasten beiseite geworfen und mit hastigen Händen das Siegel erbrochen. Auf dem Fensterbrett sitzend las der Jüngling was folgt:

»Lieber verzogener Sohn!

Daß es nun fast drei Wochen her ist, daß wir getrennt sind, würde mir selbst unglaublich scheinen, wenn ich meinen Kalender nicht für unfehlbar halten müßte. Da habe ich den Tag deiner Abreise mit einem dicken schwarzen Strich gebrandmarkt und die Tage, wo deine Briefe kamen, mit rothen Strichen angemerkt, und es ist richtig, wir haben uns schon ganze neunzehn Tage ohne unsern langen Herrn Sohn beholfen und wie lange es noch dauern soll, ist vorläufig gar nicht abzusehen! – –

Ich habe inzwischen mehrmals angefangen an dich zu schreiben, es aber immer wieder liegen lassen. Ich wußte, daß dein Vater an dich schrieb, so daß du an Nachrichten über uns keinen Mangel littest. Was deine »kleine Mama« dir sonst noch hätte sagen können, hätte dir vielleicht, wenn sie auch keine sentimentale Briefstellerin ist, Heimweh erregen können, und damit sollst du vorläufig nichts zu schaffen haben. Aus deinem letzten Brief sehe ich mit Freuden, daß die neue Luft, in der du lebst, dir schon heimisch geworden ist, daß deine Arbeiten dich ganz ausfüllen und deine Kameraden dir zusagen. Nun kommt gleich das eifersüchtige Mutterherz und fürchtet, du möchtest ihm ganz und gar entrissen werden. Und so schreibe ich nun, zumal ich Dinge zu berichten habe, die auch dir nicht gleichgültig sein werden.

Gestern nämlich ist das große Zauberfest, mit welchem Bürgermeisters ihr Landhaus einzuweihen versprochen hatten, von Statten gegangen. Der Himmel war seiner Gestrengen besonders gnädig; einen schöneren Tag hat dieses Jahr noch nicht gebracht, und was im Garten nur blühen und duften konnte, schien dem Feste zu Ehren sein Bestes thun zu wollen. Unser Wirth – du kennst ihn, wenn er zu repräsentiren hat – war die Liebenswürdigkeit selbst, Frau und Tochter von Kopf bis Fuß guter Geschmack und neueste Mode, wir anderen Kleinstädter jeder nach Kräften herausgeputzt. Was wirst du sagen, daß ich, deine ehrwürdige »kleine Mama«, in einem förmlichen Ballstaat erschienen bin? Und was nun erst dazu, daß ich getanzt habe, und zwar nicht nur eine ehrbare Polonaise mit dem Herrn des Hauses, der uns bei Fackelschein durch alle Räume bis in den Keller hinab und durch ein gut Stück des Parks herumführte, sondern getanzt wie ein leichtfertiges junges Ding, Walzer, Ecossaisen, sogar eine hackenklirrende Mazurka, die der junge Referendarius, dein ehemaliger Rival, mit der Tochter des Hauses anführte. O mein armes Kind, es kann nicht länger verschwiegen werden, daß die Pflegerin und Hüterin deiner Jugend hinter deinem Rücken sich herausnimmt, auf ihre alten Tage wieder jung zu werden. Denn nicht genug, daß ich selbst mich mitten in den tollen Wirbel gemischt habe, der durch unsern wohlbekannten Muschelsaal brauste und sich durch den feuerspeienden Berg an der Decke keinen Augenblick einschüchtern ließ: auch einen anderen sonst sehr gesetzten Menschen habe ich mit in die Ausgelassenheit hineingezogen, so daß wir beiden betagten Leute ohne Zweifel heute in vieler Gevattern Mund sein werden. Ja, mein theuerster Sohn, ich muß es dir nur beichten – du würdest es sonst nicht glauben, wenn du es zufällig in der Zeitung läsest: deine kleine Mama ist des festen Willens, dir einen Stiefpapa zu geben, und dieser ihr Entschluß ist gestern feierlich vor der Creme der hiesigen Honoratiorenschaft proklamirt worden, und besagte kleine Mama und ihren Bräutigam, den Herrn Notarius, hat man mit Trompetentusch um Mitternacht hoch leben lassen. Ich dachte erst, alle Menschen würden sich darüber wundern und es eben so unwahrscheinlich wie unpassend finden, daß man noch an Hochzeitmachen denkt, wenn man einen erwachsenen Sohn draußen in der Fremde hat. Aber nach ihren Reden zu urtheilen, schienen es alle ganz in der Ordnung zu finden, und am Ende ist Niemand, der seine Glossen darüber macht, als eben der Herr Pflegesohn. Diesem sei es denn gesagt, daß wohlgeratene Kinder die Handlungen ihrer Eltern nicht lange zu kritisiren, sondern respectvoll als Eingebungen höherer Weisheit hinzunehmen haben. In Hoffnung, daß auch unser Walter zu diesen braven Söhnen gehört, schicke ich ihm einstweilen die herzlichsten Grüße meines lieben Bräutigams und versichere ihn im Voraus, daß er diesen allerbesten Menschen ebenfalls von Herzen liebgewinnen wird, wenn er seiner Zeit zu uns kommt als wohlbestallter Baumeister, um statt des alten winkligen Hauses, in das wir zum Herbst einziehen werden, uns vor dem Thore ein luftiges, helles Häuschen zu bauen, wenn auch ohne Muschelsäle und feuerspeiende Berge.

Für heute muß ich Lebewohl sagen, liebster Sohn; er (der große Er) tritt eben ins Zimmer, mich zu einem Spaziergang abzuholen, und da Er hinfort mein Herr sein soll, so habe ich zu gehorchen. Nur noch von deinem Vater, daß auch er wie verjüngt umhergeht; der Fuß ist plötzlich ganz beweglich geworden, und wir haben freilich warme Tage, aber ich weiß ganz gut, daß ohne die bevorstehende italienische Reise – es hilft nichts, mein Herr und Gebieter läßt mich nicht einmal diesen Satz zu Ende schreiben. Ich ahne, daß ich mich in eine schreckliche Sklaverei verkauft habe. Gottlob, daß ich für den ärgsten Fall einen Sohn habe, mit dem ich drohen kann und der heute und immerdar lieb und werth behalten wird seine

kleine Mama.

N. S. Ich darf doch die Grüße des guten Lottchens nicht unterschlagen. Sie fragte gleich zuerst nach dir, mit einer allerliebsten kleinen Schwermuth, die sie aber nicht hinderte, jede Tour mitzutanzen und mit dem galanten Sohn des Bürgermeisters bei Tische ein Vielliebchen zu essen. So sind sie alle! Jugend hat keine Tugend, und Alter schützt –«

Ein langer Gedankenstrich schloß den Brief, und wohl eine Stunde saß Walter unbeweglich und blickte auf diesen Gedankenstrich. Erst als die Wirthin kam und fragte, ob sie die Lampe bringen solle, starrte er auf, verneinte die Frage und ging, den Brief sorgfältig in die Tasche steckend, in die Stadt hinunter, nach einem bescheidenen Weinstübchen, wo er Einmal in der Woche mit seinen Kameraden einen fröhlichen Abend feierte. Als er eine Stunde nach Mitternacht nach Hause kam, hörte ihn die Wirthin auf der Treppe ein Studentenlied singen, ganz gegen seine Gewohnheit. Was ihn nur so lustig gemacht hat? sagte sie bei sich selbst, indem sie die Decke über die Ohren zog. Er muß gute Nachricht von seinen Leuten bekommen haben. Das ist der erste Brief, nach welchem er singend zu Bett gegangen ist!


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