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10

Christine ist noch nicht zur Besinnung gekommen. Sie lag den ganzen Tag in einem Winkel des offenen Decks. Niemand kümmerte sich um sie. Vergeblich versuchte sie, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Irgendwo schmerzte ihr Körper, noch viel mehr aber schmerzte sie ihr Kopf, und unablässig drehten sich Begebenheiten um sie her. Nebel mit bunten Menschen und Dingen, die sie nicht verstehen konnte.

Plötzlich sah sie einen russischen Offizier vor sich. Er trug den Totenkopf auf den Achselstücken und ein großes D. als Initiale. Also Denikin-Offizier. Diesen Zusammenhang begriff sie seltsamerweise blitzartig, mehr begriff sie nicht.

Der Offizier starrte sie lange an.

»Wollen Sie nicht zu den anderen russischen Damen gehen?« fragte er und deutete nach einem anderen Winkel am Heck, wo die russischen Flüchtlinge untergebracht waren. Auch in Christines Nähe saßen Frauen. Sie waren blaß. Aus ihren blutleeren Gesichtern starrte das Elend, ihre Augen waren fremd und eine einzige Klage.

Christine hob ein wenig den Kopf und sah den Offizier an.

Plötzlich erschrak sie.

»Was haben Sie mit mir vor?« flüsterte sie. Ihr Blick nahm einen irren Ausdruck an, ihr Mund öffnete sich zu einem entsetzten Schrei.

»Sei still,« sagte ein französischer Matrose, der aus dem äußeren Kielraum kam, wo die Flüchtlinge wie Schweine verstaut waren. »Sei still, Russin. Du kommst jetzt ins gelobte Land.«

Der Offizier sah sie noch immer durchdringend an.

»Sind Sie nicht die Gräfin Kusmetz?« fragte er plötzlich unvermittelt.

Der Name schlug wie ein Blitz in ihr Gehirn.

Ihre Augen belebten sich, ihre Atemzüge gingen schneller.

»Ja. Wo ist Michael? Ach, Michael!« Sie sann nach, aber sie konnte sich nicht besinnen.

»Ich kenne Ihren Gatten. Erinnern Sie sich nicht? Wir waren einmal – vier Offiziere – Ihre Gäste. Ich bin mit Michael beim Kaiserlichen Tournier geritten ... Feodor Nabkow,« er verneigte sich. »Jetzt Oberst der Freiwilligenarmee.«

Sie schweigt.

»Warum hat sich Ihr Gatte erschossen?« fragt er. »Das ist unbegreiflich. Er ließ sie allein?«

Sie steigt in die Höhe. Steil wie eine Flamme.

»Er hat sich erschossen? Michael?« schluchzt sie mit verworrener Stimme.

Er wirft seine Zigarette fort und schaut sie scheu an:

»Wie? Sie wußten es nicht?«

Sie sinkt wieder in sich zusammen. Ein Tränenstrom taucht ihr Gesicht in Nebel.

»Nein, ich wußte es nicht. Es kann auch nicht sein, es ist unmöglich!«

»Es ist wohl nur ein Gerücht. Wer hat es mir erzählt? Ich weiß es nicht mehr. Tausende von unkontrollierbaren Gerüchten schwirren umher. Verzeihen Sie, Gräfin. Ich habe Sie erschreckt. Sicher eine Verwechslung.«

Er versucht sie zu trösten, aber sie antwortet nicht mehr. Sie hat begriffen, daß sie vollkommen einsam, verlassen und hoffnungslos ist. Sie weiß nicht, wie sie auf dieses Schiff gekommen, sie weiß nicht, wer sie hierhergebracht hat. Sie erwacht aus ihrer tiefen Betäubung von neuem durch die Worte des Offiziers:

»Wir nähern uns ›Zarigrad‹, Gräfin. Konstantinopel kommt in Sicht. Sie müssen sich aufraffen. Ich würde Ihnen gerne beistehen. Aber unser Regiment geht gleich wieder zurück nach Noworossyjsk. Wir werden umparkiert. Ich werde Sie nicht wiedersehen. Denikin wird Moskau erobern, und dann vielleicht, wenn Gott will ...«

Sie wendet ihm segnend ihre schönen Augen zu und schweigt.

Er beobachtet zwei Männer mit gelben Gesichtern, die ihm schon am Heck aufgefallen sind und immer herüberschauen.

»Sie haben doch einen Paß?«

»Ja,« nickt sie, »ich habe einen Paß.«

»Auch Aufenthaltsbewilligung in Konstantinopel?«

»Aufenthaltsbewilligung? Nein.«

»Nun, man wird Sie behalten. Die Franzosen und Türken werden sich Ihrer annehmen. Ich muß zu meiner Truppe. Leben Sie wohl, Gräfin. Leben Sie wohl, vielleicht für ewig, Gott schütze Sie.«

Er küßte ihre Hände und verschwand. Mit einem Mal war es Christine, als sei der letzte Sonnenstrahl erloschen, als breite sich undurchdringliche Dunkelheit über sie aus.

Paß!

Sie durchsuchte ihr Kleid, den armseligen Mantel, den irgend jemand über sie geworfen hatte. Sie fand nichts von einem Paß. Sie hatte überhaupt keine Papiere bei sich.

Noch begriff sie nicht, was das für sie zu bedeuten hatte.

Der Tod Michaels kam ihr wieder in den Sinn. Der Schmerz krallte sich heiß in ihre Brust, sie sank zu Boden und weinte still vor sich hin.

Die beiden gelben Männer nickten sich zu.

Inzwischen näherte sich der Dampfer Konstantinopel. Es war noch nebelig, die Farben in der Ferne schwammen durcheinander. Aber bald erkannte man die hohen Häuser Peras, die mächtige Kuppel der Hagia Sophia, die silbernen Konturen Stambuls.

Das war die Stadt, auf die sich durch Jahrhunderte hindurch die Augen der russischen Zaren gerichtet hatten. Die Stadt, in die die Legionen Nikolaus' hatten einziehen wollen, nachdem sie Berlin erobert hatten.

Boote und Barkassen kamen dem Flüchtlingsschiff entgegen, das vollhing von Menschen, lebender Fracht, die keinen Sinn mehr hatte für die Schönheit der Stadt, die kein Geld mehr besaß, keine Zukunft, die nur Angst hatte, fiebernde Angst, wieder zurückzumüssen in diesen Hexenkessel der Heimat, die entschlossen war, das bitterste Los in der Fremde freudig zu ertragen, um nie mehr Angst zu haben vor Massakres, Evakuierung, Läusen.

Der Dampfer fuhr immer näher an die Stadt heran. Man sah die lange Brücke, sie war voll von Menschen, Autos, Ochsenkarren.

Ratternd klang schon die Tram herüber.

Endlich legte der Dampfer an. Die Brücke wurde ausgeworfen, und alle stiegen an Land, an ein ödes Land außerhalb der Stadt, das wie ein Konzentrationslager hergerichtet war. Alle mußten den türkischen Soldaten und Matrosen, die mit schußbereiten Gewehren dastanden, ihre Papiere vorzeigen. Wer keinen Ausweis besaß, wurde unbarmherzig in das Schiff zurückgetrieben.

Christine sah es. Einen Augenblick lang schien es ihr gleichgültig. Was war der Tod noch? Nichts. Sie konnte das Grab ihres Gatten suchen und dann sterben.

Aber im nächsten Moment tauchte die Erinnerung an den Keller in Odessa auf, an das Operationszimmer der Konterspionage.

Ein jähes Entsetzen durchfuhr sie, sie zitterte am ganzen Körper. Plötzlich fielen ihr ihre Brillanten ein. Sie tastete ihr Kleid ab, sie riß es auf, ihre Finger glitten hastig und suchend über ihre Wäsche. Die Kleinode waren fort. Sie besaß nichts mehr. –

Willenlos ließ sie geschehen, daß einer der beiden gelben Männer den Arm um sie legte und sie mit sich zog, an den Matrosen vorbei, denen er mit einem feisten Lächeln allerhand Papiere zeigte.

Sie kamen hindurch. Die beiden Männer nahmen sie mit nach einer der Baracken. Gaben der halb Verhungerten und Verdursteten ein saftiges Stück Lammbraten. Sie gaben ihr Wein zu trinken und überließen sie dann sich selbst. –

Am nächsten Morgen, während die Quarantäneflagge über dem Hafenlager wilder rollte unter einem heftigen Sturm, erhob sich Christine frühzeitig. Sie war auf dem Erdboden in einen tiefen Schlaf gesunken. Heute begannen ihre Gedanken sich aneinander zu reihen, sie konnte klarer denken und begriff, daß sie ohne Ausweispapiere war. Konnte sie denn überhaupt beweisen, wer sie war? Und sie befand sich in einem fremden Lande, unter fremden Menschen.

Ihr Blick fiel auf die beiden braunen Köpfe. Die Männer saßen mit untergeschlagenen Beinen da und rauchten gemächlich Kaljan, die türkische Wasserpfeife.

Jetzt erhob sich der eine und sagte in russischer Sprache:

»Euer Hochwohlgeboren, gnädige Frau, Sie begreifen, daß es uns unmöglich ist, für Sie zu sorgen. Wir haben Sie aus menschlichem Mitleid vor den Bolschewiki gerettet. Wir haben Gold. Darum konnten wir Sie auch vom Dampfer herabbringen. Ohne uns sind Sie verloren. Wir haben eine Stellung für Sie gefunden und laden Sie ein, das Haus zu besichtigen.«

Christine wurde von Widerwillen gegen diese häßlichen Gestalten geschüttelt, deren Zügen das Laster anklebte. Aber sie überwand sich. Wenn sie erst das Lager hinter sich hatte, konnte sie eher hoffen, irgendwo unterzukommen oder einen Menschen von ihrer Herkunft zu überzeugen. Sie hatte noch keine Pläne gemacht, aber das natürliche Selbsterhaltungsgefühl trieb sie, sich zunächst nach einem Unterkommen umzusehen.

Die beiden Männer erhielten die Erlaubnis, mit der Frau das Lager zu verlasen. Sie hatten lange mit einem Matrosen verhandelt, der in der Richtung nach Pera stand und mit grimmigem Gesicht den Ausgang bewachte. Sie hatten ihm ihre Beutel gezeigt, die Goldkörner enthielten, und hatten schließlich erreicht, daß sie im Abenddämmern aus dem Lager gleiten durften.

Sie führten Christine mit sich, die wieder von einer lähmenden Willenlosigkeit befangen war, gegen die sie vergeblich anzukämpfen versuchte. Sie erinnerte sich noch, daß der Wein, den ihr die Beiden gereicht, einen beizenden Geschmack gehabt hatte, aber dann tauchte der aufsteigende Verdacht unter in einer Flut von Müdigkeit und schmerzlichen Betrachtungen. Der Weg führte durch Pera.

Die Vergnügungslokale waren geöffnet und bevölkert von einer Welt, die keine Hemmungen mehr kannte. Einschmeichelnde Weisen drangen an das Ohr der unglücklichen Frau, die den Kopf hob und eine Weile mit verworrenen Sinnen den Klängen einer Militärkapelle nachlauschte – Automobile rasten vorüber, auch die Tram verkehrte noch. Da gingen noch Hunderte von Menschen, Griechen, Mohammedaner, Levantiner, Offiziere der russischen Armee, Franzosen, Engländer, an dieser Gefangenen des Schicksals vorüber, aber niemand kümmerte sich um sie. Die beiden Männer hatten Christine einen Schleier umgelegt.

Sie galt nun für eine Türkin, und kein Europäer hätte gewagt, sie zu belästigen. Nachdem sie Pera durchwandert hatten, gelangten sie nach Galata. Das schmutzige Leben des Hafens brandete näher und näher. Betrunkene Matrosen kamen vorbei und machten Zoten. Endlich hielten sie vor einem verfallenen Hause, einer richtigen Spelunke mit einer roten Laterne.

Christine war todmüde und kaum imstande, sich auf den Beinen zu halten. Sie ging hinter ihrem Schleier, der wie ein Symbol ihres Lebens war, den beiden Levantinern nach. Sie hörte rohe Ausdrücke, die sie nicht verstand, fühlte sich plötzlich umfaßt und merkte, daß ihr der Schleier vom Gesicht gerissen wurde.

Ihre rotumränderten Augen schauten in ein brutales Antlitz, irrten weiter und blieben auf dem Grinsen eines Negers haften.

Langsam kehrte aus den Tiefen ihres Unterbewußtseins das Verstehen zurück. Sie hörte, wie die Levantiner feilschten. Ein Lärm hob an, der von Zeit zu Zeit, bei einem neuen Angebot des Wirtes dieser Spelunke, durch das verzweifelte Gurren der beiden Levantiner unterbrochen wurde.

Und endlich begriff Christine: Sie wurde hier regelrecht verkauft. Ihre Augen erkannten die entsetzliche Umgebung. Es roch nach Sumpf, Alkohol und Menschenfleisch.

Das Hotel »Zum blauen Meer« war bevölkert von allen Menschen der Erde. Unablässig kamen und gingen sie. Alle Sprachen des Orients klangen in Christines Ohren, sie sah Chinesen und Russen, Mongolen und Europäer. Sie merkte, daß die feilschenden Männer endlich einig wurden bei einem Preis, der ihrem Körper angemessen schien.

Ihre Augen weiteten sich, ihr Atem stieß sich wie eine Rauchwolke der Angst aus ihrem Munde, sie schlug, ohne es selbst zu wissen, plötzlich mit beiden Armen um sich, und da niemand den Ausgang des Hotels »Zum blauen Meer« bewachte, so gelang es ihr, auf die Straße zu rennen, ehe einer der umherstehenden Männer daran dachte, sie festzuhalten.

Sofort aber heftete sich ein halbes Dutzend an die Fersen der Flüchtigen. Sie lief so schnell, die Angst trug sie förmlich durch die stinkenden Straßen, daß die Verfolger langsam zurückblieben. Christine bog ins Dunkel, sie lief und lief und sank schließlich atemlos in die Arme eines Matrosen, der bei einer kleinen Pinasse Wache hielt.

In ihre Ohren drang das Dröhnen des Meeres.

Der Matrose hob die Bewußtlose auf. Er sah eine Weile in ihr Gesicht, das der Mond in Silber und verschwiegene Schönheit tauchte. Dann hob er sie in einer Regung von Mitleid in die Pinasse und fuhr zu dem griechischen Schiff, das draußen vor Anker lag. Mit Hilfe des persischen Freundes, der die Deckwache hielt, versteckte er die Unglückliche hinter den großen Kisten und Säcken mit Korinthen und Orangen im Laderaum.

So legte Christine die Fahrt nach Konstanza zurück. –

Bald, nachdem der Dampfer vor Anker gegangen war, ruderten die beiden Matrosen die Namenlose ans Land und verschwanden.

Als Christine zu sich kam, war es Nacht. Von Schmerzen gepeinigt, von Hunger durchwühlt, irrte sie am Hafen umher.

Vor ihr lag das Meer. Sie sah mit einem Gefühl der Befreiung und Erleichterung hinab. Grauen vor dem Tode kannte sie nicht mehr. Sie lehnte sich erlöst über das Geländer, und schließlich stieg sie, ohne sich umzublicken, an der Eisenstange empor, um sich hinabzuwerfen.

Der Ruf des Chauffeurs, der sie beobachtet hatte und mit rasender Eile herankam, hielt sie. Wie gebannt hing sie Sekunden in der Luft, von einem quälenden, Übelkeit erregenden Gefühl erfaßt, das Leben greife von neuem nach ihr, gönne ihr nicht das Auslöschen und nicht den Tod.

Dem Chauffeur, der sie zurückriß, folgte auf dem Fuße der elegante Insasse. Er warf seinen Mantel ab und legte ihn um den schlaffen Körper der Geretteten, die die Augen aufschlug und mit dem erlöschenden Blick des Opfers auf ihre neuen Peiniger blickte.

Aber die Augen ihres Retters flößten ihr Zutrauen ein.

Es war ein europäisches Gesicht, es waren die unverkennbaren Züge eines Engländers.

Kaum aber hatte dieser Mann sie angesehen, da stieß er einen Ruf aus, als sei ihm die Offenbarung aller Geheimnisse des Lebens geworden.

»John!« rief er. »John! Wenn das nicht Mrs. Seager ist, dann will ich blind sein!«

Auch der Chauffeur schaute sie jetzt interessiert an.

»Ja, Mr. Wilkins,« antwortete er. »Als wenn die Toten auferstünden!«

Der Mann, der Mr. Wilkins angesprochen wurde, trägt sie zu dem Wagen.

»Ich kenne Mrs. Seager nicht,« sagt Christine. Ihre Zähne mahlen gegeneinander. Sie fühlt wie ein Tier, das eingekreist ist. Sie ist entschlossen, zu kämpfen bis zum letzten Atemzug, sie will diese Barbaren mit den Zähnen zermalmen, die Frauenjäger sind und mit Menschen handeln.

Aber sie merkt schnell, daß sie Mr. Wilkins Unrecht getan hat. Sie fahren zurück in die Stadt, sie gehen in das erste Hotel.

»Die Dame hat einen Unfall erlitten,« sagt Wilkins und trägt, ohne dem Portier oder dem herbeieilenden Maitre d'Hotel Gelegenheit zu einer Frage zu geben, die halb Bewußtlose in seine Zimmer.

Er läßt diese für Christine reservieren, zieht um, und da sie sich dem eintretenden Mädchen noch immer in dem Mantel Mr. Wilkins zeigt und da Mr. Wilkins der Freund Fred Seagers ist, der der rumänischen Regierung Kanonen und Maschinengewehre liefert, die sie gegen die Ungarn und Kommunisten braucht, so wagt niemand eine Andeutung, eine Vermutung.

Am Morgen fährt Mr. Wilkins fort und kehrt mit großen Kartons zurück. Als Christine nach tiefem Schlaf erwacht, sieht sie vor sich eine Auswahl von Toiletten, Wäsche, Schuhen und allen Kleinigkeiten, deren eine Frau bedarf.

Sie klingelt und bittet, Mr. Wilkins zu rufen.

Sie hat noch immer seinen Mantel um ihre Schultern.

»Ich werde nichts von Ihnen annehmen, wenn Sie mir nicht sofort Aufklärung geben!«

Jetzt, beim Tageslicht, sieht sie sein gutmütiges, braunes Gesicht mit dem graumelierten Haar. Er lächelt und antwortet:

»Ich glaube, ich habe mehr Recht, zu fragen: Wer sind Sie?«

Der warme Klang seiner Stimme beruhigt sie. Plötzlich hat sie das Gefühl vollkommener Sicherheit, und das ist nach allem, was sie ertragen hat, geeignet, ihr beinahe die Besinnung zu rauben. Sie bricht in Tränen aus, und Auge in Auge mit Mr. Wilkins erzählt sie ihm ihre furchtbare Geschichte, tonlos, immer leiser, daß er Mühe hat, ihren Worten zu folgen. Sein hübsches Männergesicht hat sich immer mehr und mehr verfinstert. Dann und wann unterbricht er sie mit einem Ausruf. Nachdem sie geendet hat, sitzt auch er lange Zeit schweigend und starrt zu Boden.

»Mir ist,« schließt sie, »als hätte ich vor Unendlichkeiten ein anderes Leben gelebt, von dem mir einige unklare, verschwommene, aber desto entsetzlichere Erinnerungen geblieben sind. Denken Sie an eine Bildüberblendung im Film. Ich lebe Stunden ganz gegenwärtig, ein Mensch unter Menschen, Lebende unter Lebenden – da sinkt wie eine Überblendung die Erinnerung an die Vergangenheit über mich hin. Die Gegenwart verschwimmt, die Umrisse versinken in Unsicherheit, alles, was ist, ist nicht wahr, nur das Furchtbare, was gewesen ist, wird Tatsache, gegenwärtig. –

Und Bild um Bild rollt sich ab. Ich schaue gebannt, zitternd, atemlos die unbeschreiblich grausamen Vorgänge, der Haß loht, ich muß die Fäuste zwischen die Zähne pressen, um diesen Haß, dieses himmelhoch rasende Feuer nicht in einem einzigen Schrei aus meiner Brust brechen zu lassen, so, wie ich damals schrie – wie Hunderttausende schrien – in einem Schrei. Ganz Europa hört ihn, den Schrei der durch Krieg und Revolution gehetzten Frauen. Aber Europa läßt das Unmenschliche zu. –«

»Das ist furchtbarer, als ich gedacht habe,« sagt Mr. Wilkins. »Doch nun hat Ihnen das Schicksal mich in den Weg geführt, nicht nur, um Ihnen zu helfen, sondern auch einem Manne, der in der Lage ist, Sie an all den Anderen zu rächen. Der, wenn er will, Sie nach Moskau zurückführen kann. Der Sie zur Königin machen kann – wenn er will.«

Das ist alles wie im Märchen. Wie ein schlimmes Märchen zwar, aber Christine gibt sich zunächst nur dem einen Gefühl hin: Ich bin in Sicherheit. Ich bin diesen Griechen und Levantinern und Hafenkneipen entronnen. Ich bin emporgetaucht aus dem tiefsten Schlamm des Lebens zu der Sonne.

Wilkins erzählt nun Christine von Fred Seager.

»Haben Sie wirklich nie von ihm gehört? Er hat Rußland Munition geliefert, er liefert jetzt der kleinen Entente. Er mobilisiert Polen, und Sie werden sehen, in ganz kurzer Zeit werden sich die polnischen Legionen auf dieses rote Rußland stürzen und es vernichten. Fred Seager ist Sir Deterdings bester Freund. Diese beiden Männer diktieren sozusagen die englische Außenpolitik.«

Christine hatte nie von diesen Männern gehört. Sie hatte sich nicht mit Politik befaßt, am wenigsten hatte sie einen Blick hinter die Kulissen der modernen Weltgeschichte getan. Doch ihr Retter ging rasch auf das persönliche Schicksal des großen Waffenfabrikanten über.

»Er hatte eine Frau – Evelyne – eine Jugendfreundin auch von mir. –« Er schwieg einen Augenblick und schien seltsamen Gedanken nachzuhängen, während sein Blick in verhaltener Zärtlichkeit auf Christines Antlitz ruhte.

»Ja – Evelyne Seager. Ihr Mädchenname war Hochberg. Eine Deutsche. Sie hieß auch eigentlich nicht Evelyne, sondern Eva. Als die Not in Deutschland Ende des Jahres 1918 ihren Höhepunkt erreicht hatte, bewog sie ihren Gatten, ihr die Erlaubnis zu geben, in ihr Vaterland zu reisen. Sie verfluchte den Krieg, der Millionen über Millionen ins Verderben stürzte und den Reichtum ihres Gatten ins Unermeßliche steigerte. Ihre Heimat war München, dorthin wandte sie sich, die Not nach Möglichkeit zu lindern und die alte Mutter wieder zu sehen, die sie nach England hinüberholen wollte. Sie geriet in die bewegten Tage der Revolution. Sie war sozusagen eine Gefangene in München, denn obgleich ihr der englische Konsul von dem revolutionären Präsidenten Bayerns, Eisner, die Erlaubnis zur Ausreise verschaffte, durfte sie doch ihre Mutter nicht begleiten. Denn Evas Vater war Offizier gewesen, und so blieb sie während des Umsturzes in ihrer Heimat, und Fred Seager konnte in jener Krisenzeit London nicht verlassen. Denn schon flammte da und dort, besonders bei den Franzosen, das rote Feuer auf.

Eisner wurde erschossen, es kamen die Tage der Bayrischen Räterepublik unter Toller, Mühsam und Leviné.

Eva von Hochberg, jetzt Gattin des verhaßten Kanonenlieferanten, wurde denunziert. Das revolutionäre Tribunal lud sie vor, aber man konnte in ihrer Ehe mit Fred Seager keinen Beweis einer gegen die Räterepublik gerichteten Handlung sehen. Das Tribunal sprach sie frei. Doch ein fanatischer Unbekannter vollstreckte an ihr die Sühne, die das Schicksal von Fred Seager heischte. Die Tote wurde nach London gebracht und der Erde gegeben. An dem Tage brach Fred Seager zusammen. Seitdem ist der starke, stolze Freund nicht mehr wiederzuerkennen ...«

Und Mr. Wilkins berichtet Christine von dem seltsamen Glück dieser Ehe. Verliert sich selbst in Erinnerungen. Zeichnet Fred Seager mit der Übertreibung fanatischer Freundschaft. Seine Worte werden beschwörend, bekommen unheimliche Kraft, während Christine langsam wieder auf den Diwan zurücksinkt und wie verzaubert zuhört.

»Fred ist seit jenem schrecklichen Ereignis gemütskrank. Nichts kann ihn aus den Armen des drohenden Wahnsinns retten. Als ich Sie sah, glaubte ich, Mrs. Seager sei auferstanden. Ein rätselhaftes, seltenes Spiel der Natur. Sie sehen Evelyne Seager so ähnlich, als wären Sie ihre Zwillingsschwester.«

Und er redet weiter. Durch ihr Dasein, durch das Wunder, durch die Berufung, die er in sich fühlt, wird er ein Prophet, ein Magier in der Beweiskraft. Er nimmt ihre willenlose Hand und stammelt:

»Sie können einen der mächtigsten Männer der Erde retten! Nur Sie! Sie sind wie Evelyne! Sie sind Evelyne. Sie haben Ihren Gatten verloren. Sie trauern um ihn. Gibt es eine erhabenere Totenfeier, als einen Lebenden zu retten?«

Sie war nicht fähig, gegen diese phantastische Idee Vernunftsgründe vorzubringen. Urmütterliches in ihr war aufgerufen. Das Abenteuerliche des vorgeschlagenen Gedankens kam ihr nicht mehr zu Bewußtsein.

Ja, sie war bereit: nur an ihm vorüberzugehen. Ihm zu zeigen, daß das Leben vielfältig und vielseitig, auch für ihn noch Erlebnisse in reichen Händen hält.

»Es gibt keine Einwände,« hörte sie den Fanatiker der Freundschaft sagen. »Entweder ja – alles – oder nichts. Es gibt keine Frist! Sie sind Herrin über Leben und Tod. Wollen Sie mir folgen? Wollen Sie durch den bloßen Eintritt in ein Totenzimmer einen Mann, der mit dem Tode spielt, zum Licht zurückführen?«

Was gab es darauf zu sagen?

Alles, was sie brauchte: Paß, Bescheinigungen – Mr. Wilkins kaufte es. Das Geld tat alles. Vor dem Gelde verneigte sich die Staatsautorität. Christine wurde wieder Dame. Madame Popescu. Und als Dame kam sie mit Joe Wilkins nach London.


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