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Der 100-PS-Wagen schnaubte in rasendem Tempo durch die Wälder. Die Bäume standen gelb, dann und wann leuchtete eine Eiche rot wie eine Fackel.
Plötzlich schleifte der Wagen. Christine verlor das Gleichgewicht und sah noch mit seltsam wachen Augen, wie der Chauffeur die Bremsen anriß.
Wir überschlagen uns, dachte sie gespenstisch hell und rasch und wartete auf das furchtbare Ereignis. Aber nichts geschah.
Der Wagenführer, erprobt, kaltblütig, sofort begreifend, was los war, brachte den fauchenden Riesen mit einigen Schleifen und unfreiwilligen Drehungen zum Stehen.
Christine stand steil aufgerichtet im Wagen, nach rascher Fassung kämpfend. Um die Äste hing das Abendgold und stäubte feinen Zauber in ihr Haar.
»Was ist geschehen, James?«
»Nichts von Bedeutung, Mrs. Popescu, hoffe ich. Der linke Vorderreifen latscht.«
Er sprang schon ab, neigte sich über das Rad und bestätigte seine Vermutung. Nun stieg auch Christine langsam aus.
»Haben Sie den Wagen nicht nachgesehen?«
»Aber gewiß, Mrs. Popescu.« Die Stimme des Fahrers schwoll erregt an. »Sehen Sie her, Mrs. Popescu! Das hätte ich doch unbedingt bemerken müssen!«
Sie beugte sich nieder.
In dem Reifen steckte ein schwerer, langer, breiter Nagel.
»Weiß der Kuckuck, wie der in den Reifen gelangt ist.«
James schüttelt den Kopf. »Bitte ein wenig Geduld, Mrs. Popescu, wir können gleich weiterfahren.«
Er macht den Ersatzreifen frei.
Christine geht ein paar Schritte in den Wald hinein. Es ist totenstill, ferne hockt schon die Nacht im tiefen Gezweig, die Dämmerung sinkt rasch ein. Ohne sich über ihre Gedanken klar zu sein, dreht sich Christine um und sieht dem Chauffeur zu, der den neuen Reifen andreht. Sie ist ganz allein mit ihm. Weit und breit kein Mensch. Zwar hört sie in der Ferne eine Hupe. Aber sie kann den Wagen nicht sehen. Nun wird es Nacht, bis sie sich in der neuen Villa zurechtfindet. Sie hat Fred diese Bedingung gestellt: Heraus aus dem Totenhaus, wie sie es nennt. Die Rivalität der Toten kann sie nur in einem neuen Heim, in völlig neuer Umgebung überwinden. Ihre Nerven haben gelitten. Es gibt Tage, an denen sie sich fürchtet. Wovor eigentlich?
War er denn noch nicht fertig? Was glotzte sie der Mensch so an?
»James,« sagt sie streng, »was sehen Sie mich so an? Sind Sie fertig?«
»Ach, Mrs. Popescu, der Satan soll doch – verzeihen Sie, aber da stimmt etwas nicht!«
Mit verzweifelter Wut drückt er gegen den Mantel. Und deutlich vernimmt Christine das zischende Geräusch ausströmender Luft.
»Wie?« sagt sie rasch und zornig. »Soll das heißen, daß auch der Ersatzreifen undicht ist?«
»Ja. Ich weiß nicht, was ich davon denken soll.«
»Sie haben die Folgen dieser unverantwortlichen Leichtfertigkeit zu tragen, James! Fahren Sie nun mit dem defekten Reifen, aber langsam und vorsichtig!«
Der Chauffeur nickt mit einem verbissenen Gesicht. Sie steigt ein. Der Wagen gleitet fort.
Aber schon nach wenigen Minuten zieht die Luft sausend ab, der Mantel schrumpft ein, der Wagen liegt schwer auf dem leeren Gummi.
»Fahren Sie schneller,« ruft Christine ungeduldig.
»Unmöglich! Die Straße ist naß, ich trage die Verantwortung.«
Ein feuchter Nebel sinkt über das Land. Da rattert es hinter dem Unglückswagen. Ein schwerer Rolls Royce bremst an.
»Madame!«
Sprachlos starrt sie in das braune Gesicht Michaels.
Er hält die Hand in Leder straff an die Mütze.
»Madame haben Panne?«
»Eine unglückselige Verkettung von Zufällen, General. Ich liege fest.«
»Darf ich bitten?« Er reißt selbst den Schlag auf. »In einer Stunde bringe ich Sie an Ihr Ziel.«
Sie überlegt. Aber der Nebel deckt schon den Wald ein, ihr Wagen kommt nur im Schritt vorwärts. Aber gibt es denn einen Grund, die Einladung Michaels auszuschlagen?
Sie neigt anmutig das Haupt und steigt zu ihm. Mit einem Ruck zieht der Wagen an. Jetzt erst merkt sie, daß er selber lenkt.
Er schlägt ein wildes Tempo an. Der Tourenzeiger springt wie verrückt.
Er hält das Steuer mit nachlässiger Sicherheit und schaut ihr rasch ins Gesicht. Der Wind fegt über sie hin, sie atmet rasch und frei. Nun segnet sie den Zufall, der ihren leidenschaftlichen Wünschen entgegenkommt.
Seit dem Abend im Ritz sind zwei Wochen verflossen, und in diesen zwei Wochen kreisten ihre Gedanken unablässig um Michael. Sie legte sich hundert Möglichkeiten zurecht, sich ihm zu eröffnen, und sie verwarf sie wieder.
Sie dachte, er müßte sie selbst erkennen und sie dürfte nichts tun, um die Entwicklung zu beschleunigen. Aber dann erschien ihr das weitere Zusammenleben mit Fred Seager als Sünde. Sie liebte ihn nicht, er selbst wandte sich immer mehr von ihr ab. Ihre Freundschaft war nicht mehr als das.
Sie wußte keinen Weg, den sie jetzt so rasch gehen konnte. Sie wagte nicht, einen Entschluß zu fassen, der sie vor sofortige Handlungen stellte, und sie wagt sich auch nicht zu gestehen, daß Michael ihr fremd geworden ist, daß es eigentlich gar nicht der Michael ist, den sie liebte, daß Menschen und Dinge in dieser furchtbaren Zeit sich schnell veränderten und daß man eigentlich nur Vorstellungen anbetete. Trotzdem will sie um keinen Preis von Michael lassen.
Und nun ist sie entschlossen, ihm alles zu sagen. Mochte kommen was wollte, mochte er sie verachten, sie beide gehörten zusammen, und wenn er sie jetzt von sich stieß, so war der Tod eine Erlösung, einen anderen Weg konnte es gar nicht mehr geben.
Sie sieht ihn von der Seite an. Sein Profil ist hart und gnadenlos geworden, es ist nicht mehr das Profil Michaels. Er ist eigentlich ein fremder Mann, und nur der Name, die Erinnerung, die Begriffe ziehen sie zu diesem fremden Mann ...
Da denkt sie schaudernd, ob er nicht ebenso empfindet. Sie ist ihm eine fremde Frau! – Er erkennt sie nicht – immer noch nicht! – Wenn sie ihm nun die Wahrheit sagte und er in ihren fremden Zügen nach Christine suchte?
Aber er liebt mich ja, jubelt es dann in ihr auf. Sein Benehmen am ersten Tage schon hat es verraten.
Er liebt mich! Er liebt mich!
Da sieht sie Lichter – auf – nieder. Schlaff leuchtende Augen schauen verwundert und schließen sich wieder rasch ...
Da rast der Wagen schon wieder die Chaussee entlang.
»Sie fahren zu weit!« schreit sie Michael zu.
Der lacht mit offenem Mund. Sein Gebiß blitzt fremd und grausam. Plötzlich fühlt sie unheimliche Angst.
»Wohin fahren Sie?« ruft sie und will aufspringen. Seine Rechte faßt nach dem Steuer, die Linke drückt sie zurück.
»Ins Leben – Mütterchen – Zaritza –«
Die aufbellende Hupe verschlingt boshaft ihren Schrei, und er erlischt in der sinkenden Nacht.
Da tauchen Schatten auf. Sie schreit noch einmal. Ihre Hand sucht nach einer Waffe. Er wendet wieder den Kopf. Vor seinem Raubtiergebiß ergreift sie lähmende Angst. Sie lacht über ihre Furcht und fürchtet sich vor ihrem Lachen.
Der Wagen hält mit einem Ruck. Sie fliegt hoch und vornüber. Er fängt sie auf und hält sie, leicht wie einen Federball. Dann fühlt sie plötzlich seine Arme brutal zugreifen, und im nächsten Augenblick liegt seine Hand auf ihrem Mund.
Das ist nicht mehr Michael! Das ist ein Fremder! Das ist ein Mann! Der Mann! Das Manntier! Sie beißt, aber er hat einen Griff, gegen den nichts auszurichten ist. Ein Stickanfall läßt sie in Abgründe sinken – Sie fühlt deutlich, daß sie irgendwohin fällt, aufgerichtet wird. Eine Tür schließt sich – Licht sickert irgendwoher. Ihr Mund ist frei, sie holt tief Atem und orientiert sich mit einem aufgescheuchten Blick.
Ein kleiner, rohgezimmerter Raum, eine elektrische Lampe, ein Diwan, Felle, Waffen, Chaos, sinnlose Dinge.
Ich träume – denkt sie. Ich träume! Gleich werde ich erwachen, der Alp wird von mir weichen. –
Aber da schlägt Michaels schwere Stimme an ihr Ohr.
»Rauchen Sie, Maria?«
Diese aufreizende Stimme läßt urplötzlich Flammen in ihr kreisen. Nicht Michael! Nicht Michael! Der Mann! Der ewige Entführer! Räuber!
Mit einer herrischen Handbewegung wischt sie das Etui in die Luft. Die Zigaretten schießen wie Sternschnuppen umher.
Er lacht.
»Wie schön Sie sind.«
»Sie geben sofort die Türe frei, General!«
Ihre zitternde Hand sucht fiebernd im Leder des Mantels.
»Seien Sie gütig, Maria.«
»Wagen Sie es nicht, mich Maria zu nennen.«
Er wirft mit einer hastigen Bewegung die Zigarette fort.
»Ich habe Sie entführt.«
»Wie ein Räuber! Wie ein Barbar!«
»Sicher! Das liegt mir im Blut.«
»Dann wäre es besser gewesen, Sie wären dort geblieben, woher Sie kamen.«
Er schaut sie einige Sekunden starr an. Aus seinen tiefen Augen heraus steigt etwas, das sie den Blick senken läßt.
»Sicher. Es wäre besser gewesen. Aber – c'est la vie – oder c'est la guerre – Kismet. Ich liebe Sie, Maria Popescu, und eher wird diese Hütte unser beider Grab werden, als daß ich Sie freigebe.«
Sie starrt ihn fassungslos an. Das ist Michael! Ihr Michael! Sie muß ihn noch einmal ganz genau ansehen. Aber er ist es. Meine Waffe, denkt sie, vor Wut und Verachtung schwindlig, und versucht, sich in Erinnerung zu rufen, wann, wo sie den kleinen Browning eingesteckt hat, ohne den sie niemals fährt. Aber die Erinnerung ist wie weggelöscht, und die Gedanken kreisen wie Feuerfunken durcheinander.
»Sie sind ein Mann,« sagt sie nach einer Weile langsam, die brennenden grünen Augen fest an die seinen heftend. »Sie werden nicht feige sein.«
Er zuckt die Achseln.
»Ein umstrittener Begriff. Alles ist feige im Sinne dieser verlogenen Welt. Nichts ist feige im Sinne des Lebens. Das Leben siegt, und ich liebe Sie. Ich bin wie ein Sonnenanbeter: Ich drehe mich nur mehr um dieses göttliche Licht meiner Liebe. Ich bin ein Tänzer im Rausch. Eine Kugel, abgefeuert – nichts kann mich mehr aufhalten – ich bringe den Tod jedem, der mir den Weg versperrt!«
Er steht mit untergeschlagenen Armen vor ihr. Groß, wie ein junger Baum, das braune Gesicht leuchtet asketenhaft im Schein der Lampe. Er sieht aus wie ein italienischer Mönch, wie ein phantastischer Don Juan, und, wie eine Rakete steigt da die Erinnerung in Christine hoch:
Der Browning steckt in der Innentasche des Mantels! Ich brauche ihn nur zu öffnen – die Geheimtasche unten, nahe dem gesteppten Saum. – Aber er liebt mich ja, er liebt mich – Michael liebt seine Christine. – Nein! Nein! Ein Mann begehrt Maria Popescu! Und dieser Michael hat Christine vergessen, so gründlich vergessen, daß er sie nicht einmal mehr erkennt, wenn sie vor ihm steht. Er jagt fremdes Wild, dieser Michael, er betrügt Christine mit Maria – ach, es ist entsetzlich lustig!
Eine rätselhafte Fröhlichkeit durchpulst sie. Sie wirft den Kopf zurück und sagt ganz verändert:
»Also ein Abenteuer. Wildwest vor den Toren von London.«
»Sie befinden sich bei den Filmateliers.«
»Was haben wir hier zu suchen?«
Er zieht einen schiefen Mund. In diesem Moment sieht er aus wie ein Kosak, von fahlem Bühnenlicht geblendet.
»Es gibt Leute, die können sich den Zaren nur als Anführer einer Horde von uniformierten Dieben vorstellen. Ebenso wie sie den Bolschewik nur als Mordbrenner mit tätowiertem Sowjetstern sehen. Kino – aber in diesem Kino liegt schon etwas von der allerprimitivsten Wahrheit. Sie nimmt Geschichtsschreibung vorweg.«
Sie lächelt.
»Und um mir diesen Vortrag zu halten, haben Sie mich in diese phantastische Hütte verschleppt?«
»Das ist keine phantastische Hütte. Das ist ein Stapelraum für die Filmleute.«
»Ah! Sehr interessant! Ich beneide Sie jedenfalls um Ihre Geistesgegenwart, aus einem Zufall solche Vorteile zu ziehen und so sicher zu disponieren.«
»Es war nicht Zufall –«
»Daß Sie mich auf der Landstraße fanden?«
»Nein. Ich muß es Ihnen sagen, denn ich wäre untröstlich, wenn Ihr Chauffeur James schuldlos die Stellung verlieren würde. Ich kenne eine kleine Statistin, die hat Ihrem James den Kopf verdreht.«
»Nun, und?«
»Und? Ich habe Leute an der Hand, die mir blindlings gehorchen. Es war nicht schwer, an dem liebeskranken Chauffeur vorbei in Ihre Garage zu dringen. Die Leute bohrten den Nagel mit sehr kluger Berechnung in die Reifen. Den ersten sehr vorsichtig, daß die Panne erst nach längerer Zeit eintrat, den zweiten in den Ersatzreifen, so, daß er keinesfalls mehr leistungsfähig war.«
»Also Kino,« sagt sie leise, während ihr Zorn heiß aufwallt.
»Wenn Sie wollen, Maria.«
»Ich verbiete Ihnen. –«
»Das ist auch Kino,« lacht er. »Es ist alles Kino, und das meiste Kino machen die Frauen.«
»Sie sind nicht nur frech, General Orloff, Sie sind auch roh und ungebildet!«
»Sie haben Recht, mir diesen Verweis zu erteilen. Ich muß immer wieder gegen Gewohnheiten aus jüngster Zeit kämpfen. Mein Vater war ein hoher Würdenträger in Rußland. Aber meine Mutter kam aus der Hefe. – Eine Bäuerin – fabelhaft schön – blühend wie Oleander – breithüftig – man hatte damals einen anderen Geschmack als heute – schnell bei der Hand mit der Knute – wild, farbig – ganz Volk, ganz Blut, ganz Erde – aber mordlustig – das war meine Mutter.
Sie müssen wissen, ich bin erst nachträglich adoptiert.
Meine Mutter sandte man nach Sibirien. Kennen Sie den Roman: ›Eine russische Lady Macbeth‹? So eine war meine Mutter. Es ist ein langer Roman. Und mein stolzer Vater, Erbe eines hundertjährigen Bojarengeschlechts, und diese erdverwachsene russische Bäuerin zusammen – das bin ich. Raubtier, wenn es sein muß.«
Das ist Michael, stammelt sie zu sich selbst, während Tränen in ihre Augen schießen. Das ist Michael? Nein! Das ist ein Fremder! Ein Bandit!
»Das heißt, Sie sind mir gegenüber Raubtier,« sagt sie, und reißt mit einem Ruck den Ledermantel auf.
Er ahnt dunkel ihre Absichten und umschlingt sie schneller, als sie die Hand bewegen kann.
»Ja – wenn es sein muß – aber es muß nicht sein. Sie sind unglücklich – sehr unglücklich, ich weiß es – ich liebe Sie. Sie sind die Frau für einen Mann, für einen Mann, nicht für ein ewig flennendes englisches Männlein – Maria – ich biete Ihnen ein Leben der Abenteuer – schaurig, schön, groß ...«
Sie sucht ihn keuchend abzuschütteln. Wieder fesselt dieser herkulische Arm – aber in dem Augenblick, in dem sie in die Knie sinkt und er mit beiden Händen ihr Haupt umfaßt, um ihren Kuß zu trinken, erreicht sie mit vorwärtsschnellender Kraft die Waffe.
Der Daumen drückt die Sicherung herum, während er ihr Haupt zurückbiegt.
»Lassen Sie los!« schreit sie.
Dann – ja dann war es wie Kino. Sie hört den aufpeitschenden Knall, er dreht sich wie vor dem Kurbelkasten – und mit vollendet schöner Bewegung, wie ein junger Gott, sinkt er zu Boden.
Dann läuft über sein junges, festes Kinn ein roter Streifen. Das ist Kino ... Kino ... Kino! hämmert es in ihrem Kopf, während sie sich mit einem Angstschrei über ihn wirft.
»Michael! Michael! Ach Michael, was habe ich getan?«
Er hört nichts mehr.
Er zieht den Atem pfeifend durch die Lungen, und auf seinen Lippen bildet sich eine kleine purpurrote Blase. In diesem Augenblick, während sie sich über den Sterbenden neigt und sein Röcheln immer unheimlicher die nächtliche Stille durchquält, erlöscht zuckend das Licht. Eine unerträgliche Finsternis fällt über Christine her, die den Kopf des Sterbenden hochhebt, mit bebender Hand die Wunde sucht und sich schließlich wie rasend gegen die verschlossene Tür wirft, die endlich mit einem dumpfen Krach sich öffnet.
Blaue Nacht strömt herein, wohltuende Kühle umfängt Christine. Fiebernd irren ihre Augen umher, aber sie entdeckt nur dunkle Umrisse von toten Dingen. Wie ein waidwundes Reh klagt sie hilflos in die Finsternis hinein, sich erinnernd, daß hinter ihr Michael, ihr Mann, ihr Geliebter, verblutet.
Sie reißt ihr Kleid in Fetzen und sucht das verströmende Blut zurückzuhalten. Michaels Mund steht gespenstisch offen und verhaucht unaufhaltsam das junge Leben.
Von Mitleid überwältigt, klagt Christine sich in lautem Stöhnen dieses Mordes an. Dazwischen fordert ihr Herz stürmisch sein Leben, das Leben Michaels, der wie ein frecher Mongole über sie hergefallen ist.
»Ich liebe dich doch!« schreit sie.
Ein leises, unheimliches, entsetzliches Plätschern läßt sie hochfahren. Grauen durchreißt ihren Körper. Mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft will sie Michael in eine andere Lage bringen. Sie preßt wohl mit dem improvisierten Verband das Blut zurück, aber nun strömt es über die Lippen, es gibt keine Gnade mehr.
In diesem Augenblick rattert ein Motor, fern, immer näher, wie ein guter Geist, ein Wagen holpert über Hindernisse.
Sie läuft hinaus und sieht die Silhouette eines Autos. Ein Mann springt heraus. Sie hebt flehend, keines Wortes fähig, die Hände, fällt dem Manne in die Arme, liegt unter seinen Augen und späht in seine Pupillen.
Da erkennt sie Fred Seager – stößt einen tiefen Seufzer aus und verliert die Besinnung. – –
*
Sie lag Tag und Nacht in tiefem Schlaf. Ihre gesunde Natur verlangte ihr Recht. Dazwischen wachte sie auf, erkannte Fred an ihrem Lager und wollte ihm alles erzählen.
Er wehrte ab und sagte, er wisse alles.
»Wie kam es nur,« versuchte sie zu sprechen. Er unterbrach sie und erzählte, er habe sie aus dem Hause fahren sehen. Er wollte eben einen Besuch machen und verfolgte ihren Wagen mit den Augen. Da sah er plötzlich das wohlbekannte Auto des Generals Orloff aus einer Seitenstraße biegen und sich an ihre Spur heften.
»Erst habe ich gedacht, ein Zufall, aber dann folgte ich einem hellsichtigen Gedanken, nahm ein Mietsauto und fuhr dem Russen nach, wenigstens um zu sehen, ob er dich verfolgte. In der Tat blieb Orloff immer hinter deinem Wagen. Um nicht aufzufallen, wählte ich einen anderen Weg. Ich rechnete ja nicht mit der Panne, die Orloff vorbereitet hatte. Als du nicht zu Hause eintrafst, fuhr ich dir von neuem entgegen, erkannte undeutlich Orloffs Wagen in der Dunkelheit, setzte hinterher. Da rannte ich mit dem Kotflügel gegen einen Baum, verfing mich – Minuten vergingen – Orloff entkam. Als ich endlich die Verfolgung wieder aufnehmen konnte, mußte ich mühsam suchen, verlor mehr als eine Stunde, irrte umher und vernahm plötzlich einen Schuß. Aber in der Dunkelheit konnte ich nicht genau feststellen, wo geschossen worden war, die Aufregung, zu spät zu kommen, hemmte meine Urteilskraft, und erst, als dein Hilferuf an mein Ohr drang, fand ich den Schauplatz der Tragödie.«
»Und Orloff?« fragte Christine.
»Es geht ihm besser.«
Als Christine dann am nächsten Tage vollkommen wach emporfuhr, stand schon die Zofe wartend vor ihr.
Ein dringender Brief. Der leitende Professor der Klinik bat sie, den sterbenden General noch einmal zu besuchen. Er verlangte sie zu sehen.
Mit einem Satz springt Christine auf die Füße. In einer halben Stunde ist sie angezogen.
»Wohin?« fragt Fred, als sie an ihm vorbei durch das Frühstückszimmer stürmt.
»Zu Orloff!«
»Keinesfalls, mein Kind!«
»Er stirbt!«
»Sein Schicksal – seine Sühne,« sagt Fred kalt.
Da packt sie ein eisiger Zorn. Gegen sich. Aber er entlädt sich gegen Fred.
»Sühne, Sühne,« höhnt sie. »Was du dir immer für praktische Erklärungen zurechtlegst. Was hat er getan? Kosakenbrauch geübt! Er liebt mich!«
»Du bist wahnsinnig!« sagt Fred. »Schmeichelt dir diese Liebe?«
»Ja, sie schmeichelt mir,« erwidert Christine mit unheimlicher Ruhe. »Sie ist Liebe aus Fleisch und Blut, verstehst du. Es ist lebendige Liebe. Mich hat er geliebt – mich – kein Schemen, keine Tote – mich!«
Sie bricht ab, denn sie sieht jetzt erst sein von Entsetzen verzerrtes Gesicht.
»Verzeih, Fred. Sei nicht böse. Ich rede manchmal häßliche Dinge, ich weiß, aber ich bin nicht gut, mein armer Junge. Ich bin keine gute Frau. Und du weißt nichts von der entsetzlichen Geschichte, die sich abspielte –«
Sie ist schon im Wagen, ihre Augen schimmern gelb wie Schwefel. Sie ist nur von einem Gedanken erfüllt:
»Lieber Gott, gib, daß Michael am Leben bleibt! Lieber, lieber Gott, laß mir Michael!«
Hochaufgerichtet, scheinbar kühl und stolz schreitet sie hinter der lautlos gleitenden, weißen Schwester her.
Michael liegt blutleer in den Linnen.
Seine Nase hebt sich todeskühn aus dem eingefallenen Gesicht. Seine Augen liegen tief und geschlossen. Unter ihnen lauern grünliche Schatten. Sie stürzt hin, legt ihre Hand leicht auf die Stirn. Aber die Hitze eines tobenden Fiebers dringt sogleich in ihre Finger und in ihre Nerven, daß sie den Arm zurückzieht.
Die Schwester sagt:
»Wundfieber!«
»Ist er verloren, Schwester?«
»Ja. Er wird den Tag nicht überleben.«
Christines Augen füllen sich mit Tränen. Also nur ein Traum, ein wilder, kurzer Traum, Fieber und Tod beenden ihn, und sie wird wieder allein sein, sie hat den Geliebten, den Gatten ermordet – und er wird sterben und nicht wissen, daß sie Christine war!
Bei dieser Vorstellung wird sie von einem so krampfhaften Schluchzen geschüttelt, daß die Schwester ihr einen erschreckten Blick zuwirft.
Wie Christine durch den Schleier ihrer Tränen wieder den Mann in den blütenweißen Linnen ansieht, da merkt sie, daß er die Augen offen hat.
Sie beugt sich schnell über sein Gesicht. Ihr Körper gleitet an ihm zu Boden.
»Michael! Michael!« stammelt sie.
Sie hält seinen irren Blick aus, sie trotzt dem Fieber, das wie eine Lohe aus seinen Augen stößt. Plötzlich schnellt sich Michael hoch, daß er, halb sitzend aufgerichtet, sein Gesicht dicht vor Christines Antlitz bringt. Er sucht nach Atem, nach Worten. Und schreit die letzte Unrast des weichenden Lebens ihr in die Augen:
»Wo ist das Platinlager?«
Christines Gesicht versteinert sich. Alles Blut weicht zurück zum Herzen.
»Platinlager?«
»Platinlager –« brüllt der Fiebernde. »Im – Ural – gestehe – oder –«
Plötzlich bricht er in ein wildes Gelächter aus, sucht ihr Haar zu fassen und keucht:
»Keine Angst, mein Täubchen – Liebe? Nein! Nur das Platinlager! Das Platinlager! Das Platinlager! Das ist das Geheimnis –«
Dann sinkt er zurück, verfällt – und die Schwester stürzt zur Alarmklingel.
Niemand achtet auf Christine, die den Korridor entlang taumelt, ohne es zu wissen, die die Straße erreicht, ohne es zu fühlen, und die erst erwacht, als jemand leise neben ihr sagt:
»Weißt du es nun?«
Es ist Fred, der sie in sein Auto nimmt.
»Er war ein bolschewistischer Agent. Ich habe es heute erfahren. Doch nun mußt du fort – sogleich fort – der Staatsanwalt will dich verhaften lassen wegen des Schusses auf General Orloff.«